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Full text of "Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 2008"

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Niedersachsisches  Jahrbuch  fur  Landesgeschichte 
Band  80  •  2008 


NIEDERSACHSISCHES 
JAHRBUCH 

FUR  LANDESGESCHICHTE 


Neue  Folge  der 
»Zeitschrift  des  Historischen  Vereins  fur  Niedersachsen« 

Herausgegeben  von  der 
Historischen  Kommission  fur  Niedersachsen  und  Bremen 


Band  80 


2008 


VERLAG  HAHNSCHE  BUCHHANDLUNG  •  HANNOVER 


Das  Jahrbuch  ist  zugleich  Organ  des  Historischen  Vereins  fur  Niedersachsen 

in  Hannover 


Schriftleitung: 

Dr.  Manfred  von  Boetticher  und  Dr.  Christine  van  den  Heuvel 

(verantwortlich  fur  die  Aufsatze) 

Dr.  Thomas  Franke 
(verantwortlich  fur  die  Buchbesprechungen  und  Nachrichten) 

Anschrift: 

Niedersachsisches  Staatsarchiv  -  Hauptstaatsarchiv  Hannover 

Am  Archiv  1 

30169  Hannover 


Bibliografische  Information  der  Deutschen  Nationalbibliothek 

Die  Deutsche  Nationalbibliothek  verzeichnet  diese  Publikation  in  der 

Deutschen  Nationalbibliografie; 

detaillierte  bibliografische  Daten  sind  im  Internet 

iiber  http://dnb.ddb.de  abrufbar. 


ISSN:  0078-0561 
ISBN:  978-3-7752-3380-4 


Satz:  Myron  Wojtowytsch,  Gottingen 
Druck  und  Bindung:  poppdruck,  30851  Langenhagen 


Inhalt 


Aufsatze 

BEGRENZTERESSOURCEN.  DER  UMGANG  MIT  ROHSTOFFEN 
UND  ENERGIE  IM  MITTELALTER  UND  IN  DER  NEUZEIT. 
Vortrage  auf  der  Tagung  der  Historischen  Kommission  fiir  Niedersachsen 
und  Bremen  in  Clausthal-Zellerfeld  vom  11.  bis  13.  Mai  2007 

1.  Herrschaft  und  mittelalterliche  Montanindustrie.  Der  Bergbau  in 
Bohmen,  Erzgebirge  und  Harz  und  seine  Wechselbeziehungen.  Von 
Manfred  von  Boetticher     1 

2.  Steinkohle  als  Ausweg?  -  Der  lange  Weg  vom  solaren  zum  fossilen 
Zeitalter  im  mittleren  Niedersachsen.  Von  Dirk  Neuber      15 

3.  Bonam  sylvarum  partem  in  vicinia.  Politisch-generierte  Ressourcen- 
knappheit  und  reichsstadtische  Kompensation:  Goslar,  Walkenried 

und  die  Landesherren  im  lG.Jahrhundert.  Von  Cai-Olaf  Wilgeroth        51 

4.  Determinanten  der  Waldentwicklung  im  Westharz  (16.-18.  Jahr- 
hundert).  Von  Peter-M.  Steinsiek 117 

5.  Die  friihneuzeitliche  Bauholzversorgung  auf  dem  Lande.  Von  Wolf- 
gang Dorfler     141 

6.  Vom  Umgang  mit  einer  begrenzten  Ressource.  Wasser  und  Abwas- 
serin  nordwestdeutschen  Stadten  des  17.  und  18.Jahrhunderts.  Von 
Olaf  Grohmann     183 

7.  Knappe  Ressourcen  als  Barriere  und  Triebkraft  innovativer  Ent- 
wicklung:  Zur  Bedeutung  von  Lumpen,  Holz  und  Wasser  in  der 
niedersachsischen  Papierindustrie  (19./20.  Jahrhundert).  Von  Jo- 
hannes Laufer 215 

Illuminierte  Herrscher:  Bildliche  Erinnerungen  an  die  friihen  Welfen  in 

ihren  siiddeutschen  Klostern.  Von  Nathalie  Kruppa 241 

Organisationsstrukturen  der  Bergbauverwaltung  als  Elemente  des  friih- 
neuzeidichen  Territorialstaates:  Das  Beispiel  Braunschweig-Wolfen- 
biittel.  Von  Hans-Joachim  Kraschewski 283 


VI  Inhalt 

Dafauch  der  Ort  wegen  darin  befindlicher  Gespenst sehrbeschryen  ist:  Die  »Hohl- 
welten«  des  Harzes  im  Spiegel  chronikalischerBerichte  des  16.  und  17. 
Jahrhunderts.  Von  Ralf  Kirstan      329 

In  der  Bastille  gewesen  zu  sein,  ist  eine  Empfehlung.  Abenteurer  und  ehemali- 
ge  Bastille-Haftlinge  am  hannoverschen  Hof  um  1700.  Von  Gerd  van 
den  Heuvel 353 

Die  Industrialisiemng  des  Konigreichs  Hannover  in  der  offentlichen  De- 

batte  um  die  Gewerbereform.  Von  Daniel  Mohr       389 

Theanolte  Bahnisch  (1899-1973)  und  ihr  Beitrag  zum  Wiederaufbau 
Deutschlands  im  Rahmen  der  Westorientierung  nach  1945.  Von 
Nadine  Freund     403 

Besprechungen  und  Anzeigen 

Allgemeines,  S.  431.  —  Allgemeine  Geschichte  und  Landesgeschichte, 
S.  435.  —  Rechts-,  Verfassungs-  und  Verwaltungsgeschichte,  S.  456.  — 
Wirtschafts-  und  Sozialgeschichte,  S.  475.  —  Kirchen-,  Geistes-  und 
Kulturgeschichte,  S.  492.  —  Geschichte  einzelner  Landesteile  und  Orte, 
S.  531.  -  Personengeschichte,  S.  580. 

Nachrichten 

Historische  Kommission  fur  Niedersachsen  und  Bremen.  Jahrestagung 
vom  11.  bis  13.Mai2007undMitgliederversammlungam  12.  Mai  2007 
in  Clausthal-Zellerfeld 597 

Berichte  aus  den  Arbeitskreisen      607 

Nachrufe      621 


Verzeichnis  der  besprochenen  Werke 633 

Anschriften  der  Autoren  der  Aufsatze      639 


BEGRENZTE  RESSOURCEN 

Der  Umgang  mit  Rohstoffen  und  Energie 
im  Mittelalter  und  in  der  Neuzeit 


Vortrage  auf  der  Tagung  der 

Historischen  Kommission  fur  Niedersachsen  und  Bremen 

in  Clausthal-Zellerfeld  vom  11.  bis  13.  Mai  2007 


1. 

Herrschaft  und  mittelalterliche  Montanindustrie 

Der  Bergbau  in  Bohmen,  Erzgebirge  und  Harz 
und  seine  Wechselbeziehungen 

Von  Manfred  von  Boetticher 


Die  Begrenztheit  der  Metallressourcen,  insbesondere  von  Buntmetallen,  war  zu 
alien  Zeiten  eine  Tatsache.  Vor  allem  das  begrenzt  vorhandene  Silber  wurde  zum 
begehrten  Zahlungsmittel  und  war  schon  im  friihen  Mittelalter  eine  Grundlage 
fiirstlicher  Macht.  Seit  der  Karolingerzeit  zog  das  Konigtum  den  Bergbau  an  sich 
und  betrachtete  die  Bergwerke  als  Krongut1  -  friihe  Ausiibung  des  „Bergregals". 
Doch  wie  ging  das  Konigtum  im  Weiteren  mit  dem  Bergbau  um  -  und  welche 
Folgen  hatte  dies  fur  den  mittelalterlichen  Bergbau? 

Ehe  darauf  eingegangen  wird,  sei  zunachst  auf  eine  Beobachtung  des  Montan- 
historikers  Ekkehard  Westermann  hingewiesen,  wonach  sich  bei  der  bergbauge- 
schichtlichen  Entwicklung  eines  Reviers  deutliche  Phasen  unterscheiden  lassen: 
anfangs  rapides,  dann  abflachendes  Wachstum  auf  hohem  Niveau,  Stagnation 
und  sinkende  Erzforderung,  rapide  Verschlechterung  und  Einstellung  des  Berg- 
baus  -  schlieBlich  mogliche  Wiederaufnahme  unter  veranderten  gesamtwirt- 


1    Raimund  Willecke,  Die  deutsche  Berggesetzgebung  von  den  Anfangen  bis  zur  Gegen- 
wart,  Essen  1977,  S.  18. 


2  Manfred  von  Boetticher 

schaftlichen  Bedingungen.2  Gegen  die  Vorstellung  eines  solchen  allgemeingiilti- 
gen  Ablaufs  wurde  allerdings  zurecht  eingewandt,  dass  man  sich  kaum  damit  zu- 
frieden  geben  kann,  die  Erklarung  fiir  das  Auf  und  Ab  der  mittelalterlichen 
Erzgewinnung  allein  an  die  jeweiligen  Erzvorkommen  und  die  Endlichkeit  der 
Lagerstatten  zu  binden.3  Uniibersehbar  verlief  der  Prozess  der  Montanindustrie 
im  gesamten  Europa  nach  groBraumigen  Gemeinsamkeiten,4  vor  allem  in  einem 
ungefahren  zeitlichen  Gleichklang.  Die  Parallelitat  des  Niedergangs  an  den  ver- 
schiedenen  Standorten  um  die  Mitte  oder  am  Ende  des  14.  Jahrhunderts  ist  so  au- 
genfallig,  dass  man  um  eine  Betrachtung  iibergreifender  Gemeinsamkeiten  nicht 
herumkommt.5  Auch  wenn  -  abstrakt  gesehen  -  zu  alien  Zeiten  die  Entdeckung 
neuer  Erzlager  und  ihre  unausweichliche  Erschopfung  ein  gleichmaBiges  Auf 
und  Ab  bedingen  miissten,  gab  es  in  jenenjahrzehnten  offensichtlich  iiberregio- 
nale  Faktoren,  die  einerseits  nach  Erreichen  eines  kritischen  Punktes  den  Ab- 
schwung  in  einem  Revier  beschleunigten  und  die  andererseits  einem  erneuten 
Aufschwung  entgegenstanden. 

Uniibersehbar  fallt  der  Riickgang  der  Buntmetallproduktion6  in  Mitteleuropa 
um  die  Mitte  des  14.  Jahrhunderts  in  die  Folgezeit  der  Pestepidemie  und  des  da- 
mit verbundenen  Bevolkerungsriickgangs.  Bestand  hier  ein  Zusammenhang? 
Kaum  in  den  unmittelbaren  Auswirkungen  der  Pest  -  etwa  so,  dass  die  Bergleute 
massenhaft  unter  Tage  gestorben  waren,  wie  bisweilen  behauptet  wurde.7  Viel- 


2  Ekkehard  Westermann,  Aufgaben  kiinftiger  Forschung:  Aus  den  Diskussionen  der  Ett- 
linger  Tagung,  in:  Werner  Kroker/ Ekkehard  Westermann  (Bearb.),  Montanwirtschaft  Mit- 
teleuropas  vom  12.  bis  17.  Jahrhundert.  Stand,  Wege  und  Aufgaben  der  Forschung,  Bochum 
1984,  S.  205-212,  hier  S.  205f. 

3  Karl-Heinz  Ludwig,  Die  Rezessionen  des  Edelmetallbergbaus  in  der  inner-  oder  nie- 
derosterreichischen,  dort  auch  bambergischen  und  gorzischen,  sowie  in  den  salzburgischen 
und  bayrischen  Gebieten  des  Ostalpenraums  und  die  politischen  Moglichkeiten  ihrer  Uber- 
windung  vom  13.  bis  zum  15.  Jahrhundert,  in:  Rudolf  Tasser/ Ekkehard  Westermann 
(Hrsg.),  Der  Tiroler  Bergbau  und  die  Depression  der  europaischen  Montanwirtschaft  im  14. 
und  15.  Jahrhundert,  Innsbruck- Wien-Munchen-Bozen  2004,  S.  94-107,  hier  S.  99. 

4  Ekkehard  Westermann,  Zur  spatmittelalterlichen  Depression  der  europaischen  Mon- 
tanwirtschaft. Stand  und  offene  Fragen  der  Forschung,  in:  Tasser/  Westermann,  wie  Anm.  3, 
S.  9-18,  hier  S.  9. 

5  Ludwig,  Rezessionen,  wie  Anm.  3,  S.  99. 

6  Bartels  wendet  sich  nachdriicklich  dagegen,  es  habe  in  der  zweiten  Halfte  des  14.  Jahr- 
hunderts eine  allgemeine  Krise  der  Montanindustrie  gegeben.  Die  Eisenproduktion  und  die 
Kohleforderung  sei  von  den  damaligen  Problemen  der  Buntmetallindustrie  weit  weniger  be- 
troffen  gewesen;  vgl.  Christoph  Bartels,  Zur  Bergbaukrise  des  Spatmittelalters,  in:  Chri- 
stoph  Bartels /Markus  A.  Denzel  (Hrsg.),  Konjunkturen  im  europaischen  Berg-  und  Hiitten- 
wesen  im  westlichen  Harz  in  vorindustrieller  Zeit.  Festschrift  fiir  Ekkehard  Westermann  zum 
60.  Geburtstag,  Stuttgart  2000,  S.  157-172,  hier  S.  160f. 

7  H.  Denker  (Bearb.),  Die  Bergchronik  des  Hardanus  Hake,  Pastors  in  Wildemann.  Mit 


Herrschaft  und  mittelalterliche  Montanindustrie  3 

mehr  zerstorte  der  demographische  Einbruch  die  komplexen  Netzwerke,  die  sich 
in  den  verschiedenen  Montanrevieren  flankierend  zum  Bergbau  gebildet  hat- 
ten.8  Die  Probleme  der  Montanindustrie  im  14.  Jahrhundert  stehen  im  Zusam- 
menhang  mit  dem  Riickgang  der  gesamten  wirtschaftlichen  Konjunktur.9  Wenn 
manche  Reviere  dennoch  in  derzweiten  Halfte  des  14.Jahrhunderts  hohere  Pro- 
duktionszahlen  aufwiesen,  wahrend  die  Gruben  anderenorts  daniederlagen, 
diirfte  dies  darauf  zuriickzufiihren  sein,  dass  sich  der  Bergbau  dort  zunachst  noch 
in  seiner  anfanglichen  Wachstumsphase  befunden  hatte. 

Besondere  Bedeutung  kam  dabei  dem  Problem  des  Grubenwassers  zu,  das 
dem  tiefer  werdenden  Bergbau  fast  iiberall  zu  schaffen  machte  und  das  nach  dem 
rapiden  Anfangswachstum  der  Produktion  in  einem  Revier  wesentlich  zur  dann 
einsetzenden  Stagnation  beitrug.  Je  tiefer  die  Schachte  vorangetrieben  wurden, 
umso  groBere  Aktivitaten  wurden  erforderlich,  sie  wasserfrei  zu  halten.  Standen 
die  Gruben  einmal  unter  Wasser,  wie  es  bei  auch  nur  voriibergehendem  Ausfall 
von  Arbeitskraften  leicht  geschehen  konnte,  war  an  eine  Wiederaufnahme  des 
Bergbaus  vorerst  nicht  zu  denken.  Doch  -  was  hat  dies  mit  dem  Konigtum  zu  tun? 

Herrschaft  und  Montanindustrie  im  Harz 

Hier  ist  zu  fragen,  wie  das  Konigtum  im  friihen  Mittelalter  mit  seinem  Eigentum 
an  der  Montanindustrie  umging.  Als  Beispiel  kann  das  Harzer  Revier  gelten,  das 
zu  den  altesten  im  Reich  zahlte:  Seit  der  Karolingerzeit  erscheint  hier  das  Konig- 
tum als  Trager  des  Bergbaus  -  im  Oberharz  nach  Silber,  am  Rammelsberg  nach 
Kupfer.  Wie  die  Produktion  anfangs  erfolgte,  ist  umstritten  -  auf  jeden  Fall  war  es 
nicht  Sache  des  Konigs,  den  Bergbau  selbst  zu  organisieren.  Die  Montanindu- 
strie wurde  nachgeordneten  Herrschaftstragern  iibertragen,  die  die  Rechte  des 
Reiches  wahrnahmen.  Friihzeitig  war  dadurch  eine  Zersplitterung  der  Bergrech- 
te  entstanden,  die  bis  zum  Ausgang  des  Mittelalters  bestehen  blieb. 

Eine  Bergordnung  von  1271,  die  von  vier  Landesherren  unterzeichnet  war, 
zeigt  die  Aufteilung  der  Hoheitsrechte  im  Oberharz.  Der  Rammelsberg  war  zu- 
dem  an  mehrere  Hauptbesitzer  vergeben,  die  Montanindustrie  vor  Ort  Angele- 
genheit  der  Grundherren  geworden.10  Zum  wichtigsten  Trager  des  Bergbaus  im 

einem  Glossar  der  technischen  und  veralteten  Ausdriicke  und  einem  Index,  Quedlinburg 
1911,  S.  13. 

8  Christoph  Bartels,  Die  Ereignisse  im  Vorfeld  des  Riechenberger  Vertrages  und  der 
herzogliche  Bergbau  im  Oberharz,  in:  Der  Riechenberger  Vertrag,  hg.  vom  Rammelsberger 
Bergbaumuseum  Goslar,  Goslar  2004,  S.  65-90,  hier  S.  86. 

9  Westermann,  Depression,  wie  Anm.  4,  S.  10. 

10  Vgl.  Raimund  Willecke,  Die  Entwicklung  und  Bedeutung  des  Unter-  und  Oberhar- 
zer  Bergrechts,  in:  Braunschweigisches  Jahrbuch  51,  1971,  S.  53-72,  hier  S.  57. 


4  Manfred  von  Boetticher 

westlichen  Oberharz  hatte  sich  das  Kloster  Walkenried  gemacht,  zu  dessen  Gun- 
sten  die  Welfenherzoge  auf  ihrVogteirecht  in  den  Klosterwaldern  verzichteten.11 

Wie  schwierig  es  war,  bei  der  Vielzahl  von  Eigentiimern  und  deren  unter- 
schiedlichen  Interessen  technische  Neuerungen  durchzusetzen,  zeigt  ein  Vertrag 
zwischen  Walkenried  und  Goslariiber  den  Rammelsberg  aus  demjahre  1310.12 
Die  dortigen  Gruben  hatten  Tiefen  erreicht,  die  eine  gemeinsame  Entwasserung 
erfordert  hatten.  In  ihrem  Bereich  des  Berges  hatten  die  Monche  Wasserleitun- 
gen  gelegt.  Andere  Grubenbetreiber  fiihlten  sich  dadurch  beeintrachtigt,  weitere 
Anlagen  wurden  untersagt.  Die  Zersplitterung  des  Besitzes  lieB  gemeinsame 
MaBnahmen  nicht  zu.13 

Als  es  dann  um  die  Mitte  des  14.  Jahrhunderts  zum  demographischen  Ein- 
bruch  kam,  standen  die  tieferen  Schachte  des  Rammelsbergs  vermutlich  bereits 
unter  Wasser.  Nun  verlor  auch  das  Kloster  die  Mittel  fur  groBere  Investitionen, 
seine  Gewinne  aus  der  Landwirtschaft  waren  weggebrochen.  1352  beklagte  der 
Konvent,  dass  die  Einkiinfte  nicht  einmal  zur  eigenen  Versorgung  ausreichten.14 
Selbst  wenn  das  Kloster  gewollt  hatte  -  zusatzliche  Investitionen  in  der  Montan- 
industrie  waren  kaum  mehrmoglich.  Um  1360  wurde  derBergbau  am  Rammels- 
berg eingestellt.15 

In  ahnlicher  Weise  hat  man  sich  die  Entwicklung  im  Oberharz  zu  denken.  Der 
Bau  tieferer  Stollen,  der  noch  in  Angriff  genommen  wurden,  kam  nicht  zum  Ab- 
schluss.16  Ohne  zusatzliche  Mittel  war  der  Bergbau  auch  hier  offenbar  an  seine 
Grenzen  gestoBen.  Es  gibt  Anzeichen  dafiir,  dass  Walkenried  nach  dem  Erliegen 
des  Bergbaus  am  Rammelsberg  seine  Oberharzer  Gruben  zunachst  weiterhin  be- 
treiben  wollte.17  Das  Mundloch  eines  unvollendeten  Stollens  an  der  Innerste, 
dessen  Auftraggeber  unbekannt  sind,  lasst  erkennen,  dass  man  vergeblich  ver- 


11  Heinrich  Uhde,  Forsten,  Bergbau  und  Hiittenbetriebe  des  Klosters  Walkenried  am 
Westharz,  in:  Harz-Zeitschrift  19/20,  1967/68,  S.  81-102,  hier  S.  82. 

12  Urkundenbuch  der  Stadt  Goslar  und  der  in  und  bei  Goslar  belegenen  geistlichen  Stif 
tungen,  bearb.  von  Georg  Bode,  Bd.  3,  Halle  1900,  Nr.  223,  Text  und  Ubersetzung  bei  Chri- 
stoph  Bartels,  Die  Stadt  Goslar  und  der  Bergbau  im  Nordwestharz.  Von  den  Anfangen  bis 
zum  Riechenberger  Vertrag  von  1252,  in:  Karl  Heinrich  KAUFHOLD/Wilfried  Reininghaus 
(Hrsg.),  Stadt  und  Bergbau,  Koln-Weimar-Wien  2004,  S.  135-188,  hier  S.  183  f. 

13  Ebenda,  S.  164;  generell:  Bartels,  Bergbaukrise,  wie  Anm.  6. 

14  Die  Urkunden  des  Stiftes  Walkenried  aus  den  Originalen  des  Herzogl.  Braunschw.  Ar- 
chivs  zu  Wolfenbiittel  u.  sonstigen  Quellen,  Abth.  2,  erste  Halfte:  bis  1400,  Hannover  1855, 
Nr.  931. 

15  Wilhelm  Bornhardt,  Geschichte  des  Rammelsberger  Bergbaues  von  seiner  Aufnah- 
me  bis  zur  Neuzeit,  Berlin  1931,  S.  28. 

16  Hauptstaatsarchiv  Hannover,  Bergarchiv  Clausthal  Hann  84a,  Nr.  6682. 

17  Heinrich  Uhde,  Die  Gutswirtschaft  Immedeshausen  (1225-1445)  und  der  Besitz  des 
Klosters  Walkenried  am  Westharz.  Als  Manuskript  vervielfaltigt,  Oldenburg  1965,  S.  340. 


Herrschaft  und  mittelalterliche  Montanindustrie  5 

sucht  hatte,  der  Wasserprobleme  Herrzu  werden.18  In  der  zweiten  Halfte  des  14. 
Jahrhunderts  brach  die  Montanindustrie  dann  auch  im  Oberharz  weithin  zusam- 
men,  zahlreiche  Wohnplatze  wurden  aufgegeben.19 

Herrschaft  und  Montanindustrie  im  ostlichen  Kolonisationsgebiet 

Vergleichen  wir  damit  den  Bergbau  in  jiingeren  Montanregionen,  in  denen  das 
Reich  von  Anfang  an  keine  Rolle  spielte,  wo  das  Bergrecht  von  vornherein  bei  der 
Landesherrschaft  lag:  Im  Jahre  1234  iibertrug  der  bohmische  Konig  Wenzel  I. 
dem  KlosterTischnowitz  (Tisnov)  an  derbohmisch-mahrischen  Grenze  das  klei- 
ne  Dorf  Iglau.  Wenig  spater  kam  es  dort  bei  Rodungsarbeiten  zu  spektakularen 
Silbererzfunden.  Die  Schenkung  wurde  riickgangig  gemacht,  das  Gebiet  der  lan- 
desherrlichen  Kammer  unterstellt.  In  groBziigigem  Stil  lieB  der  Konig  eine  Stadt 
anlegen,  die  durch  Bergleute  und  Handwerker  aus  Niedersachsen  und  dem 
Alpenraum  anwuchs.20 

Die  Neuankommlinge  brachten  nicht  allein  technische  Erfahrungen  aus  dem 
alteren  Bergbau  mit.  Sie  entwickelten  Rechtsvorstellungen,  die  zu  einem  neuen 
Kolonisations-Bergrecht  zusammenwuchsen.  Vermutlich  waren  einzelne  Ele- 
mente  des  „Iglauer  Bergrechts"  bereits  vorher  in  anderen  Revieren  formuliert 
worden.  Iglau  wurde  zur  ersten  Stadt,  die  diese  Grundsatze  schriftlich  fixierte.21 
Zwei  Prinzipien  der  dortigen  Bergleute  wurden  richtungweisend  fur  die  Entwick- 
lung  des  Bergwesens  in  Mitteleuropa:  die  nur  noch  iibergeordnete  landesherrli- 
che  Berghoheit  und  die  freie  Bergbautatigkeit,  die  „Bergfreiheit". 

Zwar  hatte  der  Konig  gegeniiber  dem  Kloster  zur  Gewinnung  des  Silbers  seine 
eigene  Grundherrschaft  wiederhergestellt.  Gegeniiber  der  Stadt  zeigte  sich  dann 
ein  anderes  Verstandnis  des  koniglichen  Bergrechts,  das  sich  weder  in  unmittel- 
barer  Herrschaft  auBerte,  noch  weiterverlehnt  wurde:  22  die  Trennung  des  Rechts 
am  Erz  vom  Recht  an  Grund  und  Boden.  Zugunsten  des  Bergbaus  konnte  der 


18  Vgl.  Bergchronik,  wie  Anm.  7,  S.  87. 

19  Vgl.  Gotz  Alper,  „Johanneser  Kurhaus".  Ein  mittelalterliche  Blei/Silbergewinnungs- 
platz  bei  Clausthal-Zellerfeld  im  Oberharz,  Rahden  2003,  S.  32. 

20  Jifi  Vosahlo,  Abriss  der  Geschichte  des  Iglauer  Bergbaus,  in:  Silberbergbau  und 
Miinzpragung  in  Iglau,  Juhlava  1999,  S.  66-78,  S.  68f.  (vgl.  Handbuch  der  Hitorischen  Stat- 
ten.  Bohmen,  Stuttgart  1998,  S.  214);  vorsichtiger:  „aus  Tirol  und  vielleicht  auch  aus  Sachsen" 
kommentieren  Richard  ZALOUKAL/David  Zimola,  Bergmannische  Kolonisierung  der  Iglauer 
Region  aus  archaologischer  Sicht,  in:  Silberbergbau  und  Miinzpragung  in  Iglau,  Juhlava 
1999,  S.  30-42,  hier  S.  30,  stimmen  aber  den  „deutschen  Kolonisten"  zu:  ebenda,  S.  33. 

21  Karel  Kresadlo,  Iglauer  Berg-  und  Stadtrecht,  in:  Silberbergbau  und  Miinzpragung  in 
Iglau,  Jihlava  1999,  S.  72-83,  hier  S.  73. 

22  Wilhelm  WESTHOFF/Wilhelm  Schluter,  Geschichte  des  deutschen  Bergrechts,  in: 
Zeitschrift  fur  Bergrecht  1909,  S.  27-96,  hier  S.  48. 


6  Manfred  von  Boetticher 

Herrscher  jederzeit  in  grundherrliche  Rechte  eingreifen,  ohne  diese  selbst  zu  be- 
anspruchen  -  ein  Recht,  das  in  dieser  Form  spater  von  den  Juristen  als  „Bergre- 
gal"  apostrophiert  wurde.  Daraus  ergab  sich  der  zweite  Grundsatz:  das  Jeder- 
mannrecht,  Erze  zu  suchen  und  zu  fordern,  soweit  dem  Grundherrn  gegeniiber 
bestimmte  Verpflichtungen  erfiillt  wurden.  Das  Iglauer  Bergrecht  schrieb  damit 
dem  Finder  einer  Erzader  das  landesherrlich  verbriefte  Recht  auf  dessen  Ausbeu- 
te  zu,  es  wurde  zum  Instrument  unternehmerischer  Expansion.23  Die  Krone  be- 
hielt  sich  eine  Abgabe  und  das  Vorkaufsrecht  vor.  Samtliches  im  Lande  erzeugtes 
Silber  war  zu  Festpreisen  an  die  konigliche  Miinzstatte  zu  liefern.24 

Eine  ahnliche  Entwicklung  hatte  die  Montanindustrie  ein  Jahrhundert  zuvor 
beim  Landesausbau  im  Erzgebirge  genommen.  1162  hatte  Markgraf  Otto  von 
MeiBen  dem  Kloster  Alt-Zella  die  Dorfer  Christiansdorf,  Tuttendorf  und  Ber- 
thelsdorf  iiberlassen,25  1168  wurde  dort  Silbererz  entdeckt.26  Der  Markgraf 
brachte  die  Schenkung  wieder  in  seinen  Besitz  und  holte  Bergleute  ins  Land.27 
Rasch  entwickelte  sich  an jener  Stelle  eine  stadtische  Siedlung,  als  deren  erste  Be- 
wohner  Bergleute  aus  Goslargelten.28  Bis  zumjahr  1218  war  an  der  Stelle  derdrei 
Dorfer  eine  Stadt  mit  fiinf  Pfarrkirchen  entstanden,  deren  Bergfreiheit  namenge- 
bend  wurde:  Freiberg.29 

Bis  zum  Ende  des  13.  Jahrhunderts  erlebte  das  Revier  eine  auBerordentliche 
Bliite.  Das  Silbererz  konnte  dicht  unter  der  Erdoberflache  abgebaut  werden.30 


23  Kresadlo,  Iglauer  Bergrecht,  wie  Anm.  21,  S.  76. 

24  Jifi  Majer,  Der  bohmische  Erzbergbau  im  14.  und  15.  Jahrhundert.  Grundziige  seiner 
Entwicklung  und  Auswirkungen,  in:  Tasser/Westermann,  wie  Anm.  3,  S.  108-117,  hier 
S.  llOf.  Inwieweit  es  dabei  zu  einer  Rezeption  von  Rechtsvorstellungen  aus  Trient  kam,  wo 
bereits  1185  eine  Freigabe  des  Bergbaus  durch  den  dortigen  Bischof  erfolgt  war,  soil  hier 
nicht  erortert  werden;  vgl.  Westhoff/Schluter,  wie  Anm.  22,  S.  48;  Franz  Rosenhainer, 
Die  Geschichte  des  Unterharzer  Hiittenwesens  von  seinen  Anfangen  bis  zur  Grundung  der 
Kommunionsverwaltung  imjahre  1635,  Goslar  1968,  S.  30,  verweist  im  Gegensatz  zu  den 
Verhaltnissen  im  Oberharz  auf  das  mittelalterliche  Vorkaufsrecht  im  Freiberger  Revier. 

25  Hubert  Ermisch,  Das  sachsische  Bergrecht  des  Mittelalters,  Leipzig  1887,  S.  XV. 

26  Uwe  Schirmer,  Der  Freiberger  Silberbergbau  im  Spatmittelalter  (1353-1485),  in:  Tas- 
ser/Westermann, wie  Anm.  3,  S.  183-201,  hier  S.  186;  Wolfgang  DALLMANN/Arndt  Guhne, 
Archaologische  Belege  zur  Friihzeit  des  Bergbaus  und  des  Hiittenwesens  im  Revier  Frei- 
berg/Sachsen,  in:  Heiko  STEUER/Ulrich  Zimmermann,  (Hrsg.),  Montanarchaologie  in  Euro- 
pa.  Berichte  um  Internationalen  Kolloquium  „Friihe  Erzgewinnung  und  Verhiittung  in  Euro- 
pa"  in  Freiburg  im  Breisgau  vom  4.  bis  7.  Oktober  1990,  Sigmaringen  1993,  S.  343-352,  hier 
S.  343. 

27  Handbuch  der  Historischen  Statten  Deutschlands.  Sachsen,  Stuttgart  1965,  S.  100. 

28  Manfred  Unger,  Stadtgemeinde  und  Bergwesen  Freibergs  im  Mittelalter,  Weimar 
1963,  Stadtgemeinde,  S.  158 f. 

29  Vgl.  Ermisch,  sachsisches  Bergrecht,  wie  Anm.  25,  S.  XVII. 

30  Karlheinz  Blaschke,  Die  Arbeitsverfassung  im  Freiberger  Bergbau  wahrend  des  spa- 
ten  Mittelalters,  in:  Karl-Heinz  LuDWic/Peter  Sika  (Hrsg.),  Bergbau  und  Arbeitsrecht.  Die 


Herrschaft  und  mittelalterliche  Montanindustrie  7 

Bald  wurde  auch  im  benachbarten  Erzgebirge  Bergbau  getrieben,  es  entstanden 
weitere  Bergstadte.31  Die  Rechtsverhaltnisse  wurden  durch  Bestimmungen  gere- 
gelt,  die  sich  -  eher  noch  als  in  Iglau  -  zu  einem  „Kolonisations-Bergrecht"  her- 
ausgebildet  hatten.  Wir  erfahren  davon  1233  durch  die  Kulmer  Handfeste  des 
Deutschen  Ordens,  in  der  dieser  versprach,  sich  nach  „Freiberger  Recht"  zu  rich- 
ten,  falls  im  Kulmer  Land  Erz  gefunden  wurde.32 

Festgeschrieben  war  damit  auch  fur  das  Erzgebirge  ein  landesherrliches  Berg- 
recht,  das  die  Trennung  von  Berghoheit  und  Grundherrschaft  beinhaltete  sowie 
die  Such-  und  Investitionsbereitschaft  forderte.  Zudem  waren  die  Wettiner  Lan- 
desherren  bemiiht,  ihren  unmittelbaren  Einfluss  auf  den  Bergbau  zu  erhohen. 
Bereits  in  der  ersten  Halfte  des  14.  Jahrhunderts  wurde  ein  „Bergmeister"  einge- 
setzt,  der  in  Freiberg  residierte  und  dem  bis  iiber  die  Mitte  des  15.  Jahrhunderts 
hinaus  samtliche  Bergwerke  im  Erzgebirge  unterstellt  waren.33  In  der  zweiten 
Halfte  des  14.  Jahrhunderts  wird  eine  Art  „Freiberger  Bergamt"  erkennbar,  zu 
dem  der  Bergmeister  und  ein  Miinzmeister  gehorten.34 

Nach  Abtragen  der  reichen  oberflachennahen  Silberadern  ging  im  Laufe  des 
13.  Jahrhunderts  in  Bohmen  wie  im  Erzgebirge  die  Zeit  des  unbeschwerten  Ab- 
baus  zu  Ende,  der  Bergbau  drang  in  tiefere  Bereiche  vor.35  Bei  der  Beliiftung  der 
Schachte  und  der  Niederhaltung  des  Wassers  ergaben  sich  wachsende  Proble- 
me.36  Als  einzige  nachhaltige  Losung  erwies  sich  der  Durchtrieb  von  Wasserlo- 
sungsstollen.  Die  Technik  war  in  Europa  seit  dem  12.Jahrhundertbekannt.37  Fur 
sich  allein  genommen  konnte  ein  Stollen  jedoch  nicht  lukrativ  sein  -  waren  dabei 
doch  in  langer  Arbeit  unterirdische  Gange  anzulegen,  aus  denen  keinerlei  ver- 
wertbares  Erz  gewonnen  wurde.  Das  Freiberger  und  Iglauer  Bergrecht  bildeten 
deshalb  ein  Stollenrecht  heraus,  durch  das  dem  Betreiber  des jeweils  tiefsten  Stol- 
lens  ein  Neuntel  des  Ertrags  samtlicher  entwasserter  Gruben  zustanden.38  Inve- 


Arbeitsverfassung  im  europaischen  Bergbau  des  Mittelalters  und  der  friihen  Neuzeit,  Wien 
1989,  S.  83-95,  hierS.  83. 

31  Wolfgang  Schwabenicky,  Archaologische  Forschungen  in  mittelalterlichen  Bergbau- 
siedlungen  des  Erzgebirges,in:  Steuer/Zimmermann,  wie  Anm.  26,  S.  321-329,  hier  S.  321  f. 

32  Codex  Diplomaticus  Saxoniae  regiae,  Teil  2,  Bd.  13:  Urkundenbuch  der  Stadt  Frei- 
berg in  Sachsen,  hg.  von  Hubert  Ermisch,  Bd.  2:  Bergbau,  Bergrecht,  Miinze,  Leipzig  1886, 
S.  XVI,  Nr.  864  (inventor  autem  argenti  sive  is,  in  cuius  agris  inventum  fuerit,  ius  Freybergense  in 
huiusmodi  inventione  habeat  imperpetuum). 

33  400  Jahre  Oberbergamt  Freiberg,  Berlin  1942,  S.  6. 

34  Ebenda,  S.  6. 

35  Schirmer,  wie  Anm.  26,  S.  186. 

36  Blaschke,  Arbeitsverfassung,  wie  Anm.  30,  S.  84. 

37  Dieter  Hagermann  /  Karl-Heinz  Ludwig  (Hrsg.) ,  Europaisches  Montanwesen  im  Hoch- 
mittelalter.  Das  Trienter  Bergrecht  1185-1214,  Koln-Wien  1986,  S.  16f. 

38  Schirmer,  wie  Anm.  26,  S.  187. 


8  Manfred  von  Boetticher 

stitionen  in  einen  „Erbstollen"  konnten  auf  diese  Weise  unmittelbar  gewinnbrin- 
gend  werden. 

Trotz  solcher  Bemiihungen  war  die  Krise  des  Silberbergbaus  auch  in  Bohmen 
und  im  Erzgebirge  nicht  aufzuhalten.  Urn  die  Mitte  des  14.  Jahrhunderts  hatten 
zahlreiche  Bergwerke  bei  Iglau  den  Betrieb  eingestellt.39  Das  Zentrum  der  boh- 
mischen  Silberproduktion  war  inzwischen  auf  ein  neues  Zentrum  iibergegangen. 
Seit  etwa  1290  war  Kuttenberg  (Kutna  Hora)  als  Bergstadt  mit  Iglauer  Recht  ent- 
standen,40  um  1300  stammten  fast  90%  des  bohmischen  Silbers  -  und  damit  mehr 
als  40%  der  europaischen  Silberproduktion  -  aus  Kuttenberg.  Seit  der  zweiten 
Halfte  des  14.  Jahrhunderts  begann  auch  die  Kuttenberger  Silberproduktion  zu 
sinken,41  auch  dort  lagen  Gruben  fur  langere  Zeit  still.42 

In  gleicher  Weise  erlebte  der  Silberbergbau  im  Freiberger  Revier  in  der  zwei- 
ten Halfte  des  14.  Jahrhunderts  einen  Niedergang.43  Nach  rapidem  Wachstum 
bis  zurjahrhundertmitte  konnte  hier  zwarbis  in  die  1390erjahre  immernoch  auf 
hohem  Niveau  Erz  gefordert  werden.  Dann  begannen  jedoch  auch  hier  die  stei- 
genden  Betriebskosten  den  erhofften  Gewinn  in  Frage  zu  stellen.44  Zur  Forde- 
rung  des  Bergbaus  erwarben  die  Landesherren  schlieBlich  mehrere  der  wichtig- 
sten  Stollen,  um  den  Grubenbetreibern  das  Stollen-Neuntel  zu  erlassen.45  Eine 
vollstandige  Einstellung  des  Bergbaus  konnte  dadurch  im  Freiberger  Revier  ver- 
hindert  werden.  Neuere  archaologische  Untersuchungen  zeigen  jedoch  das  Aus- 
maB  des  Niedergangs,  den  derBergbau  seit  Mitte  des  14.  Jahrhunderts  im  Erzge- 
birge genommen  hat.46  Mehrere  im  Hochmittelalter  entstandene  Bergbaustadte 
waren  aufgegeben  worden,47  allein  Freiberg  blieb  iiber  die  Mitte  des  14.  Jahrhun- 
derts hinaus  als  bedeutende  Stadt  bestehen.  Einerseits  lag  dies  an  seiner  Doppel- 
funktion  als  „Berghauptstadt"  und  Handelszentrum.48  Vor  allem  war  dies  eine 
Folge  landesherrlichen  Handelns,  das  das  Freiberger  Revier  in  besonderer  Weise 
gefordert  hatte. 

Um  die  Mitte  des  15.  Jahrhunderts  nahm  die  Montanindustrie  europaweit  ei- 
nen neuen  Aufschwung.  Moglich  geworden  war  dies  vor  allem  durch  ein  neues 
Produktionsverfahren,  das  die  massenhafte  Herstellung  von  Silber  aus  silberhal- 


39  Majer,  Erzbergbau,  wie  Anm.  24,  S.  108. 

40  Handbuch  Historische  Statten,  Bohmen,  wie  Anm.  20,  S.  308. 

41  Majer,  Erzbergbau,  wie  Anm.  24,  S.  112. 

42  Ebenda,  S.  113f. 

43  Schirmer,  wie  Anm.  26,  S.  183. 

44  Vgl.  ebenda,  S.  189 ff. 

45  Urkundenbuch  der  Stadt  Freiberg,  wie  Anm.  32,  S.  XII. 

46  Schwabenicky,  Forschungen,  wie  Anm.  31,  S.  327. 

47  Ebenda,  S.  322 ff. 

48  Ebenda,  S.  328. 


Herrschaft  und  mittelalterliche  Montanindustrie  9 

tigem  Kupfer  und  Blei  erlaubte,  dem  so  genannten  Saigerverfahren.  Dem  ge- 
schmolzenen  Kupfer  wurde  in  groBerer  Menge  geschmolzenes  Blei  zugesetzt. 
Bei  Abkiihlen  erstarrte  zuerst  das  Kupfer,  wahrend  sich  das  fliissige  Blei  mit  dem 
Silber  anreicherte.  Dieses  Blei-Silber-Gemisch  konnte  abgeschopft  werden  und 
erstarrte  ebenfalls  zu  Metallbrocken,  die  auf  dem  Saigerherd  erneut  geschmolzen 
wurden,  wobei  man  nun  das  Blei  vom  Silber  trennte.49  Mit  dem  neuen  Verfahren 
setzte  an  vielen  Standorten  eine  neue  Phase  der  Montanindustrie  ein,  bislang 
nicht  abbauwiirdige  Gruben  wurden  wieder  in  Betrieb  genommen.  Die  politi- 
sche  Dimension  derEntwicklung  wird  besonders  deutlichbei  derTirolerKupfer- 
produktion,  die  um  dasjahr  1500  durch  kaiserliche  Verpfandung  voriibergehend 
unter  die  Kontrolle  des  Augsburger  Kaufhauses  der  Fugger  geriet.50 

Silberfunde  im  Erzgebirge  bei  Schneeberg  und  Annaberg  am  Ende  des  15. 
Jahrhunderts,  die  mit  landesherrlicher  Hilfe  ausgebeutet  wurden,  fiihrten  von 
Neuem  zum  Wachsen  des  „Bergsegens"  fur  die  Wettiner  Landesherren.  Mit  der 
Entdeckung  eines  Silbererzlagers  bei  Joachimsthal,  dessen  erster  Gang  1516 
durch  sachsische  Bergfachleute  angeschlagen  wurde,  setzte  ein  erneuter  Auf- 
schwung  der  bohmischen  Montanindustrie  ein.  Nach  dem  Muster  der  Tiroler 
Silbergulden  begann  man  im  damaligen  Herzogtum  Sachsen  mit  der  Pragung 
eigener  Silbergulden,  die  rasch  auf  den  europaischen  Geldmarkten  kursierten 
und  zum  Vorbild  des  bohmischen  „Joachimsthalers"  wurden,  des  spateren 
„Talers".sl 

Riickwirkungen  auf  den  Harz 

Nach  dem  Niedergang  der  Montanindustrie  in  der  zweiten  Halfte  des  14.  Jahr- 
hunderts war  der  Oberharz  nicht  ganzlich  menschenleer.  Es  wurde  weiterhin 
Fischfang,  Graswirtschaft  und  Holzwirtschaft  betrieben52  -  in  bescheidenem 
MaBe  Bergbau.  Die  Vielzahl  grundherrschaftlicher  Rechte  war  auf  die  welfischen 
Landesherren  iibergegangen,  die  nun  allein  als  Inhaber  der  Bergrechte  hervor- 
traten:  Um  dasjahr  1400  lag  die  Herrschaft  westlich  der  Innerste  und  ostlich  der 


49  Vgl.  Christoph  BARTELs/Gero  Steffens,  Mittelalterliche  und  friihneuzeitliche  Bleige- 
winnung  im  Sauerland.  Interdisziplinare  Untersuchungen  am  Beispiel  der  Grube  Emanuel 
bei  Plettenberg,  in:  Bergbau  im  Sauerland,  hg.  vom  Westfalischen  Schieferbergbaumuseum 
Schmallenberg-Holthausen,  Schmallenberg-Holthausen  1996,  S.  115-132,  hier  S.  11 7f. 

50  Othmar  Pickl,  Kupfererzeugung  und  Kupferhandel  in  den  Ostalpen,  in:  Hermann 
Kellenbenz  (Hrsg.),  Schwerpunkte  der  Kupferproduktion  und  des  Kupferhandels  in  Europa 
1500-1650,  Koln-Wien  1977,  S.  117-147,  hier  S.  138. 

51  Majer,  Erzbergbau,  wie  Anm.  24,  S.  116. 

52  Vgl.  Staatsarchiv  Wolfenbiittel  26  Alt  1146. 


10  Manfred  von  Boetticher 

Oker  offenbar  bei  den  Herzogen  zu  Gottingen,  das  dazwischen  liegende  Gebiet 
siidlich  des  Goslarer  Stadtwaldes  gehorte  den  Herzogen  zu  Grubenhagen.  Bei- 
den  Welfenhausern  kam  die  Berghoheit  beim  verlassenen  Kloster  Zella,  d.  h.  auf 
dem  „Zellerfeld"  zu.  1413  belehnten  die  Herzoge  gemeinsam  mehrere  Einbecker 
Burger  mit  dem  „Bergwerk  auf  dem  Zellerfeld",  der  Gottinger  Herzog  allein  er- 
scheint  damals  als  Lehnsherr  von  Bergwerken  im  Pandelbachtal  westlich  der  In- 
nerste.53  Als  Rechtsnachfolger  der  Gottinger  Herzoge  vergab  Heinrich  derFried- 
fertige  zu  Wolfenbiittel  1463  einen  „Silberberg"  namens  Kranichberg  (Krantzberg) 
bei  Lautenthal  und  ein  Bergwerk  im  Wintertal  (siidlich  Goslar  zwischen  dem 
Rammelsberg  und  dem  Herzberg).54  Noch  Anfang  des  16.  Jahrhunderts  berich- 
ten  Zeugen,  auf  dem  Zellerfeld  hatten  bis  vor  kurzem  Bergwerke  bestanden  -  in 
der  Zustandigkeit  eines  Grubenhagener  Bergvogts55  und  im  Besitz  Einbecker 
Burger,  die  auf  dem  Zellerfeld  lebten.56  Besonders  ergiebig  war  dieser  Bergbau 
aber  wohl  kaum. 

Dagegen  bemiihte  sich  seit  der  Mitte  des  14.  Jahrhunderts  die  Reichsstadt 
Goslar  mit  Erfolg,  ihre  Positionen  im  Harzer  Bergbau  zu  erweitern.  1359  erwarb 
der  Rat  von  den  welfischen  Landesherren  pfandweise  Zehnt  und  Gericht  am 
Rammelsberg57  und  trat  als  Kaufer  von  Grubenteilen  in  Erscheinung.58  Bis  1511 
hatte  die  Stadt  das  gesamte  dortige  Bergwerk  in  ihren  Besitz  gebracht.59  Seit  Be- 
ginn  des  15.  Jahrhunderts  erfolgten  Versuche  der  Stadt,  den  Wasserspiegel  in  den 
vollgelaufenen  Gruben  zu  senken  -  mehrfach  durch  Spezialisten  aus  Bohmen 


53  Hauptstaatsarchiv  Hannover  Cop.  Ill  6,  Nr.  46  und  47. 

54  Staatsarchiv  Wolfenbiittel  2  Alt  3445,  Bl.  4;  fiir  die  Hilfe  bei  der  Lokalisierung  danke 
ich  Herrn  Dr.-Ing.  Hans  Bauer. 

55  Staatsarchiv  Wolfenbiittel  26  Alt  1146,  Bl.  61  R. 

56  Staatsarchiv  Wolfenbiittel  26  Alt  1146,  Bl.  86,  95. 

57  Karl  Frolich,  Die  Besitz-  und  Herrschaftsverhaltnisse  in  der  Waldmark  bei  Goslar  bis 
um  die  Mitte  des  15.  Jahrhunderts,  in:  Abhandlungen  zur  Rechts-  und  Wirtschaftsgeschichte. 
Festschrift  Adolf  Zycha  zum  70  Geburtstag,  Weimar  1941,  S.  123-172,  hier  S.  129;  Bartels,  Rie- 
chenberger  Vertrag,  wie  Anm.  8,  S.  69;  Christoph  Bartels,  Der  Bergbau  des  nordwestlichen 
Harzes  im  14.  und  15.  Jahrhundert,  in:  Tasser/  Westermann,  wie  Anm.  3,  S.  19-44,  hier  S.  21; 
Urkundenbuch  Goslar,  wie  Anm.  12,  Bd.  4,  Halle  1905,  Nr.  659  und  660  (Ernst  derjiingere  und 
sein  Sohn  Otto);  ebenda,  Nr.  661  und  662  (Ernst  der  Altere  und  sein  Sohn  Albrecht). 

58  Christoph  Bartels,  Strukturwandel  in  Montanbetrieben  des  Mittelalters  und  der  frii- 
hen  Neuzeit  in  Abhangigkeit  von  Lagerstattenstrukturen  und  Technologie  -  Der  Rammels- 
berg bei  Goslar  1300-1470  -  St.  Joachimsthal  im  bohmischen  Erzgebirge  um  1580,  in:  Hans 
Jiirgen  Gerhard,  (Hrsg.),  Struktur  und  Dimension.  Festschrift  fiir  Karl  Heinrich  Kaufhold, 
Bd.  1,  Mittelalter  und  Friihe  Neuzeit,  Stuttgart  1997,  S.  25-70,  hier  S.  51. 

59  Christian  Wilhelm  von  Dohm,  Goslar,  seine  Bergwerke,  Forsten  und  schutzherrlichen 
Verhaltnisse,  in:  Hercynisches  Archiv  oder  Beitrage  zur  Kunde  des  Harzes  und  seiner  Nach- 
barlander,  hg.  von  Christian  Erdwin  Philipp  Holzmann,  Halle  1805,  S.  378-440,  hier  S.  383. 


Herrschaft  und  mittelalterliche  Montanindustrie  11 

und  dem  Erzgebirge.60  Zwischen  1453  und  1456  gelang  schlieBlich  die  Trocken- 
legung.61 

In  jenenjahrzehnten  brachte  die  Stadt  ebenfalls  pfandweise  einen  groBen  Teil 
des  Oberharzer  Waldes  in  ihren  Besitz,  dessen  Holz  fur  den  Bergbau  benotigt 
wurde.62  Die  friihere  Zersplitterung  der  Besitztitel  schien  aufgehoben,  die 
Reichsstadt  hatte  sich  durchgesetzt,  ein  neuer  Aufschwung  konnte  beginnen. 
Durch  die  Silberherstellung  nach  dem  Saigerverfahren,  bei  dem  riesige  Mengen 
Blei  gebraucht  wurden,  wuchs  zudem  sprunghaft  das  Interesse  an  Bleierzen,  die 
nun  am  Rammelsberg  in  den  Mittelpunkt  der  Verwertung  riickten.63  Vorhande- 
ne  Schachte  konnten  zur  ErschlieBung  bleireicher  Partien  genutzt,  das  Metall  in 
groBer  Menge  zur  Entsilberung  des  Kupfers  exportiert  werden.64 

Allerdings  hatte  die  Reichsstadt  ihre  Rechnung  ohne  die  fiirstliche  Landes- 
herrschaft  gemacht,  die  nun  ebenfalls  versuchte,  die  Harzer  Erzressourcen  an 
sich  zu  bringen.  Nachdem  Mansfelder  Bergleute,  durch  private  Geldgeber  ins 
Hohnsteiner  Gebiet  am  Siidharz  gelockt,  auf  eine  bislang  unentdeckte  Silberader 
gestoBen  waren,65  erlieBen  die  Grafen  von  Hohnstein  1521  in  enger  Anlehnung 
an  die  Gesetzgebung  im  Erzgebirge  die  erste  Oberharzer  Bergfreiheit.66  Einer- 
seits  wurde  darin  die  freie  Suche  und  Ausbeute  des  Erzes  ermoglicht,  anderer- 
seits  ein  Vorkaufsrecht  der  Grafen  festgeschrieben  -  eine  Anwendung  des  Berg- 
regals,  wie  sie  fur  den  Harz  neu  war.  Das  folgendejahrzehnt  brachte  ein  rasantes 
Wachstum  einerneuen  Bergstadt  -  St.  Andreasberg  -  vor  allem  durch  Einwande- 
rer  aus  Annaberg,  Schneeberg  und  Joachimsthal.67 

Entscheidend  fur  den  Fortgang  der  Montanindustrie  im  Oberharz  wurde  je- 
doch  ein  Herzog,  der  es  als  einer  der  ersten  norddeutschen  Landesherren  ver- 
stand,  in  seinem  Fiirstentum  die  Entwicklung  zum  friihmodernen  Territorialstaat 


60  Bornhardt,  wie  Anm.  15,  S.  79ff.;  84ff.;  Rosenhainer,  Unterharzer  Hiittenwesen,  wie 
Anm.  24,  S.  44;  Bartels,  Goslar  und  der  Bergbau,  wie  Anm.  12,  S.  168. 

61  Hans-Joachim  Kraschewski,  Zur  Arbeitsverfassung  des  Goslarer  Bergbaus  am  Ram- 
melsberg in  der  ersten  Halfte  des  15.  Jahrhunderts,  in:  Niedersachsischesjahrbuch  fur  Lan- 
desgeschichte  6,  1994,  S.  1-45,  hier  S.  4. 

62  Albert  Volker,  Die  Forsten  der  Stadt  Goslar  bis  1552,  Goslar  1922. 

63  Bartels,  Strukturwandel,  wie  Anm.  58,  S.  53. 

64  Vgl.  Bartels,  Goslar  und  der  Bergbau,  wie  Anm.  12,  S.  169. 

65  Friedrich  Gunther,  Die  alteste  Geschichte  von  S.  Andreasberg  und  ihre  Freiheiten, 
in:  Zeitschrift  des  Harz-Vereins  42,  1909,  S.  191-213,  hier  S.  195 ff.;  vgl.  Jager  Friedrich,  Ent- 
wicklung und  Wandlung  der  Oberharzer  Bergstadte.  Ein  siedlungsgeographischer  Vergleich, 
Clausthal-Zellerfeld  1972,  S.  6;  Hans-Werner  NiEMANN/Dagmar  Niemann-Witter,  Die  Ge- 
schichte des  Bergbaus  in  St.  Andreasberg,  Clausthal-Zellerfeld  1991,  S.  3. 

66  Ebenda,  S.  5f. 

67  Jager,  Entwicklung,  wie  Anm.  65,  S.  6;  Niemann  /Niemann-Witter,  Andreasberg,  wie 
Anm.  65,  S.  7. 


12  Manfred  von  Boetticher 

einzuleiten  und  der  dabei  von  Anfang  an  die  Bedeutung  der  Erzressourcen  er- 
kannt  hatte:  Heinrich  derjiingere.68  Durch  den  Anfall  des  Fiirstentums  Gottin- 
gen  hatte  das  Fiirstentum  Braunschweig-Wolfenbiittel  1442  dessen  territoriale 
Stellung  am  Oberharz  iibernommen.  Bergleute  der  Eisenhiitten  bei  Gittelde  und 
Grund  waren  Anfang  des  lG.Jahrhunderts  auf  Silbererz  gestoBen69  und  den  Erz- 
adern  in  den  Oberharz  hinein  gefolgt. 

Urn  die  dortige  Silberproduktion  voranzutreiben,  iibernahm  Heinrich  derjiin- 
gere Erfahrungen  aus  den  bohmischen  und  sachsischen  Revieren.  1524  erwirkte 
er  vom  grundherrlichen  Unternehmer  in  Joachimsthal,  Graf  Stefan  Schlick,  die 
Ubersendung  von  Fachleuten.70  Als  eine  der  ersten  MaBnahmen  wurde  mit  der 
Weiterfiihrung  des  mittelalterlichen  Stollens  an  der  Innerste  eine  langfristige  Lo- 
sung  des  iiberkommenen  Wasserproblems  angegangen,71  gleichzeitig  eine  Berg- 
ordnung  fur  „Grund  und  umliegende  Gebirge"  erlassen.72 

Beraten  von  Herzog  Georg  von  Sachsen,  mit  dem  ihn  auch  die  gemeinsame 
Abwehr  der  lutherischen  Reformation  verband,  lieB  es  der  Wolfenbiitteler  Her- 
zog nicht  mit  der  Einfiihrung  einer  allgemeinen  Bergordnung  bewenden,  die  auf 
Bergbaufreiheit  und  Erbstollenrecht  basierte.73  Er  begann  mit  dem  Aufbau  einer 
eigenen  Bergverwaltung,74  die  den  Landesherrn  in  wenigenjahrzehnten  auf  dem 
Gebiet  der  Montanindustrie  zum  eigentlichen  Unternehmer  werden  lieB.  Es  ent- 

68  Vgl.  Sabine  Schumann,  Joachim  Mynsinger  von  Frundeck  (1514-1588).  Herzoglicher 
Kanzler  in  Wolfenbiittel  -  Rechtsgelehrter  -  Humanist.  Zur  Biographie  eines  Juristen  im  16. 
Jahrhundert,  Wiesbaden  1983,  S.  114;  Rainer  Taubrich,  Herzog  Heinrich  derjiingere  von 
Braunschweig-Wolfenbiittel  (1489-1568).  Leben  und  Politikbis  zum  Primogeniturvertrag  von 
1535,  Braunschweig  1991,  S.  114f.;  Carl-Hans  Hauptmeyer/ Martin  Stober,  Der  Riechenber- 
ger  Vertrag  im  Kontext  der  Politik  Heinrichs  des  Jiingeren,  in:  Riechenberger  Vertrag,  wie 
Anm.  8,  109-124. 

69  Jager,  Entwicklung,  wie  Anm.  65,  S.  18. 

70  Hauptstaatsarchiv  Hannover,  Bergarchiv  Clausthal  Hann.  84  la,  Nr.  1;  vgl.  Ekkehard 
Henschke,  Landesherrschaft  und  Bergbauwirtschaft.  Zur  Wirtschafts-  und  Verwaltungsge- 
schichte  des  Oberharzer  Bergbaugebietes  im  16.  und  17.  Jahrhundert,  Berlin  1974,  S.  42. 

71  Hauptstaatsarchiv  Hannover,  Bergarchiv  Clausthal  Hann  84a,  Nr.  6682;  unter  Beru- 
fung  auf  Hake:  Christoph  Bartels,  Der  Betriebsmittelverbrauch  Oberharzer  Zechen  im  16., 
17.  und  18.  Jahrhundert,  in:  Ekkehard  Westermann  (Hrsg.),  Bergbaureviere  als  Verbrauchs- 
zentren  im  vorindustriellen  Europa,  Stuttgart  1997,  S.  145-173,  hier  S.  149. 

72  Friedrich  Gunther,  Die  Besiedelung  des  Oberharzes,  in:  Zeitschrift  des  Harz-Vereins 
17,  1884,  S.  1-41,  hierS.  13;  Gunther,  Friedrich,  Die  Bergfreiheiten  des  friiheren  Kommuni- 
on-Oberharzes  und  ihre  Geschichte,  in:  Zeitschrift  des  Harz-Vereins  39,  1906,  S.  255-307, 
hier  S.  257ff. 

73  Willecke,  Entwicklung,  wie  Anm.  10,  S.  61,  69;  vgl.  Wilhelm  Streit,  Vergleichende 
Darstellung  der  Oberharzer  Bergrechte  und  des  alteren  deutschen  Bergrechts,  Diss. 
Clausthal  1966,  S.  39,  46. 

74  Bergchronik,  wie  Anm.  7,  S.  36;  Gunther,  Besiedelung,  wie  Anm.  72,  S.  13;  Hensch- 
ke, Landesherrschaft,  wie  Anm.  70,  S.  42f.;  vgl.  Hans-Joachim  Kraschewski,  Wirtschaftspo- 


Herrschaft  und  mittelalterliche  Montanindustrie  13 

standen  Bergstadte  wie  Wildemann  und  Zellerfeld  mit  eigenem  landesherrlichen 
Recht.75  Vom  Erzgebirge  her  wurde  der  Oberharz  neu  besiedelt.76 

Voraussetzung  dieser  Politik  war  eine  neue  Festlegung  der  Hoheitsverhaltnisse 
im  Oberharz,  die  Heinrich  der  Jiingere  mit  wenig  Skrupeln  zu  seinen  Gunsten 
entschied.  Auf  der  Strecke  blieben  die  Rechte  des  Fiirstentums  Grubenhagen, 
dem  bei  einer  erzwungenen  Teilung  des  Gebietes  nur  das  siidliche  Zellerfeld  mit 
Clausthal  und  Altenau  zugestanden  wurde,77  wo  die  Grubenhagener  Herzoge 
dann  bald  ihre  eigene  Montanindustrie  aufbauten.  Auf  der  Strecke  blieb  vor  al- 
lem  die  Reichsstadt  Goslar,  die  nach  ihrer  militarischen  Niederlage  gegen  Hein- 
rich denjiingeren  ihre  Rechte  am  Rammelsberg  und  an  den  Harzwaldern  an  das 
Fiirstentum  Wolfenbiittel  abtreten  musste.78 

Ausblick 

Wie  sich  gezeigt  hat,  war  der  Niedergang  des  Bergbaus  im  Erzgebirge  im  14.  Jahr- 
hundert  groBer,  als  vielfach  angenommen.  Demgegeniiber  war  der  Bergbau  im 
Oberharz  im  15. Jahrhundert  nicht  ganzlich  zum  Erliegen  gekommen.  Allerdings 
erfuhr  er  von  den  Grubenhagener  Herzogen  kaum  eine  nennenswerte  Forde- 
rung.  Gegen  eine  solche  Herrschaft  konnte  sich  das  Fiirstentum  Wolfenbiittel  oh- 
ne  Schwierigkeiten  durchsetzen.  Nach  sachsischem  Vorbild  nahm  die  Wolfen- 
biitteler  Bergverwaltung  in  ihrem  neuen  Hoheitsbereich  die  Ressourcen  der 
Montanindustrie  unter  zentrale  Kontrolle  -  nach  einer  eher  indirekten  Wahrneh- 
mung  der  Berghoheit,  wie  sie  sich  im  Mittelalter  in  Bohmen  oder  im  Erzgebirge 
herausgebildet  hatte,  in  gewisser  Weise  eine  Riickkehrzum  fruhmittelalterlichen 
Herrschaftsanspruch,  jedoch  unter  Bewahrung  der  seither  entwickelten  Rechts- 
formen:  Trennung  von  Bergrecht  und  Grundherrschaft,  Erbstollenrecht  und 
Bergfreiheit,  letztere  freilich  im  Rahmen  enger  werdenderVorgaben  des  friihmo- 
dernen  Staates.  Ein  Aufschwung  der  Produktion  lieB  in  den  folgenden Jahrzehn- 
ten  nicht  auf  sich  warten. 

Sicher  ware  es  verfehlt,  den  jeweiligen  Herrschaftsverhaltnissen  fiir  die  Ent- 
wicklung  der  Montanindustrie  in  einer  Region  alleinige  Bedeutung  zuzuspre- 


litik  im  deutschen  Territorialstaat  des  16.  Jahrhunderts.  Herzog  Julius  von  Braunschweig- 
Wolfenbuttel  (1526-1589),  Koln-Wien  1978,  S.  54. 

75  Bergchronik,  wie  Anm.  7,  S.  38ff.;  Gunther,  Besiedelung,  wie  Anm.  72,  S.  13f.  (1524 
fiir  Grund  und  Zellerfeld,  1553  fiir  Zellerfeld,  Wildemann  und  Grund);  vgl.  Erich  Borchers, 
Sprach-  und  Griindungsgeschichte  dererzgebirgischen  Kolonie  im  Oberharz,  Marburg  1927, 
S.  7. 

76  Ebenda,  S.  32 f. 

77  Gunther,  Besiedelung,  wie  Anm.  72,  S.  14. 

78  Vgl.  Hauptmeyer/Stober,  wie  Anm.  68,  S.  109. 


14  Manfred  von  Boetticher 

chen.  Nirgendwo  konnte  der  Herrschaft  primare  Bedeutung  zukommen;  ent- 
scheidend  war  iiberall  zunachst  einmal  das  Vorhandensein  ausreichender  Lager- 
statten.  Wenn  der  Deutsche  Orden  fur  das  Kulmer  Land  nach  Freiberger  Vorbild 
eine  allgemeine  Bergfreiheit  aussprach,  sich  im  Pruzzen-Land  aber  keine  Erze 
fanden,  musste  dies  folgenlos  bleiben.  Waren  andererseits  die  Silberbarren  nur 
knapp  unter  der  Erdoberf  lache  auszugraben  gewesen,  ware  dies  unter  beliebigen 
Herrschaftsbedingungen  und  jedem  demographischen  Einbruch  zum  Trotz  ge- 
schehen. 

Bei  den  dargestellten  Montanregionen  kam  derLandesherrschaftjedoch  gera- 
de  nach  der  Krise  des  14.  Jahrhunderts  fur  den  Fortgang  des  Bergbaus  wesentli- 
che  Bedeutung  zu,  auch  wenn  die  Rationalitat  einer  solchen  Politik  nicht  in  jedem 
Fall  mit  heutigen  MaBstaben  zu  beurteilen  ist.  Das  leichtfertige  Vertrauen,  mit 
dem  der  Wolfenbiitteler  Hof  unter  Herzog Julius,  dem  Nachfolger  Heinrichs  des 
Jiingeren,  mehrere  Jahre  mit  hohen  Summen  betriigerische  Goldmacher  auf  de- 
ren  Suche  nach  dem  „Stein  der  Weisen"  finanzierte,  macht  dies  deutlich.79  Deut- 
lich  wird  dadurch  aber  noch  einmal  der  zentrale  Stellenwert,  den  die  Montanin- 
dustrie  fur  die  Wolfenbiitteler  Landesherrschaft  inzwischen  eingenommen  hatte. 
DerHarzerBergbau  -  unter  den  zersplitterten  Herrschafts-  und  Besitzstrukturen 
des  spaten  Mittelalters  zum  Scheitern  verurteilt  -  konnte  bei  solchem  landesherr- 
lichen  Engagement  wieder  Anschluss  an  Entwicklungen  in  den  ostlichen  Nach- 
barregionen  gewinnen. 


79    A.  Rhamm,  Die  betriiglichen  Goldmacher  am  Hofe  des  Herzogs  Julius  von  Braun- 
schweig, Wolfenbiittel  1883,  S.  11. 


2. 

Steinkohle  als  Ausweg? 

Der  lange  Weg  vom  solaren  zum  fossilen  Zeitalter 
im  mittleren  Niedersachsen 

Von  Dirk  Neuber 


Im  Jahr  1614  warnte  der  Schaumburger  Chronist  Spangenberg  vor  einem  dro- 
henden  Holzmangel:  So  nehmen  die  Bergwerck,  Glasehiitte,  Saltzpfannen,  Kalckofen 
und  das  Schmiedewerck  tdgliches  ein  grosses  Holtz  hinweg;  ja  wie  viel  mehr  Holz  frisset 
und verzehret  nunmehr der Brawhandel;  und  muji  gleichwohl  aber[.  .  .]  der gemeine Mann 
auchsein  nottiirfftiges Fewrholtzhaben.  Er  wiesjedoch  auch  bereits  auf  die  mogliche 
Losung  des  Problems  hin:  Lieberwas  woltgeschehen,  wenn  Gott  nicht  in  diesen  und  den 
benachbarten  Landen  die  Steinkohlen  geoffenbaret  hette? l  In  der  Tat  zog  sich  im  heuti- 
gen  Niedersachen  entlang  der  Mittelgebirge  vom  Osnabriickischen  bis  ins  Lei- 
ne-Weserbergland  ein  Band  von  Steinkohlelagerstatten,2  die  damals  bereits  vie- 
lerorts  ausgebeutet  wurden.  Es  sollte  freilich  noch  mehr  als  zwei  Jahrhunderte 
dauern,  bevor  im  Zuge  der  Industrialisierung  des  19.  Jahrhunderts  diese  „gottli- 
che  Offenbarung"  in  groBem  Umfang  genutzt  wurde. 

Im  Folgenden  soil  aufgezeigt  werden,  welche  energie-  und  wirtschaftsge- 
schichtlichen  Vorteile  sich  fur  eine  vorindustrielle  Region  ergaben,  deren  Sali- 
nen,  Ziegeleien,  Glashiitten,  Kalk-  und  Branntweinbrennereien  nicht  allein  auf 
den  -  nurlangsam  nachwachsenden  -  Brennstoff  Holz  angewiesen  waren.  Nicht 
minder  interessant  und  aufschlussreich  war  der  ebenfalls  sehr  zogerliche  Prozess 

1  Cyriakus  Spangenberg,  Chronicon:  In  welchem  der  Grafen  zu  Holstein,  Schaumburg, 
Sternberg  und  Gemen  Ankunft  u.  wie  sie  die  Grafschaften  bekommen,  wie  lange  sie  die, 
auch  das  Herzogtum  Schleswig  besessen  [.  .  .],  Stadthagen  1614,  S.  6.  Der  vorliegende  Auf- 
satz  basiert  auf  Ergebnissen  meiner  Dissertation:  Energie-  und  Umweltgeschichte  des  nie- 
dersachsischen  Steinkohlenbergbaus.  Von  der  Friihen  Neuzeit  bis  zum  Ersten  Weltkrieg, 
Hannover  2002. 

2  Auch  beim  preufiischen  bzw.  heute  nordrhein-westfalischen  Minden  wurde  von 
der  Mitte  des  17.  Jahrhunderts  bis  1958  ebenfalls  Wealdenkohle  abgebaut,  vgl.  Hans  Rohrs 
Erz  und  Kohle.  Bergbau  und  Eisenhiitten  zwischen  Ems  und  Weser,  Ibbenburen  1992, 
S.  208-222. 


16  Dirk  Neuber 

der  Verbreitung  des  Steinkohlenbrandes  in  privaten  Haushalten,  der  jedoch  im 
Rahmen  dieses  Aufsatzes  nicht  naher  thematisiert  werden  kann.3 

Um  den  Umstellungsprozess  vom  Holz  zur  Kohle  zu  verdeudichen,  soil  am 
Beispiel  einiger  ausgewahlter  Gewerbezweige  veranschaulicht  werden,  welche 
Griinde  fiir  die  Einfuhrimg  des  Steinkohlenbrandes  sprachen,  wie  und  wann  er 
sich  gegen  das  Holz  durchsetzte  und  auch,  welche  Hemmnisse  ihm  entgegen 
standen.  Zuvorist  es  jedoch  notwendig,  die  einzelnen  Reviere  kurz  vorzustellen. 

Die  niedersachsischen  Steinkohlenreviere 

Im  wesdichen  Niedersachsen  begannen  die  abbauwiirdigen  Kohlevorkommen 
im  Osnabriicker  Hiigelland  am  Piesberg,  bei  Bohmte  und  Lintorf  sowie  im  nord- 
lichen  Teutoburger  Wald.  Weitere  Steinkohlereviere  lagen  im  ostlich  der  Weser 
gelegenen  niedersachsischen  Weser-  und  Leinebergland  in  den  Biickebergen, 
den  Rehburger  Bergen,  dem  Deister,  Siintel,  Nesselberg,  Osterwald  und  Hils.4 
Kleinere  Steinkohlevorkommen  etwa  bei  Helmstedt  spielten  dagegen  nur  eine 
Nebenrolle. 

Die  im  mittleren  Niedersachsen  abgebaute  Kohle  entstammte  verschiedenen 
Erdzeitaltern:  Im  Helmstedter  Raum  waren  dies  eher  unbedeutende  Vorkom- 
men  aus  dem  oberen  und  unteren  Keuper.  Am  Osnabriicker  Piesberg  wurden 
vier  rund  300  Mio.  Jahre  alte  Floze  der  fiir  den  westfalischen  Raum  charakteristi- 
schen  Karbonformation  abgebaut;  in  alien  iibrigen  Revieren  die  vor  etwa  135 
Mio.  Jahren  entstandenen  Lagerstatten  der  Wealden-Formation.5  Letztere  tritt 
insbesondere  an  den  Bergriicken  zwischen  Georgsmarienhiitte  im  Westen,  Sehn- 
de  im  Osten,  Neustadt  a.  Rbge.  im  Norden  und  dem  Hils  im  Siiden  zutage.  Die 
bis  zu  500  m  machtigen  Wealden-Schichten  enthalten  neben  Ton-  und  Sand- 
steinschichten  zahlreiche  Kohlenfloze  mit  wechselnder  Machtigkeit,  von  denen 
beispielsweise  in  Schaumburg  nur  das  Hauptfloz,  siidostlich  von  Osnabriick  da- 
gegen gleich  vier  als  abbauwiirdig  galten. 

Entsprechend  der  Zusammensetzung  der  geforderten  Kohlesorten  (Gehalt  an 
fliichtigen  Bestandteilen,  Asche  und  Schwefel)  wurden  sie  zu  verschiedenen 


3  Ausfuhrlich  dazu  vgl.  Neuber,  Energie-  und  Umweltgeschichte,  wie  Anm.  1,  S.  155-185. 

4  Als  Uberblick  zu  jenen  Revieren  vgl.  Dirk  Neuber,  Nicht  nur  Kali  -  Der  Steinkohlen- 
bergbau  zwischen  Weser  und  Leine,  in:  Hans  Peter  Riesche  und  Peter  Schulze  (Hrsg.),  Die 
Kaliindustrie  in  der  Region  Hannover  -  Versuch  einer  Jahrhundertbilanz,  Bielefeld  2004, 
S.  297-326. 

5  Ausfuhrlich  zur  Geologie  des  norddeutschen  Wealden  (Berrias)  vgl.  Horst  Falke,  Der 
Wealden-Steinkohlenbergbau  in  Niedersachsen,  Oldenburg  i.  O.  1944,  S.  10ff.;  Armin 
Graupner,  Der  Berrias-Steinkohlenbergbau  in  Niedersachsen  1945-1963,  Gottingen  1980, 
S.  9ff. 


Steinkohle  als  Ausweg?  17 

Zwecken  verwendet:  Der  nahezu  rauchfrei  verbrennende  hochwertige  Piesber- 
ger  Anthrazit  eignete  sich  besonders  gut  zum  Hausbrand,  wohingegen  die  Weal- 
denkohle  eher  minderwertig  war:  Ihre  besseren  Sorten  fanden  beim  Schmieden 
Verwendung,  die  schlechteren,  asche-  und  schwefelreichen  Brandkohlen  dienten 
vor  allem  gewerblichen  Feuerungszwecken. 

Die  Beschaffenheit  der  Wealdenkohle  richtete  sich  nicht  nach  ihrem  geologi- 
schen  Alter,  sondern  war  selbst  innerhalb  eines  Flozes  groBen  Schwankungen  un- 
terworfen.  Generell  war  die  Kohle  in  den  oberf lachennahen  Stollenrevieren  star- 
ker entgast  als  in  den  Tiefbaurevieren:  mit  zunehmender  Abbautiefe  nahm  der 
Gehalt  fliichtiger  Bestandteile  zu  und  machte  sie  damit  fur  die  Verkokung  geeig- 
neter.  Doch  auch  die  Beschaffenheit  der  Gesteinspartien  iiber  dem  Floz  spielte  ei- 
ne  Rolle.  So  hemmten  in  Schaumburg  dichte  Schiefertone  die  Entgasung,6  was 
immer  wieder  zu  verheerenden  Grubengasexplosionen  fiihrte,  die  man  mit  dem 
kostspieligen  Betrieb  von  Wetterofen  und  spater  elektrischen  Ventilatoren  zu  ver- 
hindert  suchte.7  Am  Deister  dagegen  verteuerten  hohe  Wasserzufliisse  in  den 
Tiefbaurevieren  den  Bergbau.8  Um  1925  mussten  dort  z.B.  zur  Forderung  von  ei- 
ner  Tonne  Kohle  33  t  Wasser  abgepumpt  werden.9 

Eine  geologische  Besonderheit  betraf  das  nordlich  von  Osnabriick  gelegene 
Kohlevorkommen  aus  dem  Karbon  im  Piesberg.  Dieses  war  durch  magmatische 
Gesteine  im  Untergrund  derart  aufgeheizt  worden,  dass  sie  zu  nahezu  vollstandig 
entgastem  Anthrazit  wurden,  welcher  sich  hervorragend  sowohl  zum  Hausbrand 
als  auch  fur  sonstige  Feuerungszwecke  eignete.10  Der  Piesberg  besaB  auch  beziig- 
lich  der  Machtigkeit  seiner  vier  Kohlefloze  von  80,  52,  110  und  68  Zentimetern11 


6  Walter  Heidorn,  Der  niedersachsische  Steinkohlenbergbau,  in:  Jahrbuch  der  Geogra- 
phischen  Gesellschaft  zu  Hannover,  1927,  S.  1-43,  S.  9-12.  Georg  Romhild,  Montanindustrie 
an  der  Peripherie.  Die  nordwestdeutsche  Wealdenkohle  und  der  fruhere  Bergbau  im  Ge- 
samtbergamt  Obernkirchen-Barsinghausen  -  im  Ubergang  von  der  Friih-  zur  Hochindu- 
strialisierung  -  unter  besonderer  Beriicksichtigung  des  1961  erloschenen  Schaumburger 
Steinkohlenbergbaus,  in:  Siedlungsforschung.  Archaologie  -  Geschichte  -  Geographie  16, 
1998,  S.  279-327,  S.287f. 

7  Otto  Schunke;  Gustav  Schulbe  [Breyer],  Die  Schaumburger  Gesamtsteinkohlenberg- 
werke,  Ms.  o.  O.,  ca.  1935,  S.  153ff.;  Wilhelm  Weiland,  Die  Schaumburger  Kohlenbergwer- 
ke,  Stadthagen  1976,  S.  88-92. 

8  Heidorn,  Steinkohlenbergbau,  wie  Anm.  6,  S.  9-12. 

9  Bracht,  (Oberbergrat),  Die  Gewinnung  der  niedersachsischen  Steinkohlenvorkom- 
men,  in:  Mitteilungen  der  hannoverschen  Hochschulgemeinschaft,  8  (1925),  S.  61-67;  S.  62, 
S.  66f. 

10  Rohrs,  Erz,  wie  Anm.  2,  S.  55,  105. 

11  Armin  Graupner,  Unterirdische  Lagerstatten:  Steinkohle,  in:  Behr,  Hans-Joachim 
(Hrsg.),  Der  Landkreis  Osnabriick.  Geschichte  und  Gegenwart.  Osnabriick  1971,  S.  32-41; 
S.  32 ff. 


18  Dirk  Neuber 

eine  vergleichsweise  giinstige  Lagerstattensituation.  In  den  iibrigen  niedersachsi- 
schen  Revieren  wurde  namlich  haufig  nur  ein  Floz  mit  selten  mehr  als  50  cm 
„Machtigkeit"  abgebaut,  wobei  ca.  20  cm  die  untere  Grenze  der  Abbauwiirdig- 
keit  darstellten. 12  Bei  derartigen  Verhaltnissen  waren  die  Bergleute  zum  Arbeiten 
im  Liegen  gezwungen.13  Ihre  harte  Arbeit  beim  Abbau  und  Transport  der  Kohle 
zur  Forderstrecke  unterschied  sich  noch  im  friihen  20.  Jahrhundert  kaum  von 
den  Arbeitsbedingungen  in  denjahrhunderten  davor:  Die  Kohle  wurde  von  dem 
auf  engstem  Raum  bei  sparlicher  Beleuchtung  liegenden  Hauer  mit  der  Keilhaue 
aus  dem  Floz  gebrochen  und  dann  aufwandig  zum  nachsten  Schacht  oder  Stol- 
lenmundloch  befordert.14  Seit  den  1920erjahren  brachten  zwar  Presslufthammer 
und  Schiittelrutschen  Arbeitserleichterungen  und  Produktivitatssteigerungen. 
Der  Einsatz  effektiverer  Fordermaschinen  wurde  jedoch  durch  die  geringe  Floz- 
machtigkeit  ausgeschlossen.15  So  konnten  Ausweitungen  der  Forderung  fast  nur 
iiber  groBere  Belegschaften  erzielt  werden,  wahrend  zugleich  mit  zunehmender 


12  Heidorn,  Steinkohlenbergbau,  wie  Anm.  6,  S.  17. 

13  Zu  den  Arbeitsbedingungen  der  Bergleute  vgl.  Rohrs,  Erz,  wie  Anm.  2,  S.  73f.  (Pies- 
berg),  S.  88ff.  (Borgloh),  ebenso  fur  Borgloh-Oesede:  Rene  Ott,  Kohle,  Stahl  und  Klassen- 
kampf.  Montanindustrie,  Arbeiterschaft  und  Arbeiterbewegung  im  Osnabriicker  Land 
1857-1878,  Frankfurt/New  York  1982,  S.  65ff.  Fur  die  ostlicheren  Reviere  vgl.  Bracht,  Ge- 
winnung,  wie  Anm.  9,  S.  63ff.;  W.  Heidemann,  MaschinenmaBige  Kohlengewinnung  und 
Abbauiorderung  beim  Abbau  geringmachtiger,  flachgelagerter  Steinkohlenfloze,  in:  Gliick- 
auf63,  1927,  Nr.  21,  S.  749-759,  Nr.  22,  S.  789-798;  insbes.  S.  753 ff.  Speziell  zu  Schaumburg 
vgl.  Karl  Heinz  Schneider,  Schaumburg  in  der  Industrialisierung,  Teil  2,  Von  der  Reichs- 
grundungbis  zum  Ersten  Weltkrieg,  Melle  1995,  S.  65ff. ;  zum  Deister  Karin  Schmidtke,  Die 
Arbeitswelt  der  Bergleute,  in:  Steigerwald,  Eckard  (Red.),  Barsinghausen  unter  Kloppel, 
Schlegel  und  Eisen,  Barsinghausen  1994,  S.  133-154.  Ausfuhrlichste  und  dank  zahlreicher 
Abbildungen  anschaulichste  Darstellung  der  Arbeitsbedingungen  im  Deisterbergbau  im 
20.  Jahrhundert  bei  Horst  Krenzel,  Kohlenberge  und  Arschbackenschaufel,  Horb  a.  Ne- 
ckar  2007.  Eindrucksvolle  Schilderungen  bei  Hermann  Lons,  Von  Barsinghausen  nach  Ege- 
storf,  in:  Hannoverscher  Anzeiger,  Beilagen  Nr.  150,  151  und  152  (26.,  27.  und  29.8.1893); 
sowie  ders.:  Tief  unterm  Deister,  in:  Hannoversche  Allgemeine  Zeitung,  18.1.1903,  abge- 
druckt  in:  Mierau,  Udo;  Wildhagen,  Gudrun:  „Ich  weif  ein  Land  .  .  .".  Hermann  Lons  im 
Deister,  Siintel  und  im  Calenberger  Land,  Barsinghausen  21993,  S.  76-83  sowie  S.  24-29. 

14  Heidemann,  Kohlengewinnung,  wie  Anm.  13,  S.  753 ff.;  Schneider,  Industrialisie- 
rung, Bd.  II,  wie  Anm.  13,  S.  66;  Hinrich  Ewert,  Der  Steinkohlenbergbau,  in:  Steigerwald, 
Eckard  (Red.),  Barsinghausen  unter  Kloppel,  Schlegel  und  Eisen.  Herausgegeben  von  der 
Stadt  Barsinghausen,  Barsinghausen  1994,  S.  81-132.,  S.  112. 

15  Heidemann,  Kohlengewinnung,  wie  Anm.  13,  S.  753ff;  Michael  Mende,  Technikge- 
schichte  und  Arbeitsalltag.  Heute  ein  Schulhof:  einst  eine  groBe  Kokerei,  in:  Beispiele  - 
Schule  machen  in  Niedersachsen  4,  1986,  S.  63-67.,  S.  65 f.;  Karl  Heinz  Schneider,  Schaum- 
burg in  der  Industrialisierung,  Teil  1,  Vom  Beginn  des  19.  Jahrhunderts  bis  zur  Reichsgriin- 
dung,  Melle  1994,  S.  65-69;  Bracht,  Gewinnung,  wie  Anm.  9,  S.  64-66. 


Steinkohle  als  Ausweg?  19 

Tiefe  die  Entwasserung  und  Bewetterung  der  Gruben  immer  hohere  Kosten  ver- 
ursachte.16 

Im  Verlauf  des  19.  Jahrhunderts  vollzog  sich  in  nahezu  alien  niedersachsi- 
schen  Revieren  eine  wichtige  Veranderung  des  Abbaubetriebes.  Bis  dahin  war 
die  Forderung  praktisch  ausschlieBlich  in  durch  Stollen  entwasserten  Revieren 
erfolgt,  aus  denen  das  Grubenwasser  selbstandig  abfloss.  Nun  erforderte  teils  die 
Erschopfung  der  iiber  Entwasserungsstollen  erreichbaren  Kohlenfelder,  teils 
aber  auch  die  mit  groBerer  Tiefe  zunehmende  Kohlenqualitat  ein  Umsteigen  auf 
den  Tiefbau.  Um  die  unter  der  tiefsten  Stollensohle  gelegenen  Gruben  vor  dem 
Absaufen  zu  bewahren,  wurde  1835  auf  dem  Schaumburger  Kunstschacht  I  eine 
erste  Wassersaulenmaschine  mit  Wasserkraft  betrieben.  In  trockenen  Zeiten 
musstejedoch  aus  Mangel  an  Aufschlagswassereine  Dampfmaschine  zu  Hilfe  ge- 
nommen  werden.17  Letztlich  waren  daher  Dampfmaschinen  unabdingbar,  wo- 
durch  der  Bergbau  zugleich  in  eine  kapitalintensivere  Phase  mit  hoheren  Forder- 
kosten  iiberging.  An  den  Tiefbauschachten  entstanden  auch  erste  groBere  Ze- 
chenanlagen,  die  nicht  nur  der  Forderung  der  Kohle,  sondern  auch  ihrer 
Aufbereitung  durch  Kohlenwaschen  und  ihrer  Veredelung  in  Kokereien  oder 
Brikettfabriken  dienten. 18 

Dagegen  war  der  vorindustrielle  niedersachsische  Bergbau  gekennzeichnet 
durch  eine  Vielzahl  kleinererBergwerke  mit  oftmals  kaum  einem  Dutzend  Berg- 
leuten.  Dies  war  auch  eine  Folge  der  Bergrechtsverhaltnisse,  denn  wahrend  sich 
im  Osnabriickischen  die  Ansicht  der  Regalitat  der  Steinkohlen  erst  im  19.  Jahr- 
hundert  verstarkt  durchsetzte,19  wurde  der  Regalitatsanspruch  im  Calenbergi- 
schen  zu  Beginn  des  19.  Jahrhunderts  zugunsten  des  Rechtes  der  Grundeigentii- 
mer  auf  Kohlenabbau  aufgegeben.  Die  Folgen  waren  in  beiden  Fallen  ahnlich, 
denn  es  entstand  ein  Nebeneinander  privater,  institutioneller  und  landesherrli- 
cher  Bergwerke.  Im  Schaumburger  Kommunionbergbau  dagegen  wurde  im  Un- 
tersuchungszeitraum  niemals  auf  die  Regalitat  verzichtet  und  die  verstreuten  Re- 
viere  stets  zentral  durch  das  Gesamtbergamt  verwaltet.20 


16  Ebd.,  S.  62. 

17  Schunke/Schulbe,  Gesamtsteinkohlenbergwerke,  wie  Anm.  7,  S.  66ff.;  ausfuhrlich 
dazu  vgl.  Neuber,  Energie-  und  Umweltgeschichte,  wie  Anm.  1,  S.  214f. 

18  Die  groBte  Wealden-Zechenanlage  Georgschacht  bei  Stadthagen  umfasste  mit  Rand- 
flachen  47  ha.,  die  Barsinghauser  Zeche  immerhin  27  ha.  Romhild,  Montanindustrie,  wie 
Anm.  6,  S.  285. 

19  Jugler,  Bergrechtsverhaltnisse  in  Hannover,  in:  Zeitschrift  fur  Bergrecht  8,  1868, 
S.  75-103;  S.  95-99,  S.  89f.;  zu  Calenberg  vgl.  auch  A[dolph]  Ebert,  Geschichtliche  Darstel- 
lung  des  Kohlenbergbaues  im  Furstenthume  Calenberg,  in:  Zeitschrift  des  historischen  Ver- 
eins  fur  Niedersachsen,  1866,  S.  1-116.,  S.  96-106. 

20  Ausfuhrlich  zur  Beanspruchung  des  Bergregals  durch  die  Schaumburger  Grafen  vgl. 
Rolf  Krumsiek,  Das  Schaumburgische  Bergrecht,  Rinteln  1963,  S.  5-8. 


20  Dirk  Neuber 

Entwicklungs-  und  Konjunkturphasen 

Der  niedersachsische  Steinkohlenbergbau  erlebte  seine  erste  Bliite  in  denjahr- 
zehnten  vor  dem  30jahrigen  Krieg  unter  Herzogjulius  von  Braunschweig  (1528- 
1589)  sowie  Fiirst  Ernst  von  Schaumburg  (1569-1622).  Nach  dem  Tod  des  erste- 
ren  und  spatestens  infolge  des  30jahrigen  Krieges  gingen  die  meisten  Bergwerke 
wieder  ein,  die  iibrigen  im  Schaumburgischen,  dem  Osnabriickischen  und  am 
Osterwald  forderten  auf  niedrigem  Niveau  weiter.  Erst  seit  Mitte  des  18.Jahrhun- 
derts  kam  es  wieder  zu  verstarkten  privaten  und  landesherrlichen  Bergwerksneu- 
griindungen  und  allmahlich  steigenden  Forderungs-  und  Belegschaftszahlen. 

Dass  insbesondere  der  Schaumburger  Bergbau  jahrhundertelang  noch  am  be- 
sten  florierte,  lag  daran,  dass  die  relativ  gute  Nachfrage  nach  der  Schaumburger 
Schmiedekohle  einen  vergleichsweise  umfangreichen  Abbaubetrieb  ermoglich- 
te.  Wenn  es  daneben  auch  in  den  iibrigen  Revieren  einige  weitere  vorindustrielle 
Bergwerke  gab,  die  Jahrhunderte  langen  Bestand  hatten,  so  waren  das  jene,  die 
iiber  kontinuierlichen  Absatz  an  mindestens  einen  gewerblichen  GroBabnehmer 
verfiigten:  das  Werk  am  Osterwald  iiber  Saline,  Glashiitte  und  Ziegelei,  jenes  bei 
Borgloh  iiber  die  bedeutende  Saline  Rothenfelde  und  das  Piesberger  Werk  iiber 
das  nahegelegene  Osnabriick  mit  seinem  kontinuierlichen  Kalk-  und  spater 
Hausbrandbedarf. 

Ansonsten  erscheint  die  Geschichte  des  niedersachsischen  Steinkohlenberg- 
baus  bis  etwa  1830  vor  allem  als  eine  Geschichte  finanzieller  Fehlschlage:  Dut- 
zende  Pachter  und  Besitzer  kleinerer  Bergwerke  biiBten  bei  der  Suche  nach  dem 
schwarzen  Goldihr  gesamtes  Vermogen  ein.21  Dies  ist  einerseits  auf  den  hohen  In- 
vestitionsbedarf  fur  die  bergbaulichen  Anlagen  zuruckzufiihren,  andererseits 
darauf,  dass  angesichts  der  unbestreitbaren  Vorteile  der  Kohle  ihre  Absatzmog- 
lichkeiten  vollig  iiberschatzt  wurden.  Betriebe,  die  sich  namlich  nur  auf  den  loka- 
len  Kleinabsatz  stiitzen  konnten,  litten  erheblich  unter  saison-,  konjunktur-  und 
kohlenqualitatsabhangigen  Absatzschwankungen,  so  dass  haufig  aufgehaldete 
Kohlenvorrate  verdarben  und  kaum  ein  Werk  mit  Gewinn  betrieben  werden 
konnte.  An  den  Aufbau  von  Riicklagen  fur  immer  wieder  notwendige  groBe  Inve- 
stitionen  in  Schachte,  Stollen  und  spater  Wasserhaltungsmaschinen  war  unter 
diesen  Voraussetzungen  erst  recht  nicht  zu  denken. 

In  denjahrzehnten  nach  Ende  derNapoleonischen  Kriege  kehrte  sich  mit  der 
wachsenden  Kohlennachfrage  auch  die  Absatzsituation  um.  Seit  den  1830erjah- 
ren  entstanden  nicht  nur  neue  private  Bergwerke,  sondern  auch  der  hannover- 


21  Zahlreiche  Beispiele  hierzu  bei  Ebert,  Darstellung,  wie  Anm.  19  sowie  Paul  Rohde, 
Geschichte  der  Steinkohlenforderung  im  Amt  Iburg,  in:  Osnabriicker  Mitteilungen,  27, 
1902,  S.  38-193,  passim. 


Steinkohle  als  Ausweg? 


21 


sche  Fiskus  erkannte  die  Gruben  als  Einnahmequelle  und  engagierte  sich  starker 
als  bisher:  Erzielte  das  konigliche  Finanzministerium  aus  den  herrschaftlichen 
Werken  im  Calenbergischen  und  Osnabriickischen  1836/37  einen  Gewinn  von 
8.650  Reichstalern,  vervierfachte  sich  der  Ertrag  bis  1850/51  auf  36.300  Reichs- 
taler.22 

Die  folgende  Abbildung  1  verdeutlicht  nicht  nur  die  iiberragende  Position  des 
Schaumburger  Bergbaus  unter  den  niedersachsischen  Revieren.  Sie  zeigt 
zugleich,  dass  die  zahlreichen  aufstrebenden  Gruben  am  Deister  1835  bereits  die 
traditionsreicheren  Reviere  des  Konigreichs  Hannover  am  Osterwald  sowie  im 
Osnabriickischen  an  Bedeutung  iiberfliigelt  hatten. 


Stemmen  I  000 1 

Rehburg  I  000  [ 
Siintel  6  000 1 

Piesbcrg 

6  000 


Borgloh 

SOOOl 


Schaumburg 
44  526 1 


Deister  1 8  000  t 


Abb.  1:  Jahresforderung  der  einzelnen  niedersachsischen  Steinkohlenreviere  urn  1835 


qc23 


Trotz  steigender  Forderungszahlen  stand  um  1860  dem  geschatzten  Steinkoh- 
lenverbrauch  des  Konigreichs  Hannover  von  602.500  t  eine  Forderung  von  nur 
321.670  t  gegeniiber.24  Fast  die  Halfte  der  Kohle  wurde  demnach  importiert  - 
entweder  per  Schiff  aus  England,25  oder  per  Bahn  aus  Schaumburg,  dem  tecklen- 


22  W.  Lehzen,  Hannover's  Staatshaushalt,  Bd.  1,  Die  Einnahmen,  Hannover  1853,  S.  185. 

23  Gesamtforderung:  94.525  t.  Quellen:  Fur  Schaumburg  nach  Schunke/Schulbe,  Ge 
samtsteinkohlenbergwerke,  Anlage  III,  wie  Anm.  7.  Fur  das  Konigreich  Hannover  umge- 
rechnet  nach  Schatzung  von  G.  W.  Marcard,  Zur  Beurtheilung  des  National-Wohlstandes, 
des  Handels  und  der  Gewerbe  im  Konigreiche  Hannover,  Hannover  1836,  S.  100. 

24  H.  B.  Geinitz;  H.  Fleck;  E.  Hartig,  Die  Steinkohlen  Deutschland's  und  anderer  Lan- 
der Europa's,  Bd.  II,  Geschichte,  Statistik  und  technische  Verwendung,  Miinchen  1865, 
S.  115.  Geschatzte  Forderung  beiEwERT  Steinkohlenbergbau,  wie  Anm.  14,  S.  92:  260.000  t. 

25  Nach  Frankreich  war  das  nordliche  Deutschland,  vor  allem  PreuBen  und  die  Hanse- 
stadte  zweitwichtigster  Importeur  englischer  Kohle.  In  weiten  Teilen  Norddeutschlands,  ins- 
besondere  entlang  der  Kiisten  und  schiffbaren  Fliisse,  war  britische  Kohle  bis  Mitte  des  19. 


22  Dirk  Neuber 

burgischen  Ibbenbiiren  sowie  dem  aufstrebenden  Ruhrgebiet.  Daher  bemiihte 
sich  derhannoversche  Staat  seit  den  1850erjahren,  die  inlandische  Steinkohlen- 
produktion  anzukurbeln.  Durch  den  Aufkauf  von  Kohlenuntergrund  und  priva- 
ten  Zechen  wurden  so  insbesondere  am  Deister  leistungsfahigere  GroBbetriebe 
geschaffen.26  Der  preuBische  Bergfiskus  setzte  diese  Politik  seit  1866  fort.27 

Ahnlich  zeigte  sich  auch  in  Schaumburg  seit  den  30erjahren  ein  spiirbarer  An- 
stieg  der  Forderungszahlen.  Der  eigentliche  Durchbruch  gelang  jedoch,  als  seit 
der  Fertigstellung  der  Bahnlinie  Hannover-Minden  1847  einerseits  das  Absatzge- 
biet  erheblich  ausgeweitet  werden  konnte,  andererseits  gerade  viele  norddeut- 
sche  Eisenbahngesellschaften  als  neue  Kunden  hinzu  gewonnen  wurden.28  Als 
im  letzten  Drittel  des  19.  Jahrhunderts  dank  des  inzwischen  sehr  gut  ausgebauten 
Eisenbahnnetzes  sowie  sinkender  Frachtkosten  preiswerte  und  qualitativ  hoch- 
wertige  Kohle  aus  den  groBen  deutschen  Kohlenrevieren  in  nahezu  alle  Regio- 
nen  des  damaligen  Reiches  geliefert  werden  konnte,  kam  es  zu  einer  ersten  Welle 
von  Stillegungen  derkleineren  niedersachsischen  Zechen.  Ihr  Weiterbetrieb  war 
selbst  fur  die  lokale  Brennstoffversorgung  nicht  mehr  sinnvoll.29  So  wurde  auch 
das  Borgloh-Oeseder  Revier  in  der  zweiten  Jahrhunderthalfte  voll  von  der  Kon- 
kurrenz  aus  Ibbenbiiren  und  vor  allem  dem  Ruhrgebiet  getroffen,  wahrend  es 
seinerseits  trotz  Bahnanschluss  keinerlei  Fernabsatz  erzielen  konnte.30  Ahnlich 
erging  es  beispielsweise  auch  den  Zechen  am  Siintel.31  Obwohl  in  den  letzten 
Jahrzehnten  des  19.  Jahrhunderts  viele  weitere  kleinere  Zechen  teils  wegen  Ab- 
satzmangel,  teils  wegen  Erschopfung  ihrer  nur  geringmachtigen  Floze  stillgelegt 
wurden,  stieg  die  Gesamtforderung  in  den  norddeutschen  Wealdenrevieren  von 
rund  65.000  t  im  Jahr  1825  iiber  etwa  420.000  t  im  Jahr  1863,  auf  rund  700.000  t 
imjahr  1894.32 


Jahrhunderts  marktbeherrschend.  Erst  sinkende  Eisenbahnfrachttarife  untergruben  diese 
Dominanz  seit  den  1870erjahren  und  fuhrten  bis  zum  I.  Weltkrieg  zu  einem  Nebeneinander 
mit  der  deutschen  Kohle.  Rainer  Fremdling,  Britische  und  deutsche  Kohle  auf  norddeut- 
schen Markten  1850-1913,  in:Jiirgen  Bergmann  u.  a.  (Hrsg.),  Regionen  im  historischen  Ver- 
gleich.  Studien  zu  Deutschland  im  19.  und  20.  Jahrhundert,  Opladen  1989,  S.  9-54;  S.  29f., 
S.  50. 

26  Ewert,  Steinkohlenbergbau,  wie  Anm.  14,  S.  92. 

27  Max  Schulz-Briesen,  Der  preuBische  Staatsbergbau  im  Wandel  der  Zeiten,  Bd.  I, 
Berlin  1933,  S.  134 ff. 

28  Schneider,  Industrialisierung,  Bd.  I,  wie  Anm.  15,  S.  149ff. 

29  Carsten  Meyer,  Kohlebergbau  im  siidlichen  Landkreis  Osnabriick:  ein  historisch- 
geographischer  Beitrag  zur  Praxis  regionalen  Lernens;  Grundlagen  und  Materialien  fur  ei- 
ne  Unterrichtseinheit,  Osnabriick  1994,  S.  27. 

30  Ebd.,  S.  30f. 

31  Ulrich  MANTHEY/Klaus  Vohn-Fortagne,  Industriegeschichte  des  Deister-Siintel- 
Raumes,  Springe  1996,  S.  291. 

32  Richert,  Uber  den  Steinkohlenbergbau  im  norddeutschen  Wealden,  in:  Zeitschrift 


Steinkohle  als  Ausweg?  23 

Wahrend  der  traditionsreiche  Bergbau  im  Osnabriickischen  1 903  zunachst  en- 
dete,  litten  die  verbliebenen  Reviere  ostlich  der  Weser  zwar  weiterhin  unter  ho- 
hen  Betriebskosten,  erfreuten  sich  aber  dank  ihrer  relativ  isolierten  Lage  eines  ge- 
sicherten  Absatzgebietes.33  Dank  moderner  Zechenanlagen  erlebten  sie  in  den 
Jahren  vor  dem  I.  Weltkrieg  ihre  Bliite.  In  den  Notjahren  nach  dem  1.  und  2. 
Weltkrieg  flackerte  auch  im  Osnabriickischen  vielerorts  noch  einmal  ein  lokaler 
primitiver  Notbergbau  auf.  Nur  die  Reviere  in  Schaumburg  und  am  Deister  be- 
standen  kontinuierlich  fort.  Trotz  wachsender  Defizite  wurden  sie  aus  volks- 
wirtschafdichen  und  sozialpolitischen  Erwagungen  weiter  in  Betrieb  gehalten.34 
Ende  der  1950erjahre  lautete  dann  das  Vordringen  billiger  Importkohle  und  der 
Siegeszug  des  Erdols  das  Ende  der  verbliebenen  niedersachsischen  Zechen 
ein:35Zwischen  1957  und  1960  wurden  die  letzten  Zechen  am  Deister,36  1960  in 
Schaumburg37  und  1963  im  Osnabriicker  Hiigelland  stillgelegt.38 

Auch  wenn  die  niedersachsischen  Steinkohlenvorkommen  einen  nicht  zu  un- 
terschatzenden  Anteil  an  der  lokalen  und  regionalen  Gewerbeentwicklung  hat- 
ten,  waren  ihre  Dimensionen  insgesamt  stets  vergleichsweise  gering  gewesen.  So 
entfielen  von  den  1853  im  gesamten  Europa39  geforderten  Stein-  und  Braunkoh- 


fiir  Bergrecht  37,  1896,  S.  74-84.,  S.  82f.  Angaben  ohne  Piesberg,  aber  inkl.  der  Zechen  im 
Mindener  Raum. 

33  Ebd.,  S.  83.  Ausfiihrlich  auch  zum  folgenden  vgl.  Romhild,  Montanindustrie,  wie 
Anm.  6,  S.  284-288. 

34  Barsinghausen,  Stadt  (Hrsg.),  Mitten  im  Aufschwung  kam  das  Aus.  Das  Ende  des 
Steinkohlenbergbaus  am  Deister  in  den  50er  Jahren.  Eine  Untersuchung  von  Studierenden 
des  Historischen  Seminars  der  Universitat  Hannover  unter  Leitung  von  Dr.  Karl  H.  Schnei- 
der, Barsinghausen  1998,  S.  20 ff. 

35  Romhild,  Montanindustrie,  wie  Anm.  6,  S.  317f. 

36  Ausfiihrlich  dazu  vgl.  Barsinghausen,  Aufschwung,  wie  Anm.  34,  passim.  Im  Gegen- 
satz  zur  1957  stillgelegten  Hauptzeche  in  Barsinghausen  war  der  Strutzbergstollen  im  nord- 
westlichen  Deister  noch  bis  1960  in  Betrieb,  vgl.  Horst  Krenzel,  Erinnerungen  an  den 
Steinkohle-Bergbau  im  Deistergebirge,  Horb/Neckar  1996,  S.  28ff.  Zum  Deister  und  voral- 
lem  zu  Schaumburg  vgl.  auch  Romhild,  Montanindustrie,  wie  Anm.  6,  passim. 

37  Dieter  Melz,  Das  Ende  des  Steinkohlenbergbaus  im  Schaumburger  Land,  in:  Geo- 
graphische  Rundschau  1961,  S.  409-412.  Ausfiihrlich  zum  Bergbau  ostlich  der  Weser  in  der 
Nachkriegszeit  vgl.  Romhild,  Montanindustrie;  Matthias  Lorenz,  Der  Niedersachsische 
Wealdensteinkohlenbergbau  von  1945  bis  zur  Stillegung  im  Jahre  1961  unter  Berucksichti- 
gung  der  allgemeinen  Energiedebatte  in  der  Bundesrepublik  Deutschland.  Magisterarbeit 
im  Fach  Geschichte,  Ms.  Hannover  1998;  Giinter  Haubitz,  Die  Auswirkung  der  Zechenstill- 
legung  im  Gebiet  Obernkirchen-Stadthagen  auf  Raum  und  Bevolkerung.  Schriftliche  Haus- 
arbeit  im  Rahmen  der  wissenschaftlichen  Priifung  fur  das  Lehramt  an  Gymnasien,  Ms.  o. 
O.,  1971. 

38  Hans-Claus  Poeschel,  Das  Wiederaufleben  des  Kohlenbergbaus  um  Borgloh  nach 
den  beiden  Weltkriegen,  in:  Osnabriicker  Mitteilungen  95,  1990,  S.  245-257. 

39  Von  Schweden  bis  zur  Tiirkei,  von  Portugal  bis  Russland. 


24  Dirk  Neuber 

len  allein  61,5%  auf  England  und  lediglich  19%  auf  die  deutschen  Staaten.  Der 
Anteil  des  Konigreichs  Hannover  an  der  europaischen  Forderung  lag  bei  etwa 
0,17%,  derjenige  Schaumburgs  bei  0,32%.40  Die  Kohleforderung  innerhalb  des 
heutigen  Niedersachsens  war  auch  im  Vergleich  zur  Forderung  der  iibrigen 
deutschen  Staaten  -  insbesondere  PreuBens  -  unbedeutend.  Und  dieser  Riick- 
stand  vergroBerte  sich  bis  zum  Ende  des  niedersachsischen  Bergbaus  noch  wei- 
ter:  machte  beispielsweise  die  schaumburgische  Forderung  1861  noch  0,7%  der 
Forderung  aller  Zollvereinstaaten  aus,41  lag  ihr  Anteil  kurz  vor  der  Stillegung 
hundert  Jahre  spater  nur  noch  bei  0,21%  der  westdeutschen  Forderung.42 

Energiegeschichtliche  Aspekte  des  niedersachsischen  Steinkohlenbergbaus 

Betrachtet  man  die  Menschheitsgeschichte  aus  dem  Blickwinkel  der  jeweiligen 
Form  der  Energienutzung,43  so  leben  wir  gegenwartig  im  vom  Uberf  luss  gekenn- 
zeichneten  Industriezeitalter.  Mit  Kohle,  Gas  und  Ol  verbrauchen  wir  Energie- 
trager,  die  in  Jahrmillionen  durch  pflanzliche  Photosynthese  entstanden  sind. 
Unseren  Vorfahren  standen  dagegen  nur  so  viele  Brennstoffe  zur  Verfiigung,  wie 
jahrlich  nachwuchsen  -  namlich  in  aller  Regel  Holz,  sofern  sie  nicht  in  der  Nahe 
eines  Moores  oder  eines  Steinkohlebergwerkes  wohnten.  Nicht  umsonst  wird  da- 
her  auch  vom  „holzernen"  oder  „solaren"  Zeitalter  gesprochen.  Mit  den  fossilen 
Kohlenlagerstatten  bot  sich  ein  „unterirdischer  Schatz"  an,  der  fur  vorindustrielle 
Gesellschaften  einen  nie  dagewesenen  Energieiiberfluss  mit  sich  brachte  und  alle 
Energieprobleme  zu  losen  versprach.  Dies  auBerte  sich  beispielsweise  in  einem 
enormen  Flachengewinn:  Ersetzte  Kohle  das  Holz  als  Brennstoff,  brauchten  die 
Walder  nur  noch  den  Nutzholzbedarf  zu  decken.44 

Vorindustrieller  Bergbau  ware  ohne  den  untertagigen  Einsatz  von  Holz  nicht 
moglich  gewesen.  Andererseits  konnte  durch  die  geforderte  Kohle  ein  Vielfaches 


40  Fr.  W.  v.  Reden,  Deutschland  und  das  iibrige  Europa.  Handbuch  der  Bodens-,  Bevol- 
kerungs-,  Erwerbs-  und  Verkehrs-Statistik;  des  Staatshaushalts  und  der  Streitmacht,  Wies- 
baden 1854,  S.  464f. 

41  Geinitz  u.  a.,  Steinkohlen,  Bd.  2,  wie  Anm.  24,  S.  115. 

42  Melz,  Ende,  wie  Anm.  37,  S.  409. 

43  Grundlegend  zum  folgenden  vgl.  Rolf- Peter  Sieferle,  Der  unterirdische  Wald:  Ener- 
giekrise  und  industrielle  Revolution,  Munchen  1982,  insbes.  S.  17-64;  Ders.,  Energie,  in: 
Franz-Josef  Bruggemeier;  Thomas  Rommelspacher  (Hrsg.),  Besiegte  Natur.  Geschichte  der 
Umwelt  im  19.  und  20.  Jahrhundert,  Munchen  21989,  S.  20-41,  passim;  sowie  Jean-Claude 
Debeir /Jean-Paul  DELEAGE/Daniel  Hemery,  Prometheus  auf  der  Titanic.  Geschichte  der 
Energiesysteme,  Frankfurt  a.  M,  New  York,  Paris  1989,  insbes.  S.  21-40. 

44  In  England  wurden  die  durch  die  Steinkohlenverwendung  freigewordenen  Flachen 
vor  allem  in  Schafweiden  umgewandelt,  vgl.  Sieferle,  Unterirdischer  Wald,  wie  Anm.  43, 
S.  132ff. 


Steinkohle  als  Ausweg?  25 

jener  Energiemenge  gewonnen  werden,  welche  eine  Verbrennung  des  Gruben- 
holzes  mit  sich  gebracht  hatte.45  Mit  einem  einzigen  KubikfuB  Grubenholz,  der 
beispielsweise  zwischen  1810  und  1867  in  den  Schaumburger  Bergbau  „inve- 
stiert"  wurde,  konnte  das  etwa  336fache  bis  372fache  Volumen  an  Brennholz  ein- 
gespart  werden.46  Durch  den  Bergbau  wurde  also  eine  Energiemenge  verfiigbar, 
die  auf  Basis  von  Brennholz  unerreichbar  gewesen  ware. 

Der  durch  den  Bergbau  erzielte  Flachengewinn  lasst  sich  nur  annaherungswei- 
se  verdeutlichen.  Der  Steinkohlenbergbau  war  zwar  auch  von  der  Flache  des  Flo- 
zes  abhangig,  doch  fand  er  unterirdisch  statt  und  lieB  prinzipiell  eine  oberirdi- 
sche  land-  und  forstwirtschaftliche  Nutzung  zu  -  sofern  man  von  den  punktuell 
fur  die  Bergwerksanlagen  und  Halden  benotigten  Flachen  absieht.  Im  Gegensatz 
zu  einem  nachhaltig  bewirtschafteten  Wald  fiel  mit  dem  Abbau  des  Kohleflozes 
eine  vergleichsweise  gewaltige  Energiemenge  an,  die  freilich  nur  ein  einziges  Mai 
„geerntet"  werden  konnte. 

Je  weniger  machtig  das  abgebaute  Floz  war,  desto  groBer  war  die  Flozflache, 
die  zur  Gewinnung  einer  bestimmten  Menge  Kohle  abgebaut  werden  musste. 
Am  Osterwald  beispielsweise  war  das  im  friihen  19.  Jahrhundert  abgebaute 
Hauptfloz  etwa  20-22  Zoll  (48-52  cm)  machtig.47  Dies  entsprach  etwa  400  kg 
Kohle  pro  Quadratmeter  oder  einer  abgebauten  Flozflache  von  2,5  m2  pro  Ton- 
ne. Am  Deister  war  das  Floz  der  von  Kniggeschen  Gruben  am  Steinkrug  maxi- 
mal 18-20  Zoll  machtig  und  das  Egestorffsche  Werk  am  Brohn  baute  auf  einem 
10-12  Zoll  (24-28  cm)  machtigen  Floz.  Das  am  Suersser  Brink  abgebaute  Floz  war 
zwar  von  solcher  Qualitat,  dass  es  von  alien  Deisterkohlen  die  hochsten  Preise  er- 
zielte. Es  war  aber  nur  zwischen  4  und  8  Zoll  (9-19  cm)  machtig,48  so  dass  dort  nur 
etwa  110  kg  Kohle  pro  Quadratmeter  anfielen.  Im  Osnabriickischen  schritt  der 
Bergbau  langsamer  voran,  weil  dort  mehrere  iibereinanderliegende  Floze  abge- 
baut wurden.  Am  Strubberg  lieferten  sie  200,  100,  280  und  170  KubikfuB  pro 


45  Das  verwendete  Holz  setze  sich  etwa  zur  Halfte  aus  Buchengrubenholz  und  zu  je  ei- 
nem Viertel  aus  Buchen-  und  Eichenwerkholz  zusammen.  Hinzu  kamen  in  manchenjahren 
noch  geringe  Mengen  Erlenwerkholz. 

46  Fur  den  Zeitraum  1810  bis  1820:  Vortrag  Oberforstmeister  von  Kaas,  24.5.1821,  Nie- 
dersachsisches  Staatsarchiv  Buckeburg  (NSTAB)  K  2  K  Nr.  431;  1828-1850:  Holzbedarfs- 
schatzungen  des  Gesamtbergamts,  NSTAB  K  2  K  Nr.  431,  Nr.  432;  K  35  Nr.  264;  H  37  H  II 
Nr.  2,  Vol.  II;  Angaben  iiber  die  Fordermengen  in  diesem  Zeitraum  nach  Schunke/Schulbe 
Gesamtsteinkohlenbergwerke,  Anlage  III,  wie  Anm.  7.  Fur  den  Zeitraum  1852-1863:  Verglei- 
chung  der  Hauptresultate  in  den  Jahren  1853  bis  1863,  NSTAB  Dep  1  V  Nr.  38;  fur  1866/67: 
Zusammenstellung  Materialverwalter  Schleicher,  22.9.1868,  NSTAB  K2  KNr.  432. 

47  Wilhelm  Schultz,  Bemerkungen  iiber  den  Steinkohlenbergbau  am  Osterwalde, 
Deister,  Siintel  und  Biickeberge,  in:  Ders.,  Beitrage  zur  Geognosie  und  Bergbaukunde,  Ber- 
lin 1821,  S.  60-83,  S.  66ff. 

48  Ebd.,  S.  72 ff. 


26  Dirk  Neuber 

Quadratlachter,  zusammen  also  750  KubikfuB  oder  fast  vier  Tonnen  pro  Qua- 
dratmeter.49 

Aufgrund  dieser  fiir  den  Wealdenbergbau  charakteristischen  Flozverhaltnisse 
schritt  beispielsweise  in  Schaumburg  der  Abbau  des  Kohlenflozes  allein  im  Jahr 
1868  zur  Gewinnung  von  knapp  142.000  t  um  ca.  18  Hektar  voran,50  1870  im  Ge- 
biet  der  Berginspektion  am  Deister  fiir  94.200  t  um  16,42  Hektar51  und  1873  am 
Osterwald  um  6,99  Hektar  sowie  am  Nesselberg  um  2,79  Hektar.52  Nimmt  man 
an,  dass  der  Brennwert  einer  Tonne  Kohle  in  etwa  dem  sehr  guten  jahrlichen 
Holzzuwachs  von  einem  Hektar  Wald  entspricht,53  konnte  durch  den  Abbau  der 
vier  Floze  am  Strubberg  auf  einem  einzigen  Quadratmeter  Flache  in  etwa  diesel- 
be  Energiemenge  gewonnen  werden  wie  auf  40.000  m2  (4  ha)  nachhaltig  bewirt- 
schaftetem  Waldboden.  Setzt  man  die  gesamte  Landesflache  Schaumburgs  (ca. 
78.000  ha)54  mit  der  durchschnittlichen  Kohle-Jahresforderung55  in  Relation,  so 
entsprach  der  Energiegehalt  der  bis  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  geforderten  Koh- 
le weniger  als  5%  jenes  Energieertrages,  der  bei  vollstandiger  Bewaldung  der  ge- 
samten  Landesflache  nachhaltig  hatte  erwirtschaftet  werden  konnen.  1810  ent- 
sprach die  Kohleforderung  bereits  dem  halben  hochstmoglichen  Holzertrag 


49  Lehzen,  Staatshaushalt,  wie  Anm.  22,  S.  194f. 

50  Jahresbericht  der  schaumburgischen  Gesamtsteinkohlenbergwerke  fiir  1868,  11.3. 
1869,  Geheimes  Staatsarchiv  PreuBischer  Kulturbesitz,  Berlin-Dahlem  (GStA  PK),  I.  HA, 
Rep.  121,f.Io.3.  Vol.  1,  Nr.  102.  Es  scheint  sich  in  Schaumburg  um  eine  feste  RechengroBe 
unabhangig  von  der  Machtigkeit  der  im  jeweiligen  Jahr  tatsachlich  abgebauten  Flozflache 
gehandelt  zu  haben,  da  schon  1813  ebenfalls  umgerechnet  757  kg/m2  angegeben  wurden. 
Beschreibung  der  Schaumburger  Gesamtsteinkohlenbergwerke,  Obernkirchen,  Mai  1813, 
Archivdes  Oberbergamtes  Clausthal-Zellerfeld  (OBA)  GTf.  481  Nr.  117. 

51  Dies  entsprach  570  kg/m2.  Protokoll  iiber  die  Jahresbefahrung  der  Koniglichen  Wer- 
ke  am  Deister,  Barsinghausen,  18.12.1870,  GStA  PK,  I.  HA  Rep.  121,f.Id.2,  Nr.  102  (M). 

52  Jahresbericht  der  Berginspektion  am  Osterwald  pro  1873,  18.2.1874,  GStA  PK,  I.  HA 
Rep.  121,  f.  Io.2,  vol  1,  Nr.  102  (M).  Es  wurden  mehrere  ubereinanderliegende  Floze  abge- 
baut. 

53  Dieser  Berechnung  liegt  die  Annahme  Sieferles  zugrunde,  dass  der  Brennwert  von  1 1 
Kohle  etwa  dem  jahrlichen  Zuwachs  von  1  ha  nachhaltig  bewirtschafteten  Niederwald  (etwa 
5  m3)  entspricht,  welcher  als  ertragreichste  Form  zur  Brennholzerzeugung  gilt.  Im  Folgenden 
soil  diese  Berechnungsgrundlage  iibernommen  werden,  um  die  Ergebnisse  vergleichen  zu 
konnen.  Dies  erscheint  legitim,  weil  die  von  Sieferle  zugrunde  gelegte  Effizienztabelle  auch 
vom  Obernkirchener  Berginspektor  Frohlich  im  Hannoverschen  Magazin  veroffentlicht  wur- 
de  und  somit  auf  niedersachsische  Verhaltnisse  iibertragbar  erscheint.  (Berginspektor)  Froh- 
lich, Ueber  die  Vortheile  des  Steinkohlenbrandes  bei  dem  allgemeinen  Gebrauch,  in:  Neues 
Hannoverisches  Magazin  1800,  89.-90.  St.,  Sp.  1617-1638,  Sp.  1629f. 

54  Die  hessische  Grafschaft  umfasste  440  km2,  Schaumburg-Lippe  340  km2,  zusammen 
etwa  78.000  ha.  Schneider,  Industrialisierung  I,  wie  Anm.  15,  S.  3f. 

55  Alle  Forderungsdaten  nach  Schunke/Schulbe,  Gesamtsteinkohlenbergwerke,  wie 
Anm.  7,  Anlage  III. 


Steinkohle  als  Ausweg?  27 

(48,3%),  und  1844  wurde  diese  -  wenn  auch  nur  theoretische  -  okologische 
Schwelle  vollends  durchbrochen:  Zu  diesem  Zeitpunkt  ware  die  Jahresforderung 
nur  noch  bei  vollstandiger  Bewaldung  ganz  Schaumburgs  durch  Brennholz  zu  er- 
setzen  gewesen.  Urn  1900  entsprach  sie  bereits  der  vierfachen  Flache.  (Das  indu- 
striell  fiihrende  England  hatte  diese  okologische  Schranke  iibrigens  bereits  um 
1800  iiberschritten.) 56 

Der  durch  die  Kohle  ermoglichte  Flachengewinn  war  allerdings  eher  theoreti- 
scher  Natur.  Denn  die  Kohle  ersetzte  weniger  den  Brennholzkonsum,  als  dass  sie 
zusatzliche  Energiemengen  fur  neue  Anwendungen  verfiigbar  machte.  Dampf- 
maschinen  beispielsweise  waren  erstmals  in  der  Lage,  Warmeenergie  in  Bewe- 
gungsenergie  umzuwandeln  und  damit  Wind,  Wasser-  und  Muskelkraft  zu  erset- 
zen.  So  entsprach  beispielsweise  1868  in  Schaumburg  der  Kohleverbrauch  der 
40-PS  Dampfmaschine  auf  dem  Nienstadter  Kunstschacht  I  der  Forderleistung 
von  zwei  Kohlenhauern.  Die  Arbeitsleistung,  die  sie  erzielte,  entsprach  dagegen 
der  von  40  Pferden  -  und  dies  bei  Bedarf  rund  um  die  Uhr.57 

Steinkohleverwendung  zu  gewerblichen  Zwecken 

So  weit  die  theoretischen  Vorteile  der  Nutzung  der  Steinkohle.  In  der  Praxis  war 
es  jedoch  ein  langer  Prozess,  bis  vermehrt  auf  Steinkohle  zuriickgegriffen  wurde 
-  ja,  die  im  ausgehenden  18.  und  friihen  19.  Jahrhundert  in  weiten  Teilen 
Deutschlands  gefiihrte  Debatte  um  einen  bevorstehenden  existenzbedrohenden 
Holzmangel  machte  sogar  vor  den  Bergbauregionen  nicht  halt.  Doch,  wenn  die 
Not  so  groB  war  -  warum  wurde  dann  nicht,  wie  zeitgleich  etwa  in  England,  ver- 
starkt  auf  die  Steinkohle  als  verfiigbare  Alternative  zuriickgegriffen?  Im  heutigen 
Niedersachsen  waren  zu  diesem  Zeitpunkt  nahezu  alle  spater  ausgebeuteten 
Steinkohlenvorkommen  bereits  bekannt.  Nur  genutzt  wurden  sie  kaum.  So  ent- 
gegnete  etwa  die  schaumburg-lippische  Rentkammer  1818  den  Klagen  iiber  stei- 
gende  Holzpreise:  Man  brenne  Steinkohlen  in  alien  Brauereyen,  in  alien  Oefen,  in  alien 
Kitchen  und  Backofen,  dann  wird  HolzuberfluJS  in  den  Waldern  entstehen;  die  Holzpreise 
werden  tiefherabsinken.  [.  .  .]  Werkein  wohlfeiles,  nahe  vor  der  Thiir  gelegenes,  vortreffli- 


56  Sieferle,  Industrielle  Revolution,  wie  Anm.  43,  S.  154 f. ;  Ders.,  Unterirdischer  Wald, 
wie  Anm.  43,  S.  136 ff. 

57  Etwa  140  kg  Kohle  pro  Stunde.  Neben  der  40  PS-Dampfmaschine  waren  auf  den 
Schaumburger  Gesamtsteinkohlenbergwerken  je  eine  100  PS-,  12  PS-  und  10  PS-Dampfma- 
schine zur  Wasserhaltung,  4  Lokomobile  von  je  6  PS  zur  Forderung  sowie  zwei  kleine  Ma- 
schinen  fiir  die  Bewetterung  und  eine  zum  Betrieb  der  Kohlenwasche  im  Einsatz.  Jahresbe- 
richt  der  schaumburgischen  Gesamtsteinkohlenbergwerke  fiir  1868,  11.3.1869,  GStA  PK,  I. 
HA,  Rep.  121,f.  Io.3.  Vol.  1,  Nr.  102. 


28  Dirk  Neuber 

ches  Feuerungsmaterial  [.  .  .]  anwenden  will,  der  trdgt  die  Schuld  seines  Eigensinns  und 
seiner  Vorurteile,  und  mag  titer  diese  Ausgabe  mil  Grund  keine  Klage  ftihren.58 

Die  Griinde  fur  diesen  scheinbaren  Starrsinn  waren  vielfaltig:  da  war  zunachst 
die  Notwendigkeit,  dass  Ofen  fiir  den  Kohlenbrand  umgebaut  und  dass  vielfach 
iiberhaupt  erst  Schornsteine  dafiir  gebaut  werden  mussten  -  aber  auch  die  Tat- 
sache,  dass  weite  Bevolkerungskreise  zum  Bezug  giinstigen  Holzes  berechtigt 
waren.  Es  war  aber  auch  die  ungleiche  Verteilung:  Die  niedersachsische  Kohle 
wurde  in  den  waldreichen  Mittelgebirgen  gewonnen,  und  ihr  Transport  mit  Pfer- 
defuhrwerken  auf  schlechten  Wegen  bis  in  die  bevolkerungsreichen  und  waldar- 
men  Borden  mit  ihren  groBen  Stadten  war  bis  in  das  19.  Jahrhundert  hinein  nur 
auf  kurzen  Strecken  rentabel.  Der  Transport  von  Kohle  kostete  zwar  wegen  ihrer 
hoheren  Energiedichte  weniger  als  der  von  Holz,  doch  setzten  die  schlechten  We- 
geverhaltnisse  auch  ihrem  Absatz  Grenzen.  Neben  diesen  technischen,  okonomi- 
schen  und  raumlichen  Hinderungsgriinden  gab  es  eine  nicht  zu  unterschatzende 
mentale  Barriere,  welche  die  Steinkohlenverwendung  selbst  in  unmittelbarer  Na- 
he  der  Gruben  lange  behinderte:  Sogar  mancher,  der  kein  giinstiges  Interessen- 
tenholz  bezog  und  echte  finanzielle  Vorteile  zu  erwarten  hatte,  scheute  die  fiir  die 
Umstellung  notwendigen  Investitionen  aus  einer  Mischung  von  Beharren  am  Alt- 
bekannten,  befiirchteten  Nachteilen  sowie  diffusen  Vorurteilen. 

Erst  die  Beriicksichtigung  dieser  Faktoren  ermoglicht  Aussagen  dariiber,  war- 
um  zwischen  der  Erfindung  einer  neuen,  die  Verwendung  von  Steinkohle  ermog- 
lichenden  Technik  und  ihrer  allgemeinen  Verbreitung  oftmals  Jahrzehnte  oder 
garjahrhunderte  vergehen  konnten.  So  brachte  die  Kohle  aufgrund  ihrer  groBe- 
ren  Warmeabgabe  beim  Schmieden  Vorteile;  beim  Kalkbrennen  schadete  sie  zu- 
mindest  nicht.  Fiir  die  meisten  iibrigen  Verwendungszwecke  waren  jedoch  so- 
wohl  Umbauten  als  auch  das  Erlernen  neuer  Feuerungstechniken  erforderlich, 
wahrend  es  andererseits  zunachst  noch  keinen  durch  eine  neue  Technik  beding- 
ten  Zwang  zur  Anwendung  der  Kohle  gab.  Auch  wurden  viele  kohleverbrauchen- 
den  Nebenbetriebe  einiger  Bergwerke  nicht  gegriindet,  weil  dort  ein  giinstiger 
Brennstoff  nahezu  unbegrenzt  zur  Verfiigung  stand,  sondern  insbesondere  auch, 
um  schwer  absetzbare  Kohlenvorrate  iiberhaupt  erst  einer  gewinnbringenden 
Verwertung  zuzufiihren. 

Gutgemeinte  Ratschlage  und  obrigkeitliche  Bemiihungen,  traditionell  mit 
Holz  feuernde  Handwerkerzum  Umsteigen  zu  bringen,  scheiterten  oftjahrzehn- 
telang  an  den  divergierenden  Rationalitatsebenen  beider  Seiten:  die  in  Nah- 
rungsokonomie  und  Erfahrungswissen  verhafteten  Handwerker  blieben  gegen- 
iiber  rationellen  Kostensparargumenten  verschlossen,  scheuten  das  zur  Beherr- 


58    Pro  Memoria  Rentkammer  an  schaumburg-lippische  Regierung,  7.9.1818,  NSTAB  L 
3Lg3. 


Steinkohle  als  Ausweg?  29 

schung  der  neuartigen  Feuerungstechnik  notwendige  Umlernen  oder  wurden 
angesichts  der  intensiven  obrigkeitlichen  Bemiihungen  misstrauisch.  Neben  bio- 
Ben  Vorurteilen  gab  es  fiir  traditionelle  Handwerker  durchaus  plausible  Griinde, 
der  neuen  Feuerungsart  gegeniiber  skeptisch  zu  bleiben  -  auch  wenn  sie  staatli- 
cherseits  noch  so  sehr  propagiert  wurde.59  Es  waren  namlich  nicht  nur  Umbau- 
ten  oder  kostspielige  neue  Feuerungsanlagen  erforderlich,  sondern  auch  das  Er- 
lernen  neuer  Qualifikationen  und  Techniken.  Da  dieses  nur  durch  „Learnnig  by 
doing"  geschehen  konnte,  waren  entmutigende  Riickschlage  bei  der  Umstellung 
geradezu  vorprogrammiert.  Nicht  unterschatzt  werden  darf  zudem  der  korpora- 
tive  Charakter  der  Ziinfte,  der  innovatorischen  Einzelgangern  entgegen  stand. 

Derartige  Hemmnisse  betrafen  jedoch  vor  allem  bereits  bestehende  Gewerbe- 
betriebe,  wohingegen  die  Kohle  neugegriindeten  Betrieben,  die  auf  den  Kauf 
groBerer  Brennstoffmengen  angewiesenen  waren,  in  vielen  Fallen  iiberhaupt  erst 
die  Existenz  ermoglichte.  Kohle  bot  sich  auch  fiir  Gewerbebetriebe  groBerer 
Stadte  sowie  traditionelle  Betriebe  an,  welche  iiber  ihren  -  durch  giinstige  Holz- 
bezugsrechte  gesicherten  -  Rahmen  hinaus  expandieren  wollten.  Wahrend  also 
die  Substitution  des  Holzes  bei  traditionellen  Anwendungszwecken  nur  schlep- 
pend  vorankam,  wurde  die  Kohle  zum  spezifischen  Energietrager  der  Wachs- 
tumsbranchen.  Und  mit  deren  gewaltigen  Aufschwung  im  19.  Jahrhundert  erleb- 
ten  auch  die  Bergwerke  einen  enormen  Nachfrageschub. 

Rolf  Peter  Sieferle  hat  eine  Reihe  von  Beispielen  genannt,  denen  zufolge  der 
Ubergang  vom  Holz  zu  Kohle  zum  groBen  Teil  durch  staatliche  Initiativen  veran- 
lasst  und  durch  staatlichen  Druck  vorangetrieben  wurde  und  daran  die  Frage 
aufgeworfen,  ob  es  tatsachlich  die  viel  diskutierte  Holzkrise  gab,  wenn  sich  die 
Kohle  erst  nach  langem  Widerstand  nicht  aufgrund  ihres  Preises,  sondern  auf- 
grund  des  staatlichen  Engagements  durchsetzte.60  Auch  im  heutigen  Niedersach- 
sen  lassen  sich  zwar  seit  Herzog  Julius  von  Braunschweig-Wolfenbiittel  zahlrei- 
che  staatliche  Bemiihungen  zur  Verwendung  von  Steinkohlen  in  Gewerben  und 
Haushalten  nachweisen.  Sie  diirfen  jedoch  nicht  iiberbewertet  werden,  nur  weil 
sie  die  oftmals  einzigen  erhaltenen  Quellen  sind:  einerseits  fiihrten  sie  teilweise 
erst  nachjahrzehnten  zum  Erfolg,  andererseits  entfalteten  sie  keinerlei  erkennba- 
re  Breitenwirkung,  sondern  blieben  immer  lokal  begrenzte  Ausnahmefalle.  So 
gab  es  in  keiner  anderen  Branche  wie  den  Topfereien  des  Leine-Weserberglan- 
des  mehr  obrigkeitliche  Bemiihungen,  die  immens  viel  Holz  verbrauchenden 
TopferzurEntlastung  derForstenzum  Steinkohlenbrand  zubewegen.  Doch  trotz 


59  Uta  Betzhold,  Zur  Rationalitat  der  Verweigerung  der  Steinkohlenfeuerung  in  den 
westlichen  preuBischen  Provinzen  in  der  zweiten  Halfte  des  18.  Jahrhunderts,  in:  Scripta 
Mercaturae  17,  1983,  H.  2,  S.  45-62;  S.  45-47,  S.  55. 

60  Sieferle,  Unterirdischer  Wald,  wie  Anm.  43,  S.  217-223;  S.  236. 


30  Dirk  Neuber 

der  offensichtlichen  Preisvorteile  dauerte  die  Einfiihrung  der  Steinkohle  Jahr- 
zehnte.  Dies  zeigt,  dass  die  Not  der  Forstleute  mit  den  durch  zahlreiche  Neben- 
nutzungen  heruntergekommenen  Waldbestanden  noch  lange  nicht  auch  fur  die 
Topfer  eine  Not  bei  der  Holzbeschaffung  bedeuten  musste.  Hatte  allerdings  erst 
einmal  jemand  den  Anfang  mit  der  Kohle  gewagt  und  die  Vorurteile  als  unbe- 
griindet  entlarvt,  zwang  er  dadurch  haufig  seine  Konkurrenten  ebenfalls  zur  Um- 
stellung,  weil  seine  Produktionskosten  sanken  und  er  sein  Produkt  giinstiger  an- 
bieten  konnte.  Zugleich  sankhierdurch  die  Holznachfrage,  die  Preissteigerungen 
fielen  moderater  aus  und  fur  die  iibrigen  Branchen  stellte  sich  das  Problem  der 
Umstellung  nicht  mehr  so  akut. 

Insbesondere  ostlich  der  Weser  wurde  laut  und  haufig  vor  Holzmangel  ge- 
warnt,  jedoch  vor  allem  von  unter  Absatzmangel  leidenden  Bergwerken,  von 
Forstleuten,  die  sich  um  die  Entlastung  der  Forsten  bemiihten  sowie  von  besorg- 
ten  Patrioten.  Dass  viele  ihrer  Warnungen  und  Losungsvorschlage  oftmals  noch 
jahrzehntelang  unbefolgt  blieben,  deutet  darauf  hin,  dass  sie  zwar  die  „Grenzen 
des  Wachstums"  herannahen  sahen,  ihre  tatsachliche  Entfernung  jedoch  falsch 
einschatzten.  Zweifellos  ist  Holzmangel  dabei  auch  als  Argument  zur  Erreichung 
ganz  anderer  Ziele  instrumentalisiert  worden,  wie  etwa  Schafer  auch  fur  Lippe 
festgestellt  hat.61  In  Schaumburg  beispielsweise  diente  er  als  willkommenes 
Argument  zur  Begriindung  der  Einfiihrung  von  Holzverkaufen  gegen  Meistge- 
bot,  welche  die  Forsteinnahmen  spiirbar  steigern  halfen.  Dies  scheint  jedoch 
nicht  wider  besseren  Wissens  geschehen  zu  sein,  sondern,  weil  die  Forsttaxatio- 
nen  tatsachlich  eine  angespannte  Holzversorgungslage  suggerierten. 

Zwar  erlebten  Holzspar-  und  Substitutionsartikel  im  Hannoverschen  Magazin 
um  1800  ihren  Hohepunkt,  sie  verfliichtigten  sich  danach  aber  nicht  rasch,62  son- 
dern hielten  zumindest  bis  1817,  in  einigen  Fallen  sogar  bis  in  die  1830erjahre  an. 
Das  obrigkeitliche  Engagement  beziiglich  der  Einfiihrung  des  Steinkohlenhaus- 
brandes  erreichte  sogar  erst  in  den  1830er  Jahren  seinen  Hohepunkt.  Die  Holz- 
mangel-Stimmen  verstummten  erst,  als  die  Kohlenverwendung  zwar  noch  langst 
nicht  allgemein  verbreitet  war,  doch  bereits  fur  jedermann  als  klare  und  massen- 
haft  verfiigbare  Zukunftsperspektive  erkennbar  war,  wahrend  zugleich  auch  die 
Forstverbesserungsbemiihungen  erste  Erfolge  zeigten. 

Betrachtet  man  die  Einfiihrung  der  Steinkohlenverwendung  in  verschiedenen 
niedersachsischen  Gewerbezweigen,  so  zeigt  sich  an  vielen  Beispielen  eine  be- 


61  Ingrid  Schafer,  „Ein  Gespenst  geht  um".  Politik  mit  der  Holznot  in  Lippe  1750-1850. 
Eine  Regionalstudie  zur  Wald-  und  Technikgeschichte,  Detmold  1992,  passim. 

62  So  Joachim  Radkau,  Zur  angeblichen  Energiekrise  des  18.  Jahrhunderts.  Revisioni- 
stische  Betrachtungen  zur  vorindustriellen  Holzmangel-Problematik,  in:  Vierteljahres- 
schrift  fur  Wirtschafts-  und  Sozialgeschichte  73,  1986,  H.  1,  S.  1-37,  S.  31. 


Steinkohle  als  Ausweg?  31 

sondere  Vorreiterrolle  beider  Teile  Schaumburgs.63  Die  Griinde  hierfiir  sind  ei- 
nerseits  in  der  guten  Qualitat  der  Kohle  und  ihrer  einfachen  Verfiigbarkeit,  ande- 
rerseits  aber  auch  in  dem  besonderen  herrschaftlichen  Interesse  an  einem  ver- 
mehrten  Absatz  der  in  den  herrschaftlichen  Bergwerken  geforderten  Steinkohlen 
zu  suchen. 

Schmiedekohle 

Das  alteste  Anwendungsgebiet  von  Steinkohle  war  das  Schmieden,  wobei  die 
Umstellung  in  Deutschland  nicht  aus  Mangel  an  Holzkohlen,  sondern  aus  Ko- 
sten-  und  vor  allem  Qualitatsvorteilen  fur  die  Schmiede  geschah.  Je  schwefelar- 
merund  heizkraftiger  die  Kohlen  waren,  desto  mehrwurden  sie  bevorzugt.  Diese 
Eigenschaften  bescherten  der  Schaumburger  Schmiedekohle  seit  jeher  eine  Vor- 
machtstellung  gegeniiber  den  schlechteren  Kohlen  der  iibrigen  Bergwerke  im 
heutigen  Niedersachsen.  Wegen  ihrer  hoheren  Energiedichte  war  sie  auch  zum 
Transport  iiber  groBere  Entfernungen  geeignet  und  besaB  daher  schon  vor  dem 
30jahrigem  Krieg  nahezu  eine  Monopolstellung  im  norddeutschen  Raum.64  Der 
alteste  datierbare  Hinweis  auf  die  iiberregionale  Verwendung  von  Schaumburger 
Schmiedekohlen  stammt  von  1522  aus  Bielefeld.  Mitte  des  16.  Jahrhunderts  sind 
Lieferungen  nach  Hannover,  Hildesheim,  Alfeld,  Bodenwerder  und  selbst  nach 
Marburg  nachweisbar.  1614  reichte  das  Absatzgebietbis  nach  Osnabriick,  Kassel, 
Halberstadt  und  -  inzwischen  in  Konkurrenz  mit  englischer  Kohle  -  nach  Bre- 
men.65 Wann  die  ersten  Schmiedekohlen  nach  Braunschweig  kamen,  ist  nicht 
iiberliefert.  1606  kam  es  aber  schon  zu  einer  Beschwerde  iiber  ausbleibende  Lie- 
ferungen.66 In  Hildesheim  verwendeten  die  Schmiede  im  17.  Jahrhundert  so- 
wohl  Osterwalder  als  auch  Schaumburger  Schmiedekohlen.67 


63  Ausfiihrlich  dazu  vgl.  Dirk  Neuber,  Energieiiberschussregion  Schaumburg.  Die  Rol 
le  der  Steinkohle  in  der  Vor-  und  Friihindustrialisierung,  in:  Hoing,  Hubert:  Strukturen  und 
Konjunkturen.  Faktoren  der  schaumburgischen  Wirtschaftsgeschichte,  Bielefeld  2004, 
S.  213-235. 

64  Helge  Bei  der  Wieden,  Fiirst  Ernst,  Graf  von  Holstein-Schaumburg  und  seine  Wirt- 
schaftspolitik,  Buckeburg  1961,  S.  122. 

65  O.  A.,  300  Jahre  Gesamtbergamt  Obernkirchen,  in:  Niedersachsische  Wirtschaft  3, 
1949,  S.  428-430;  S.  428f.;  Schunke/Schulbe,  Gesamtsteinkohlenbergwerke,  wie  Anm.  7, 
S.  91ff. 

66  Bei  der  Wieden,  Fiirst  Ernst,  wie  Anm.  64,  S.  125.  Im  altesten  erhaltenen  Rech- 
nungsbuch  der  Schmiedegilde  sind  vom  ersten  Rechnungsjahr  1617  an  regelmaBig  Ankaufe 
und  Abgaben  von  Steinkohlen  registriert.  Rechnungsbuch  der  Schmiedegilde,  1617-1677, 
Stadtarchiv  Braunschweig  (StABr)  G  VIII  Nr.  451  A. 

67  Kohlenregister  von  1593-1659  sowie  von  1639,  Stadtarchiv  Hildesheim  (StAHild) 
100-66  Nr.  464  a;  Kohlenrechnung  1660-1678,  StAHild  100-66  Nr.  473  b. 


32  Dirk  Neuber 

In  den  groBeren  niedersachsischen  Stadten  unterhielten  die  Schmiedegilden 
Steinkohlenmagazine,  in  denen  sie  fuderweise  Kohlen  einlagerten  und  in  be- 
darfsgerechten  Mengen  an  ihre  Mitglieder  abgaben.68  Angesichts  des  schaum- 
burgischen  „Exportschlagers"  Schmiedekohle  war  insbesondere  die  zweite  Half- 
te  des  17.  Jahrhunderts  von  den  merkantilistischen  Versuchen  der  Regierungen 
in  Hannover  und  Osnabriick  gepragt,  ihre  Schmiede  durch  Importverbote  fiir 
Schaumburger  Kohlen  zur  Verwendung  der  schlechteren  einheimischen  Kohlen 
zu  zwingen  -  in  der  Regel  mit  wenig  Erfolg.  Im  Fiirstbistum  Osnabriick  gab  bei- 
spielsweise  1688  ein  Schmied  zu  Protokoll,  er  wollte  lieber  seinen  Hammer  in  die  Erde 
Vergraben  alfi  an  Stelle  der  Schaumburger  Kohlen  die  einheimischen  gebrauchen 
zu  miissen.69  Angeblich  lieB  sich  mit  einem  Fuder  Obernkirchener  Kohlen  drei- 
mal  so  viel  und  so  gut  Schmieden.70  Neben  den  Schaumburger  Kohlen  zogen  die 
dortigen  Schmiede  auch  Dortmunder  Kohlen  den  einheimischen  vor.71 

Kalkbrennereien 

Neben  dem  Schmieden  war  das  Kalkbrennen  eine  der  friihesten  Kohleverwen- 
dungen  iiberhaupt:  Einerseits  bereitete  die  Beschickung  derprimitiven  Kalkofen 
mit  Kohle  keine  technischen  Probleme.  Andererseits  gab  es  nahezu  keine  Kohle- 
sorte,  die  zu  schlecht  war,  um  nicht  zumindest  zum  Kalkbrennen  benutzt  werden 
zu  konnen.  Daher  wurden  bei  vielen  Zechen  Kalkofen  errichtet,  um  unverkaufli- 
che  und  iiberlagerte  Kohlenbestande  doch  noch  einer  wirtschaftlichen  Verwer- 
tung  zu  unterziehen.72 

Zwar  hatte  auch  Herzog  Julius  1582  bei  Wolfenbiittel  erfolgreiche  Versuche 
durchfiihren  lassen,  mit  Steinkohlen  Kalk  zu  brennen.73  Die  friihesten  schriftli- 


68  Vgl.  z.B.  Vorsteher  der  Schmiede-  und  Schlossergilde  an  Magistrat  zu  Braunschweig, 
25.1.1834,  Stadtarchiv  Braunschweig  (StABr)  D  III  Nr.  6. 

69  Protokoll  des  Amtes  Wittlage,  28.4.1688,  Niedersachsisches  Staatsarchiv  Osnabriick 
(NStAO)  Rep.  150  Wit.  Nr.  1390. 

70  Gravamina  der  sambtlich  Schmiede  wieder  die  Steinbrechers  und  Kohl  Schreiberjo- 
han  Vogelsangh,  4.10.1674,  NStAO  Rep.  150  Wit.  Nr.  1390. 

71  Paul  Rohde,  Geschichte  der  Steinkohleniorderung  im  Amt  Iburg,  in:  Osnabriicker 
Mitteilungen,  27,  1902,  S.  38-193,  S.  60f.  Um  Kohlen  aus  den  osnabriickischen  Gruben  bei 
Borgloh  und  Oesede  zum  Schmieden  brauchbar  zu  machen,  mussten  50%  Holzkohlen  zuge- 
setzt  werden. 

72  Ebert,  Darstellung,  wie  Anm.  19,  S.  48.  AuBerdem  soil  gebrannter  Kalk  mit  Stein- 
kohlenaschenresten  einen  vorziiglichen  Mortel  abgegeben  haben,  wahrend  Holzasche  der 
Qualitat  schadete.  Johann  Beckmann,  Anleitung  zur  Technologie  oder  Kentniss  der  Hand- 
werke,  Fabriken  und  Manufacturen,  vornehmlich  derer,  die  mit  der  Landwirthschaft,  Poli- 
zey  und  Cameralwissenschaft  in  nachster  Verbindung  stehn,  Gottingen  21780,  ND  Leipzig 
1970,  S.  238. 

73  Proba  mit  Steinkohlen  Kalck  zu  brennen,  31.1.1582,  Niedersachsisches  Staatsarchiv 


Steinkohle  als  Ausweg?  33 

chen  Nachrichten  von  der  Anwendung  dieses  Verfahrens  im  heutigen  Nieder- 
sachsen  stammen  jedoch  aus  Osnabriick,  wo  die  Stadt  1540  fur  ihre  Festungsbau- 
ten  einen  umfangreichen  Kalkofenbetrieb  mit  Piesberger  Kohlen  aufnahm.  Da- 
nach  diente  das  Bergwerk  mitsamt  den  Kalkofen  200  Jahre  lang  ausschlieBlich 
der  Deckung  des  stadtischen  Kalkbedarfs,74  bis  die  vorziigliche  Eignung  des  Pies- 
berger Anthrazits  zum  Heizen  von  Stubenofen  entdeckt  wurde. 

In  Hannover  wurde  1747  das  unrentable  Kalkbrennen  mit  Eilenriedeholz  auf- 
gegeben.75  Fortan  konzentrierte  sich  die  Kalkproduktion  auf  Linden  sowie  bis 
weit  in  das  20.  Jahrhundert  auf  die  kalk-  und  brennstoffreiche  Deister-Siintel-Re- 
gion,  wobei  ein  vermehrter  Umstieg  auf  steinkohlenbefeuerte  Kalkofen  erst  Ende 
des  18.  Jahrhunderts  zu  beobachten  ist.  So  wurde  die  seit  1777  mit  Holz  befeuerte 
Volksener  Kalkbrennerei  durch  hdheren  Wunsch  seit  1796  mit  Steinkohlen  des  in 
jenem  Jahr  am  nahen  Daberg  aufgenommenen  herrschaftlichen  Steinkohlen- 
bergwerks  betrieben76  und  am  Nesselberg  wurde  1793  etwa  ein  Drittel  derKoh- 
lenforderung  des  Briinninghauser  Bergwerks  zum  Kalkbrennen  verwendet.77  So 
verdankten  in  der  Deister-Siintel-Region  viele  Bergwerke  ihre  Existenz  der  Kalk- 
brennerei. Erinnert  sei  hierzudem  an  den  „Kalkjohann"  genanntenjohann  Eges- 
torf,  mit  dessen  Bergwerken  und  Kalkbrennereien  die  Industrialisierung  in  Lin- 
den bei  Hannover  ihren  Anfang  nahm. 

Salinen 

Die  zentrale  Erfindung,  um  Steinkohle  auch  auBerhalb  von  Schmiedefeuern  und 
Kalkofen  einsetzen  zu  konnen,  war  die  Entwicklung  eines  geeigneten  Feuerro- 
stes,  welche  in  den  1570erjahren  in  der  hessischen  Saline  Allendorf  gelang.  Der 
weitere  Weg  dieser  Innovation  fiihrte  iiber  das  heutige  Niedersachsen  nach  West- 
falen.  Bis  1600  war  auBer  in  Allendorf  lediglich  bei  Harzburg,  in  Salzhemmen- 
dorf  am  Osterwald,  Soldorf  bei  Rodenberg  und  einigen  wenigen  westfalischen 
Salinen  mit  unterschiedlichem  Erfolg  mit  Kohlen  gefeuert  worden.78 

Insgesamt  hat  sich  die  Kohlenfeuerung  zunachst  nur  in  wenigen  Salinen 

Wolfenbiittel  (NStAW)  2  Alt  Nr.  5244,  pag.  3-12. 

74  Rohrs,  Erz,  wie  Anm.  2,  S.  55ff. 

75  Protokoll  Rat  Eichfeld  und  Baumeisterjunge  an  Regierung  zu  Hannover,  Anlage  B, 
20.1.1755,  Stadtarchiv  Hannover  (StAH)  AAA  Nr.  3227. 

76  Seit  der  zweiten  Halfte  des  19.  Jahrhunderts  entstanden  vielerorts  groBe  Kalkwer- 
ke  mit  Ringofen.  Vgl.  dazu  Manthey/  Vohn-Fortagne,  Industriegeschichte,  wie  Anm.  31, 
S.  246ff. 

77  Bericht  Amtmann  Schepp  an  Rentkammer  zu  Dillenburg,  Coppenbrugge,  27.1.1794, 
OBAFin.  Min.  f.  31  Nr.  la. 

78  Peter  Piasecki,  Das  deutsche  Salinenwesen  1550-1650.  Invention  -  Innovation  -  Dif- 
fusion, Idstein  1987,  S.  166. 


34  Dirk  Neuber 

durchsetzen  konnen.  Ursachen  hierfiir  waren  noch  unausgereifte  technische  Ver- 
fahren  und  die  oft  zu  hohen  Transportkosten  der  Kohle.  Zudem  ermoglichte  die 
Anfang  des  18.  Jahrhunderts  rasch  verbreitete  Innovation  der  Dorngradierung 
wesentliche  Brennstoffeinsparungen.  Hierdurch  wurde  die  allgemeine  Kohlen- 
verwendung  bei  vielen  deutschen  Salinen  zwar  noch  lange  verzogert,  aber  auf 
Dauernicht  verhindert.79  Im  19.Jahrhundert  setzte  dann  ein  Konzentrationspro- 
zess  hin  zu  wenigen  groBen  Salinen  mit  erbohrten  konzentrierten  Solen  und  Ei- 
senbahnanschluss  fiirgiinstigen  Kohlen-  und  Salztransport  ein.80  So  konnte  etwa 
die  1831  von  Johann  Egestorff  gegriindete  Saline  Egestorffshall  bei  Badenstedt 
dank  einer  1837  erbohrten  gesattigten  Salzsole  und  der  Kohlen  des  nahen  Dei- 
sters  in  den  folgenden  Jahrzehnten  zu  einer  der  groBten  Salinen  Mitteleuropas 
werden.81  Egestorffhall  steht  am  Ende  der  im  folgenden  geschilderten  Entwick- 
lung  der  niedersachsischen  Salinen  von  der  Holz-  zur  Steinkohlenfeuerung.  Da- 
bei  zeigt  sich,  dass  es  -  abhangig  von  den  lokalen  Brennstoffressourcen  -  jahr- 
hundertelang  zu  einem  Nebeneinander  beider  Feuerungstypen  kam. 

Die  zweite  deutsche  Saline  nach  Allendorf,  in  derim  lG.Jahrhundert  Versuche 
zur  Steinkohlenfeuerung  durchgefiihrt  wurden,  war  Juliushall  wahrend  der  Re- 
gierungszeit  von  Herzog  Julius.  Es  gelangihmjedoch  nicht,  in  ausreichenderNa- 
he  geeignete  Steinkohlenvorkommen  zu  erschlieBen,  so  dass  zwar  1584  Probe- 
siedungen  mit  Steinkohlen  stattfanden,  es  wegen  der  weiten  Transportentfernun- 
gen  aber  nicht  rentabel  war,  den  Siedebetrieb  dauerhaft  von  Holz  auf  Kohle  um- 
zustellen.  In  Salzhemmendorf  dagegen  gelang  es  um  1585,  die  drei  herrschaftli- 
chen  Salzkothen  mit  Osterwalder  Steinkohlen  zu  befeuern,82  wahrend  die  Ge- 
werken  der  nebenan  gelegenen  gewerkschaftlichen  Siedehauser  erst  1786  anfin- 
gen,  anstelle  selbstgelieferten  Holzes  die  Kohlenheizung  einzufiihren.83  Erst  1825 

79  Hans  Otto  Gericke,  Von  der  Holz-  zur  Kohlenfeuerung  in  den  Salinen  der  ehe- 
maligen  Provinz  Sachsen,  in:  Sachsen-Anhalt.  Beitrage  zur  Landesgeschichte,  H.  4,  Halle 
1995,  S.  7-58,  S.  51;  Hans-Heinz  Emons;  Hans-Henning  Walter,  Alte  Salinen  in  Mitteleuro- 
pa.  Zur  Geschichte  der  Siedesalzerzeugung  vom  Mittelalter  bis  zur  Gegenwart,  Leipzig 
1988,  S.  25-27;  Peter  Piasecki,  Innovationen  im  deutschen  Salinenwesen  im  lG.Jahrhun- 
dert, in:  Christian  Lamschus  (Hrsg.),  Salz  -  Arbeit  -  Technik.  Produktion  und  Distribution 
in  Mittelalter  und  FriiherNeuzeit,  Liineburg  1989,  S.  163-177;  S.  166f.;  Ders.,  Salinenwesen, 
wie  Anm.  78,  S.  224. 

80  Emons /Walter,  Salinen,  S.  27ff. 

81  Ebd.,  S.  1 2 6 f f .  Beim  Bau  der  Saline  wurden  alte  Rohren  gefunden,  die  mit  der  Friih- 
zeit  des  Deisterbergbaus  in  Zusammenhang  standen:  1639  war  die  dortige  Sole  schon  ein- 
mal  fur  kurze  Zeit  mit  Deisterkohlen  gesotten  worden;  erst  zweihundert  Jahre  spater  konnte 
Egestorff  den  vom  30jahrigen  Krieg  zunichte  gemachten  alten  Plan  verwirklichen.  Ebert, 
Darstellung,  wie  Anm.  19,  S.  7f;  S.  18f. 

82  Piasecki,  Salinenwesen,  wie  Anm.  78,  S.  166. 

83  Bis  dahin  nutzten  sie  nur  ansonsten  unbrauchbaren  Reisig;  zudem  erbrachte  der 
Verkauf  der  Holzasche  jahrlich  150  Reichstaler.  Vgl.  Andreas,  Eine  Reise  ins  Lauensteini- 


Steinkohle  als  Ausweg?  35 

fand  der  Prozess  der  Steinkohleneinfiihrung  im  Salzhemmendorfer  Salinenwesen 
nach  240  Jahren  seinen  Abschluss.84 

Der  erste  Hinweis  auf  Kohlenverwendung  zum  Salzsieden  in  Schaumburg 
stammt  von  1584. 85  Wenig  spater  gelang  es  Fiirst  Ernst,  seine  friiher  von  Salzim- 
porten  abhangige  Grafschaft  ausschlieBlich  mit  im  eigenen  Land  mit  Steinkohle 
gesottenem  Salz  zu  versorgen  und  dariiber  hinaus  noch  etwas  zu  exportieren.86 
So  konnte  in  Schaumburg  in  den  folgenden  zweijahrhunderten  durch  den  Koh- 
leneinsatz  eine  zusatzliche  Belastung  der  Walder-  wie  sie  von  zahlreichen  ande- 
ren  holzbefeuerten  Salinen  ausging  -  wirksam  vermieden  werden. 

Im  bisher  auf  Salzimport  angewiesenen  Fiirstbistum  Osnabriick  lieB  Ernst  Au- 
gust II.  seit  1722  nach  einem  geeigneten  Standort  fur  ein  Salzwerk  suchen  und 
konnte  schlieBlich  1725  im  neuen  Salzwerk  zu  Rothenfelde  den  Siedebetrieb  in 
vollem  Umfang  aufnehmen  lassen.87  Mangels  landesherr lichen  Forstbesitzes  und 
angesichts  des  schlechten  Zustandes  derMarkenwalderhatte  die  Beschaffung  des 
erforderlichen  Brennholzes  vermutlich  erhebliche  Probleme  bereitet.  Hier  bot 
sich  jedoch  die  Kohle  des  nicht  weit  entfernten  Borgloher  Bergwerkes  als  idealer 
Brennstoff  geradezu  an. 

1809  lieB  die  Stadt  Miinder  ein  Kohlenbergwerk  anlegen,  dessen  Hauptzweck 
es  war,  das  fur  die  Salzpfannen  der  seit  dem  Mittelalter  betriebenen  Interessen- 
ten-Saline  notige  Brennmaterial  zu  gewinnen.  Die  Kohle  sollte  den  unentgeltli- 
chen  Brennholzbezug  aus  dem  stadtischen  Forst  ersetzen,  zu  dem  derSalzhof  be- 
rechtigt  war.88  Die  Stadt  profitierte  doppelt:  angesichts  hoherHolzpreise  konnte 
das  bisher  an  die  Saline  abgegebene  Holz  anderweitig  zu  hoheren  Preisen  ver- 


sche,  in:  Hannoverisches  Magazin  1769,  45.-46.  St.,  Sp.  705-736;  Sp.  725. 

84  Oberbergrat  Engels,:  Geschichte  der  ehemaligen  Saline  zu  Salzhemmendorf,  in: 
Zeitschrift  fur  Bergrecht  22,  1881,  S.  194-219;  S.  201ff. 

85  Kontrakt  zwischen  Graf  Adolf  und  Hermann  von  MengerBen,  11.8.1584,  zitiert  nach 
Schunke/Schulbe,  Gesamtsteinkohlenbergwerke,  wie  Anm.  7,  S.  23-25. 

86  Bei  der  Wieden,  Fiirst  Ernst,  wie  Anm.  64,  S.  129f.  Nach  dem  Tod  des  Fiirsten  1622 
verfiel  das  Salinenwesen  wahrend  des  30jahrigen  Krieges  zunachst  wieder.  Weniger  aus- 
fiihrlich,  aber  auf  aktueflem  Forschungsstand,  vgl.  Helge  Bei  der  Wieden,  Ein  norddeut- 
scherRenaissancefiirst.  Ernst  zu  Holstein-Schaumburg;  1569-1622,  Bielefeld  1994  insbes.  S. 
77-81.  Zweihundert  Jahre  spater,  1822,  wurden  in  Soldorf  mit  1.440  t  Kohle  ca.  434  t  Salz 
gesotten  und  damit  die  zu  Fiirst  Ernst's  Zeiten  erreichte  Salzproduktion  nur  unwesentlich 
iiberschritten.  Ober-Salinen-Inspektor  Thiele,  Beschreibung  der  vereinigten  Salinen  Sool- 
dorf  und  Masch,  bei  der  Stadt  Rodenberg  in  der  Grafschaft  Schaumburg,  Kurhessischen 
Anteils,  in:  Archiv  fur  Bergbau  und  Hiittenwesen  5,  1822,  H.  2,  S.  320-345;  S.  342. 

87  Alfred  Bauer,  Die  Entstehung  des  Salzwerks  Rothenfelde  und  seine  ersten  Jahrzehn- 
te,  in:  Ohlhoff,  Gerhard  (Hrsg.),  Bad  Rothenfelde.  Vom  Salzwerk  zum  Heilbad.  Bad  Ro- 
thenfelde 21986,  S.  55-71;  S.  55-63.  Ausfiihrlich  zur  Saline  vgl.  Paul  Rohde,  Geschichte  der 
Saline  Rothenfelde,  in:  Osnabriicker  Mitteilungen  31,  1906,  S.  1-128. 

88  Manthey/Vohn-Fortagne,  Industriegeschichte,  wie  Anm.  31,  S.  290. 


36  Dirk  Neuber 

kauft  werden,  wahrend  stattdessen  Kohle  aus  der  Grube  gegen  Bezahlung  an  die 
Saline  geliefert  werden  konnte  und  mit  dem  folgenden  Aufschwung  des  Miin- 
deraner  Salinenwesens  in  beiden  Branchen  neue  Arbeitsplatze  entstanden.89 

Insgesamt  ermoglichte  die  vorindustrielle  Verwendung  von  Steinkohle  zum 
Salzsieden  die  Produktion  von  groBeren  Mengen  Salz,  als  unter  Beibehaltung  der 
Holzfeuerung  moglich  gewesen  ware.  So  konnte  sich  das  mittlere  Niedersachsen 
von  einer  Salzimport-  zu  einer  Salzexportregion  wandeln.  Daneben  konnte  aber 
auch  die  Holzfeuerung  bis  weit  in  das  19.  Jahrhundert  bei  jenen  Salinen  konkur- 
renzfahig  bleiben,  die  iiber  Rechte  zum  giinstigen  oder  kostenlosen  Holzbezug 
verfiigten. 

Ziegeleien 

Die  Verwendung  fossiler  Brennstoffe  zum  Ziegelbrennen  markiert  eine  wichtige 
Wende.  Denn  der  Ziegel-Massivbau  ist  zwar  in  der  Friihen  Neuzeit  immer  wieder 
als  Mittel  zum  Holzsparen  propagiert  worden.90  So  lange,  wie  die  Ziegel  mit  Holz 
gebrannt  wurden,  konnte  durch  den  Bau  von  Steinhausern  tatsachlich  aber  nur 
kostbares  Eichenbauholz  durch  groBere  Mengen  Brennholz  fur  die  Ziegelherstel- 
lung  ersetzt  werden.  Erst  durch  die  Kohle  konnte  die  Baubranche  von  dem  nach- 
wachsenden  Bau-  und  Brennstoff  Holz  unabhangig  und  zu  einem  der  groBen 
Wachstumssektoren  der  Industrialisierung  werden.91 

Die  Moglichkeit,  Steinkohlen  zum  Ziegelbrennen  zu  verwenden,  wurde  erst- 
mals  von  Herzog  Julius  von  Braunschweig-Wolfenbiittel  genutzt.  1582  lieB  er  in 
einem  kleinen  Ziegelofen  mit  Steinkohlen  Ziegel  brennen.92  Erst  einjahrhundert 
nach  seinem  Tod  lasst  sich  das  Verfahren  wieder  nachweisen,  als  der  Lauenstei- 
ner  Amtmann  Wedemeyerund  Pachterdes  OsterwalderBergwerks  um  1700  eine 
Ziegelei  in  Eldagsen  pachtete,  die  er  mit  Kohle  vom  Osterwald  betrieb.93  Auch 


89  Ulrich  Manthey,  Von  der  Salzgewinnung  zur  Industrialisierung.  Erganzungen  zu 
Bad  Miinders  Wirtschaftsgeschichte,  in:  DerSoltjer  18,  1993,  S.  71;  Manthey /Vohn-Forta- 
gne,  Industriegeschichte,  wie  Anm.  31,  S.  236ff. 

90  Vgl.  etwa  J.F.  Unger,  Vortheile  zu  Ersparung  derBaumaterialien,  in:  Hannoverische 
Gelehrte  Anzeigen  1750,  11.  St.,  Sp.  41-43;  Hollenberg,  Patriotischer  Vorschlag,  die  Erspa- 
rung des  Eichenholzes  betreffend,  in:  Westfalische  Beytrage  zum  Nutzen  und  Vergniigen, 
11.2.1792,6.  St.,  Sp.  49-54. 

91  Joachim  Radkau;  Ingrid  Schafer,  Holz.  Ein  Naturstoff  in  der  Technikgeschichte, 
Reinbek  1987,  S.  20 If.  Die  Mechanisierung  des  Ziegelformens  und  kontinuierlich  befeuerte 
Ringofen  setzten  der  Produktion  seit  der  zweiten  Halfte  des  19.  Jahrhunderts  zudem  auch 
keine  technischen  Mengengrenzen  mehr. 

92  Herzog  August  Bibliothek  Wolfenbiittel  14.22.  Aug.  4to,  pag.  7  v.  Aufpag.  125v-126r 
farbige  Tuschezeichnung  u.  a.  iiber  das  Brennen  von  Ziegelsteinen  mit  Steinkohlen. 

93  Alheidis  v.  Rohr,  Lauensteiner  Glas  vom  Osterwald  (1701-1827),  in:  Heimatland, 


Steinkohle  als  Ausweg?  37 

die  Steine  zum  Bau  des  Forts  George  bei  Hameln  wurden  1770  mit  Steinkohlen 
gebrannt.94  Im  weiteren  Verlauf  des  19.  Jahrhunderts  wurden  zahlreiche  Ziege- 
leien  gegriindet,  die  den  steigenden  Bedarf  der  wachsenden  Siedlungen  und  Fa- 
briken  nach  Mauer-  und  Dachziegeln  befriedigten.  Sie  lagen  zum  Teil  dort,  wo  es 
wie  im  Raum  Deister-Siintel-Osterwald95  sowohl  Ton  als  auch  Kohle  gab  sowie 
seit  der  Jahrhundertmitte  rund  um  Stadthagen.96  Auf  der  anderen  Seite  entstan- 
den  bis  1900  etwa  30  absatzmarktnahe  Ziegeleien  rings  um  das  rasch  expandie- 
rende  Hannover.97 

Topfereien 

Gewaltige  Holzmengen  verschlang  der  Brand  von  Topferwaren.  Gerade  im  soge- 
nannten  Portland  zwischen  Leine  und  Weser  gab  es  eine  Reihe  Topferorte,  und 
in  Duingen  z.B.  sogar  Kohle  direkt  vor  Ort.  Das  Brennen  von  Steingut  mit  Kohle 
war  zwar  technisch  moglich,  doch  scheuten  die  Topfer  die  Risiken  einer  Umstel- 
lung.  Sie  waren  namlich  auf  ihr  erlerntes  Erfahrungswissen  angewiesen,  um  in 
den  unterschiedlichen  Phasen  des  Brandes  die  jeweils  erforderlichen  Hitzegrade 
zu  erzielen.  Ein  einziger  Fehler  konnte  den  ganzen  Brand  verderben.  Da  Kohle 
fur  die  Topfer  vollig  unbekannte  BrenneigenschaftenbesaB,  traute  sich  in  der  Re- 
gel  niemand,  einen  ersten  Versuch  zu  wagen  und  dabei  zu  riskieren,  die  Arbeit 
mehrerer  Wochen  zu  verderben.  Das  finanzielle  Risiko  einer  Umstellung  warum 
so  groBer,  weil  zuvor  in  den  Umbau  des  Of  ens  etwa  20  Reichstaler  investiert  wer- 
den  mussten.98 

So  gab  es  letztlich  kaum  einen  Topferort,  wo  der  Steinkohlenbrand  nicht  erst 
in  Gang  kam,  nachdem  die  Obrigkeit  den  Bau  von  Versuchsofen  finanziert  oder 
Pramien  fiir  den  ersten  gelungenen  Steinkohlenbrand  ausgelobt  hatte."  Dabei 
hing  die  Intensitat  der  obrigkeitlichen  Einfuhrungsbemuhungen  vor  allem  von 
der  jeweiligen  Einschatzung  der  Holzversorgungssituation  ab.  In  Duingen  bei- 
spielsweise  gab  es  seit  1787  immer  wieder  Anlaufe  von  Berg-  und  Forstbeamten, 


1991,  H.  5,  S.  129-134;  S.  131. 

94  Otto  Philipps,  Johann  und  Georg  Egestorff:  Leben  und  Wirken  zweier  nieder- 
sachsischer  Wirtschaftsfiihrer,  Oldenburg  i.  O.  1936,  S.  8. 

95  Manthey/Vohn,  Industriegeschichte,  wie  Anm.  31,  S.  277ff. 

96  Schneider,  Industrialisierung  I,  wie  Anm.  15,  S.  167 f. 

97  Giinter  Gebhardt,  Steine  fiir  den  Bau  Hannovers.  Hannovers  Ziegeleien  von  1800 
bis  jetzt,  in:  Heimatland  1995,  S.  187-191,  S.  187ff. 

98  Bericht  Amtmann  Schuster  zu  Scharzfeld  an  Kammer,  14.2.1815,  Niedersachsisches 
Hauptstaatsarchiv  Hannover  (HStAH)  Hann.  88  A  Nr.  4468.  Ahnlich  auch  die  Pro  Memoria 
des  Altmeisters  der  Duinger  Topfer,  8.8.1815,  ebd. 

99  Ausfiihrlich  dazu  vgl.  Neuber,  Energie-  und  Umweltgeschichte,  wie  Anm.  1,  S.  123- 
129. 


38  Dirk  Neuber 

die  jedoch  erst  1822  zur  massenhaften  Umstellung  fiihrten.  Auch  im  osnabrii- 
ckischen  Amt  Iburg  wurde  zwar  seit  1775  eine  Topferei  mit  Steinkohlen  betrie- 
ben,100  doch  stellte  in  jener  Region  Holz  bis  zum  Ende  des  Topferwesens  den 
weitaus  bedeutendsten  Brennstoff  dar.101 

Eine  absolute  Ausnahme  stellte  die  unter  existentiellem  Innovationsdruck  re- 
lativ  problemlos  vollzogene  Einfiihrung  der  Kohlenfeuerung  bei  den  Topfern  der 
Grafschaft  Spiegelberg  dar.  Sie  galten  nicht  umsonst  als  die  schlimmsten  Holz- 
frevler  im  Lande,  weil  sie  ihren  iiber  das  Berechtigungsholz  hinausgehenden 
Brennstoffbedarf  nicht  nur  durch  Zukauf,  sondern  auch  durch  „Selbstbedie- 
nung"  in  den  Forsten  deckten.102  Da  die  Spiegelbergischen  Forsten  die  von  den 
Topfern  jahrlich  benotigten  287  Klafter  unmoglich  zu  liefern  vermochten,  be- 
miihten  sich  Rentkammer  und  Regierung  zwischen  1772  und  1792  in  Uberein- 
stimmung  mit  den  jeweiligen  Amtmannern,  das  Topferwesen  durch  Konzessi- 
onsverweigerungen  sowie  Beschrankungen  des  Holz-  und  Tonbezugs  zum  Erlie- 
gen  zu  bringen.  Unter  diesem  Druck  gelang  es  den  Steintopfern,  einen  GroBteil 
des  Brennholzes  durch  den  Einsatz  von  Steinkohlen  zu  substituieren.103  Wenige 
Wochen,  nachdem  1793  das  nahe  Briinninghauser  Bergwerk  in  Betrieb  gegangen 
war,104  stellte  auch  derletzte  dersechs  spiegelbergischen  Steintopfer  seinen  Ofen 
auf  Kohle  urn.105 

Glashiitten 

Auch  Glashiitten  zahlten  zu  den  bedeutenden  „holzfressenden  Gewerben".106 
Die  Standortbedingungen  in  den  groBen  Waldern  des  Leine-Weserberglandes 
waren  fur  Glashiitten  lange  giinstig,  zumal  es  in  der  Region  einige  holzbefeuerte 


100  Bericht  Amtsverwalter  Friedrichs  zu  Relliehausen  an  Kammer  zu  Hannover,  19.3. 
1800,  HStAH  Hann.  74  Springe  Nr  667. 

101  Ernst  Helmut  Segschneider,  Das  alte  Topferhandwerk  im  Osnabriicker  Land, 
Bramsche  1983,  passim.  Auch  im  NStAO  finden  sich  keine  dariiber  hinausgehenden  Hin 
weise  auf  Steinkohlenverwendung  in  Topfereien. 

102  Bericht  Amtmann  Wagner  zu  Coppenbriigge  an  Rentkammer  zu  Dillenburg, 
24.7.1772,  HStAH  Hann.  88  A  Nr.  1929. 

103  Amtmann  Schepp  zu  Coppenbriigge  an  Landesregierung  zu  Dillenburg,  18.2.1793, 
HStAH  Hann.  88  A  Nr.  1929. 

104  Gunter  Gebhardt,  Kohle  vom  Nesselberg  -  die  Gruben  in  der  Grafschaft  Spie- 
gelberg, in:  Heimatland  1994,  S.  81-84,  S.  81. 

105  Bericht  Amtmann  Schepp  zu  Coppenbriigge  an  Rentkammer  zu  Dillenburg,  27.1. 
1794,  OBAFin.  Min.f.  31  Nr.  la. 

106  Davon  wurden  allerdings  nur  72  kg  fur  die  eigentliche  Warmeerzeugung  benotigt, 
der  Rest  fur  die  Gewinnung  der  als  Flussmittel  genutzten  -  haufig  importierten  -  Pottasche. 
Sieferle,  Unterirdischer  Wald,  wie  Anm.  43,  S.  84. 


Steinkohle  als  Ausweg?  39 

Salinen  gab,  von  denen  Holzasche  bezogen  werden  konnte.107  Die  Steinkohlen- 
lagerstatten  im  Leine-Weserbergland  begiinstigten  zugleich  aber  insbesondere 
im  19.  Jahrhundert  die  Entstehung  zahlreicher  Steinkohlen-Glashiitten. 

Im  heutigen  Niedersachsen  wurde  vermutlich  erstmals  1701  mit  Hilfe  eines 
englischen  Glasmeisters  eine  mit  Steinkohle  befeuerte  Glashiitte  am  Osterwald 
eingerichtet.  Mit  ihr  erschloss  der  Lauensteiner  Amtmann  dem  von  ihm  gepach- 
teten  Bergwerk  neben  seinen  anderen  steinkohlenbefeuerten  Gewerbebetrieben 
eine  weitere  Absatzquelle.  Der  Glasqualitat  tat  die  Feuerung  keinen  Abbruch, 
vielmehr  wurde  das  Lauensteiner  Kristallglas  im  18.  Jahrhundert  weithin  ge- 
schatzt.108  1755  wurde  eine  Steinkohlen-Glashiitte  am  Kleinen  Siintel  gegriin- 
det.109  Da  sich  immer  wiederHalden  unabsetzbarerKohlen  auftiirmten,  war  das 
dortige  Bergwerk  weitgehend  von  der  Glashiitte  abhangig.110  Uber  ein  Jahrhun- 
dert lang  deckte  das  Bergwerk  vorallem  den  Brennstoffbedarf  der  1886  endgiiltig 
stillgelegten  Glashiitte.111 

Einerum  1726  im  Fiirstbistum  Osnabriickaus  merkantilistischen  Erwagungen 
unweit  derKohlengruben  von  Borgloh  gegriindeten  Glashiitte  reichte  dergiinsti- 
ge  Brennstoff  allein  nicht  zum  Gedeihen,  da  alle  iibrigen  Rohstoffe  von  weither 
angefahren  werden  mussten  und  zugleich  die  Glaser  nur  schleppenden  Absatz 
fanden.  1738  gab  der  letzte  Pachter  auf.112 

Die  bis  heute  bedeutende  Schaumburger  Glasindustrie  nahm  ihren  Anfang  in 
der  ersten  Halfte  des  19.  Jahrhunderts  mit  der  Ansiedlung  von  gleich  vier  Glas- 
hiitten  am  Hang  der  Biickeberge.  Dort  gab  es  nicht  nur  die  fur  die  Glasherstel- 
lung  notigen  mineralischen  Rohstoffe  und  einen  fiir  ordentlichen  Zug  im  Glas- 
ofen  sorgenden,  den  Nordwesthang  hinaufstreichenden  Wind,  sondern  auch 
gleich  an  diesem  Hang  gelegene  Steinkohlengruben  mit  fiir  die  Glasherstellung 


107  Eberhard  und  Irmgard  Tacke,  Die  Entstehung  der  „Furstlich  Braunschweigischen 
Glas-  und  Spiegel-Fabriken"  im  Soiling,  Ith  und  Hils.  Zur  staatlichen  Industrieplanung  und 
-ansiedlung  im  braunschweigischen  Weserbergland  um  1750,  in:  Neues  Archiv  fiir  Nieder- 
sachsen 18,  1969,  S.  221-234;  S.  232ff. 

108  Rohr,  Lauensteiner  Glas,  wie  Anm.  93,  S.  1 3 0  f f . ;  Michael  Mende,  Osterwald,  Klein 
Siintel  und  Steinkrug.  Denkmale  der  kohlegebundenen  Glasindustrie  in  Niedersachsen,  in: 
Der  Anschnitt  42,  1990,  H.  5-6,  S.  169-180,  S.  170f. 

109  Auch  zwei  weitere  Griindungsdaten  fiir  eine  kohlenbefeuerte  Glashiitte  am  Kleinen 
Siintel,  1680  und  1718,  sind  nicht  belegbar.  Hans-Dieter  Kreft,  Streifzug  durch  die  Ge- 
schichte  der  Glashiitte  am  Kleinen  Siintel,  in:  Der  Soltjer  18,  1993,  S.  49-57,  S.  50f. 

110  Ebert,  Darstellung,  wie  Anm.  19,  S.  61  ff. 

111  Kreft,  Streifziige,  wie  Anm.  109,  S.  52-55. 

112  Eberhard  Tacke,  Die  fiirstliche  Glashiitte  in  Borgloh  bei  Osnabriick  (ca.  1726-1738). 
Eine  gliicklose  staatliche  Industrieansiedlung  im  merkantilistischen  18.  Jahrhundert,  in: 
Neues  Archiv  fiir  Niedersachsen  17,  1968,  S.  341-346;  Gerd-Ulrich  Piesch,  Die  fiirstbischof- 
liche  Glashiitte  in  Borgloh-Wellendorf,  in:  Heimat-Jahrbuch  1995  fiir  das  Osnabriicker 
Land,  S.  89-94. 


40  Dirk  Neuber 

sehr  gut  geeigneten  Kohlen.  Damit  boten  beide  Teile  Schaumburgs  zu  Beginn 
des  19.  Jahrhunderts  ideale  Standortbedingungen  fur  Glasmeister,  welche  an  ih- 
ren  bisherigen  Standorten  zunehmend  unter  Energieproblemen  litten  und  bei 
der  Ansiedlungsentscheidung  groBen  Wert  auf  eine  gesicherte  Energieversor- 
gung  legten.  So  war  der  Grander  der  spateren  Glashiitte  Schauenstein  oberhalb 
Obernkirchens 113  bereits  vom  Siintel  her  mit  der  Steinkohlentechnologie  ver- 
traut.  Das  dortige  Bergwerk  hatte  jedoch  erhebliche  Forderungsprobleme  und 
konnte  daher  nicht  regelmaBig  die  fur  den  Glashiittenbetrieb  benotigte  Kohle 
fordern.114 

Backereien 

Beim  Backen  des  Grundnahrungsmittels  Brot  bot  sich  ein  gewaltiges  Holzeinspa- 
rungspotential  an:  um  1818  sollen  allein  die  48  hannoverschen  Backerjahrlich  et- 
wa  3.500  Klafter  Brennholz  verbraucht  haben,115  welches  groBtenteils  vom  Dei- 
ster  herangefahren  wurde.116  Mit  den  wachsenden  Einwohnerzahlen  stieg  auch 
der  Brennholzverbrauch  bis  1860  auf  5.000  Klafter.117 

Steinkohlen  konnten  wegen  ihres  Geruchs  und  mangels  Brennrost  nicht  ein- 
fach  im  Backraum  herkommlicher  Ofen  verbrannt  werden.  Es  war  eine  Kon- 
struktion  notwendig,  bei  der  die  Kohlen  auBerhalb  des  Backraumes  verbrannt 
und  ihre  Warme  iiber  Heizkanale  an  den  Backraum  abgegeben  wurde.118  Erste 
nachweisbare  Versuche,  im  heutigen  Niedersachsen  mit  Steinkohlen  Brot  zu  bak- 
ken,  fanden  1793  unter  Grafin  Juliane  von  Schaumburg-Lippe  statt.  Dabei  wur- 
den  durchaus  zufriedenstellende  Backresultate  erzielt.  Aus  Bequemlichkeit  ging 
man  aber  wieder  zur  Holzfeuerung  iiber.119  Erst  ab  Mitte  des  19.  Jahrhunderts 
wurde  zumindest  in  den  Backereien  der  niedersachsischen  GroBstadte  mit  Stein- 
kohlen gebacken.  In  Hannover  beispielsweise  wurde  die  Umstellung  angesichts 
zu  erwartender  sinkender  Brennholz-  und  Brotpreise  seit  1816  diskutiert,  sie 
scheiterte  aber  am  Zunftwesen  mit  seinen  festgesetzten  Brotpreisen:  Denn  dieje- 
nigen  Backer,  die  zuerst  umstellen  wiirden,  hatten  dank  der  deutlich  giinstigeren 


113  Schneider,  Industrialisierung,  Bd.  1,  wie  Anm.  15,  S.  154 ff. 

114  Kreft,  Streifzug,  wie  Anm.  109,  S.  5 If. 

115  R.,  Nachtrag  zu  den  Nachrichten  von  dem  nutzlichen  Gebrauche  der  Steinkohlen, 
in:  Hannoversches  Magazin  1817,  5.  St.,  Sp.  69-72,  Sp.  70. 

116  Burchard  Christian  v.  Spilcker,  Historisch-topographisch-statistische  Beschreibung 
der  Koniglichen  Residenzstadt  Hannover,  Hannover  1819,  ND  Hannover  1979,  S.  186. 

117  O.  A.,  Backen  mit  Steinkohlenheizung,  in:  Mittheilungen  des  Gewerbe-Vereins  fur 
das  Konigreich  Hannover,  N.F.  1860,  H.  6,  Sp.  304-306. 

118  Professor  Ruhlmann,  Reisenotizen,  in:  Mittheilungen  des  Gewerbe-Vereins  fur  das 
Konigreich  Hannover,  N.F.  1860,  H.  3,  Sp.  172-178;  Sp.  172-174. 

119  Schunke/Schulbe,  Gesamtsteinkohlenbergwerke,  wie  Anm.  7,  S.  240;  S.  247. 


Steinkohle  als  Ausweg?  41 

Brennstoffkosten  erhebliche  Vorteile  gehabt.  Weil  sich  der  Magistrat  auch  spater 
zu  keiner  fur  alle  Beteiligten  gerechten  Zwangseinfiihrung  durchringen  konnte, 
unterblieb  die  Einfiihrung  der  Steinkohlenfeuerung  zumindest  bis  zur  Aufhe- 
bung  der  Brottaxfestsetzung  imjahre  1867. 120  Und  dies,  obwohl  die  technischen 
Probleme  spatestens  in  den  1830erjahren  weitgehend  gelost  waren 121  und  in  der 
hannoverschen  Militarbackerei  seit  1832  bei  halbierten  Feuerungskosten  erfolg- 
reich  mit  Steinkohlen  gebacken  wurde.122 

So  bewirkten  nicht  zuletzt  gerade  jene  Brottaxen,  welche  die  Konsumenten 
urspriinglich  voriiberhohten  Brotpreisen  schiitzen  sollten,  das  genaue  Gegenteil: 
indem  sie  die  Konkurrenz  unter  den  Backern  ausschalteten,  verhinderten  sie  die 
Einfiihrung  kostensparender  Innovationen,  welche  letztlich  auch  den  Konsu- 
menten zugute  gekommen  waren.  Allerdings  setzten  sich  in  den  letzten  beiden 
Jahrzehnten  des  19.  Jahrhunderts  die  modernen  und  kostengiinstigen  Steinkoh- 
lenfeuerungen  bei  den  hannoverschen  Backern  immermehr  durch.123  In  Hildes- 
heim  dagegen  hatte  der  Magistrat  die  Brottaxe  schon  1855  aufgehoben 124  und 
die  Mitglieder  der  Backer-Innung  in  den  Jahren  danach  ihre  Ofen  auf  Stein- 
kohlen umgestellt.125 

Brauereien 

Die  Brauerei  war  einer  jener  stadtischen  Bereiche,  in  dem  nach  dem  Hausbrand 
das  meiste  Holz  eingespart  werden  konnte  -  wenn  es  gelang,  zum  Steinkohlen- 
brand  geeignete  Anlagen  einzurichten.  Viel  Brennholz  warzunachst  zum  Darren 
des  Maizes  erforderlich.  Seit  1816  wirkte  Baumeister  Wichmann  in  Hannover.  Er 
verstand  es  sowohl,  Malzdarren  so  umzubauen,  dass  sie  bei  gleicher  Leistung  er- 
heblich  weniger  Holz  verbrauchten,  als  auch,  zum  Torf-  oder  Steinkohlenbrand 


120  Jorg  Jeschke,  Gewerberecht  und  Handwerkswirtschaft  des  Konigreichs  Hannover 
im  Ubergang  1815-1866,  Gottingen  1977,  S.  130;  Ludwig  Hoerner,  Agenten,  Bader  und  Co- 
pisten.  Hannoversches  Gewerbe-ABC  1800-1900,  Hannover  1995,  S.  20. 

121  Vgl.  etwa  O.  A.,  Ueber  den  Gebrauch  der  Steinkohlen  zum  Brotbacken,  in:  Hanno- 
versches Magazin  1827,  No.  11,  S.  81-83. 

122  O.  A.,  Beschreibung  eines  in  der  Koniglichen  Militairbackerei  zu  Hannover  ausge- 
fiihrten  Backofens  mit  Steinkohlenfeuerung,  in:  Hannoversches  Magazin  1834,  Nr.  20, 
S.  713-716. 

123  Hoerner,  Agenten,  wie  Anm.  120,  S.  22f.;  Franz-Josef  Bruggemeier,  Das  unendli- 
che  Meer  der  Liifte:  Luftverschmutzung,  Industrialisierung  und  Risikodebatten  im  19.  Jahr- 
hundert,  Essen  1996,  S.  50. 

124  Jeschke,  Gewerberecht,  wie  Anm.  120,  S.  131. 

125  Heinrich  Max  Humburg,  Die  erste  Hildesheimer  Kohlenhandlung  in  der  Almstra- 
Be.  Bis  dahin  gab  der  Rat  Holz  aus  dem  Hildesheimer  Wald  frei,  in:  Aus  der  Heimat  1970, 
Nr.  11,  S.  87. 


42  Dirk  Neuber 

geeignete  Darren  zu  errichten.126  In  den  folgendenjahren  baute  er  insbesondere 
auf  Landgiitern  im  Hannoverschen,  Hildesheimischen  und  Braunschweigischen 
zahlreiche  zum  Steinkohlenbrand  geeignete  Malzdarren,  die  auch  in  Sachsen 
und  PreuBen  nachgebaut  wurden.127 

Weitere  groBe  Holzmengen  verschwanden  unter  den  Braupfannen,  weswegen 
etwa  Herzog  Karl  von  Braunschweig  1757  Versuche  zum  Brauen  mit  Torf  anstel- 
len  lieB.128  Was  viele  Brauer  vor  einer  Umstellung  auf  Kohlenfeuerung  ab- 
schreckte,  war  die  Tatsache,  dass  die  Braupfannen  durch  den  Steinkohlenrauch 
starker  litten  und  eher  ersetzt  werden  mussten.  So  gelang  es  der  schaumburg-lip- 
pischen  Rentkammer  beispielsweise  um  1796  zunachst  nur  kurzfristig,  die  Brau- 
ergilden  in  Biickeburg  und  Stadthagen  zur  Verwendung  von  Steinkohlen  zu  ver- 
anlassen:  weil  die  Braugerate  schneller  verschlissen  und  die  Brennholzpreise 
noch  relativ  niedrig  waren,  kehrten  sie  bald  wieder  zur  Holzfeuerung  zuriick.129 
Letztlich  waren  es  die  enormen  Brennstoffkostenersparnisse,  welche  im  weiteren 
Verlauf  des  19.  Jahrhunderts  zu  einem  vermehrten  Ubergang  zur  Steinkohlen- 
feuerung  gefiihrt  haben  diirften.  Denn  durch  sie  wurden  die  Umstellungskosten 
sowie  die  erhohten  Instandhaltungskosten  der  Braugerate  in  Zeiten  standig  stei- 
gender  Holzpreise  mehr  als  wettgemacht.130 


Branntweinb 


rennereien 


Bei  der  Verwendung  von  Steinkohlen  zum  Branntweinbrennen  hielten  sich 
hartnackige  Vorurteile,  dass  der  Kohlenrauch  den  Geschmack  verderbe.  Ge- 
schiirt  wurden  sie  von  Fallen,  in  denen  die  Umstellung  auf  Kohlenfeuerung  miss- 
lang.131  In  der  Regel  verlief  die  Umstellung  aber  recht  unproblematisch,  zumal 
sie  mit  relativ  geringem  Aufwand  zu  erreichen  war  und  der  Kohlenrauch  nicht  di- 


126  J.F.  Wichmann,  Die  in  ganz  neuer  Art  bei  dem  Brauer,  Herrn  Georg  Meyer,  in  Han- 
nover aufgebauete  Malzdarre,  in:  Hannoversches  Magazin,  7.2.1818,  Sp.  171-176. 

127  Provinzial-Regierung  an  Magistrat  zu  Hannover,  10.  8.  1824,  HStAH  Hann.  80 
Hannover  I  C  e  Nr.  253. 

128  Herzog  Karl  an  Hofgerichts-Assessor  Flach  zu  Braunschweig,  1.6.1757,  StABr  C  VII 
Nr.  1402.  Es  waren  aber  die  Torffe  mehr  verhindlich  als  dienlich.  Bericht  von  Horneburg,  Braun- 
schweig, 18.7.1757,  StABr  C  VII  Nr.  1402. 

129  Pro  Memoria  Rentkammer  an  Furstliche  Regierung,  9.12.1816,  NSTAB  L  3  Lg  3. 

130  In  Elze  beispielsweise  hatten  sich  die  Brennstoffkosten  gegeniiber  dem  Holzbrand 
nahezu  halbiert.  Stellungnahme  Brauverwalter  Sander  zu  Elze,  13.8.1814,  HStAH  Hann.  80 
Hannover  I  Cc  Nr.  291. 

131  E.F.  Rettberg,  Erfahrungen  iiber  die  Lagerstatte  der  Steinkohlen,  Braunkohlen  und 
des  Torfes,  nebst  Grundsatzen  und  Regeln  fur  die  Errichtung  der  verschiedenen  Feuerun- 
gen  mit  Anwendung  derselben  auf  die  okonomischen  Gewerbe,  Hannover  1801,  S.  158. 


Steinkohle  als  Ausweg?  43 

rekt  mit  dem  Inhalt  der  geschlossenen  Kupferblase  in  Beriihrung  kam.132  Ahn- 
lich  wie  bei  den  Braupfannen  litten  auch  die  Branntweinblasen  durch  die  Stein- 
kohlenfeuerung;  nach  einer  Schatzung  aus  Springe  hielten  sie  nur  noch  etwa  halb 
so  lange.  Dafiir  halbierten  sich  aber  auch  hier  die  Feuerungskosten.133 

Im  heutigen  Niedersachsen  spielte  Schaumburg  beim  Steinkohlenbrand  in 
Brennereien  eine  absolute  Vorreiterrolle:  Als  beispielsweise  1789  im  Hanno- 
verschen  Magazin  diskutiert  wurde,  ob  es  moglich  sei,  mit  Steinkohlen  Brannt- 
wein  zu  brennen,  verwies  ein  Autor  darauf,  dass  im  schaumburg-lippischen  Lau- 
enhagen  ebenso  wie  in  mehreren  kleineren  Brennereien  im  hessischen  Teil  der 
Grafschaft  seit  iiber  50  Jahren  Branntwein  ausschlieBlich  mit  Steinkohlen  ge- 
brannt  werde.134  Um  1800  wurde  die  dadurch  erzielte  jahrliche  Holzersparnis  in 
Schaumburg  auf  etwa  3.000  Klafter  geschatzt.135 

Im  Fiirstentum  Calenberg  war  das  Branntweinbrennen  mit  Steinkohlen  gegen 
1800  erst  vereinzelt  verbreitet  -  beispielsweise  in  drei  der  42  Brennereien  im  Amt 
Calenberg136  und  allein  8  Brennereien  in  Springe,137  aber  auch  selbst  in  einem 
Betrieb  im  nordwestlich  Hannovers  gelegenen  Engelbostel.138  1816  verwende- 
te  auch  eine  erste  Brennerei  in  Braunschweig  Osterwalder  Kohlen,  litt  jedoch 
bei  anhaltend  schlechten  Wegeverhaltnissen  unter  Kohlenbeschaffungsprob- 
lemen.139 

Seit  dem  ausgehenden  18.  Jahrhundert  zahlte  die  Branntweinbrennerei  zu  ei- 
ner der  bedeutendsten  Wachstumsbranchen  des  Konigreichs  Hannover,  wobei 


132  Bethzold,  Rationalitat,  wie  Anm.  59,  S.  56f.  Waren  zudem  Brennraum  und  Gar- 
raum  voneinander  getrennt,  waren  Geschmacksverschlechterungen  auszuschlieBen.  Jo 
hann  Friedrich  Westrumb,  Bemerkungen  und  Vorschlage  fur  Brannteweinbrenner,  Hanno- 
ver 1793,  S.  84  ff. 

133  Stellungnahme  Branntweinbrenner  Twellmann  zu  Springe,  17.8.1814,  HStAH  Hann. 
80  Hannover  I  Cc  Nr.  291. 

134  W.,  Zur  Beantwortung  der  Anfragen  im  99ten  Stuck  des  Magazins:  das  Branntwein- 
brennen mit  Steinkohlen  betreffend,  In:  Hannoverisches  Magazin  1789,  103.  St.,  Sp.  1633- 
1636;  Sp.  1633f.  Noch  Ende  der  1820erjahre  wurden  im  Konigreich  Hannover  mit  100.000 
Fudern  Torf  und  Holz  72.000  Oxhoft  (ca.  16,27  Mio.  1)  Branntwein  gebrannt,  wobei  Kohle 
als  regional  begrenzt  vorhandener  Brennstoff  immer  noch  keine  nennenswerte  Bedeutung 
besaB.  V.  Honstedt,  Ansichten  iiber  Branntwein-Consumption  und  Fabrikation,  in:  Hanno- 
versches  Magazin  1829,  No.  100-101,  S.  797-804;  S.  803. 

135  Frohlich,  Vortheile,  wie  Anm.  53,  Sp.  1638. 

136  Bericht  Amt  Calenberg,  12.6.1798,  HStAH  Hann.  74  Calenberg  Nr.  660. 

137  Bericht  Amtsverwalter  Friedrichs  zu  Relliehausen  an  die  Kammer  zu  Hannover, 
19.3.  1800,  HStAH  Hann.  74  Springe  Nr  667. 

138  Hans  Ehlich,  Richters  Spriiche,  Miillers  Miihlen  und  Schiffer  auf  der  Leine.  Neues 
aus  der  Geschichte  Garbsens,  Garbsen  1995,  S.  54. 

139  Vorstellung  des  Branntweinbrenners  Friedrich  Martin  Plockhorst  zu  Braunschweig, 
3.1.1817,  NStAW  50  Neu  4  Nr.  8609. 


44  Dirk  Neuber 

nicht  nur  die  bestehenden  Brennereien  ihre  Produktion  ausweiteten,  sondern 
auch  zahlreiche  neue  Betriebe  gegriindet  wurden.  In  Hannover  und  Umgebung 
verdoppelte  sich  beispielsweise  ihre  Zahl  bis  1817  binnen  vierjahrzehnten  auf  34 
Brennereien.140  1819  setzte  eine  weitere  Griindungswelle  insbesondere  im  Ca- 
lenbergischen,  im  Hildesheimischen  und  im  Osnabriickischen  ein,141  die  bis 
1827  dazu  fiihrte,  dass  die  Branntweinproduktion  nach  der  Leinen-  und  Garnfa- 
brikation  vom  Wert  ihres  Gesamterzeugnisses  her  zum  zweitwichtigsten  Indu- 
striezweig  des  Konigreichs  wurde.142  Angesichts  hoher  und  seit  langem  weiter 
steigender  Holzpreise  entschlossen  sich  Brennereigriinder  in  der  Regel  gleich  zur 
Feuerung  mit  fossilen  Brennstoffen.143 

Weil  mit  Steinkohle  gebrannter  Branntwein  giinstiger  angeboten  werden 
konnte,  erhohte  sich  auch  der  Umstellungsdruck  auf  die  traditionellen  Brenner. 
Als  1814  in  Hameln  Druck  auch  seitens  der  iibrigen  Biirgerschaft  hinzukam,  wel- 
che  angesichts  des  groBen  Brennholzverbrauchs  ein  weiteres  Ansteigen  der 
Holzpreise  befiirchtete,144  kam  es  zu  einer  geradezu  beispielhaften  Umstellung 
der  Brennereien  der  Stadt,  die  jedoch  der  einzige  dokumentierte  derartige  Fall 
ist:  Es  wurde  den  Branntweinbrennern  geniigend  Zeit  gelassen,  Erkundigungen 
iiber  die  neue  Brenntechnik  einzuholen  und  ihre  Vorurteile  auf  einer  Informati- 
onsveranstaltung  mit  dem  Chemikerjohann  Friedrich  Westrumb  entkraftet.  Um 
Wettbewerbsverzerrungen  durch  das  Nebeneinander  traditioneller  und  kohle- 
verwendender  Brennereien  gering  zu  halten,  konnte  schlieBlich  problemlos  ver- 
ordnet  werden,  dass  die  Umstellung  aller  Brennereien  der  Stadt  binnen  zwei  Mo- 
naten  abgeschlossen  sein  musste.145  Doch  nicht  in  alien  Stadten  wurde  der  neue 


140  H.  D.  U.  Sonne,  Erdbeschreibung  des  Konigreichs  Hannover.  Sondershausen  1817, 
S.  20. 

141  Gustav  v.  Gulich,  Ueber  den  gegenwartigen  Zustand  des  Ackerbaus,  des  Handels 
und  der  Gewerbe  im  Konigreiche  Hannover,  Hannover  1827,  S.  55. 

142  Gustav  v.  Gulich,  Ueber  den  Handel  und  die  iibrigen  Zweige  der  Industrie  im 
Konigreiche  Hannover,  besonders  iiber  den  Zustand  derselben  seit  demjahre  1826,  Hanno- 
ver 1831,  S.  41. 

143  Eine  1808  in  Pyrmont  eroffnete  Brennerei  verbrauchte  etwa  taglich  zum  Brennen 
von  zwei  Fass  zunachst  50  KubikfuB  Brunninghauser  Kohlen,  stieg  dann  auf  die  besseren 
Deisterkohlen  um,  von  denen  nur  40  KubikfuB  benotigt  wurden  und  verwendete  seit  1812 
schlieBlich  Stadthager  Kohlen,  wodurch  noch  einmal  10  KubikfuB  eingespart  werden  konn- 
ten.  Branntweinfabrikant  Siemens  zu  Pyrmont  an  Brauervorsteher  Stolzheise  zu  Hameln, 
19.8.1814,  HStAH  Hann.  80  Hannover  I  Cc  Nr.  291. 

144  Die  Hamelner  Branntweinbrennereien  und  die  vor  der  Stadt  gelegene  Ziegelei  ver- 
brauchten  etwa  1 .000  Klafter  Brennholz  im  Jahr.  Vorstellung  der  Vorsteher  und  Lohnherren 
zu  Hameln  an  den  Magistrat  der  Stadt,  29.7.1814,  HStAH  Hann.  80  Hannover  I  Cc  Nr.  291. 

145  Landdrostei  zu  Hannover  an  Stadtschulzen,  Biirgermeister  und  Rat  zu  Hameln,  7.9. 
1814,  HStAH  Hann.  80  Hannover  I  Cc  Nr.  291.  1793  hatte  Westrumb  noch  prophezeit,  dass 


Steinkohle  als  Ausweg?  45 

Brennstoff  der  Branntweinbrenner  begriiBt.  Da  der  Kohlenrauch  den  Anwoh- 
nern  der  Brennereien  neue  Belastigungen  brachte,  wurden  einzelne  Branntwein- 
brenner nach  der  Umstellung  von  ihren  Nachbarn  und  Mitbiirgern  angefeindet  - 
beispielsweise  in  Schoningen146  und  Osnabriick.147 

Steinkohlenverwendung  z.u  metallurgischen  Zwecken 

Unbestreitbargehorte  die  massenhafte  Verfiigbarkeit  von  Steinkohle  zu  einerder 
Grundvoraussetzungen  der  Entstehung  der  Schwerindustrie  und  damit  derlndu- 
strialisierung  iiberhaupt.  Erst  eine  von  nachwachsenden  Energierohstoffen  un- 
abhangige  Eisenindustrie  ermoglichte  auch  den  Ausbau  eines  Eisenbahnnetzes, 
welches  wiederum  den  Transport  der  Kohle  iiberbisherungeahnte  Entfernungen 
rentabel  machte  und  damit  zugleich  aber  auch  die  niedersachsische  Kohle  der 
Konkurrenz  der  westfalischen  Kohle  aussetzte. 

Bis  in  das  19.  Jahrhundert  zahlte  der  Harz  zu  den  Montanregionen  von  euro- 
paischer  Bedeutung148  -  basierend  auf  dem  Vorhandensein  von  Erzlagerstatten, 
Wasserkraft  und  Holz  als  Bau-,  Gruben-  und  Brennholz.149  Trotz  umfangreicher 
MaBnahmen,  die  Holzversorgung  zu  sichern,  wurde  seit  Beginn  des  18.  Jahrhun- 
derts  Holzmangel  immer  wieder  zu  einem  Existenzproblem  der  dortigen  Metall- 
hiitten.150  Gereinigte  Steinkohle  -  also  Koks  -  konnte  im  19.  Jahrhundert  einen 
entscheidenden  Beitrag  zur  Stabilisierung  des  Harzer  Montanwesens  leisten,  in- 


die Branntweinbrenner  heftig  gegen  die  Einfiihrung  der  Steinkohlen  schreyen  wurden,  denn  lei- 
der  verschliefit  ihnen  hier  ein  altes  und  tief  eingewurzeltes  Vorurtheil  die  Augen.  Westrume,  Bemer- 
kungen,  wie  Anm.  132,  S.  84f. 

146  Anfrage  von  Gerichts-SchultheiB,  Magistrat  und  Biirgermeister  von  Schoningen  an 
Herzog  Karl  Wilhelm  Ferdinand  zu  Braunschweig,  26.7.1793,  NStAW  2  Alt  Nr.  5564.  Der 
Rauch  wurde  jedoch  fur  gesundheitlich  unbedenklich  gehalten.  Untersuchungsbericht  des 
Ober-Sanitatskollegiums,  22.9.1793,  ebd. 

147  Stellungnahmen  einzelner  Magistratsmitglieder,  o.  D.,  1828,  NStAO  Dep.  3  b  V  Nr. 
1988.  1838  kam  es  zu  einer  gemeinschaftlichen  Beschwerde  von  18  Familien  iiber  die  von  ei- 
ner  Brennerei  ausgehenden  Rauchbelastigungen.  Vorstellung  an  den  Magistrat  zu  Osna- 
briick, o.  D.,Januar  1838,  ebd. 

148  Christoph  Bartels,  Vom  friihneuzeitlichen  Montangewerbe  zur  Bergbauindustrie. 
Erzbergbau  im  Oberharz  1635-1866.  Bochum  1992,  S.  13. 

149  Rolf-Jiirgen  Gleitsmann,  Der  EinfluB  der  Montanwirtschaft  auf  die  Waldentwick- 
lung  Mitteleuropas.  Stand  und  Aufgaben  der  Forschung,  in:  Kroker,  Werner;  Westermann, 
Ekkehard  (Hrsg.):  Montanwirtschaft  Mitteleuropas  vom  12.  bis  17.  Jahrhundert.  Stand,  We- 
ge  und  Aufgaben  der  Forschung",  Bochum  1984,  S.  24-39,  S.  28.  Ausfuhrlich  zum  Harz:  Bar- 
tels, Montangewerbe,  wie  Anm.  148,  S.  20-40. 

150  Hansjiirgen  Gerhard,  Holz  im  Harz.  Probleme  im  Spannungsfeld  zwischen  Holz- 
bedarf  und  Holzversorgung  im  hannoverschen  Montanwesen  des  18.  Jahrhunderts,  in:  Nie- 
dersachsisches  Jahrbuch  fur  Landesgeschichte  92,  1994,  S.  47-77;  S.  54. 


46  Dirk  Neuber 

dem  sie  die  bisherigen  Schwierigkeiten  bei  der  Energieversorgung  der  Hiitten 
linderten.151 

Weil  die  Qualitat  mit  Steinkohle  verhiitteter  Metalle  durch  den  in  der  Kohle 
enthaltenen  Schwefel  erheblich  litt,  konnte  Steinkohle  allerdings  nur  zur  Erzver- 
hiittung  genutzt  werden,  wenn  sie  vorher  durch  Verkokung  -  das  sogenannte 
„Abschwefeln"  -  vom  Schwefel  befreit  worden  war.  Der  Beginn  der  Koksherstel- 
lung  und  seine  friihe  Verwendung  zum  Erzschmelzen  wird  gemeinhin  mit  Eng- 
land verbunden,  wo  es  zweifellos  zuerst  zur  massenhaften  Koksverwendung  in 
der  Metallurgie  gekommen  ist.  Dagegen  wurde  bisher  kaum  zur  Kenntnis  ge- 
nommen,  dass  hierzu  in  den  1580erjahren  sowohl  bei  Dresden,  als  auch  in  der 
Grafschaft  Mansfeld  und  dem  Herzogtum  Braunschweig  durchaus  positive  Ver- 
suche  stattfanden. 152  Welfenherzog  Julius  etwa  verfasste  nicht  nur  1584  eine  An- 
leitung,  wie  Steinkohlen  auf  den  Schmelz-,  Vitriol-  und  Salzwerken  angewendet 
werden  konnten,153  sondern  es  sind  auch  unzweifelhaft  auf  sein  GeheiB  und  teil- 
weise  unter  seiner  direkten  Mitwirkung  kleinere  Mengen  Steinkohlen  abge- 
schwefelt  und  auf  verschiedenen  Hiitten  versuchsweise  sowohl  zur  Erzrostung  als 
auch  zur  Verhiittung  eingesetzt  worden.  Die  Substitution  von  Holzkohle  durch 
Koks  im  groBeren  MaBstab  scheint  jedoch  einerseits  an  der  mangelnden  Koks- 
qualitat,  andererseits  an  der  unzureichenden  Beherrschung  der  Verfahrenstech- 
nik  gescheitert  zu  sein.  1589  wurden  die  Versuche  nach  dem  Tod  des  Herzogs 
eingestellt  und  gerieten  bald  in  Vergessenheit.  Ebenso  war  die  Holzversorgung 
der  Hiitten  auch  in  den  iibrigen  mitteldeutschen  Regionen  um  1600  anscheinend 
zwar  angespannt,  aber  langst  nicht  so  krisenhaft,  als  dass  Koks  eine  rentable  Al- 
ternative dargestellt  hatte  und  die  Versuche  mit  langerem  Atem  fortgesetzt  wor- 
den waren.154 

Erst  im  18.  Jahrhundert  gelang  der  Kokstechnologie  in  der  englischen  Metall- 
industrie  der  Durchbruch.155  Dieses  Wissen  verbreitete  sich  dann  in  der  zweiten 


151  Bartels,  Montangewerbe,  wie  Anm.  148,  S.  443f. 

152  Peter-Michael  Steinsiek,  Nachhaltigkeit  auf  Zeit.  Waldschutz  im  Westharz  vor 
1800,  Miinster  u.  a.  1999,  S.  144f.  Ausfiihrlich  hierzu  vgl.  Hans  Otto  Gericke,  Die  Verwen- 
dung von  Koks  bei  der  Erzverhiittung  im  mitteldeutschen  Raum  um  1584,  in:  Technikge- 
schichte  66,  1999,  H.  2,  S.  87-113,  S.  87-95. 

153  L.  Beck,  Herzog  Julius  von  Braunschweig  und  die  Eisenindustrie  am  Oberharz, 
in:  Zeitschrift  des  Harz-Vereins  fur  Geschichte  und  Altertumskunde  22,  1889,  S.  302-329, 
S.  304  f. 

154  Gericke,  Verwendung,  wie  Anm.  152,  S.  108 f.;  Ders.:  Von  der  Holzkohle  zum 
Koks.  Die  Auswirkungen  der  „Holzkrise"  auf  die  Mansfelder  Kupferhiitten,  in:  Vierteljah- 
resschrift  fur  Sozial-  und  Wirtschaftsgeschichte  85,  1998,  H.  2,  S.  156-195,  S.  174ff. 

155  Bereits  um  1773  fuhrte  C.F.G.  Westfeld  in  Biickeburg  Abschweflungsversuche  nach 
englischen  Vorbild  in  einem  umgebauten  Backofen  durch.  Westfeld,  Vom  Abschwefeln 
der  Steinkohlen,  in:  Hannoverisches  Magazin  1773,  Sp.  1341-1344. 


Steinkohle  als  Ausweg?  47 

Halfte  des  18.  Jahrhunderts  von  England  her  nach  Norddeutschland.156  In 
Schaumburg  fanden  erste  Verkokungsversuche  1811  in  einem  Versuchs-Kok- 
sofen  auf  dem  Osterholz  bei  Nienstadt  statt.157  Da  sie  erfolgreich  verliefen,  wur- 
den  bis  1813  einige  herrschaftliche  Betriebe  wie  die  schaumburg-lippische  Zu- 
ckerfabrik  und  Branntweinbrennerei  in  Petzen  mit  Koks  belief ert.158 

Nachdem  im  hannoverschen  Oberharz  angesichts  drohender  Betriebsein- 
schrankungen  in  Folge  akuten  Holzmangels  Schmelzversuche  mit  Schaumburger 
Koks  auf  den  dortigen  Blei-  und  Silberhiitten  positiv  ausgefallen  waren,  wurde 
1816  die  Verkokung  auf  dem  Osterholz  bei  Nienstadt  wieder  aufgenommen  und 
die  Kokerei  in  den  folgendenjahrzehnten  immer  weiter  ausgebaut.  Ab  1818  war 
die  Lieferung  von  jahrlich  140.000  Balgen  Koks  (ca.  2.100  t)  zu  den  Ober-  und 
Unterharzer  Hiitten  vertraglich  vereinbart.159  1820  rollten  ca.  2.805  tKoks  auf  et- 
wa  1.200  bis  1.400  Fuhrwerken  von  Nienstadt  in  den  Harz,  zehnjahre  sparer  fur 
4.788  t  etwa  2.000  bis  2.500  Fuhrwerke.160  Dies  sind  Dimensionen,  die  auf  einen 
fur  damalige  Verhaltnisse  gewaltigen  Energietransfer  hindeuten. 

Bevor  mit  der  Bahn  Koks  von  der  Ruhr  in  das  Konigreich  Hannover  gelang- 
ten,  standen  Schaumburger  Koks  praktisch  konkurrenzlos  dar.161  Lediglich  auf 
dem  hannoverschen  Gaswerk  fielen  als  „Abfallprodukt"  ebenfalls  Koks  an,  die 
aber  aufgrund  ihrer  miserablen  Qualitat  kein  Betrieb  freiwillig  verwendete.162 

156  Beispielsweise  findet  sich  in  den  Akten  der  Berginspektion  Borgloh  (NStAO  Rep. 
620  Nr.  24)  eine  detaillierte  Beschreibung  und  Zeichnung  eines  englischen  Backkoksofens 
aus  dem  Jahr  1769.  Vgl.  auch  Westrumb,  Etwas  von  den  Vortheilen,  welche  die  Ab- 
schweflung  der  Steinkohlen  gewahrt,  in:  Hannoverisches  Magazin  1787,  9.  St.,  Sp.  129-140 
sowie  Hans  Jiirgen  Teuteberg,  Britische  Friihindustrialisierung  und  kurhannoversches  Re- 
formbewuBtsein  im  spaten  18.  Jahrhundert,  in:  Vierteljahresschrift  fiir  Sozial-  und  Wirt- 
schaftsgeschichte  86,  1999,  H.  2,  S.  153-180;  S.  177. 

157  Bergassessor  Finze,  Die  Entwicklung  der  Koksdarstellung  auf  den  Steinkohlenberg- 
werken  in  der  Grafschaft  Schaumburg,  in:  Zeitschrift  fiir  das  Berg-,  Hiitten-  und  Salinenwe- 
sen  im  preuBischen  Staate  60,  1912,  S.  185-212;  S.  186;  Versuchsprotokoll  Oberfaktor  Bauer 
zu  Osterwald,  14.3.1811,  HStAH  Hann.  52  Nr  5222. 

158  Finze,  Entwicklung,  wie  Anm.  157,  S.  189. 

159  Da  sich  die  Steinkohle  beim  Verkoken  aufblahte,  ergab  eine  Balge  Kohle  zwei  Bal- 
gen Koks.  Bericht  Bergrat  Frohlich  an  Rentkammer,  28.1.1818,  NSTAB  K2  KNr.  764.  100 
Balgen  leichter  Koks  wogen  ca.  1,54  t. 

160  Koksproduktion  nach  Schunke/Schulbe,  Gesamtsteinkohlenbergwerke,  wie  Anm. 
7,  Anlage  III. 

161  Weil  alljahrlich  groBe  Geldsummen  fiir  den  Kokskauf  ins  Ausland  gingen,  lieB  die 
hannoversche  Regierung  1826  am  Deister  Verkokungsversuche  vornehmen.  Die  Deister- 
koks  scheinen  sich  aber  beim  Probeschmelzen  auf  den  Harzer  Hiitten  nicht  bewahrt  zu  ha- 
ben.  Finze,  Entwicklung,  wie  Anm.  157,  S.  190. 

162  Seit  1838  wurden  die  Oberharzer  Hiitten  zeitweilig  angewiesen,  diesen  inlandi- 
schen  Koks  zu  verwenden.  Olaf  Grohmann,  Geschichte  der  Wasser-  und  Energieversorgung 
der  Stadt  Hannover  von  den  Anfangen  bis  zur  Gegenwart,  Hannover  1991,  S.  34f. 


48  Dirk  Neuber 

1865  bezogen  allein  die  Kommunion-Unterharzer  Silberhiitten  jahrlich  5.130 1 
Schaumburger  Koks  -  inzwischen  allerdings  langst  per  Bahn. 163  Bereits  seit  Ende 
der  1830erjahre  zahlten  auch  die  kurhessischen  Hiitten  Riechelsdorf,  Veckern- 
hagen,  Holzhausen  und  die  Maschinenfabrik  Henschel  in  Kassel  zu  den  regelma- 
Bigen  Abnehmern  von  Schaumburger  Koks.164 

Auch  bei  der  Verwendung  von  Koks  zur  Eisenverhiittung  lassen  sich  die  ersten 
Versuche  bis  zum  innovativen  Herzog  Julius  zuriickverfolgen.165  Doch  erst  in 
den  1850er  Jahren  brachte  das  rasante  Wachstum  der  deutschen  Eisenindustrie 
die  endgiiltige  Durchsetzung  der  modernen  Kokshochofenwerke  gegeniiber  der 
traditionellen  Holzkohlentechnologie.166  So  lange,  wie  das  mit  Holzkohle  ver- 
huttete  Eisen  eine  bessere  Qualitat  besaB  und  der  Bedarf  rasch  anstieg,  konnten 
zwar  die  traditionellen  Eisenhiitten  in  den  waldreichen  Mittelgebirgen  noch  ne- 
ben  den  neuen  Koksstahlwerken  existieren.167  Doch  die  Verwendung  von  Koks 
im  Hochofenbetrieb  erwies  sich  trotz  mehrerer  Versuche  als  untauglich  und  wur- 
de  bis  Ende  der  1860er  Jahre  nicht  zuletzt  wegen  der  nur  aufwendig  zu  beschaf- 
fenden  Brennstoffe  von  nahezu  samtlichen  Eisenhiitten  wieder  aufgegeben.  Bis 
auf  die  Sollingerhiitte  bei  Uslar  stellten  sie  auch  die  Eisenfrischerei,  das  soge- 
nannte  „Puddeln"  wieder  ein  und  zogen  sich  auf  die  Produktion  von  Holzkohlen- 
roheisen  und  die  EisengieBerei  zuriick.168 

Das  durch  die  ErschlieBung  der  Kohle  ermoglichte  nahezu  unbegrenzte 
Wachstum  der  Eisenindustrie  fand  damit  nachjahrhunderten  der  Abhangigkeit 
vom  Vorhandensein  von  Holz,  Erz  und  Wasser  fortan  abseits  der  Walder  statt: 
Die  seit  Mitte  der  1850er  Jahre  gegriindeten  neuen  Eisenhiitten  lagen  entweder 


163  Bericht  Bergamt  Goslar  an  Kammerdirektion  der  Bergwerke  zu  Braunschweig,  7.11. 
1864,  niedersachsisches  Staatsarchiv  Wolfenbiittel  Neu  4,  Nr.  8991. 

164  Finze,  Entwicklung,  wie  Anm.  157,  S.  189. 

165  Gericke,  Verwendung,  wie  Anm.  154,  S.  93. 

166  Der  vermehrte  Einsatz  von  Kokshochofen  begann  in  Oberschlesien  in  den  1830er 
Jahren,  im  Saarrevier  in  den  1840erjahren  und  seit  Beginn  der  1850erjahre  im  Ruhrgebiet. 
Rainer  Fremdling,  Technologischer  Wandel  und  internationaler  Handel  im  18.  und  19. 
Jahrhundert.  Die  Eisenindustrien  in  GroBbritannien,  Belgien,  Frankreich  und  Deutschland, 
Berlin  1989,  S.  144-153. 

167  Rainer  Fremdling,  Innovation  und  Mengenanpassung.  Die  Loslosung  der  Eisener- 
zeugung  von  der  vorindustriellen  Zentralressource  Holz,  in:  Hansjorg  Siegenthaler  (Hg.): 
Ressourcenverknappung  als  Problem  der  Wirtschaftsgeschichte,  Berlin  1990,  S.  17-46;  S.  31- 
34.  Dasjahr  1854  markiert  den  absoluten  Hohepunkt  derHolzkohlenroheisenproduktion  in 
Deutschland  mit  einem  raschen  Abfall  in  den  darauffolgendenjahren.  Fremdling,  Technolo- 
gischer Wandel,  wie  Anm.  166,  S.  341. 

168  Michael  Mende,  Aus  der  Blute  ein  Sturz  in  relative  Bedeutungslosigkeit:  Die  Eisen- 
hiitten des  Harzes  und  Weserberglandes  im  19.  Jahrhundert,  in:  Kaufhold,  Karl  Heinrich 
(Hg.):  Bergbau  und  Hiittenwesen  im  und  am  Harz.  Hannover  1992,  S.  56-96,  S.  78. 


Steinkohle  als  Ausweg?  49 

wie  die  Georgsmarienhiitte  direkt  bei  den  Erz-  und  Kohlenlagerstatten,  oder  zu- 
mindest  so  verkehrsgiinstig,  dass  sie  fehlende  Rohstoffe  billig  per  Bahn  beziehen 
konnten.  Beispielsweise  konnte  so  die  1860  in  Betrieb  genommene  Ilseder  Hiit- 
te169  Koks  aus  Schaumburg  beziehen.170 

Faz.it 

Bislang  war  die  Umweltgeschichte  vor  allem  auf  die  aufsehenerregenden  Ereig- 
nisse  und  drastischen  Entwicklungen  fokussiert.  Die  Energiegeschichte  blickte 
insbesondere  auf  „holzfressende"  GroBgewerbe  und  den  binnen  weniger  Jahr- 
zehnte  erfolgten  Wandel  zum  auf  massenhafte  Steinkohlenverwendung  angewie- 
senen  Industriesystem.  AuBer  Acht  gelassen  wurde  dabei  vielfach,  dass  sich  diese 
Alleinherrschaft  der  Industrie171  nur  auf  jene  industriellen  Ballungsraume  be- 
schrankte,  welche  seit  Mitte  des  19.  Jahrhunderts  bei  vielen  Kohlenzechen  sowie 
an  den  Bahnknotenpunkten  entstanden.  Dagegen  blieben  die  landlichen  nieder- 
sachsischen  Steinkohlenreviere  auf  den  ersten  Blick  unspektakular:  Die  Ausbeu- 
tung  der  seit  Jahrhunderten  bekannten  Kohlenlagerstatten  erlebte  zwar  im  19. 
Jahrhundert  einen  beschleunigten  Aufschwung.  Doch  da  im  allgemeinen  genug 
Brennholz  zur  Verfiigung  stand  und  hochstens  von  raumlich  und  zeitlich  eng 
begrenzten  Holzmangelsituationen  die  Rede  sein  konnte,  setzte  sich  die  mit  vie- 
len Vorurteilen  behaftete  Kohle  nur  sehr  allmahlich  durch.  Und  Industrialisie- 
rungsimpulse  gingen  von  den  Bergwerken  selbst  in  ihrer  unmittelbaren  Umge- 
bung  kaum  aus. 

Diese  Beobachtungen  passen  in  das  bisherige  Bild  der  niedersachsischen 
Wirtschaftsentwicklung:  das  heutige  Niedersachsen  war  weit  davon  entfernt,  eine 
wesentliche  Vorreiterrolle  in  der  Industrialisierung  zu  spielen.  Veranderungen 
fanden  nur  verzogerte  Anwendung  und  erreichten  nur  an  wenigen  Orten  die  an- 
derswo  erreichten  Dimensionen.  Der  von  der  Universalgeschichte  favorisierte 
Siegeszug  der  Steinkohle  war  im  mittleren  Niedersachsen  von  zahlreichen  men- 
talen  und  technischen  Hemmnissen  begleitet.  Wie  im  Vorangegangenen  gezeigt 
werden  konnte,  wurde  gerade  bei  traditionellen  Gewerben  die  flachendeckende 
Diffusion  der  Steinkohlenverwendung  letztlich  doch  erst  durch  den  Preis,  und 
nicht  durch  die  zahllosen  staatlichen  Einfuhrungsbemuhungen  initiiert,  nach- 
dem  Vorurteile  und  technische  Hemmnisse  abgebaut  waren.  Als  besonders  inno- 
vationsfeindlich  erwiesen  sich  insbesondere  Gewerbe,  die  in  Ziinften  organisiert 


169  Vgl.  Wilhelm  Treue,  Geschichte  der  Ilseder  Hiitte.  Peine  1960. 

170  Finze,  Entwicklung,  wie  Anm.  157,  S.  198f. 

171  Joachim  Radkau,  Technik-  und  Umweltgeschichte,  in:  GWU  48,  1997,  H.  7/8,  S.  479- 
497;  50,  1999,  H.  4,  S.  250-288;  H.  5/6,  S.  356-384,  Teil  II,  S.  272f. 


50  Dirk  Neuber 

waren:  ihr  korporativer  Charakter  sowie  die  kommunalen  Ordnungen  standen 
innovativen  Einzelgangen  entgegen. 

Wahrend  Kohle  der  Energietrager  von  Wachstumsbranchen  wie  Salinen, 
Kalkbrennereien,  Ziegeleien,  Branntweinbrennereien,  Glasfabriken  und  Hiitten- 
werken  wurde,  blieb  im  landlichen  Raum  und  bei  vielen  traditionellen  Gewer- 
ben  Holz  noch  lange  der  wichtigste  Brennstoff.  Selbst  in  Schaumburg,  das  spate- 
stens  seit  dem  16.  Jahrhundert  eine  Energieiiberschussregion  war  und  weithin 
Schmiedekohle  exportierte,  wurde  dieser  Ressourcenvorteil  -  abgesehen  von  ei- 
nigen  herrschaftlichen  Betrieben  -  im  Inland  vor  Mitte  des  19.  Jahrhunderts 
kaum  genutzt.  Andererseits  ermoglichte  die  Steinkohle  auch  im  mittleren  Nie- 
dersachsen  im  19.  und  beginnenden  20.  Jahrhundert  ein  wirtschaftliches  Wachs- 
tum,  wie  es  auf  Basis  nachwachsender  Energietrager  unvorstellbar  gewesen  ware: 
Es  war  das  regionale  Vorkommen  der  Kohle,  welches  schon  lange  vor  der  allge- 
meinen  Verfiigbarkeit  von  Energie  durch  das  Eisenbahnnetz  die  Griindung  neu- 
er  Gewerbebetriebe  und  Fabriken  ermoglichte,  deren  Betrieb  auf  Basis  des  vor- 
handenen,  vielerorts  schon  bis  an  die  Kapazitatsgrenze  genutzten  Holzes  anson- 
sten  nicht  moglich  gewesen  ware. 

Auch  den  traditionellen  Harzer  Montanbetrieben  bot  die  niedersachsische 
Steinkohle  die  Moglichkeit,  knappe  Holzkohle  durch  Koks  zu  ersetzen.  Aller- 
dings  fiihrte  die  massenhafte  Koksverwendung  in  den  aufstrebenden  Schwerin- 
dustrieregionen  der  groBen  Kohlenreviere  zur  Entstehung  einer  die  abgelegenen 
Harzer  Hiitten  existenziell  bedrohenden  Konkurrenz.  Ahnlich  erging  es  schlieB- 
lich  auch  den  niedersachsischen  Steinkohlenbergwerken:  Es  war  ihr  Dilemma, 
dass  ihre  Kohle  in  der  Friihen  Neuzeit  -  als  sie  kaum  nachgefragt  wurde  -  jahr- 
hundertelang  nahezu  vergeblich  angeboten  wurde.  In  der  industriell  gepragten 
Neuzeit  jedoch  -  als  die  groBe  Stunde  der  Kohle  gekommen  war  -  gerieten  die 
Bergwerke  durch  per  Eisenbahn  giinstig  transportierte  bessere  Konkurrenzpro- 
dukte  unter  einen  existenziellen  Wettbewerbsdruck,  dem  sie  schlieBlich  allesamt 
erlagen. 


3. 
Bonam  sylvarum  partem  in  vicinia 

Politisch-generierte  Ressourcenknappheit  und  reichsstadtische 

Kompensation:  Goslar,  Walkenried  und  die  Landesherren 

im  16.  Jahrhundert.1 

Von  Cai-Olaf  Wilgeroth 


1.  Waldverlust:  Harzforsten,  Bergbau  und  historiographische  Ignoranz. 

Anni  Christi  1562.  1563.  Interea  civitas  nostra  tot  bonis  nuper  exuta  de  aliis  coemendis  co- 
gitavit.  Bonam  sylvarum  partem  in  vicinia  possidebat  conventus  Walkenredensis,  quarum 
termini  ita  in  antiquioribus  chartis  definiuntur:  Die  VierBerge  von  derhohen  Warte  an  bis 
an  des  Heiligen  Creuzes  Holz  in  den  Gose  Winckel  /  von  dem  heiligen  Born  bis  an  den  Ku- 
kuks  Berg  /  der  Ulrichsberg  /  der  Dorneberg  nach  den  Lodenberge.  Hujus  sylvae  ligna  infe- 


1    Bei  den  folgenden  Ausfiihrungen  handelt  es  sich  um  die  erweiterte  und  mit  Anmer- 
kungen  versehene  Fassung  eines  Vortrages,  den  der  Verfasser  im  Rahmen  der  Tagung  „Be- 
grenzte  Ressourcen.  Der  Umgang  mit  Rohstoffen  und  Energie  im  Mittelalter  und  in  der 
Neuzeit"  der  Historischen  Kommission  fur  Niedersachsen  und  Bremen  am  12.05.2005  in 
Clausthal-Zellerfeld  gehalten  hat.  Zugleich  stellt  der  Aufsatz  einen  Ausschnitt  aus  dem  mo- 
mentan  laufenden  Gottinger  Dissertationsvorhaben  des  Verfassers  da,  welches  dieser  am 
Institut  fur  Historische  Landesforschung  unter  Betreuung  PD  Dr.  Peter  Aufgebauers  sowie 
als  Mitglied  des  DFG-Graduiertenkollegs  1024  „Interdisziplinare  Umweltgeschichte.  Natu- 
rale  Umwelt  und  geseflschaftliches  Handeln  in  Mitteleuropa"  bearbeitet.  Der  Arbeitstitel 
lautet:  Cai-Olaf  Wilgeroth,  Menschen  im  Wald  zwischen  Harz  und  Borde.  Umweltge- 
schichtliche  Untersuchungen  zum  Stadt-Wald  Verhaltnis  in  Niedersachsen:  Goslar  und  Hil- 
desheim  im  Spatmittelalter  und  in  der  Friihen  Neuzeit. 
Es  werden  folgende  Abkiirzungen  verwendet: 
StA  GS  -  Stadtarchiv  Goslar 
UB  GS  -  Georg  Bode  (Bearb.),  Urkundenbuch  der  Stadt  Goslar  und  der  in  und  bei  Goslar 

belegenen  geistlichen  Stiftungen,  Band  I  bis  V,  Halle  und  Berlin  1893-1922/1956 
NdsStA  WF  -  Niedersachsisches  Landesarchiv,  Staatsarchiv  Wolfenbuttel 
NdsHStA  H  -  Niedersachsisches  Landesarchiv,  Hauptstaatsarchiv  Hannover 

In  Zitaten  beinhalten  eckige  Klammern  Kommentare  des  Verfassers,  runde  Klammern 
aufgeloste  Kiirzungen  oder  Erganzungen. 


52  Cai-Olaf  Wilgeroth 

riora  Hermannus  Abbas  Walkenredensis  hoc  anno  Senatui  Goslariensi  vendidit pro  sexcen- 
tisflorenis  Marianis,  hactamen  lege,  ut  cum  arboribus  ad  aedificandum  utilibus  relinque- 
rentur  singulis  jugeris  arbusculae  duodecim,  &  spatio  decern  annorum  sylva  lignis 
caedendis  liberaretur.  Quo finito  temporis  intervallo  anno  1571.  Georgius Abbas  sylvas  has 
eadem  lege  demetendas  civitati  locavit pro  quadringentisjoachimicis,  viginti  tamen  annis 
ad  caesionem  indultis.2 

Der  Goslarer  Pfarrer  und  Diakon  zum  Frankenberg,  Johann  Michael  Heinec- 
cius3  hat  zu  Beginn  des  18.  Jahrhunderts  im  sechsten  Buch  seiner  voluminosen 
„Goslarer  Antiquitaten"  einen  Gedanken  formuliert,  der  uns  im  Folgenden  be- 
schaftigen  soil:  Unldngst  so  vieler  Giiter  beraubt  war  unsere  Stadt  inzwischen  daraufbe- 
dacht,  anderes  zusammenzukaufen.  Einen  Gutteil  Wdlder  in  der  Nachbarschaft  besaJS  der 
Walkenrieder  Konvent,  deren  Grenzen  in  recht  alten  Urkunden  so  definiert  werden:  Die 
VierBerge  [.  .  J  Das  Unterholz  dieses  Waldes  hat  der  Walkenrieder  Abt  Hermann  in  die- 
semjahr  dem  Goslarer  Rat  fur  600  Mariengulden  verkauft;  jedoch  unter  der  Majigabe,  daji 
der  Wald  mit  zum  Bauen  nutzbaren  Bdumen  belassen  werde,  zwdlf  Baumchen  aufeinem 
einzelnen  Morgen  iibrig  blieben,  und  er  nach  einem  Zeitraum  von  zehnjahren  vom  Holzfdl- 
len  befreitsei.  Als  die ser  Zeitraum  imjahre  1571beendet  war,  hat  der  Abt  Georg  diese  abzu- 
erntenden  Wdlder  zu  gleichem  Recht  der  Biirgerschaftfiir  400Joachimsthaler  ausgetan,  je- 
doch auf  zwanzigjahre  zum  Abholzen  gewdhrt.  Unser  Gewahrsmann  datiert  die  Vor- 
gange  wie  angegeben  auf  diejahre  1562/63  bzw.  1571. 

Nach  der  Wiirdigung  noch  eines  weiteren  damals  zwischen  Zisterziensern  und 
Rat  geschlossenen  Vertrages,  welcher  insbesondere  den  Stadthof  des  Klosters 
und  seine  Pertinenzien  zum  Gegenstand  hatte,  kommt  Heineccius  abschlieBend 
zu  dem  zeitkritischen  Urteil:  Observari  itaque  hie  meretur,  quanta  hoc  tempore  rerum 
omnium  vilitas  fuerit,  cum  tanti sylvarum  tractus  & ' sacellum,  cujus  in  locum  binae  civium 
aedes  poterant  aedificari,  tantillo  pretio  venierint.*  SinngemaB  paraphrasieren  wir: 
Wie  groB  die  Wertlosigkeit  aller  Dinge  damals  gewesen  ist,  lasse  sich  daran  beob- 
achten,  daB  so  groBe  Bestande  an  Wald  und  eine  Kapelle,  an  deren  Stelle  zwei 
biirgerliche  Wohnhauser  errichtet  werden  konnten,  um  solch  geringen  Preis  ver- 
kauft worden  sind. 

Derart  pejorative  Beurteilungen  des  16.  Jahrhunderts  waren  (und  sind)  fur  ei- 
nen Goslarer  nicht  gerade  untypisch,  und  Heineccius'  Status  als  geistlicher  Autor 
trug  gewiB  sein  Ubriges  zu  dessen  Sicht  auf  diese  Jahre  bei.  Als  an  umwelt-  und 
ressourcengeschichtlichen  Fragen  interessierte  Leser  seiner  Worte  miissen  wir 


2  Johann  Michael  Heineccius,  Antiquitatum  Goslariensium  et  vicinarum  regionum  li- 
bri  sex  [.  .  .],  Frankfurt  am  Main  1707,  pag.  505. 

3  Vgl.  Sabine  Graf,  Art.  Heineccius,  in:  Horst-RiidigerjARCK  u.a.  (Hrsg.) ,  Braunschwei- 
gisches  Biographisches  Lexikon  (8.  bis  18.  Jahrhundert),  Braunschweig  2006,  S.  312-313. 

4  Heineccius,  wie  Anm.  2,  pag.  505. 


Ressourcenknappheit  und  reichsstadtische  Kompensation  53 

uns  hierbei  jedoch  vielmehr  fiir  das  mittelbare  Ergebnis  dieser  abschlieBend  be- 
klagten  „Entwertungsprozesse"  interessieren.  Unser  Chronist  benennt  solches 
gleich  zu  Anfang:  der  pachtweise  Ankauf  der  inner-  wie  auBerstadtischen  Wal- 
kenrieder  Giiter,  insbesondere  aber  von  ansehnlichen  Waldbereichen,  durch  die 
Stadt  Goslar. 

Was  sich  daran  im  Einzelnen  kniipfte,  und  welche  schluBendliche  Ausweitung 
das  Verkaufsvolumen  bis  1579  noch  erfahren  sollte,  wird  weiter  unten  Gegen- 
stand  derUntersuchung  sein.  Hier  soil  zunachst  auf  die  Begriindungslogik  einge- 
gangen  werden,  die  Heineccius  den  umfangreichen  Goslarer  Kaufgeschaften  zu- 
grunde  liegen  sah:  Mit  tot  bonis  nuper  exuta  -  unldngst  so  vieler  Giiter  beraubtbefm- 
den  wiruns  im  Heinecciusschen  Werkin  einem  Abstand  von  gerade  einmal  fiinf 
Druckseiten  zu  der  kurz  vorher  bemerkenswert  knapp  gehaltenen  Behandlung 
des  Riechenberger  Vertrages  vom  13.  Juni  1552. 5  Bekanntlich  hatte  die  Stadt 
Goslar  nach  wechselvollen,  seit  den  spaten  1520er  Jahren  nicht  mehr  endenden 
Auseinandersetzungen  mit  Heinrich  dem  Jiingeren  in  diesem  Friedensvertrag 
schlieBlich  einen  GroBteil  der  so  lange  ungestort  zu  Pfand  besessenen  Berg-,  Hiit- 
ten-  und  Forstanteile  im  und  am  Harz  an  den  Herzog  von  Braunschweig-Wolfen- 
biittel  unwiderruflich  abzutreten.6  Der  Riickbezug  auf  diese  in  der  Ereignisfolge 
gerade  einmal  zehn  Jahre  zuriickliegende  Erschiitterung  des  Goslarer  Selbstbe- 
wuBtseins  diirfte  daher  an  dieser  Stelle  des  Heinecciusschen  Textes  mit  unldngst 
fiir  jeden  halbwegs  aufmerksamen  Leser  eindeutig  hergestellt  gewesen  sein. 

Unser  Gewahrsmann  sieht  nun  aber  eine  kausale  Verkniipfung  zwischen  den 
seinerzeit  zu  beklagenden  Giiterverlusten  und  den  neuerlichen  Liegenschaftser- 
werbungen  gegeben.  Dabei  kommt  es  ihm  zudem  offenbar  zuvorderst  auf  die 
Frage  der  Forst-  und  GeholzeinbuBen  an,  wenn  er  ohne  Umschweife  sogleich  von 
einem  bonam  Sylvarum partem  in  vicinia  spricht  und  auf  dessen  Holznutzungsmog- 
lichkeiten  eingeht.  Auch  scheint  das  bonam  dabei  mehr  als  eine  bloB  quantitative 
Angabe  auszudriicken.  Es  diirfte  in  qualitativer  Hinsicht  nicht  zuletzt  im  selben 
MaBe  positiv  konnotiert  gemeint  sein,  wie  im  vorangehenden  exuta  die  miBbilli- 
gende  Bewertung  der  Vorgange  von  1552  enthalten  sein  mag.7  Folgt  man  dieser 
implizit  wertenden  und  erklarenden  Sicht  auf  die  Geschehnisse,  so  lautet  die  er- 
kennbare  und  im  Folgenden  zu  iiberpriifende  These:  Der  Goslarer  Rat  hat  sich 
auf  der  Suche  nach  ausgleichenden  Alternativen  fiir  die  zu  verzeichnenden  Wald- 


5  Ebd.,  pag.  500. 

6  Als  neueste,  den  Forschungsstand  spiegelnde  Darstelhmg  des  Gesamtkontextes  vgl. 
die  Aufsatze  in:  Rammelsberger  Bergbau  Museum  (Hrsg.),  Der  Riechenberger  Vertrag, 
Goslar  2004. 

7  Vgl.  exuo,  I,2,b,  fS  jmd.  einerSache  berauben,bzw.  y  als  milit.  terminus  technicus:  dem 
Feinde  etwas  abnehmen,  ihn  zwingen  (nothigen)  etwas  wegzuwerfen,  in:  Karl  Ernst  Georges, 
Ausfiihrliches  Lateinisches  Handworterbuch,  ND  Darmstadt  1998,  Sp.  2644-  2645. 


54  Cai-Olaf  Wilgeroth 

verluste  im  Harz  um  den  Erwerb  neuer,  fur  den  stadtischen  Holzbedarf  nutzbarer 
Waldungen  bemiiht  (cogitavit),  und  zu  diesem  Zweck  sozusagen  eine  aktive  kom- 
pensatorische  Giiter-  und  Ressourcenerwerbspolitik  betrieben.  Dafiir  konnte  er 
die  seitens  Walkenried  angebotenen  Moglichkeiten  nutzen  und  ins  nordliche 
Harzvorland  vorstoBen,  wo  er  bisher  -  glaubt  man  Albert  Volker,  dem  Pionier  der 
Goslarer  Forstgeschichte  -  eigentlich  keinerlei  territoriale  Ambitionen  gehegt 
hatte.8 

Eine  derart  progressive"  Sicht  auf  die  Goslarer  Geschichte  im  Verfolg  der  un- 
leugbaren  Zasur  des  Riechenberger  Vertrages  kann  angesichts  dessen,  was  ge- 
meinhin  mit  der  Goslarer  Wald-  und  Ressourcengeschichte  dieser  Epoche  in 
Verbindung  gebracht  wird,  einige  Faszination  beanspruchen.  Zum  einen  ist  der 
Gedanke  kompensatorisch  motivierter  Giitererwerbungen  in  dieser  Form  weit- 


8  Albert  Volker,  Die  Forsten  der  Stadt  Goslar  bis  1552,  Goslar  1922,  passim.  DaB  Vol- 
ker in  seiner  untersuchungsbedingt  eingeschrankten  Perspektive  auf  den  Harzwald  den  res- 
sourcenokonomischen  Blick  auf  das  Stadt-Umland-Verhaltnis  vergiBt,  mag  verstandlich 
sein;  in  jedem  Fall  ist  es  angesichts  der  lokalen  montanwirtschaftlichen  Konkurrenzsituati- 
on  nicht  vorstellbar,  daB  sich  die  Holzokonomie  der  Stadt  Goslar  und  ihrer  Burger  nur  im 
Harzwald  abspielte;  auch  private  und  kirchliche  Liegenschaften  des  Umlandes  muBten  hier 
mit  integriert  werden,  um  den  alltaglichen  Bedarf  zu  befriedigen.  Gegen  Volker  sei  dabei 
etwa  an  das  Kloster  Neuwerk  und  die  informellen  Moglichkeiten  zur  EinfluBnahme  auf  des- 
sen wirtschaftliches  Gebaren  durch  die  Ratsvormunder  verwiesen;  dazu  schon  Alexander 
Grundner-Culemann,  Die  Flurnamen  des  Stadtkreises  Goslar,  Teil  III:  Namen  aus  dem  Be 
reich  der  Feldmark  und  der  Klosterforst,  Goslar  1966,  S.  29 f. ;  allg.  auch  Erich  Schiller, 
Biirgerschaft  und  Geistlichkeit  in  Goslar  (1290-1365).  Ein  Beitrag  zur  Geschichte  des  Ver- 
haltnisses  von  Stadt  und  Kirche  im  spaten  Mittelalter,  Stuttgart  1912,  passim;  auch  Ute  R6- 
mer-Johannsen,  Goslar,  Neuwerk,  in:  Ulrich  Faust  (Hrsg.),  Germania  Benedictina  Bd.  11: 
Norddeutschland.  Die  Frauenklosterin  Niedersachsen,  Schleswig-Holstein  und  Bremen,  St. 
Ottilien  1984,  S.  250-280,  hier  S.  255f.;  speziell  Else  Brokelschen,  750  Jahre  Neuwerk. 
Wandlungen  eines  Benediktinerklosters,  in:  Dies.,  750  Jahre  Kloster  Neuwerk,  Goslar  1936, 
S.  1-46,  hier  S.  lOf.  zu  den  „procuratores,  provisores  oder  Vormunden"  seit  dem  14.  Jahr- 
hundert:  „Ihre  Zahl  betrug  zwei,  drei  oder  vier.  Sie  entstammten  den  alten  Ratsfamilien  und 
wurden  vom  Rat  auf  eine  bestimmte  Zeit  ernannt.  Bis  zur  Zeit  der  Reformation  haben  sie 
die  Giiter-  und  Finanzpolitik  des  Klosters  entscheidend  bestimmt  [sic!].  Sie  geben  die  Ein- 
willigung  zu  Veranderungen  im  Klostergut,  sie  erscheinen  als  Zeugen  bei  Kauf  und  Verkauf 
von  Renten  und  Liegenschaften,  und  sie  besorgen  die  Anlage  von  Klostergeldern.  Sie  stel- 
len  eine  Kommission  des  Rates  dar,  handeln  also  nicht  selbstandig,  sondern  sind  an  dessen 
Willen  gebunden."  Seit  dem  14.  Jahrhundert  ist  der  nordlich-vorharzerische  Besitz  des  Klo- 
sters auffallend  stark  angewachsen  (Romer-Johannsen,  ebd.,  S.  264).  Die  Frage,  ob  es  bloBer 
Zufall  ist,  daB  sich  die  im  16.  Jahrhundert  ebenfalls  fur  die  Stadt  verloren  gegangenen,  weil 
faktisch  an  den  Herzog  von  Braunschweig- Wolfenbiittel  gelangten  Neuwerker  Besitzungen 
und  diejenigen,  welche  man  von  Walkenried  zu  erwerben  trachtete,  partiell  an  gleichen  Or 
ten  befanden,  sei  hier  fur  den  Moment  nur  in  den  Raum  gestellt.  Trachtete  man  hier,  an  alte 
informelle  Verbindungen  anzukniipfen?  Solches  ist  z.B.  vorstellbar  fur  Weddingen  und  Im- 
menrode,  vgl.  Romer-Johannsen,  ebd.,  S.  257-259  und  264;  s.  unten  Kap.  5. 


Ressourcenknappheit  und  reichsstadtische  Kompensation  55 

hin  singular  in  der  Chronistik  und  Forschungsliteratur  zum  Goslarer  16.  Jahrhun- 
dert.  Hiergilt  gemeinhin  einzig  die  Devise  vom  beklagenswerten  Rumpfbestand 
der  Goslarer  Stadtforst  seit  1552.  Zum  anderen  wird  der  Blick  auch  vom  „ewigen" 
Harzwald  und  -  wie  zu  zeigen  sein  wird  -  letztlich  sogar  vom  Bergbau  abgewen- 
det.  Gegeniiber  der  Einfachheit  in  Heineccius'  Darstellung  muB  der  Grundge- 
danke  jedoch  noch  hinsichtlich  der  nur  angedeuteten  stadtischen  Motivationszu- 
sammenhange  differenziert  und  einer  Neudatierung  unterzogen  werden. 

Ein  noch  kurz  zu  tatigender  Blick  auf  die  iibrigen  Chronisten  dieser  Jahre  un- 
terstreicht  Heineccius'  Einzigartigkeit,  legt  ein  solcherbei  diesen  doch  entweder 
ein  konzeptionell  bedingtes  Desinteresse  oder  eine  -  im  Ubrigen  auch  fur  spatere 
Historikergenerationen  typische  -  historiographische  Konditioniertheit  im  Hin- 
blick  auf  die  Goslarer  Geschichte  der  Eriihen  Neuzeit  offen.  Betrachtet  man  die 
Goslarer  Chronik  des  Hans  Geismar9  oder  diejenige  seines  Nachfolgers  Hans 
Caspar Brandes,10  so  erfahrtman  schlichtweggarnichtsiiberdie  VierBerge  als  al- 
ternatives HolzreservoirvordenToren  der  Stadt  Goslarim  lG.Jahrhundert;  diese 
werden  ebenso  wenig  erwahnt  wie  die  Walkenrieder  Giiter  iiberhaupt.  Sofern 
Waldkontexte  eine  Rolle  in  der  Aneinanderreihung  von  Nachrichten  und  Anek- 
doten  spielen,  ist  es  stets  der  Harzforst,  der  in  den  Blick  gerat.11  Allenfalls  erfahrt 
die  abholzende  Frevelung  der  Landwehren  quasi  sensationsheischende  Erwah- 
nung.12  Abgesehen  von  wetterphanomenologischen  Notizen  und  Folgen  fur  die 


9  Gerhard  Cordes  (Hrsg.),  Die  Goslarer  Chronik  des  Hans  Geismar,  Goslar  1954. 

10  Hans  Giinther  Griep  (Hrsg.),  GoBlarische  Chronika  des  Hans  Caspar  Brandes,  Gos- 
lar 1994. 

11  Am  Beispiel  Geismar  exemplifizierbar:  Cordes,  wie  Anm.  9,  S.  123  (1549):  Des  don- 
nersdages  na  Luciae  sint  des  h:  forsters  midt  44  marine  in  dem  Klockenbarge  gewest,  wolden  de  essel 
panden;  by  den  esselen  weren  12  borger,  do  averst  de  44  de  essel  an  vellen,  sindt  de  doch  dar  vanjegaget, 
und  4  darvan  dodt  gschoten,  und  10  buren  thorn  dode  gebracht.  oder  S.  154  (1551) :  im  Harz  seien 
etlicke  100  borne  midt  den  worthelen  uth  der  erde  geworpen.  Donnerdach  na  s:  Katarina  wardt  Hin- 
rick  Sluman  im  Klockenarge  dot  geschoten. 

12  Griep,  wie  Anm.  10,  S.  254  (1667):  den  18.  Febr.  hat  Heister  von  dem  Amte  Levenburg  den 
Knick  lafien  abhauen.  Es  ist  aber  als  bald  solches  Ihrfurstl.  Durcheluchtigkeiten  zu  Wolfenbuttel  als  den 
neuen  Schutz  Herren  kund  gethan,  welcher  so  fort  mit  60  Reutern  zu  Hulfe  gekommen,  das  alle  unset 
Furhleut  so  fort  das  Holz  hereingefahren,  das  meiste  aber  der  Amtmann  ihm  und  den  stifle  Hildesheim 
sich  zu  Nutzen  machen.  DaB  es  sich  bei  Landwehrfreveln  im  Ubrigen  ebenfalls  um  einen  nicht 
eben  geringen  Akt  der  Aggression  mit  unmittelbarer  ressourcenokonomischer  Tragweite  han- 
delt,  ist  inzwischen  Uberzeugung  des  Verfassers;  vgl.  abgesehen  vom  an  anderer  Stelle  darzu- 
legenden  Beispiel  Hildesheim  etwa  die  dezidierte  Beschreibung  der  Landwehr  als  holt  (Ge- 
holz)  im  Register  des  Amtes  Liichow  (Klaus  Nippert  (Bearb.) ,  Die  Register  der  Amter  Liichow 
und  Warpke  (1548-1574),  Hannover  1996,  S.  37  und  96-98).  Die  Landwehr  nicht  nur  als  sym- 
bolischer  und  kontrollierender  Demarkationsbereich  bei  der  arealen  Ressourcensicherung, 
sondern  als  kultivierte  Ressource  selbst,  ist  bei  der  Untersuchung  von  Landwehrkontexten 
und  -konflikten  bisher  zu  kurz  gekommen.  Demgegeniiber  scheint  der  strategische  Aspekt 


56  Cai-Olaf  Wilgeroth 

Vegetation  (Wind,  Diirre)  stellen  Forst  und  Holzung  dabei  jedoch  stets  nur  die 
Biihne  zwischenmenschlicher  Auseinandersetzungen  dar,  ohne  selbst  Gegen- 
stand  des  Interesses  zu  werden.  An  einem  fehlenden  BewuBtsein  fur  die  prinzipi- 
elle  Angewiesenheit  auf  den  Rohstoff  Holz  und  dessen  Wachstumsraum  Wald 
kann  derlei  Ignoranz  freilich  nicht  gelegen  haben,  solches  war  -  spatestens  bei 
Brandes  -  durchaus  vorhanden  war.13  An  hinlanglichem  Stoff  fur  die  beliebten 
Geschichten  voll  von  Zank  und  Hader,  Mord  und  Totschlag  hatte  es  in  den  Vier 
Bergen  -  wie  unten  darzustellen  -  allerdings  auch  nicht  gemangelt.  Gleichwohl, 
hinsichtlich  der  Vier  Berge  nur  sprichwortliches  Schweigen  im  Walde. 

Bei  den  Walkenrieder  Chronisten  wiederum  erfahren  die  Verkaufsvorgange 
immerhin  eine  Erwahnung.  Ihr  Bemiihen  um  Erklarungen  weicht  dabei  notwen- 
digerweise  von  demjenigen  Heineccius'  ab.  Wahrend  ein  naturgema.6  berechtig- 
tes  Desinteresse  oder  auch  die  schlichte  Unkenntnis  der  Motive  Goslars  als  Kau- 
fer  wohl  zuzugestehen  ist,  suchen  die  betreffenden  Autoren  vielmehr  nach  Griin- 
den  auf  der  Verkauferseite,  also  Walkenrieds:  Zwar  erwahnt  auch  Johannes 
Letzner  Ende  des  16.  Jahrhunderts  die  Vier  Berge  in  seiner  „Wafkenrieder  Chro- 
nik"  u  nicht  dezidiert  bei  der  Behandlung  von  des  Closters  Holtzforsten,  Weide,  Wie- 

iiberbetont.  Auch  Martin  Pries,  Die  Liineburger  Landwehr  aus  kulturgeographischer  Per- 
spective, in:  Niedersachsisches  Jahrbuch  fiir  Landesgeschichte  78,  2006,  S.  1-16,  vernachlas- 
sigt  diesen  im  16.  Jahrhundert  im  Rahmen  der  verstarkten  Abgrenzung  und  Usurpation  von 
Nutzungsspharen  immer  wichtiger  werdenden  Aspekt  vollig. 

13  Griep,  wie  Anm.  10,  S.  285  (1703):  den  2Advend  ist  ein  mdchtiger starker  Wind entstanden, 
wie  Ao  1660  der  in  Harze  grofien  Schaden  gethan,  und ganze  Berge  sollBdume  mit  samt  Wurtzeln  aus 
der  Erden gerifen,  hey  den  Auerhahnen  lagensie  iibern  Weg,  das  man  nicht  hat  konnen  durchgehen  oder 
fahren,  das  man  die  Wege  erstlich  aufrdumen  miifien,  nach  diesen  ist  der  Bocksberg  bey  den  Auerhah- 
nen diirre  worden,  und  viele  andere  mehr Berge  in  den  harze.  In  unsern  Holze  hat  Gott  sey  gedanket  es 
so  grojse  Noth  nicht  gehabt,  als  infurstlichen,  das  man  die  holzunng  nothwendig  miifien  ab  kohlen  und 
aufhauen  lajien.  Nach  diesen  hat  die  Holzung  vonjahren  zujahren  in  harze  merklich  abgenommen  in 
diesen  17 secula  da  man  so  wohlhohe  Ursache  hatte,  den  lieben  Gott  um  ein  gutes  Gedeyhen  und gnd- 
dige  Beschiitzung  vor  alien  Ungliick  zu  behiiten,  den  erstlich  kann  Er  strafen  mit  Feuer,  mit  Wind- 
sturm,  mit  den  Wurm  und  Drdgnisse,  das  uns  der  Hebe  Gott  fiir  solche  Strafe  bewahret.  Wenn  der 
Mensch  auf  der  Welt  komtt,  wenn  er  von  der  Welt  scheidet  mujs  Holz  dasein,  summa  man  kann  weder 
Salz  noch  Bergwerk  sonder  Holz  bauen  oder  zu  gute  machen,  und  wenn  der  Mensch  die  aller  Kostbahr- 
sen  Speisen  auf  der  Welt  hatte  und  in  der  Kdlte  sollte  EJsen,  und  ohne  Salz  gleich  falls  so  ware  ihn  da- 
mit  nichts  gedient,  wie  davon  Doctor  Luther  in  seinen  Tischreden  gedenket,  fol.  130  da  er  spricht  Holtz 
ist  der grofiten  und  nbthgisten  Dinge  eins  in  der  Welt,  das  man  bedarfund  nicht  entbdhren  kann.  Gott 
giebet  uns  zwar  was  zu  unserer  Leibes  nahrung  und  Nothurfgehbret,  aber  wegen  unserer  Siinde  entzie- 
het  Er  es  uns  bfters.  Dieweil  nun  die  starke  Holzung  abnimt  als  lafitE.E.  Vester Rath  der  Stadt  Goslar 
das  Gemeine  Stadtwese(n),  was  die  alien  an  die  Wafier  oder  sonsten  hierund  da  mit  Holz gebauet,  von 
jahren  zujahren  wen  esfaul  ist  und  einfallt  mit Mauerwerk  wieder  machen,  und  werden  die  Steine  an 
Sudner  Berge  gebrochen. 

14  Fritz  Reinboth  (Hrsg.),  Johannes  Letzner:  Die  Walkenrieder  Chronik.  [.  .  .]  (1598), 
Walkenried  2002. 


Ressourcenknappheit  und  reichsstadtische  Kompensation  57 

sen,  Garten  und  dem  dabei  liggenden  Ackerbaw  (Cap.  30).  Er  zahlt  sie  jedoch  zusam- 
men  mit  einem  Teil  der  iibrigen  Walkenrieder  Giiter  in  und  bei  Goslar  im  Zuge 
der  Wiirdigung  von  Begabungen  des  Klosters  durch  etliche  Burger  aus  den  Stddten 
und  andere  wolmiigenden  Leutte  (Cap.  15)  auf,  um  sogleich  zu  beklagen,  daB  dieser 
Stiick  viel  sindt  aus  Unfleis  und  Unachtsamkeit  von  abhanden  bracht  und  unnterschlagen, 
auch  zum  Teil  durch  Uneinigkeit  der  Conventualn  verhandelt  und  verpartieret  wurden.15 
Heinrich  Eckstorm,  der  beriihmte  Prior  des  Klosters,  registriert  diese  Giiterver- 
schiebungen  in  seinem  „Chronicon  Walkenredense"  lediglich,  spricht  in  zitieren- 
der  Kenntnis  der  verfaBten  Vertrage  auch  von  der  sylva,  dimidio  miliari  a(b)  Goslar 
distans.16  Uberdie  moralische  wiejuristische  RechtmaBigkeit  derVerauBerungen 
gibt  erkein  Urteil  ab,  was  moglicherweise  dem  mittlerweile  in  diesen  Angelegen- 
heiten  anhangigen  Verfahren  beim  Reichskammergericht  geschuldet  war.17  Jo- 
hann  Georg  Leuckfeld  schlieBlich  erwahnt  in  seiner  Abhandlung  der  zum  Stift  eh- 
mahls  gehdrten  Hdlzungen  die  Vier  Berge  und  ihre  Verpachtung  am  Unterholz  an 
Goslar  ausdriicklich  (nebst  weiteren  dortigen  Geholzen,  die  ebenfalls  Bestandteil 
der  einstigen  Vertrage  waren) . 18  Gleiches  gilt  fur  die  iibrigen  Liegenschaften,  wie 
den  Closter=Hoff,  und  ihren  Besitzerwechsel.  Da  Leuckfeld  seinerseits  jedoch  um 
Heineccius'  Arbeit  an  den  „Goslarer  Antiquitaten"  wuBte,  mochte  er  sich  nach  ei- 
gener  Aussage  an  gegebener  Stelle  nicht  weiter  iiber  die  Walkenrieder  Liegen- 
schaften bei  Goslar  verbreiten.19  Wenn  wir  nach  einer  Beurteilung  der  Verkaufe 
fragen,  so  finden  wir  diese  vor  allem  indirekt  in  Leuckfelds  weitgehend  negativer 


15  Ebd.,  S.  68f. 

16  Heinricus  Eckstorm,  Chronicon  Walkenredense  sive  catalogus  abbatum  [.  .  .], 
Helmstedt  1617,  pag.  241:  A.C.  1563.  Hermannus  Abbas  &  Conventuales  verndunt  Senatui  Gosla- 
riensi  Sacellum  e(x)  regione  curia  Walkenredensis  situmpro  160.  Vallensibus.  Ex  sacello  Senatus  fecit 
duas  aides,  easq(ue)  cuibus  habitandas  heat.,  pag.  260-262  zu  den  Giiterverkaufen  an  Goslar 
zwischen  1543  und  1579  insgesamt,  die  Vier  Berge  werden  pag.  262f.  behandelt. 

17  Vgl.  unten  Kap.  6 

18  Johann  Georg  Leuckfeld,  Antiquitates  Walckenredenses,  oder  Historische  Beschrei- 
bung  der  vormals  beriihmten  Kayserl.  Freyen  Reichs-Abtey  Walckenried  [.  .  .]  Theil  2:  han- 
delnd  von  allerhand  darinnen  vorgegangenen  Closter-Sachen,  Leipzig  und  Nordhausen 
1705,  S.  438. 

19  Ebd.,  S.  448  (§  4  zum  Closter=Hoff  in  Goslar):  dahero  (ich)  mich  in  weiterer  Anfuhrung 
nicht  aufhalten  will,  gleichwie  auch  nicht  in  ausfuhrlicher Beschreibung  des genanten  Closter=Hofes  / 
von  welchem  vermuthlich  daselbst  der  an  der  Franckenberger  Kirchen  stehende  gelahrte  Prediger  Hen 
M.  Heineccius  in  seiner  unterhanden  habenden  Goslarischen  Chronicke  ein  mehres  aus  alten  Documen- 
ten  beybringen  wird.  Hier  wird  en  passant  ein  Aspekt  erwahnt,  der  bei  der  Beurteilung  der 
Informiertheit  unserer  Gewahrsleute  sicherlich  nicht  ganz  vernachlassigt  werden  darf:  die 
unterhanden  habenden  alten  Documente  -  Heineccius  hatte  mit  dem  Goslarer  Ratsarchiv  sicher- 
lich einen  besseren  Fundus  als  Leuckfeld,  da  das  Walkenrieder  Archiv  eine  sehr  „wechsel- 
volle  Geschichte"  nebst  einigen  zu  vermutenden  Verlusten  zu  erdulden  hatte  (vgl.  Alphei, 
wie  Anm.  22,  S.  734). 


58  Cai-Olaf  Wilgeroth 

Einschatzung  derdabeijeweils  agierenden  Abte  oderPrioren.  Fiirihn  handelte  es 
sich  schlichtweg  um  einen  Ausverkauf  der  Klostervermogens,  insofern  waren 
ihm  die  Interessen  der  Kaufer  dabei  nebensachlich.20 

Ein  konzeptionell  bedingtes  Ausblenden  der  Perspektive  des  Geschaftspart- 
ners  ist  bei  der  auf  die  eigentliche  Klostergeschichte  fokussierten  Primarliteratur 
sicherlich  verstandlich.  Wieso  sollte  man  sich  auch  aus  Walkenrieder  Perspektive 
Gedanken  iiber  die  Motive  der  stadtischen  Ankaufer  vormaligen  Klosterbesitzes 
machen?  Vom  hiesigen  Interessiertheitsstandpunkt  aus  waren  vielmehr  Klagen 
iiber  die  unvermeidlichen  VerauBerungen  Bestandteil  der  literarischen  Darstel- 
lungsabsicht  -  vor  allem  eben  in  derklosternahen  geistlichen  Chronistik.21  Ahn- 
liches  gilt  auch  fur  die  von  Walkenried  her  denkende  Forschungsliteratur.22  An- 
gesichts  ihrer  Fragerichtung  beachtet  sie  die  Goslarer,  Gottinger  oder  Nordhau- 
ser23  Motive  bei  den  jeweiligen  Erwerbungen  nicht. 

20  Besonders  deutlich  am  Beispiel  des  Abtesjohannes  Holt-Egel  (Leuckfeld,  wie  Anm. 
18,  S.  91-96,  bes.  95)  oder  des  Prokurators  und  Subpriors  Liborius  Hirsch  (ebd.  S.  108-110 
undS.  131-133). 

21  So  zeigt  etwa  Leuckfeld,  wie  Anm.  18,  S.  449,  deutlich  an,  was  er  von  den  VerauBe- 
rungen der  Klosterguter  an  den  Goslarer  Rat  halt,  wenn  er  beispielsweise  bemerkt,  daB,  ah 
aber  die  Closter=Guther  hin  und  wieder  verkauffet  und  durchgebracht  wurden,  auch  Abt  Herman  be- 
reits  die  Closter=Capell  in  solcher Stadt  nicht  weit  von  diesem  Hofe  imjahr  1563  vorkahle  [sic!]  160 
Thaler  an  den  Rath  daselbst  uberlassen  hatte  [.  .  .]. 

22  Sie  ist  weitgehend  gesammelt  bei  Cord  Alphei,  Walkenried,  in:  Ulrich  Faust  (Hrsg.), 
Germania  Benedictina  Bd.  12:  Norddeutschland.  Die  Manner-  und  Frauenkloster  der  Zi- 
sterzienser  in  Niedersachsen,  Schleswig-Holstein  und  Hamburg,  St.  Ottilien  1994,  S.  678- 
742,  bes.  730-734;  grundlegend:  Nicolaus  Heutger,  850Jahre  Kloster  Walkenried,  Hildes- 
heim  1977  (2007  unter  dem  Titel  „Kloster  Walkenried:  Geschichte  und  Gegenwart"  iiberar- 
beitet  neu  erschienen,  vom  Verfasser  aber  nicht  mehr  eingesehen). 

23  Von  der  Forschung  anscheinend  unbemerkt  waren  seinerzeit  fast  auch  die  Nordhau- 
ser  Liegenschaften  im  Falle  der  volligen  Zerschlagung  des  Konvents  und  einer  dann  nicht 
mehr  zu  leistenden  Bewirtschaftung  an  den  dortigen  Rat  verschrieben  worden,  vgl.  dazu: 
Das  Kloster  Walkenried  in  der  Uberlieferung  des  Stadtarchivs  Nordhausen,  bearb.  v.  Peter 
Kuhlbrodt  und  Fritz  Reinboth,  Nordhausen  1995,  Urk.  Nr.  1-9.  (Alphei,  wie  Anm.  22, 
S.  691).  Alphei  (ebd.,  S.  690f.)  benennt  nur  die  potentiellen  GiiterverauBerungen  in  Gottin- 
gen.  Die  Frage  der  stadtischen  Initiative  oder  Interessiertheit  bei  derartigen  Giitertransak- 
tionen  scheint  in  der  Forschung  gar  nicht  gestellt;  das  Kloster  wird  zum  Initiator  und  Anbie- 
ter,  und  es  werden  lediglich  zisterziensische  Griinde  angefiihrt:  administrative  Not,  wirt- 
schaftlicher  Bankrott  und  Wertverlust  der  Besitzungen  besonders  nach  dem  Bauernkrieg 
1525  (vgl.  ebd,  S.  694).  DaB  gerade  die  Stadte  hier  aber  nicht  bloB  eine  sich  unvermittelt 
bietende  Gelegenheit  zur  Gutervermehrung  bereitwillig  nutzten,  sondern  mit  einigem  Vor- 
lauf  an  stadtischer  Initiative  und  taktischem  Kalkiil  durchaus  gerechnet  werden  muB,  ver- 
mag  auch  das  Beispiel  der  Altstadt  Hildesheim  und  der  Zisterze  Marienrode  zu  zeigen;  vgl. 
dazu  dann  die  entsprechenden  Abschnitte  in  Wilgeroth,  wie  Anm.  1.  (vorauss.  Kap.  IV.2 
Provisoren  und  Zisterzen.  Stadt  und  Kirche  treffen  sich  im  Wald:  Neuwerk,  Marienrode 
und  Walkenried). 


Ressourcenknappheit  und  reichsstadtische  Kompensation  59 

Weniger  verstandlich  sollte  allerdings  das  Aufmerksamkeitsdefizit  in  der  auf 
Goslar  konzentrierten  Forschungsliteratur  sein,  insbesondere  weil  diese  sich 
groBtenteils  um  montanwirtschaftliche  und  somit  ressourcenokonomische  Fra- 
gen  dreht.  Da  hier  nicht  der  Platz  ist,  das  gesamte  Untersuchungsspektrum  zur 
„Nach-Riechenberg-Geschichte"  Goslars  zu  besprechen,  muB  es  weitgehend  bei 
der  Benennung  dieser  Diagnose  bleiben. 

Nurso  viel  sei  summarisch  festgehalten:  Bis  auf  Heineccius  stelltnurnoch  C.  E. 
P.  Holzmann  als  Herausgeber  des  „Hercynischen  Archivs"  im  19.  Jahrhundert 
den  Erwerb  der  Walkenrieder  Giiter  nebst  der  Vier  Berge  und  die  Verluste  im  Be- 
reich  von  Berg-  und  Hiittenwesen  sowie  Harzwaldungen  in  einen  quasi-ursachli- 
chen  Zusammenhang:  „IndeB  hatte  die  Reformation  im  Gegentheile  auch  sehr 
gute  Folgen  fiir  Goslar  [.  .  .]  Das  Coster  Walkenried  hatte  langst  schon  in  hiesiger 
Gegend  betrachtliche  Giiter  besessen,  deren  Benutzung  der  Stadt  sehr  vorteilhaft 
hatte  sein  konnen.  [.  .  .]  Die  Reformation  begann  und  griff  immer  weiter  um  sich, 
und  wo  dies  geschah,  da  muBten  die  Closter  unnennbar  verlieren.  Ganz  dasselbe 
fand  auch  Statt  bei  Walkenried,  das  oft  gezwungen  war,  zu  verkaufen  und  zu  ver- 
pfanden.  Gestiitzt  auf  kaiserliche  Privilegien,  im  Falle  derNoth,  Besitzungen  ver- 
auBern  zu  diirfen,  hatte  dieses  Closter  manche  der  letztern  verschiedentlich  an 
Goslar  auf  bestimmte  Jahre  verkauft  oder  vielmehr  verpfandet.  Dabei  gewann 
Goslar  natiirlich  sehr  [.  .  .]  ".24  Im  Gegensatz  zu  Heineccius  ist  Holzmann  offenbar 
noch  etwas  besserinformiert  und  bespricht,  wenngleich  fragmentarisch,  die  auch 
uns  interessierenden  Pacht-  und  Kaufvertrage  bereits  ab  1543  (bis  1579) .  Sein  Fa- 
zit  hierzu  lautet,  daB  zwar  die  von  Goslar  zu  zahlenden  Pachtsummen  sehr  hoch 
gewesen  seien,  und  gerade  die  erworbenen  Holzungen  nicht  so  viel  Barschaft  ein- 
gebracht  hatten  -  angeblich  „weil  damals  des  Holzes  noch  mehr  in  diesen  Gegen- 
den  wuchs  und  der  Preis  geringer  war".  Unter  dem  Strich  habe  die  Stadt  aber  bei 
alldem  mehr  gewinnen  konnen  als  das  entferntere  Walkenried,  insbesondere  weil 
der  1562er-Vertrag  wegen  der  Vier  Berge  so  wichtig  gewesen  sei.25 

Abgesehen  davon,  daB  Holzmann  im  Hinblick  auf  die  Holzpreis-  und  Waldzu- 
standsfrage  irren  diirfte,  bleibt  doch  seine  Diagnose  richtig:  Angesichts  des  dro- 
henden  Verlustes  von  Bergwerken  und  Forsten  hatten  die  Goslarer  Verantwortli- 
chen  in  der  Schwebephase  vor  dem  Riechenberger  Vertrag  „einige  fiir  sie  sehr 
wichtige  Vertrage  mit  Walkenried  geschlossen"  und  sich  somit  die  betreffenden 
Giiter  auch  iiber  einen  solchen  Einbruch  der  stadtischen  Besitzstande  hinaus  ge- 


24  Christian  Erdwin  Philipp  Holzmann,  Irrungen  zwischen  Braunschweig-Wolfenbiit- 
tel  und  Goslar  wegen  Walkenried;  mit  Urkunden,  in:  Ders.  (Hrsg.),  Hercynisches  Archiv 
oder  Beitrage  zur  Kunde  des  Harzes  und  seiner  Nachbarlander.  Einziger  Band,  Erstes  bis 
viertes  Stuck,  Halle  1805,  S.  84-102,  hier  S.  85f. 

25  Holzmann,  wie  Anm.  24,  S.  88 f. 


60  Cai-Olaf  Wilgeroth 

sichert.26  Die  noch  bei  Heineccius  mit  cogitavit  auf  Seiten  der  Goslarer  Stadtvater 
gesuchte  Initiative  expliziert  Holzmann  freilich  nicht  mehr. 

Diejenige  moderne  Goslarliteratur,  welche  die  keineswegs  unbekannten  Gii- 
terverhandlungen  iiberhaupt  beachtet,  ignoriert  den  durch  Heineccius  explizier- 
ten  und  von  Holzmann  aufgegriffenen  Befund  von  einerbewuBten,  kompensato- 
rischen  Wald-  und  Ressourcenerwerbung  seitens  derStadt,  obwohl  erbei  griind- 
licher  Durchsicht  der  stadtarchivischen  Findbiicher  (B-Bestand)  durchaus  ins 
Auge  springt.27  Sogar  Karl  Bruchmann,  langjahriger  Stadtarchivar,  benennt  die 
Vorgange  und  ihre  Ursachen  lediglich  klosterlicherseits:  „Da  entstand  mit  der 
Reformation,  die  in  Goslar  1528  Eingang  fand,  eine  vollig  neue  Lage.  [.  .  .]  in 
Thiiringen  [.  .  .]  wurden  die  benachbarten  Kloster  gebrandschatzt  und  zerstort. 
Diesen  landfriedenbrecherischen  Unternehmungen  fiel  auch  das  Kloster  Wal- 
kenried  schon  1525  zum  Opfer.  Es  ist  nun  interessant  festzustellen,  welche  Folge- 
rungen  Kloster  Walkenried  gerade  in  bezug  auf  Goslar,  wohin  iibrigens  einige 
Klosterinsassen  beim  Heranziehen  der  Bauern  gefliichtet  waren,  und  seinen  hie- 
sigen  Besitz  aus  all  diesen  Geschehnissen  zog".28  Bruchmanns  Ausfiihrungen 
miinden  in  eine  Edition  des  ihm  immerhin  bekannten  ersten  Vertrages  zwi- 
schen  Stadt  und  Kloster  vom  11.  November  1533.  Der  Autorgibt  den  Vorgangen 
dann  aber  doch  eine  schiefe  Gewichtung,  wenn  er  resiimiert:  „Wie  eindrucksvoll 
spricht  aus  diesem  Dokument  die  Not  des  Klosters  zu  uns,  das  nach  der  1525  er- 
folgten  Zerstorung  offenbar  die  Hoffnung  auf  einen  Wiederaufbau  bereits  aufge- 
geben  hatte.  Man  warjedenfalls  darauf  bedacht,  sich  wenigstens  einen  Platz  zu  si- 
chern,  wo  man  noch  ungestort  durch  all  den  Aufruhr  leben  konnte,  wohin  man 
ausweichen  konnte.  [.  .  .]  Allerdings  wird  man  andererseits  annehmen  diirfen, 
daB  die  Stadt  gern  die  Moglichkeit  ergriff,  diesen  Klosterbesitz  an  sich  zu  brin- 
gen;  denn  alle  geistlichen  Niederlassungen  innerhalb  der  Stadtmauern  wurden 
bei  allerreligiosen  Einstellung  des  mittelalterlichen  Menschen  doch  in  den  Stad- 
ten  wegen  der  ihnen  zustehenden  oder  von  ihnen  erlangten  Sonderrechte  irgend- 
wie  als  Fremdkorper  in  den  Stadten  empfunden.  Hier  konnte  also  Goslar  auf  vol- 
lig legitimen  Wege  einen  solchen  geistlichen  EinfluB  ausschalten  und  zugleich 
seinen  Besitz  mehren,  was  vielleicht  um  so  wichtiger  war,  als  ihm  wenige  Jahre 
zuvor  sein  Bergwerks-  und  Forstbesitz  weitgehend  entgangen  war."  Nur  in  diesem 
letzten  Nebensatz  klingt  der  unseres  Erachtens  dominierende  Kompensations- 
sachverhalt  iiberhaupt  an.  Aber  selbst  die  im  weiteren  Text  dezidiert  benannte 


26  Ebd.,  S.  86. 

27  Spatestens  seit  Grunder-Culemanns  Flurnamenwerk  miiBte  man  fur  die  Besitzver- 
schiebungen  im  Harzvorland  zugunsten  Goslars  eigentlich  sensibel  gewesen  sein  (vgl. 
Grundner-Culemann,  wie  Anm.  8,  insbes.  S.  32-34  und  S.  46). 

28  Karl  Bruchmann,  Goslar  und  Walkenried.  Alte  Bindungen  iiber  den  Harz,  in:  Gosla- 
rer Bergkalender  (1960),  S.  38-45. 


Ressourcenknappheit  und  reichsstadtische  Kompensation  61 

Erwerbung  des  Walkenrieder  Forstbesitzes  der  Vier  Berge  wird  von  Bruchmann 
nur  en  passant  registriert,  und  die  klosterliche  anstatt  der  stadtischen  Perspektive 
als  Erklarung  perpetuiert. 

Diese  Befunde  sind  durchaus  symptomatisch  fiir  die  historiographische  Be- 
schaftigung  mit  der  „Nach-Riechenberg-Phase"  der  Goslarer  Geschichte.  Die  fiir 
die  Friihe  Neuzeit  schon  fast  identitatsstiftende  „Meistererzahlung"  vom  Nieder- 
gang  einer  dereinst  bliihenden  Bergbau-Metropole  am  Harzrand  im  Verfolg  der 
Ereignisse  um  den  Riechenberger  Vertrag,  die  ewige  Litanei  auf  die  Gruben-, 
Hiitten-  und  eben  auch  Harzwaldverluste,  hat  nicht  zuletzt  die  Perspektive  und 
Wahrnehmung  der  Forschung  in  und  um  die  Reichsstadt  lange  Zeit  gepragt: 
Goslarund  derBergbau,  Goslar  und  derHarzwald  -jenseits  dieses  Beziehungs- 
geflechtes  gab  es  anscheinend  nichts  zu  forschen.  Mit  Riechenberg  1552  ging 
hier  eine  dereinst  ruhmreiche  Epoche jah  zuende,  danach  gab  es  nur  noch  AnlaB 
zu  „Katzenjammer". 

Dieser  forschungsgeschichtliche  Befund  ist  zugegebenermaBen  sehr  pointiert 
und  trifft  angesichts  der  jiingsten  Goslarstudien,  die  sich  erfreulicherweise  viel- 
fach  besonnen  und  neuorientiert  haben,  auch  langst  nicht  mehr  zu.29  Auch  fiir  die 
Friihe  Neuzeit  wurden  mit  von  Zweckoptimismus  und  Pragmatismus  getragenen 
Entwicklungen  Lichtblicke  erkennbar.  Dennoch:  Im  Hinblick  auf  den  Wald,  sah 
man  -  so  laBt  sich  der  forschungsgeschichtliche  Befund  nach  wie  vor  in  einem 
passenden  Wortspiel  zusammenfassen  -  bisher  den  Wald  im  Umland  vor  lauter 
fehlenden  Baumen  im  Harz  nicht.  Dies  ist  umso  bedauerlicher,  als  waldwirt- 
schafts-,  forstnutzungs-  und  umweltgeschichtlich  auswertbare  Quellen  zum  ei- 
gentlichen  Goslarer  Stadtforst  fiir  das  16.  Jahrhundert  (seit  Riechenberg)  weitge- 
hend  fehlen.  Sie  flieBen  erst  im  17.  Jahrhundert  reichlicher.  Fiir  die  Phase  davor, 
kann  aber  die  Geschichte  der  Vier  Berge  und  ihrerNutzung  „einspringen".  Auch 
sie  kann  uns  etwas  iiber  die  im  Sombartschen  Sinne30  „holzern  gepragten"  Be- 
diirfnisse,  Nutzungsweisen,  Vorstellungen  und  Neuorientierungen  auf  Seiten  der 
Verantwortlichen  in  einer  seit  1552  nicht  mehr  nur  ausschlieBlich  bergbaulich  in- 
teressierten  Stadt  erzahlen. 


29  Vgl.  zur  Revision  des  iiberkommenen  Geschichtsbildes  die  Beitrage  in  Rammelsber- 
ger  Bergbau  Museum,  wie  Anm.  6. 

30  Dem  Wirtschaftshistoriker  Werner  Sombart  verdankt  die  vormoderne  Epoche  ihre 
Charakterisierung  als  Zeitalter  von  „ausgesprochen  holzernem  Geprage".  Er  hob  damit  auf 
die  Allgegenwartigkeit  und  Unabdingbarkeit  der  „Zentralressource"  Holz  ab  (vgl.  Werner 
Sombart,  Der  moderne  Kapitalismus.  Historisch-systematische  Darstellung  des  gesamteu- 
ropaischen  Wirtschaftslebens  von  seinen  Anfangen  bis  zur  Gegenwart,  Bd.  II/2:  Das  euro- 
paische  Wirtschaftsleben  im  Zeitalter  des  Friihkapitalismus,  vornehmlich  im  16.,  17.  und  18. 
Jahrhundert,  Berlin  81969,  S.  1138;  zum  Begriff  Zentralressource:  Rolf Jiirgen  Gleitsmann, 
Aspekte  der  Ressourcenproblematik  in  historischer  Sicht,  in:  Sripta  Mercaturae  15,  1981, 
Heft  2,  S.  33-89,  passim). 


62  Cai-Olaf  Wilgeroth 

2.  Walderwerb:  Goslar  und  Walkenried  zwischen  Reformation, 
Riechenberger  und  Territorialisierung. 

Es  soil  zunachst  darum  gehen,jene  Schritte  nachzuzeichnen,  in  welchen  Goslar 
und  Walkenried  zueinander  fanden  und  vertragseinig  wurden.  Dafiir  seien  vorab 
die  lokalen  Rahmenbedingungen  der  Giiterverhandlungen  kurz  in  den  Blick  ge- 
nommen. 

Aus  dem  bereits  angedeuteten  zweiten,  fruhneuzeitlichen  „Griindungsmy- 
thos"  der  Stadt  Goslar,31  also  Riechenberg  und  seinen  Folgen,  mag  angesichts  des 
in  groben  Ziigen  allgemein  bekannten  Geschehens  nur  das  fur  unser  Thema  we- 
sentliche  skizziert  werden:  Mit  seinem  Erfolg  in  der  Hildesheimer  Stiftsfehde 
(1519-1523),  wie  erim  QuedlinburgerRezeB  fixiert  worden  ist,  fielen  dem  Braun- 
schweig-Wolfenbiittelschen  Herzog  Heinrich  dem  Jiingeren  zugleich  enorme 
Geldmittel  wie  Gebietsteile  des  Hochstiftes  Hildesheim  zu.  Dies  lieB  ihn  gleich  in 
doppelter  Hinsicht  mit  der  Reichsstadt  Goslar  aneinandergeraten:  Das  Geld 
ermoglichte  es  ihm,  ab  derMitte  der  1520erjahre  die  seitens  der  Stadt  generatio- 
nenlang  ungestort  zu  Pfand  besessenen  Forstbesitzungen  im  Harz  (1525/1526) 
sowie  den  Bergzehnten  des  Rammelsberges  (1527)  einzulosen  und  sogleich  in 
Eigenregie  zu  nutzen.  Die  Gebietsgewinne  wiederum  deckten  sich  mit  den  Hil- 
desheimischen  Amterbezirken  Vienenburg,  Wiedelah  und  Liebenburg  unmittel- 
bar  bei  Goslar,  was  fur  uns  besonders  wichtig  ist,  da  die  Vier  Berge  und  Walken- 
rieder  Giiter  auf  eben  diese  Amter  verteilt  lagen. 

Was  folgte,  ist  weithin  bekannt:  Die  Stadt  wollte  (und  konnte)  nicht  so,  wie  der 
Herzog  wollte,  so  daB  man  unweigerlich  in  Streit  iiber  den  Wald  und  das  Montan- 
wesen  geriet.32  Der  Herzog  sperrte  „seine"  Walderfiir  die  stadtischen  Holz-  und 
Kohlebediirfnisse,  die  Stadt  zog  vor  Kaiser  und  Reichskammergericht  und  be- 
miihte  sich,  die  Angelegenheit  im  Kontext  der  reformatorischen  Wirren  dem 
Schmalkaldischen  Bund  als  causa  religionis  zu  verkaufen,  um  die  Unterstiitzung 
der  Bundesfiirsten  zu  erlangen.33  Nach  jahrelangem  ebenso  handfesten  wie  pa- 

31  Em  erster,  mittelalterliche  Mythos  kniipft  sich  mit  all  seinen  legendaren  wie  histori- 
schen  Zutaten  an  die  Entdeckung  der  Silber-  und  Erzvorkommen  am  Rammelsberg  und  ih- 
re  spatmittelalterliche  Ausbeutung  unter  stadtischer  Regie. 

32  Vgl.  exemplarisch  die  weitgehend  bergrechtsgeschichtliche  Untersuchung  von  Paul 
Jonas  Meier,  Der  Streit  Herzog  Heinrichs  des  Jiingeren  von  Braunschweig- Wolfenbiittel 
mit  der  Reichsstadt  Goslar  um  den  Rammelsberg,  Goslar  1928. 

33  Gundmar  Blume,  Goslar  und  der  Schmalkaldische  Bund  1527/31-1547,  Goslar  1969; 
Friedrich  Seven,  Die  Goslarer  Reformation  und  der  Kampf  um  den  Rammelsberg,  in:Jahr- 
buch  der  Gesellschaft  fur  niedersachsische  Kirchengeschichte  94  (1996),  S.  75-93;  allg.  Ga- 
briele  Haug-Moritz,  Der  Schmalkaldische  Bund  1530-1541/42:  eine  Studie  zu  den  genos- 
senschaftlichen  Strukturelementen  der  politischen  Ordnung  des  Heiligen  Romischen 
Reichs  Deutscher  Nation,  Leinfelden-Echterdingen  2002. 


Ressourcenknappheit  und  reichsstadtische  Kompensation  63 

pierenen  Hin  und  Her  inklusive  herzoglichem  Exil  von  1543  bis  1547  muBte  sich 
die  Stadt  1552  im  Riechenberger  Vertrag  einem  „Diktatfrieden"  unterwerfen  und 
dabei  den  groBten  Teil  der  bisher  genutzten  Forsten  im  Harz  abtreten.  Ein  der 
Stadt  weiterhin  gewahrter  Rumpfbestand  deckte  sich  nahezu  mit  dem  spateren 
Stadtforst.  Dort  behielt  sich  der  Herzog  allerdings  die  Forst-  und  Jagdhoheit  vor, 
die  Goslarer  durften  ihr  Vieh  weiden  und  Holz  einschlagen,  sowie  die  praktische 
Seite  der  Forstwirtschaft  eigenverantwortlich  betreiben.34 

Vor  diesem  Hintergrund  soil  nur  auf  die  Aspekte  der  stadtischen  Holzversor- 
gung  und  des  Waldverlustes  hingewiesen  werden.  Die  Sperrung  der  nunmehr 
auch  de  facto  herzoglichen  Walderund  die  Restriktion  der  Ko hie-  und  Holzliefe- 
rungen  bedeutete  nach  Ausweis  der  Akten  vor  allem  fur  die  stadtischen  Hiitten- 
betreiber  einen  herben  Schlag.  DaB  sie  jedoch  nicht  die  einzigen  Betroffenen  wa- 
ren,  laBt  die  montanhistorisch  iiberlagerte  Goslarforschung  bisweilen  ebenso 
vergessen,  wie  es  im  Konflikt  selbst  auf  den  ersten  Blick  kaum  eine  explizite  Rol- 
le  zu  spielen  schien.  Dennoch  zeigen  unzahlige  Konfliktprotokolle  im  Goslarer 
und  Wolfenbiittler  Archiv  ein  gesellschaftlich  breiteres  und  alltagliches  Betrof- 
fenheitspotential  -  auch  schon  in  den  Jahren  des  forsthoheitlichen  Schwebezu- 
standes  zwischen  form eller  Auf kiindigung  der  forstlichen  Pfandbesitzverhaltnis- 
se  (1525/1526)  und  Riechenberger  Vertrag  (1552). 3S  Die  gesamte  Einwohner- 
schaft  war  von  den  Waldverlusten  auf  die  eine  oder  andere  lebenspraktische  Art 
und  Weise  betroffen.  Denn  -  mit  Ernst  Schubert  gesprochen  -  der  Wald  war  die 
unabdingbare  energetische  wie  materielle  Lebensgrundlage  der  spatmittelalterli- 
chen  Stadt.36  Gerade  die  permanente  Konkurrenzsituation  zwischen  den  berg- 
und  hiittenmannischen  Holzinteressen  einer  prosperierenden  Montanwirtschaft 
einerseits  und  den  alltaglichen  Waldanspriichen  einer  an  eben  diesem  montan- 
wirtschaftlichen  Erfolg  demographisch  wachsenden  „Restbevolkerung"  anderer- 
seits  lieB  sich  prinzipiell  nur  durch  flachenhafte  Ausdehnung  der  Waldnutzung 
entzerren.  Der  Rat  hatte  im  15.  Jahrhundert  nicht  umsonst  Walderwerbspolitik 
betreiben  miissen.37  Nach  1525  sahen  sich  alle  stadtischen  Interessensgruppen 


34  Im  Vertragsexemplar  des  Stadtarchivs  in  Goslar  finden  sich  die  hier  entscheidenden 
Passagen  im  Abschnitt  Zum  sechstn  (StA  GS  Urk.  Stadt  Goslar  Nr.  1223,  fol.  2r). 

35  Der  Verfasser  bereitet  im  Rahmen  seiner  Dissertation  neben  der  sozial-,  wirtschafts-, 
forst-  und  umweltgeschichtlichen  Auswertung  auch  eine  Edition  dieser  im  Stadtarchiv 
Goslar  in  den  Gravamina  des  Forstes  [.  .  .]  vomjahr  1525  bis  insjahr  1 536 gesammelt  vorliegen- 
den  Konfliktprotokolle  vor  (StA  GS  B  2268;  die  auf  dem  Titelblatt  bei  Anlage  des  Stiicks  ur- 
sprunglich  angegebene  Laufzeit  wird  in  der  heute  gebunden  vorliegenden  Kompilation  je- 
doch noch  uberschritten). 

36  Ernst  Schubert,  Der  Wald:  wirtschaftliche  Grundlage  der  spatmittelalterlichen  Stadt, 
in:  Bernd  Herrmann  (Hrsg.) ,  Mensch  und  Umwelt  im  Mittelalter,  Stuttgart  1986,  S.  257-274. 

37  Auch  fur  den  von  der  Forschung  herausgearbeiteten  Nexus  zwischen  dem  Goslarer 
Ubertritt  zur  Reformation  bzw.  zum  Schmalkaldener  Bund  und  den  Auseinadersetzungen 


64  Cai-Olaf  Wilgeroth 

am  Wald  plotzlich  auf  ein  rein  politisch  definiertes  areales  Minimum  zuriickge- 
worfen.  Und  die  ortlichen  Auseinandersetzungen  nach  1552  in  eben  den  neural- 
gischen  Kontexten  Holzwirtschaft  und  Weidenutzung  an  den  neuen  Grenzberei- 
chen  des  jetzigen  Stadtforsts  (und  dariiber  hinaus)  verdeutlichen,  wie  wenig  aus- 
reichend  der  verbliebene  Waldbezirk  fur  die  obwaltenden  Anspriiche  der 
Gesamtstadtbevolkerung  war. 

Abgesehen  von  diesen  ganz  konkreten  Einschrankungen,  mit  denen  man  sich 
bei  der  Waldressourcenversorgung  jetzt  tagtaglich  zu  arrangieren  hatte,  wenn 
man  nicht  mit  den  wenig  zimperlichen  herzoglichen  Untertanen  und  Bedienste- 
ten  aneinandergeraten  wollte,  ist  dabei  noch  ein  weiteres  Moment  zu  bedenken: 
Auch  mentalitatsgeschichtlich  diirfte  es  nur  schwer  zu  verkraften  gewesen  sein, 
daB  man  sich  als  Goslarer  plotzlich  mit  exkludierenden  Forstherrlichkeiten  kon- 
frontiert  sah,  wo  zuvor  fur  die  Stadt  und  ihre  Bewohner  in  naturraumlicher  Hin- 
sicht  nahezu  Grenzenlosigkeit  geherrscht  hatte.  Obwohl  man  den  Wald  -  in  wel- 
chem  tatsachlichen  Zustand  er  auch  gewesen  sein  mag38  -  vor  Augen  hatte,  durf- 
te  man  ihn  nicht  mehr  ungehindert  fiir  die  eigenen  Bediirfnisse  nutzen. 

Angesichts  dieser  realen  wie  mentalen  Einschnitte  in  der  Goslarer  Wald-  und 
Holzsituation  ist  es  daher  spannend  zu  sehen,  wie  der  Rat  sich  um  eine  Losung 


mit  Heinrich  demjiingeren  um  die  Ressourcen  des  Harzes  laBt  sich  im  selben  MaBe  die  Un- 
terworfenheit  des  (Engeren)  Rates  unter  eine  ressourcenfokussierte  „Volksstimmung"  in  der 
Stadt  verdeutlichen.  Es  waren  die  Gilden,  Bergknappen  und  der  „gemeine  Mann",  welche 
als  treibende  Kraft  die  Reformation  in  Goslarer  gegen  den  eigentlichen  Wunsch  der  lange 
kaisertreuen  Ratsgeschlechter  erzwangen  (vgl.  Uvo  Holscher,  Die  Geschichte  der  Refor- 
mation in  Goslar,  Hannover  1902,  insbesondere  S.  35  ff.). 

38  Herzog  und  Stadt  warfen  sich  in  Zuge  der  Auseinandersetzungen  gegenseitig  die  De- 
vastierung  der  Waldungen  vor.  Insbesondere  der  Herzog  benutzte  dieses  Argument  zur 
Rechtfertigung  seiner  Restriktionshaltung  in  puncto  Holz  und  Kohlen  -  es  gehe  um  die  Scho- 
nung  der  seitens  der  Stadt  arg  zerhauenen  Walder,  wolle  man  noch  langer  einen  Nutzen  davon 
haben  (z.B.  herzoglicher  Vorwurf:  StA  GS  B  2272,  Litiscontestatio  cum  annexa  exceptione 
peremptoria Herzogen Heinrichs  desjungern,  1530  Marz  18,  fol.  2 r;  stadtischer  Komplementarvor- 
wurf:  StA  GS  B  2275,  Briefbuch,  unpag.,  z.  J.  1535/1536).  Es  bleibt  die  von  Joachim  Radkau 
aufgeworfene  Gretchenfrage  der  Forstgeschichte,  inwieweit  man  derart  tendenziosen  Aussa- 
gen  realitatsabbildenden  Gehalt  zubilligen  mochte  (vgl.  jetzt  zusammenfassend  Joachim 
Radkau,  Holz.  Wie  ein  Naturstoff  Geschichte  schreibt,  Miinchen  2007,  S.  97401,  150-152  und 
157-159).  Halbwegs  objektive  Forstbeschreibungen  liegen  fiir  die  erste  Halfte  des  16.Jahrhun- 
derts  noch  nicht  vor.  Da  der  Wald  aber  in  groBeren  zeitlichen  Dimensionen  funktioniert,  las- 
sen  sich  Ruckschlusse  auf  den  einstigen  Waldzustand  auch  aus  sehr  viel  spateren  Schriftquel- 
len  Ziehen;  Peter-Michael  Steinsiek  hat  sich  hierum  bemiiht;  er  spart  jedoch  die  eigentliche 
Goslarer  Stadtforst  aus  seinen  Betrachtungen  aus  (vgl.  Peter-Michael  Steinsiek,  Nachhaltig- 
keit  auf  Zeit.  Waldschutz  im  Westharz  vor  1800,  Munster  1999).  Fiir  diese  Bestande  liegt  die 
erste  stadtische  Forstbesichtigung  erst  zumjahre  1692  vor  (StA BS  B  2326) .  Die  angrenzenden 
Harzwaldungen  erfahren  ihre  forstwirtschaftliche  Bestandaufnahme  erst  seit  der  Mitte  des 
16.  Jahrhunderts.  Da  der  Stadtforst  in  seinen  Grenzen  jedoch  ein  politisches  Konstrukt  ist, 


Ressourcenknappheit  und  reichsstadtische  Kompensation  65 

derresultierenden  Probleme  bemiihte:  Ganz  zu  schweigen  von  den  militarischen 
Anstrengungen  im  Schmalkaldischen  Krieg,  machten  sich  die  Stadtvater  neben 
ihren  juristischen  Revindikationsbemiihungen  vor  Kaiser  und  oberstem  Reichs- 
gericht  (welche  nie  zu  einem  formellen  Ende  kommen  sollten)  auf  die  Suche  nach 
neu  zu  erschlieBenden  Rohstoffquellen.  Man  fand  sie  vor  den  nordlichen  Toren 
der  Stadt,  wo  sich  die  Giitermasse  des  im  Bauernkrieg39  stark  in  Mitleidenschaft 
gezogenen  Zisterzienserklosters  Walkenried  zum  Verkauf  anbot. 

Umweltgeschichtstheoretische  Anklange:  Was  nachfolgend  ausgefiihrt  wird,  soil 
vor  dem  Hintergrund  des  Riechenberger  Vertrages  und  in  Anlehnung  an  das  vom 
Schweizer  Umwelt-  und  Klimahistoriker  Christian  Pfister  in  die  Umweltge- 
schichtsschreibung  eingebrachte  „1950er-Syndrom"40  etwas  plakativals  „1552er- 
Syndrom"  umrissen  werden.  Pfister  hob  mit  seiner  Begriffpragung  auf  die  ener- 
giegeschichtlichen  Veranderungen  in  den  50er  Jahren  des  20.  Jahrhunderts  ab, 
als  die  Umstellung  der  weltweiten,  industriellen  Energiewirtschaft  von  Steinkohle 
auf  Erdol  in  allerKonsequenz  stattfand.  Der  GoslarerRat  vollzogim  lG.Jahrhun- 
dert  natiirlich  keine  Umstellung  im  Bereich  des  Energiegrundstoffes,  um  die 
Waldverluste  und  damit  verbundene  Holzknappheit  zu  kompensieren.  Selbst 
wenn  damals  in  Teilen  Niedersachsen  bereits  Steinkohle  gefordert  wurde,41  sollte 
Holz  doch  bis  ins  19.  Jahrhundert  als  Energietrager  weithin  ohne  Konkurrenz 
bleiben. 

Unter  dem  „  1552er-Syndrom"  soil  hier  eine  unseres  Erachtens  im  Zuge  des  16. 
Jahrhunderts  auf  Seiten  des  Rates  zu  erkennende  Umorientierung  im  Umgang 
mit  dem  Ressourcenreservoir  Wald  verstanden  werden,  welche  durchaus  mit  den 
sich  wandelnden  holzrohstofflichen  Bedarfsstrukturen  und  forstlichen  Eigen- 
tumsverhaltnissen  korrespondiert  haben  konnte,  denen  die  Stadt  sich  seit  der 
zweiten  Jahrhunderthalfte  gegeniiber  sah. 

Im  Folgenden  sollen  daraufhin  die  vertraglichen  Ubereinkiinfte  derjahre  zwi- 
schen  1533  und  1579  betrachtet  und  hinsichtlich  ihrer  Ursachen,  Inhalte,  Zusam- 
menhange  und  Rahmenbedingungen  vor  allem  aus  stadtischer  Sicht  besprochen 


werden  die  dortigen  Zustande  zunachst  nicht  wesentlich  von  denjenigen  der  herzoglichen 
Nachbarwaldungen  abgewichen  sein.  Angesichts  der  Goslarer  Montanwirtschaft  ist  vielmehr 
von  einer  quasi-konzentrischen  Degradation  der  Walder  um  die  Stadt  herum  auszugehen. 

39  Vgl.  den  Uberblick  bei  Heutger,  wie  Anm.  22,  S.  60-62  (Walkenried  im  Bauern- 
krieg): Der  Bauernkrieg  habe  dem  Kloster  Walkenried  Wunden  geschlagen,  von  denen  es 
sich  nie  wieder  erholen  konnte  (Alphei,  wie  Anm.  22,  S.  715). 

40  Christian  Pfister,  Das  1950er  Jahre  Syndrom.  Eine  Epochenschwelle  der  Mensch- 
Umwelt-Beziehungen  zwischen  Industriegesellschaft  und  Konsumgesellschaft,  in:  GAIA  3 
(1994),  Heft  2,  S.  71-90. 

41  Vgl.  den  Beitrag  von  Dirk  Neuber  in  diesem  Band. 


66  Cai-Olaf  Wilgeroth 

werden.  Die  Texte  liegen  teilweise  im  Original,  teilweise  abschriftlich  im  Stadtar- 
chiv  Goslar  vor. 

Wyr Paulus,  abt,  [.  .  .J,  undderganze  convent  unser closters  Walckenridenn  [.  .  .]  bekennen 
[.  .  .] : Nachdem  und dieweil sich  die  dingallenthalben  wunderlich  begeben  undauch  man- 
cherley  ufruhr,  emporunge  und  bewegunge  des gemeinen  volks  erheben,  auch  in  dieser  selbti- 
gen  ufriirischen  und  lesten  zeyten  vyl  closter  in  landen  und furstenthiimben  werden  vorstort, 
vorwiist,  als  das  die  ordensperson  allenthalben  umbher  in  den  selbtigen  landen  und  fur- 
stenthiimben zu  hoen  und  spot  der  ganzen  religion  kein  hiilf  ader  schirm  habend  im  elende 
laufen,  das  wir  uns  auch  also  uns  dan  bereit  im  ersten  ufrhiir  einmal  widerfaren  und  besche- 
en,  das  bemelt  unser  closter  durch  die  aufruhrerischen  bauern  obgewiinnen,  alles  was  dorin- 
ne  nicht  allein,  sondern  auch  was  dorauf&en  ufdem  lande zustendig  ist  befunden,  zubrochen, 
entwanth,  genommen,  verzert  und  vernichtiget  wurden,  [.  .  .]  so  haben  wir  vorangezeithe 
auch  andere  unsere  beswerende  ursachen  zum  capitel  in  unserm  vorgenannten  closter  und  an 
gewontlicher  stadt  vorsamlet  notdiirftiglich  bedacht  und  sie  allenthalben  bewugen,  und  so 
vyle,  damit  wir  uns,  unsern  mitbenenten,  so  esgots  wille  und  uns  moglich  were,  in  zeitlichen 
frieden  unser  lebelang  erhalten  mochten,  uns  entschlossen,  nemlich  und  also,  das  wir  uns  mil 
den  erbarn  und  wolweisen  hern  burgermeistern  und  rat,  auch  erlichen  gilden  von  ganzer  ge- 
meine  stad  Goslar  wegen  alle  unser  bewegliche  und  unbewegliche  giiter,  also  wir  vor  und  in 
der  stadt  Goslar  und  dor  umblang,  nemlich  Immenrodt,  Handorffund  die  guter  zu  Ebelin- 
gerodt  und  sonst  allenthalben  doselbst  haben,  unsern  hofmit  alien  den  darzu  gehorenden 
boden,furwerken,  meyerhofen,  land  und  wesen,  zinsen,  ufkommen  und  renten,  also  ingem- 
leten  unsrern  hqf alle  jerlichs  gehorende  und  fallen,  gutlich  undfurndlich  underredt,  voreni- 
get,  vorgleichet  und  vortragen  inform,  meinunge  und gestalt,  als  hir  nachfolget:  [.  .  .J.42 

Vorstehend  gekiirzt  zitierte  Narratio  einer  Urkunde  vom  11.  November  1533 
stellt  den  Auftakt  einer  Reihe  von  Vertragen  und  Schriftstiicken  dar,  welche  zwi- 
schen  dem  vom  Bauernkrieg  arg  mitgenommenen  Kloster  Walkenried  mit  der 
nicht  minder  durch  herzogliche  Invektiven  geplagten  Stadt  Goslar  zustande  kom- 
men  sollten. 

Abt  und  Konvent,  schildern  hier  zunachst  ihre  desolate  Situation  als  ursachlich 
fur  eine  vertragliche  Ubereinkunft  mit  dem  Goslarer  Rat  im  Hinblick  auf  samtli- 
che  (sic!)  Walkenrieder  Giiter,  ihr  Zubehor,  sowie  ihre  naturalen  und  monetaren 
Pertinenzien  bzw.  Gefalle  innerhalb  und  auBerhalb  der  Reichsstadt.  Im  Einzel- 
nen  kommt  man  zu  einer  Art  treuhanderischer  Vereinbarung:  Im  Falle  der  volli- 
gen  Vereinnahmung  des  Kloster  durch  die  weltliche  uberkeit  solle  es  den  Konvents- 
mitgliedern  nach  ihrer  dann  notwendigen  Flucht  fuglich  ader  bequemlich  sein  [.  .  .J 


42  StA  GS  B  2688:  Vertrag  zwischen  Abt  und  Konvent  zu  Walkenried  und  der  Stadt 
Goslar,  1533  November  11  (Kopie),  hier  zitiert  nach  der  sprachlich  vereinheitlichten  Ab- 
schrift  bei  Bruchmann,  wie  Anm.  28,  S.  39-41. 


Ressourcenknappheit  und  reichsstadtische  Kompensation  67 

uf  gemelten  erbarn  rat,  gylden  und  ganz  gemein  stadt  Goslar  in  ufgenannten  unserm  hofe 
und  buden  nach  unserm  gelegen  und  bequemheit  zu  wonen  frei  ingelassen  und  ingestadt 
werden.  Der  Rat  solle  die  Asylanten  gleich  iren  bilrgern  zu  recht  und gewalt  schiltzen, 
vorteydigen  und  handhabenund  sie  bei  ihren  althergebrachten  Rechten  und  Privile- 
gien  in  Goslar  belassen;  auch  sollen  sie  alien  unsern  [=ihren] giitern  nach  unser  [=ih- 
rerj  notdurft,  alse  wir  vor  alters  gehabt,  (zu)  gebrauchen  ungehindert  sein.  Sobald  je- 
doch  das  Kloster  durch  die  uberkeit  ingenommen  aderso  vorstort  und  vorwust  und  nicht 
mit  unsern  ordenspersonen  besetzt  wider  wiirde  und  die personen  alle,  wie  die  gein  Goslar 
vorordent,  vorstiiben  und  siinst  kein  personen  gehorsam  unsern  closters  mehrvorhanden  we- 
ren,  also  dan  sail  und  mag  ein  erbar  rat  vorbenent  [.  .  .]  alle  unsere  bewegliche  und  unbe- 
wegliche  erb-,  eigen-  undfryen  giiter  vorbezeichent  [.  .  .]  ane  idermenniglichen  vorhinder- 
nisse  unnd  vorbietent  innehmen  und  die  gleich  ander  der  stad giiter  vorfrey  und  eygen  besit- 
zen,  inhaben,  trewlich  vorwahren  und  die  inform,  maji  und  gestalt,  alse  hyrnach  volget, 
gebrauchen:  Die  Giiter  miiBten  durch  den  Rat  administrativ  betreut  werden,  und 
dieser  habe  entsprechende  Register  zu  fiihren.  Die  aufkommenden  Gefalle  soil- 
ten  bis  zur  verhofften  Wiedererrichtung  des  Klosters  eingenommen  und  zu  glei- 
chen  Teilen  der  Stadt  bzw.  dem  Konvent  zufallen.  Falls  das  Kloster  nicht  widerumb 
ufgeriist  ader  mit  unser  ordens person  besetzt,  sollen  alle  vorangezeigte  unser guter  alle  mit 
alle  der gerechtigkeit,  nichts  darvon  ausgesondert,  dem  erbarn  und  wolweisen  rate  und  ge- 
meiner  stadt  Goslar  zu  Gots  lobe  und  erhen,  auch  zu  forderunge  gemeins  nutzes  aufgetragen, 
gegeben  und geey genet,  diefrey,  erblich,  raulich,  ewiglich  und  ummerdaher  zu  haben,  zu  ge- 
brauchen und  zu  besitzen. 

Imjahre  1533  stellte  dieser  Vertrag  einerseits  die  voraussetzungsvollste,  ande- 
rerseits  die  riickhaltloseste  Vereinbarung  iiber  einen  Giiterbesitzwechsel  zwi- 
schen  Stadt  und  Kloster  dar:  Voraussetzungsvoll  war  sie  wegen  ihrer  dezidierten 
Abstufung  bei  den  Bedingtheiten  des  Inkrafttretens,  riickhaltlos  deshalb,  weil  sie 
im  auBersten  Falle  ohne  jede  Einschrankung  die  komplette,  hiermit  nun  ihren 
Umrissen  benannte  Walkenrieder  Giitermasse  an  den  Rat  iiberschrieben  hatte. 
Es  erscheint  ebenso  paradox  wie  pragmatisch,  daB  beide  Vertragspartner  vom  je- 
weils  anderen  Extrem  der  prospektierten  Entwicklungsmoglichkeiten  her  am 
meisten  von  der  Ubereinkunft  profitiert  hatten. 

Der  Vertrag  ist  so  jedoch  nie  zur  Anwendung  gekommen,  weil  Walkenried  da- 
mals  noch  einmal  fur  kurze  Zeit  auflebte  und  seine  Giiter  offenbar  weiterhin 
eigenstandig  nutzen  wollte.  Grundlegende  Bande  waren  damit  in  der  vorgegebe- 
nen  Richtung  jedoch  gekniipft,  so  daB  es  imjahre  1543  unter  fur  den  Konvent  re- 
ligions-politisch  nicht  nennenswert  verbesserten  Umstanden43  zu  einer  aberma- 
ligen  vertraglichen  Absprache  kommen  konnte,  in  welcher  die  oben  genannten 


43    Vgl.  den  Uberblick  bei  Alphei,  wie  Anm.  22,  S.  690-692. 


68  Cai-Olaf  Wilgeroth 

Walkenrieder  Liegenschaften  auf  zunachst  neun  Jahre  partiell  an  die  Stadt  ver- 
pachtet  wurden.44 

Dabei  konkretisierte  sich  die  Beschreibung  der  verhandelten  Giitermasse 
nochmals  dahingehend,  daB  Abt  und  Konvent  bekunden,  sie  hatten  beziiglich  al- 
le  unser  freihen  bewechlichen  und  unbewechlichen  guter  [.  .  .]  innen  und  aufierhalb  der 
stadt  Goslarmit  dem  Rat  verhandelt,  daB  dem  Kloster  der  eigentliche  zisterziensi- 
che  Stadthof  nebst  alien  zu  dessen  Unterhalt  erforderlichen  Rechten  und  Gefal- 
len  weiterhin  ebenso  zustandig  sei  wie  einige  dafiirunabdingbare  Geholze,  Stein- 
briiche  und  Wiesen  im  naheren  Umkreis  der  Stadt.  Da  kegen  haben  wir  dem  Ehrba- 
ren  und  wollweisen  Rathe  zu  Goslar  und  der  gemein  daselbst  zum  besten  unsere  freihen 
guether furwarck  zu  Immenrode,  Hahndorff,  Ebelingerott,  die  wiesen  und  landerei  doselbst, 
das  land  am  Mulberge,  die  landerei  und  wiesen  am  suttborgerberg45  in  und  aufierhalb  der 
landwehr  [.  .  .]  den pleihoff  mit  den  zweyen  zugehorenden  boden  und  unser  boden  ahn  dem 
kerchoffe  [.  .  .]  mit  aller  gerechticheit  und  freyheit  neun  jar  langk  [.  .  .]  iiberantwurt,  um 
sie  so  zu  nutzen,  wie  man  selbst  es  bis  dato  getan  hatte.  Es  folgen  dann  noch  die 
hier  nicht  weiter  interessierenden  Zahlungsmodalitaten  und  Sanktionsbestim- 
mungen.  Unter  dem  Strich  erhalt  die  Stadt  also  hier  die  Nutzungsrechte  an  den  - 
so  konnte  man  sagen  -  groBflachig  wirksamen,  dorflichen  Liegenschaften  des 
Klosters,  wahrend  letzteres  sich  nur  eine  Art  rechtlich  abgesicherten  Stiitzpunkt 
in  der  Stadt  vorbehalt  und  ganz  punktuell  dasjenige,  was  an  Naturalien  und  Roh- 
stoffen  zu  dessen  notturfft  [.  .  .]  und  erhaltunge  [.  .  .]  notwendich  sein  wolt.  Ange- 
sichts  der  nur  voriibergehenden  EntauBerung  der  landlichen  Giiter  und  Vorwer- 
ke,  mochte  man  die  lokale  Stellung  und  Kontrolle  sicherlich  nicht  ganzlich  auf- 
geben. 

Die  dorflichen  Liegenschaften  im  Harzvorland  waren  jedoch  nicht  das  einzi- 
ge,  was  in  diesem  Jahr  verhandelt  worden  ist.  Nur  fiinf  Monate  spater  kam  ein 
Vertrag  zustande,  bei  dem  es  ausschlieBlich  um  die  zwischen  den  soeben  be- 
nannten  Dorfschaften  Immenrode,46  Hahndorf  und  Ebelingerode  sich  erstrek- 
kenden  Vier  Berge  ging.  Obwohl  dieses  Waldgebiet  historisch  gesehen  eigentlich 

44  Vgl.  StA  GS  B  2688,  (dreimalige)  Copey  der  Verschreibung  uf9Jahr,  1543  Juli  25;  StA  GS 
Urk.  Stadt  Goslar  Nr.  1196. 

45  Interessanterweise  sind  es  eben  dieser  Muhlenberg  und  der  Sudmerberg,  wo  das 
Kloster  zwar  die  Wiesen  und  das  Ackerland  verpachtet,  sich  die  Geholznutzung  jedoch  de- 
zidiert  vorbehalt.  Moglicherweise  sollte  letztere  schlichtweg  die  Brenn-  und  Bauholzversor- 
gung  der  in  der  Stadt  befindlichen  Dependance  sicherstellen. 

46  Leuckfeld,  wie  Anm.  18,  S.  384 f.,  unterliegt  einer  Verwechslung,  wenn  er  Immenrode 
zunachst  als  bei  dem  Closter  ohnweit  bey  der  so  genanten  Pelz-Miihlen  gelegen  nennt,  und  es  dann  als 
an  den  Rath  zu  Goslar  vor  130.  Gulden  auff  neun  Jahr  verpachtet  sieht;  Walkenried  hatte  Besitzun- 
gen  in  zwei  Orten  mit  Namen  Immenrode,  eine  bei  Goslar,  eine  am  Siidharzrand;  letztere  war 
als  Bestandteil  des  Fundationsgutes  die  durch  Adelheid  von  Walkenried  gestiftete  villa  Immen- 
roth  =  flmmenrode  (vgl.  Friedrich  Reinboth  u.a.,  Walkenrieder  Zeittafel.  AbriB  der  Orts- 


Ressourcenknappheit  und  reichsstadtische  Kompensation  69 

dem  Vorwerk  Ebelingerode  zugeordnet  gewesen  sein  diirfte,  stellte  es  als  damals 
besonders  kostbares  Ressourcenreservoir  offenkundig  einen  Sonderkomplex  in 
der  zisterziensischen  Besitzmasse  dar,  dessen  Nutzung  nunmehr  separat  geregelt 
wurde.  Inwieweit  die  Waldung  1533  schon  einmal  Bestandteil  der  Verhandlungs- 
masse  war,  laBt  sich  angesichts  ihres  scheinbaren  Sonderstatus  nur  vermuten;  erst 
im  jetzigen  Kontrakt  jedenfalls  ist  von  ihr  explizit  die  Rede:47 

Abt  Johannes  Holtegel  bekennt,  daB  er  mit  Wissen  und  Zustimmung  seines 
Konvents  in  unseres  Klosters  Gehultze  zu  Ebbelingerode,  genannt  die  VierBerge,  von  der 
Hohen  warte  an  die  beeden  Kolunge,  von  derHogen  warthe  bis  ahne  dasHeilig  creutzHoltz, 
von  des  Heiligen  creutzHoltz  in  den  gosewinkel  von  dem  Heiligen  Born  bis  ahn  kuchaus- 
berg,  den  kuchausberg,  den  ulrichs  berg,  und  den  dornberg  nach  dem  lodenberge  dem  Rat 
der  Stadt  Goslar  die  abnutzunge  in  dreienjaren  [.  .  .]  eyn  mahll  abzuhauwen  und  da  van 
zu  nehmen  gegen  eine  gewisse  Summe  verschrieben  habe.  Neben  den  Zahlungs- 
modalitaten  enthalt  der  Vertrag  dabei  fiir  die  Goslarer  noch  folgende  Einschran- 
kung:  Bei  der  Nutzung  sollen  und  wollen  (sie)  auff  jedem  acker  \sic\\,  neben  dem  buw 
und  nutzeholt  zwolffhegereis  uber  die  die  beredt  stehen,  (stehen)  und  hegen  lassen.  Es  kam 
den  Walkenrieder  Verantwortlichen  also  sowohl  auf  die  Schonung  ihrer  Bau-  und 
Nutzholzsortimente  (Oberholz)  als  auch  auf  eine  nachhaltige  Bewirtschaftung 
der  Waldbestande  an  -  die  HegereiBer  sollten  den  Fortbestand  des  Geholzes  (Un- 
terholz)  sichern.  Urn  die  Nutzungsweise  auch  im  angemahnten  Rahmen  zu  ge- 
wahrleisten,  wurde  derRatzudem  darauf  verpf  lichtet,  hinfiirder  und  zu  ewigen  Ge- 
zeiten  einen  getreuen  Holzforster,  dersolche  Gebirge,  Loden  und Hegereis,  auch  anderstdn- 
dig  Holz,  neben  den  Gebirgen  und  Gehultzen,  so  wie  uns  vorbehalten,  dieselben  zum 
getreulichsten  zu  verwerten,  auf  Ihr  eigen  Besoldung  ihnen  selbst  und  unserm  Kloster  zum 
Besten  (zu)  halten  und  (zu)  versorgen.  Sollten  die  Bestande  dereinst  neuerlich  hieb- 
reif  emporgewachsen  sein,  und  sich  das  Kloster  dann  abermals  zu  deren  Vergabe 
entschlieBen,  so  solle  der  Rat  das  Vorkaufsrecht  haben. 

Zweierlei  ist  hervorzuheben:  Erstens,  daB  es  ein  stadtischer  Forster  sein  sollte, 
der  die  Waldbestande  in  den  Vier  Bergen  und  auch  jene  iibrigen,  dem  zister- 
ziensischen Stadthof  weiterhin  vorbehaltenen  Geholze  betreuen  sollte.  Offenbar 


und  Klostergeschichte.  Aus  urkundlichen  und  literarischen  Quellen  zusammengestellt,  Wal- 
kenried  1989,  S.  12 f.). 

47  Vgl.  zur  Frage  der  besitzrechtlichen  Stellung  der  Vier  Berge  unten  Kap.  3;  StA  GS  B 
2688,  Copey  des  kauffs  wegen  abnutzung  der  veer  barge  uff  ~3Ja.hr gerichtet,  1543  Dezember  26;  StA 
GS  Urk.  Stadt  Goslar  Nr.  1197;  es  ist  iibrigens  auffallig,  daB  auch  von  den  anderen  zisterzi- 
ensischen Geholzen  bei  Goslar  im  Zuge  der  Verhandlungen  und  in  den  Vertragen  bemer- 
kenswert  betont  gesprochen  wird,  wahrend  die  iibrigen  ressourcenbkonomisch  nutzbaren 
Landschaftsformationen  (Wiesen,  Acker,  Weiden)  zumeist  nur  im  Rahmen  klassischer  Perti- 
nenzienkataloge  gefaBt  werden.  Auch  dies  eventuell  ein  Hinweis  auf  die  Sonderstellung  der 
Ressource  Holz  zur  damaligen  Zeit  bzw.  im  damaligen  Kontext. 


70  Cai-Olaf  Wilgeroth 

vertraute  Walkenried  hier  der  stadtischen  Kompetenz  in  derlei  forstlichen  Aufga- 
benbereichen  (oder  wollte  man  sich  lediglich  einen  Bediensteten  sparen?).  Zwei- 
tens,  spricht  aus  der  verwendeten  Terminologie  eine  gewisse  ressourcenoko- 
nomische  Grundhaltung:  Der  agrarkulturelle  Begriff  acker  verweiBt  in  diesem 
forsdichen  Kontext  unseres  Erachtens  auf  eine  rein  konsumtive  Mentalitat  des 
schlichten  Aberntens  von  Waldbestanden. 

Dazu  gilt  es  zu  beriicksichtigen,  daB  es  sich  bei  vorliegender  Urkunde  dem 
Wordaut  nach  hochstwahrscheinlich  nicht  um  eine  klosterliche,  sondern  um  eine 
stadtischer  Konzeption  entstammende  Empfangerausfertigung  bzw.  -formuli- 
erunghandeln  diirfte,  so  daB  wirinihrdie  damalige  Sicht-,Denk-  und  Sprechwei- 
se  des  Rates  vor  uns  haben.48 

Vorallem  abergibt  es  Hinweise  in  der  stadtischen  Uberlieferung,  daB  sich  die 
oben  bereits  aufgeworfene  Frage  nach  der  Initiative  bei  vorstehenden  Giiterver- 
handlungen  nicht  so  eindeutig  mit  einer  Suche  Walkenrieds  nach  Kaufern  fiir  sei- 
ne nicht  mehr  zu  unterhaltenden  Liegenschaften  beantworten  laBt,  wie  dies  die 
bisherige  Literatur  suggeriert.  Der  1533er-Vertrag  mag  noch  weitgehend  diesem 
klosterlichen  Kalkiil  entsprungen  sein,  aber  spatestens  fiir  die  VerauBerungen 
der  Jahre  1543  gilt  es  dann  genauer  hinzusehen. 

Datierend  vom  16.  September  1537  findet  sich  in  den  Walkenriedbezogenen 
Akten  des  Goslars  Archivs  ein  Schreiben  Dr.  Friedrich  Reiffstedts,  seines  Zei- 
chens  stadtischer  Anwalt  beim  Reichskammergericht  in  Speyer.  Dieser  teilt  dem 
Rat  mit,  daB  ihn  vor  zwei  Tagen  der  Nordhauser  Stadtschreiber  davon  in  Kennt- 
nis  gesetzt  habe,  daft  mein  herr  [=  der  Goslarer  Rat]  in  absicht  stehen  sollen,  von  dem 
herrn  Abt  zu  Walckenrode  die gewelde,  so  er  umb  Gojilar  haben  soil,  abzukaufen.  Und  wie 
wol  ich  nu  zu  sollich  von  mein  herrn  nit  bin  ersucht  worden,  so  hab  ich  doch  nit  underlassen 
kiinnen  euch  derhalben  hiemit  in  der  geheim  zu  schreiben,  dafi  meins  bedenckens  zu  solli- 
chem  nit  zu  freuen  (sei).  Denn  seines  Erachtens  werde  der  Herzog  von  Braun- 
schweig-Wolfenbiittel  alles  daran  setzen,  seinerseits  diese  gewelde  [.  .  .]  an  sich  zu 
Ziehen.  Darumb  wollen  daran  sein,  dafi  mein  herrn  in  sollich  vigilieren,  doch  secreto  consi- 
lio,  die  sach  ansehen,  und  bis  zu  endt  bringen,  den(n)  sonst  mocht  die geoffenbart  unddurch 
den  herzogen  abgewendet  werden.  Er  habe  dem  Rat  in  geheim  sollichs  an  ort  und  ende,  do 
es  zu  thun,  [.  .  .]  anzuzeigen  nit  verhalten  sollen  noch  wollen.  Der  durch  seine  Position 
am  Reichskammergericht  gut  informierte  und  mit  juristischem  Weitblick  begab- 


48  Dies  wird  indirekt  im  Konzept  eines  Ratsschreibens  an  den  Abt  vom  18.  Dezember 
1542,  worin  der  Rat  die  kurz  zuvor  gepflogene  Unterredung  der  Geschaftspartner  in  Goslar 
nochmals  rekapituliert,  die  daraufhin  gefallte  Ratsentscheidung  mitteilt  und  vorschlagt, 
daB  ernun  anhand  jeweils  ausgetauschter  Vertragsentwiirfe  eine  besiegelte  Reinschrift  aus- 
stellen  wiirde.  Inwieweit  dabei  der  Rat  das  sprichwortlich  letzte  Wort  haben  konnte,  ist  frei- 
lich  nur  zu  vermuten  (StA  GS  B  2688,  Walckenrede  Anno  1542,  1542  Dezember  18) . 


Ressourcenknappheit  und  reichsstadtische  Kompensation  71 

te  Anwalt  laBt  hier  seinem  Dienstherren  offenkundig  gleichermaBen  eine  Mah- 
nung  zur  Vorsicht  wie  zur  Eile  zukommen. 

Einiges  hangt  dabei  hinsichtlich  der  Tragweite  des  Dokuments  an  der  Inter- 
pretation des  Begriffs  gewelde-  nur  Wald,  odergenerell  Herrschaft(-sbereich)?49 
Injedem  Fall  wird  aber  ein  Wettlauf  um  die  WalkenriederRessourcen  bei  Goslar 
deutlich  -  zwischen  der  Stadt  und  einem  nicht  minder  interessierten  Herzog 
Heinrich  dem  Jiingeren.  Dabei  diirfte  dieser  Wettlauf  sich  vor  allem  auf  die  Vier 
Berge  als  fiirbeide  Parteien  interessantem  Holzreservoirbezogen  haben,  wie  aus 
einem  Schriftwechsel  des  Folgejahres  recht  deutlich  wird:  Die  durch  das  Schrei- 
ben  aus  Speyer  moglicherweise  alarmierte  Stadt  Goslar  -  man  wahnte  sich  wohl 
angesichts  des  Vertrages  von  1533  in  einer  Art  prinzipieller  Wartestellung  auf  die 
klosterlichen  Besitzungen  -  muB  sich  schleunigst  an  den  Abt  von  Walkenried  ge- 
wandt  haben.  Dieser  zumindest  entschuldigt  sich  in  einem  Schreiben  vom  25. 
September  1538  wegen  Verkaufung  des  Ho  lz.es  dafiir,  daB  ersich  angesichts  dringen- 
der  Geschafte  im  Moment  nicht  naher  mit  einer  vorangegangenen  Anfrage  des 
Rates  des  verbergeschen  holz  kauffs  wegen  befassen  konne.50  Er  werde  jedoch 
schnellstmoglich  eingehender  antworten;  diese  Antwort  findet  sich  unter  dem  23. 
Oktober.  Wegen  verkauffung  der  Vier  berge  habe  man  sich  beim  Rat  wohl  zu  erin- 
nern,  dafi  Ir  lenger  dan  jares  frist  [=  1537]  mit  uns  umb  das geholtz  unser  whelt  die  vier- 
berge genent  Euch  zukhomen  zu  lassen  gehandelt.  Darauffirauch  so  bait  unsren guten  wil- 
len  vornhomen  habt.  DaB  das  Geschaft  bisher  nicht  vollzogen  sei,  liege  aber  nicht 
am  Kloster.  Stattdessen  habe  man  nit  wenig  ob  ewren  vorzoge  beswerung getragen  und 
alwege  besorget  who  solchs  ruchtpar,  das  wyr  und  ir  selbst  daran  gehindert  werden.51 

Wir  halten  hier  kurz  inne  und  rekapitulieren:  Der  Abt  von  Walkenried  mahnt  an- 
gesichts eines  im  Vorjahr,  also  1537,  avisierten  Geschafts  wegen  der  Vier  Berge 
zur  Eile.  Der  Rat,  welcher  doch  mit  Verhandlungsofferten  urspriinglich  an  das 
Kloster  herangetreten  sei,  solle  nun  nicht  langer  zogern,  damit  die  prinzipielle 
Ubereinkunft  nicht  publik  und  moglicherweise  von  dritter  Seite  durchkreuzt 
wiirde.  Und  diese  Gefahr  bestand:  Denn  neben  der  Initiative  des  Rates  zum  Er- 


49  August  Lubben,  Mittelniederdeutsches  Handworterbuch,  ND  Darmstadt  1995,  S.  122, 
gibt  an:  ge-welde  (-welt,  -wait,  -wolt)  -  1.  Gewalt,  Gewaltthat,  2.  Herrschaft;  Macht,  Geltung; 
Matthias  Lexer,  Mittelhochdeutsches  Handworterbuch.  ErsterBand,  Leipzig  1872,  Sp.  982, 
gibt:  ge-welde  -  coll.(ectiv).  zu  wait,  waldung,  waldgegend.  DerUnterschiedbedingt  die  Ent- 
scheidung  der  Frage,  ob  sich  der  Rat  also  um  die  Walkenrieder  Giiter  allgemein  oder  nur  die 
Waldung  der  Vier  Berge  bemiihte  bzw.  was  von  beidem  dem  Anwalt  brisanter  anmutete.  Die 
etymologische  Schnittmenge  von  Wald  und  Herrschaft  ist  bei  alledem  natiirlich  stets  zu  be- 
denken. 

50  StA  GS  B  2688,  Verkaufung  des  Holies  Anno  1538,  1538  September  25. 

51  StA  GS  B  2688,  Abtzu  Walkenriet  an  eine  erbarn  Raht  wegen  Verkauffung  der  Vier  berge  An- 
no 1538,  1538  Oktober  23. 


72  Cai-Olaf  Wilgeroth 

werb  der  Vier  Berge  lag  dem  Kloster  noch  ein  weiteres  Angebot  vor:  Nhun  wollen 
wyr  euch  nicht  vorhalten,  daji  uns  heute  dato  whi  ir  inligende  zuvornehmen,  geschriben  ist, 
darauJS  ir  am  besten  ermessen  kont,  was  euch  ufe  dem  vorzoge  disfhals  ervolgen  mag.  Es 
handelt  sich  bei  dem  eingelegten  Schriftstiick  um  ein  Kaufangebot  des  Herzogs 
von  Braunschweig- Wolfenbiittel,  der  ebenfalls  an  das  Kloster  mit  Kaufinteresse 
herangetreten  war.  Zwar  habe  man  gleich  diese  muthung  abslagen  und  euch  nochmals 
zum  besten  weigern  wollen,  doch  die  Goslarer,  denen  wyr  alles  guthen  gonnen  miiBten 
erkennen,  daji  solchs  kein  gestalt  oder guter grundt  hat  sonderlich  dyweil  dero  holtz  noch 
unverkaufft  und  in  unseren  handen  ist.  Etwas  unklarbliebt  anschlieBend  eine  allge- 
mein  geauBerte  Befiirchtung  hinsichtlich  Gefahren  auch  fur  andere  Walkenrie- 
der  Besitzungen  -  vielleicht  ein  Hinweis  auf  den  seinerzeit  schon  angedachten, 
spateren  Erwerb  ebenfalls  durch  die  Stadt. 

Die  Stadt  sah  sich  in  ihrem  geheimen  Bemiihen  um  die  ErschlieBung  neuer 
Holzquellen  -  wir  befinden  uns  inmitten  der  Phase  herzoglicher  Holz-  und  Koh- 
lerestriktionen  fur  die  Stadt  -  ausgerechnet  von  ihrem  groBen  Rivalen  Heinrich 
demjiingeren  bedrangt.  Diesem  sei  namlich,  so  der  Wortlaut  seines  Schreibens 
an  Walkenried  vom  15.  Oktober  1538,  bericht  worden,  das  ir  etliche geholze  in  unserm 
gerichte  levenburg  sollet  haben,  die  vier  berge  genant,  welche  ir  willens  zuvorkauffen.  weil 
uns  nun  derselben  zu  unserm  saltz  liebenhalle  wolgelegen,  so  ist  an  euch  unser gnedig  beger, 
ir  wollet  uns  derselben  umb  ein  geburlich  kaufgelt  lassen  zustehen.  und  ob  ir  zu  vollentzie- 
hung  des  kauffs  etliche  dero  ewren  wollet  abfertigen  so  haben  wyr  derhalben  unseren  ampt- 
mann  zur  levenburg  hennechen  koch  befhel gegeben  den  kauffvon  unser  wegen  myt  euch  zu 
handeln.52  Die  vom  Abt  artikulierte  Angst  um  seine  iibrigen  Giiter  lag  vielleicht  in 
derartig  formulierten  Anfragen  begriindet:  Hatte  er  dem  unmiBverstandlichen 
herzoglichen  „(An-)Gebot"  sofort  nachgegeben,  hatte  er  moglicherweise  einen 
Prazedenzfall  geschaffen.  Dann  lagen  vielleicht  dem  favorisierten  Zusammenar- 
beiten  mit  der  Stadt  Goslar  quasi-prophylaktische  Vorbehalte  gegeniiber  der  Ter- 
ritorialstaatsbildung  zugrunde,  in  welchen  man  sich  mit  der  Stadt  gewiB  einig 
wuBte.  Sicherlich  aber  hatte  derVerkauf  an  den  erstarkten  Landesherren  in  einer 
ungleich  schwierigerzu  verhindernden  kompletten  Abholzung  des  Waldgebietes 
fur  die  Sudpfannen  bei  Salzgitter  resultiert,  wahrend  mit  dem  geschwachten 
Goslarer  Rat  ein  differenzierteres  Einvernehmen  erzielt  werden  konnte. 

Weshalb  es  dann  noch  bis  1543  dauern  sollte,  bis  eine  Ubereinkunft  hinsicht- 
lich der  Vier  Berge  (und  der  iibrigen  Giiter)  zustande  kam,  bleibt  ebenso  unklar 
wie  die  stadtischen  Verzogerungsgriinde  des  Jahres  1537.  Es  verwundert  ein  we- 
nig  vor  dem  Hintergrund  der  jeweiligen  Veranlassung  zur  Eile.  Die  bis  dahin  ge- 
wechselten  bzw.  aufgesetzten  Schriftstiicke  zeigen  uns,  daB  man  wohl  noch  das 
eine  oder  andere  in  betreff  der  detaillierten  Zahlungsmodalitaten  zu  klaren  hatte, 

52    Ebd. 


Ressourcenknappheit  und  reichsstadtische  Kompensation  73 

daB  man  Ortstermine  zwecks  Zustandsbeschau  der  Giitermasse  abhielt,  und  was 
der  Rat  an  den  klosterlichen  Vorstellungen  modifizieren  wollte.  Auch  sind  fiinf 
Jahre  in  den  Wirren  der  damaligen  Epoche  nicht  unbedingt  eine  lange  Zeit;  viel- 
leicht  konnte  man  den  geheimzuhaltenden  Schritt  dann  auch  doch  erst  gehen,  als 
der  Schmalkaldener  Bund  Heinrich  den  Jiingeren  im  Sommer  1542  ins  Exil  ge- 
trieben  hatte. 

Bei  alledem,  wie  auch  im  spateren  Verlauf  der  Geschichte,  dominieren  stets 
die  Vier  Berge  und  ihr  Holz  das  Verhandlungsgeschehen.  Sie  sind  fur  die  Betei- 
ligten,  insbesondere  aus  Goslarer  Sicht,  offenbar  das  entscheidende  Element  in 
der  Walkenrieder  Giitermasse,  deren  iibrige  Bestanteile  zumeist  nur  summarisch 
genannt  werden.53 

Hatte  Goslar-nach  dem  „gescheiterten"  Versuch  von  1533  -  mit  denbeiden  Ver- 
tragen  von  1543  dann  den  sprichwortlichen  FuB  in  die  seitens  Walkenried  bereit- 
willig  aufgehaltene  Tiir  gestellt,  sollte  es  ihn  dort  in  der  Folgezeit  auch  behalten, 
bis  man  1579  ganz  nominell  Hausherr  auf  den  bis  dahin  immer  wieder  zeitweise 
gepachteten  Giitern  werden  konnte. 

Gleich  als  erstes  nutzten  die  Ratsherren  offenkundig  das  Andauern  des  her- 
zoglichen  Exils,  um  die  holzernen  Reserven  der  Vier  Berge  noch  etwas  langer  als 
die  vereinbarten  drei  Jahre  nutzen  zu  diirfen:  Aufgrund  einer  stadtischen  Ge- 
sandtschaft  der  vierberge  halben  umb  erstreckunge  der  hauwzeit  ist  der  Konvent  bereit, 
eine  solche  Verlangerung  zu  den  bisherigen  Bedingungen  fur  weitere  anderthalb 
jar  (zu)  willigen  -  nicht  jedoch,  ohne  zuvor  derhalb  noch  besichtigunge  der  gehulze  vor- 
genommen  zu  haben.54  Die  Riickkehr  des  Herzogs  nach  der  Schlacht  bei  Miihl- 
berg  (24.  April  1547)  konnte  damals  niemand  voraussehen,  so  daB  die  Neuver- 
pachtung  der  Vier  Berge  ausgerechnet  auf  weitere  anderthalb  Jahre  (bis  1548) 
wohl  zuvorderst  dem  Zustand  der  Waldungen  (oder  der  Goslarer  Tafelamtskiste?) 
geschuldet  war. 

Auch  kommt  bereits  1549  ein  weiterer  Vertrag  zustande,  in  dem  -  nun  erstmals 


53  Ein  Beispiel  unter  vielen:  Am  4.  September  1551  schreibt  der  damalige  Abt  mit  Blick 
auf  den  die  Giiterkomplexe  kombinierenden  Vertrag  von  1549  an  die  Stadt  den  vortragk  die 
vier  berge  und  unset  andern  guter  vor  und  in  gojSlar  gelegen  betreffend  (StA  GS  B  2689) .  Und  diese 
Reihenfolge  der  Aufzahlung  ist  dabei  symptomatisch  und  kennzeichnend  fur  alle  sonstige 
Kommunikation.  Gerade  dann  in  den  stadtischen  Provenienzen  im  spateren  Kontext  der  ju- 
ristischen  und  handfesten  Auseinandersetzungen  mit  den  Herzogen  von  Braunschweig- 
Wolfenbiittel  um  die  Walkenrieder  Liegenschaften  werden  die  Waldungen  deutlich  hervor- 
gehoben,  indem  ein  ebenso  quantitativer  wie  qualitativer  Unterschied  in  der  Berucksichti- 
gung  der  Vier  Berge  gegeniiber  den  iibrigen  Liegenschaften  in  den  Formulierungen  ge- 
macht  wird. 

54  StA  GS  B  2689,  zwei  Schreiben  des  Abtes  Johannes  an  den  Rat  wegen  erstreckung  der 
zeit  in  den  4  berg  abzuhauwen,  1545  Juli  31  bzw.  August  19. 


74  Cai-Olaf  Wilgeroth 

seit  1533  wieder  kombiniert  -  die  Walkenrieder  Geholze  und  sonstigen  Liegen- 
schaften  inklusive  der  Vier  Berge  auf  26  Jahre  an  den  Rat  verpachtet  werden,  da 
voir  obangezeigt  unser gehulze  undgueter  wie  vorgemelt,  nicht  ausgeschlossen,  selberfur  unfi 
daselbstszu  Gofilar  zugebrauchen  nicht  von  nothen  oderbedacht,  sondern  [.  .  .]  aufezuthuen 
geneigt,  und  ein  Ehrbarer  Rat  von  alien  die  vorheit  habe,  auch  die  negesten  dartzu 
sein.3 

Das  Kloster,  welches  sich  die  prinzipielle  Verfiigungsgewaltiiberalle  diese  Gii- 
ter  nattirlich  vorbehalt,  begriindet  seine  Entscheidung  also  mit  der  seinerseits 
nicht  mehr  erforderlichen  Nutzung  der  Giiter.  Wir  diirfen  wohl  davon  ausgehen, 
daB  der  wahre  Grund  eher  in  einer  gewissen  Unfahigkeit  zur  weiteren  eigenstan- 
digen  Verwaltung  der  Liegenschaften  zu  suchen  ist.  DaB  man  Goslar  als  Pachter 
gegeniiber  anderen  Anwartern  neben  seinem  Vorkaufsrecht  auch  durch  seinen 
lokalen  Bezug  hervorgehoben  sah,  ist  deshalb  nicht  ganz  unwichtig,  weil  darin  ei- 
ne  Art  konservatorische  Hoffnung  stecken  diirfte:  Die  Stadt  war  unmittelbar  auf 
die  mit  den  Giitern  verkniipften  Ressourcen  angewiesen  und  wiirde  sie  dement- 
sprechend  pfleglich,  d.h.  nachhaltig,  behandeln.  Auch  wurde  sie  weiterhin  auf  ei- 
nen  zu  unterhaltenden  forstknecht  fiir  alle  Walkenrieder  Geholze  verpf lichtet. 

Die  Vorbehalte  gegeniiber  dem  Herzog  und  seinem  potentiellen  Unmut  lieB 
man  scheinbarfahren  -  das  Geheimnis  warja  auch  seit  1543  keines  mehr,  und  im- 
merhin  hatte  man  eine  juristisch  valide  Vertragsgrundlage  erreicht,  an  der  auch 
ein  Landesherr  im  Nachhinein  nicht  mehr  so  ohne  weiteres  riitteln  konnte.  DaB 
und  wie  er  es  dann  dennoch  versuchte,  bleibt  noch  zu  besprechen.  Nur  so  viel: 
nicht  nur  Liebenhall  benotigte  nach  wie  vor  Brennmaterial. 

Es  muB  an  dieser  Stelle  ungeklart  bleiben,  wie  es  vor  dem  Hintergrund  dieser 
allumfassenden  Ubereinkunft  (1549)  im  Jahre  1561  dann  wieder  zu  einem  neuer- 
lichen  Separatvertrag  iiber  die  Vier  Berge  kommen  konnte,  worin  die  Stadt  im 
stiffts  geholtzzu  Ebelingerode  [.  .  .]  die  abnutzunge  in  zehenjahren  zu  den  Konditionen 
eines  auf  das  Unterholz  heschr'Ankten  gewohnlichen  gebraucherwirhtxmd  sich  aber- 
mals  auf  einen  getrewen  holtzfurster  der  solche  hauvuung  der  vier  berge  und  ander  stendig 
holz  zum  getrewlichsten  hege  und  verwahre  verpflichtet.56  Klarende  Dokumente  zur 
Genese  dieser  „Extra-Urkunde"  liegen  nicht  vor,  auch  klafft  in  der  Akteniiberlie- 
ferung  um  diesejahre  herum  eine  Liicke  in  der  sonst  recht  regen  Korrespondenz. 
Heineccius  erschien  das  Stuck  immerhin  als  so  zentral,  daB  erdie  Geschichte  der 
Vier  Berge  fiir  Goslar  gerade  mit  diesem  Vertrag  beginnen  lieB.  Moglicherweise 
waren  die  Waldungen  nach  1549  doch  noch  einmal  aus  der  Giitermasse  heraus- 
gelost  worden  -  vielleicht  war  ihr  Zustand  so  schlecht,  daB  das  Kloster  als  nomi- 
neller  Eigentiimer  von  einer  Art  Veto  hinsichtlich  weiterer  Nutzungen  Gebrauch 


55  StA  GS  B  2689,  1549  Juli  25;  StA  GS  Urk.  Stadt  Goslar  Nr.  1216. 

56  StA  GS  Urk.  Stadt  Goslar  Nr.  1242a,  1562  Januar  7. 


Ressourcenknappheit  und  reichsstadtische  Kompensation  75 

machte.  Eine  SchutzmaBnahme,  die  ahnlich  konservatorischen  Erwagungen  ent- 
sprungen  sein  konnte  wie  die  Waldbegehung  von  1545.  Immerhin  gab  es  durch- 
aus  klosterliche  Beschwerden  iiber  allzu  engagierten  Holzeinschlag  seitens  der 
Stadt  -  allerdings  fiir  die  1540er-Jahre.57 

Wie  auch  immer,  unter  der  hier  interessierenden  Perspektive  des  kompensato- 
rischen  Ressourcenerwerbs  durch  die  Stadt  ist  selbst  an  dem  1561er-Dokument 
bemerkenswert,  daB  gegeniiber  vorher  relativ  kurzen  Pachtzeitraumen  nunmehr 
langerfristige  Ambitionen  in  diesem  Waldgebiet  expressis  verbis  zutage  traten. 
Auch  Zehnjahre  sind  im  Rahmen  eines  Unterholzbetriebes  schon  ein  Zeitraum, 
der  iiber  eine  einmalige  Umtriebsperiode  hinausweisen  konnte  (26  Jahre  natiir- 
lich  erst  recht)  .58  Und  ganz  so  gewohnlich  sollte  der  Gebrauch  auch  gar  nicht  aus- 
fallen.  Denn  gegeniiber  einem  in  den  bisherigen  Vertragen  immer  betonten  ein- 
maligen  Abhauen  und  Ernten  der  Schlage,59  wurde  nun  offenerformuliert:  inzfl- 
henjahren  [.  .  .]  abzuhauwen  und  ihres  besten  zugeniessen  und  zugebrauchen  -  von  nur 
einmaligem  Einschlag  ist  keine  Rede  mehr,  und  der  Rat  konnte  sich  die  Nutzung 
der  Bestande  freier  einteilen. 

Diese  deutliche  Ausdehnung  des  Pachtzeitraums  an  den  Waldungen  muB  je- 
doch  nicht  zwingend  darauf  verweisen,  daB  mit  der  Ausweitung  der  Nutzungs- 
dauer  auch  eine  Steigerung  der  Nutzungsintensitat  einhergehen  sollte.  Zwar  ware 
solches  sicherlich  denkbar,  ganz  gemaB  der  Devise:  Viereinhalb  Jahre  hatten  sei- 
nerzeit  zurkompletten  Abnutzung  der  Bestande  noch  nicht  ausgereicht.  Deshalb 
erwirbt  man  nun  ein  zehnjahriges  Nutzungsrecht.  Gerade  vor  dem  Hintergrund 
der  inzwischen  unwiederbringlich  verloren  gegangenen  Harzwaldungen  und 
dem  daraus  resultierenden  bzw.  empfundenen  Holzdefizit  hatte  solches  Sinn  er- 
geben. 

Doch  laBt  sich  auch  eine  andere  Motivation  denken  (und  die  untenstehend 
vorzunehmende  Auswertung  der  Einschlags-  und  Holzverkaufsregister  dieser 
Jahre  stiitzt  diese  These) :  Hochstwahrscheinlich  hatte  der  Rat  inzwischen  ein  lan- 
gerfristiges  Interesse  an  den  Waldungen  -  nicht  etwa  mit  Blick  auf  deren  kom- 
plette  Abnutzung  nach  Kahlschlagmanier,  sondern  weil  erhier  die  juristisch  ab- 
zusichernde  Chance  erblickte,  ein  neues,  nachhaltig  zu  bewirtschaftendes  Holz- 
reservoir  fiir  die  stadtische  Energieversorgung  zu  begriinden.  Auch  dies  fiigt  sich 
in  den  Kontext  derHarzwaldverluste  nahtlos  ein,  gehtjedoch  von  einer  vollig  an- 


57  Siehe  am  Ende  dieses  Kapitels. 

58  Vgl.  Hans  Hausrath,  Geschichte  des  deutschen  Waldbaus.  Von  seinen  Anfangen  bis 
1850,  Freiburg  1982,  S.  19  bzw.  33  (Umtriebszeiten  beim  Unterholz  im  Nieder-  bzw.  Mittel- 
wald  von  3,  5,  selten  mehr  als  7Jahren  im  15./16.  Jahrhundert). 

59  Vgl.  oben  die  Zitate  aus  StA  GS  B  2688,  Copey  des  kauffs  wegen  abnutzung  der  veer  barge 
uff  3 Jahr gerichtet,  1543  Dezember  26;  StA  GS  Urk.  Stadt  Goslar  Nr.  1197:  eyn  mahll  abzuhau- 
wen und  da  van  zu  nehmen. 


76  Cai-Olaf  Wilgeroth 

deren  ressourcenokonomischen  Grundeinstellung  beim  Rat  aus:  Eine  Form  der 
Nachhaltigkeitsmentalitat  namlich,  die  sich  so  erst  im  Laufe  des  16.  Jahrhunderts 
herausgebildet  hatte.  Denn  in  den  Verhandlungen  der  1530er-Jahre,  die  in  den 
Vertrag  von  1543  miindeten,  haben  wirnoch  ganz  den  auf  bloBe  Aberntung  von 
Holzflachen  {acker)  fokussierten  Rat  vor  uns.  Das  zeigt  sich  zunachst  an  den  sehr 
kurz  gewahlten  Pachtzeitraumen  und  wird  an  den  zugehorigen  Registern  noch 
deutlicher  -  man  versuchte  damals  in  kiirzestmoglicher  Zeit  soviel  wie  moglich 
einzuschlagen  und  wahrscheinlich  hatte  man  die  Vier  Berge  damals  in  der  Tat 
weitgehend  abgeerntet. 

Nunjedoch,  nach  einem  ProzeB  des  Umdenkens,  sehen  wirbeim  Rat  das  oben 
beschriebene  „1552er-Syndrom"  am  Werk.  Unter  neuen  ressourcenokonomi- 
schen Pramissen  benotigten  die  Verantwortlichen  jetzt  vor  allem  die  Aussicht  auf 
langerfristige  Planungssicherheit  bei  der  Waldbewirtschaftung,  da  man  die  Be- 
stande  dauerhaft  nutzbarmachen  wo  lite.  Es  verwundert  deshalb  kaum,  daB  gera- 
de  zum  Ablauf  der  zehn  Jahre  ein  neuerlicher  Vertrag  zustande  kam:  Zu  Pfing- 
sten  1571  verkaufen  Abt  Georg  und  der  gesamte  Konvent  zu  Walkenried  die  ab- 
nutzung  in  zwanzigk  Jahren  und  das  Recht  abzuhauwen  an  den  Rat.60 

Goslar  hatte  die  Waldungen  offenbarbereits  so  gut  (nachhaltig)  bewirtschaftet, 
daB  Walkenried  nichts  gegen  eine  unmittelbar  anschlieBende  und  noch  dazu 
weitaus  langere  Pachtvereinbarung  hatte.  Fur  den  Rat  bedeutete  dies  jedoch, 
noch  mehr  Gelegenheit  zur  Implementierung  seiner  neuen,  nachhaltigen  Bewirt- 
schaftungsvorstellungen  zu  haben.  Deren  Entwicklung  laBt  sich  an  den  sorgfaltig 
gefiihrten  Abrechnungen  des  Hauerlohns  und  Holzverkaufs  in  den  Vier  Bergen 
ablesen. 

Vorher  sei  aber  noch  kurz  auf  den  vorlaufigen  AbschluB  der  Walkenrieder  Ge- 
schafte  mit  Goslar  eingegangen:  Weil  im  Zuge  des  Magdeburger  Krieges  und  der 
obwaltenden  Administratorenquerelen  dem  Kloster  iibel  mitgespielt  worden  sei, 
und  etliche  gebeude  undt  gueter  unsers  stiffts  und  besonders  die  so  in  oder  zu  nahendt  der 
kays.freyen  Reichsstatt  Gofilar gelegen,  darfiirder  von  unsern  ordens personen  nicht  bewoh- 
net  worden,  undt  dermafeen  verddet  und  in  abfall  gerathen,  [.  .  .]  und  die  ahm  jehrlichen 
auffkommen,  undt  als  auch  in  der  haushaltunge  missen  und  darben  muJSen,  auch  itzo  hin- 
wieder  in  gleichen  die  gebeude  zuerhalten  geldes  hoch  vonndten,  [.  .  .]  wir  aber  angesehen 
und  bedacht,  daf  sothane gebeude  unserm  closter  entlegen,  auch  darzugehdrige  gueter  nicht 
(mehr)  [.  .  .]  von  unsers  stiffts  wegen  zunutz  sein,  hatten  sich  Prior  Liborius  Hirsch 
und  der  gesamte  Konvent  1579  entschlossen,  solche  unsere  guether,  mit  aller  nutzun- 
gen  in  wiesen  trifften  wasser  undt  weydt,  ahn  Ober  und  underholtze  (sic!)  dem  Rat  auf  Er- 
benzins  zu  uneingeschranktem  Gebrauch  zu  verkaufen.61  Damit  hatte  sich  die 


60  StA  GS  B  2452,  1571Juni  6. 

61  StA  GS  B  2691,  Copey  Des  Erbkauffs  aller  Walkenriedisch  gueter,  1579  Mai  16;  StA  GS 


Ressourcenknappheit  und  reichsstadtische  Kompensation  11 

Stadt  nach  den  mittelbaren  wie  unmittelbaren  Ressourcenverlusten  im  Zuge  des 
Riechenberger  Vertrages  eine  erkleckliche  neue  Rohstoffbasis  geschaffen,  in  de- 
ren  Nutzung  der  Rat  zumindest  de  iure  hoffen  durfte,  vom  Braunschweig-Wolfen- 
biittelschen  Landesherrn  nicht  eingeschrankt  zu  werden. 

Vor  allem  die  nunmehr  auch  offiziell  erworbene  Nutzungsmoglichkeit  der 
Oberholzbestande  diirfte  dabei  von  besonderer  Bedeutung  gewesen  sein.  Denn 
bis  dato  war  dem  Rat ja  nur  das  Unterholz  zugestanden  worden,  also  die  Moglich- 
keit  zur  Brenn-  und  Kohlholzproduktion.  Die  Bau-  und  Nutzholzsortimente, 
nicht  minder  wichtig  fur  stadtisches  Leben  und  Arbeiten,  hatte  sich  Walkenried 
bisher  stets  vorbehalten  -  und  dariiber  im  iibrigen  auch  trotz  des  stadtischen  For- 
sters  penibel  gewacht:  Denn  als  der  Rat  imjahre  1545  um  die  Verlangerung  der 
Einschlagserlaubnis  ersucht  hatte,  konnte  das  Kloster  nicht  umhin,  denselben  zu- 
nachst  daran  zu  erinnern,  daB  man  sich  noch  vor  kurzem  zu  velfeltigen  clage  schrei- 
bens  veranlaBt  sah,  was  gestalt  (sich)  Ewere  hawer  in  den  vier Bergen  mit  niderslagen  der 
hegereifer und  der  uberstandigen  Eichen  borne  tun  gebaren  [.  .  .J  zu  wider  Ewrer  verpflich- 
tunge.  Sodann  ergangene  Ermahnungen,  der  Rat  wolle  das  insehen  by  den  hawren ge- 
than  (haben),  das  sie  gepurlich  und  ublich  der  zeit  gehawen  hetten,  seien  jedoch  ohne 
Wirkung  geblieben.  Da  man  annehme,  daB  auch  der  Rat  an  dem  ungepurlichen  ni- 
derslagen keinen  gefallen  finde,  ergehe  mit  grot  vertauen  zu  euch  nochmals  die  Bitte, 
daB  die  Holzhauer  gemaBregelt  wiirden.62  Gerade  deren  Schlagen  zur  Unzeit 
wird  uns  dabei  noch  zu  beschaftigen  haben. 

Unter  dem  Strich  bedingten  derartige  klosterliche  Klagen  damals  jedoch  keine 
Beendigung  der  stadtischen  Holznutzung.  Dem  erhobenen  Zeigefinger  folgte 
schon  bald  die  Verlangerung  der  Pachtdauer  -  wohlgemerkt  um  nurmehr  andert- 
halb  Jahre,  die  Halfte  der  vorherigen  Zeit  also,  was  vermutlich  eine  waldkonser- 
vatorische  VorsichtmaBnahme  seitens  des  Konvents  darstellte.63 

Denn  Walkenried  war  durchaus  auf  die  Schonung  und  Eigenverfiigbarkeit  sei- 
ner Oberholzbestande  bedacht,  wie  uns  eine  Anweisung  an  den  Rat  verdeut- 
licht:64  Da  ein  Meier  des  Klosters  zu  Hahndorf  durch  brandt  erbarmlich  umb  haufi, 
hoff  und  seine  fahrende  habe  kummen  habe  er  beim  Konvent  um  Beihilfe  nachge- 
sucht.  Bitten  demnach  vleissig,  Ihr  wollen  ihm  (nach  beherzigung  seins  erlittnenn  brandt 
schadens)  inn  den  vierbergenn  anweisung  thuun  lassen,  das  ehr  zu  seinem  vorhabenden  ge- 
bew  ein  stugk  holz  12  oder  14  schue  an  ein  gelegenen  orth  muchtfellen  und  durch  fuhre  ab- 


Urk.  Stadt  GS  Nr.  1269. 

62  StAGS  B  2689,  Schreiben  des  Abtesjohannes  die  veer berge  belangend,  1545  April  11. 

63  Die  Gesandtschaft  des  Rates  wird  1545  sicherlich  nicht  um  lediglich  18  Monate  wei- 
terer  Nutzung  ersucht  haben;  angesichts  des  zu  verzeichnenden  Einschlagsgebarens  der 
Stadt  ergabe  dies  auch  keinen  waldbewirtschaftungspraktischen  Sinn  -  mitten  imjahr  woll- 
te  man  sicherlich  nicht  die  Arbeit  niederlegen  (vgl.  dazu  Kap.  3). 

64  StA  GS  B  2689,  Abt  zu  Walckenrede  tegethmeyers  holts  halven,  1549  August  8. 


78  Cai-Olaf  Wilgeroth 

schaffen  lassen.  Man  behielt  sich  also  die  Bewilligung  des  Bauholzes  prinzipiell  vor 
-  denn  wieso  hatte  sich  der  Meier  sonst  nicht  an  den  Rat  als  Pachter  der  Hahndor- 
fer  Liegenschaften  gewandt?  -,  bediente  sich  aber  bequemerweise  der  vertraglich 
geregelten  stadtischen  Waldadministration  zur  Umsetzung  der  damit  verbunde- 
nen  Aufgaben.  Forsthoheit! 

Unwillkiirlich  drangt  sich  an  dieser  Stelle  die  Frage  auf,  wie  groB  die  Versu- 
chung  der  Stadt  gewesen  sein  muB,  aus  der  in  ihren  Handen  liegenden  Waldad- 
ministration auch  schon  vor  1579  Kapital  zu  schlagen  und  sich  klammheimlich 
ebenfalls  am  Nutz-  und  Bauholz  zu  bedienen.  Zumindest  auf  lange  Sicht  sollte 
und  muBte  dies  ihr  erklartes  Ziel  in  den  Vier  Bergen  sein. 

3.   Waldbau:  Vom  holtacker  zu  einem  herlich  schoen  holtz. 

Bevor  wir  nach  der  Klarung  der  Verfiigungsmasse  und  der  Bedingtheit  ihrer  suk- 
zessiven  VerauBerung  an  den  Goslarer  Rat  auf  die  damit  verbundene  Nutzung 
der  Stadt  und  deren  bereits  angedeutete  Modifikationen  im  Laufe  der  zweiten 
Halfte  des  16.  Jahrhunderts  eingehen,  erscheint  ein  kurzes  Innehalten  ange- 
bracht.  Kurz  sei  der  mutmaBliche  damalige  Zustand  der  Vier-Berge-Waldungen 
und  somit  deren  iiberhaupt  moglicher  Nutzungsertrag  eingeschatzt. 

Einen  Hinweis  gibt  uns  bereits  der  Wortlaut  der  getroffenen  Abnutzungsver- 
einbarungen,  wie  er  eben  besprochen  und  uns  auch  vom  Zeitgenossen  Eckstorm 
unter  dem  Jahre  1579  mitgeteilt  wird.  AuBer  den  iibrigen  Giitern  sei  auch  ein 
Wald  verkauft  worden,  von  dem  es  heiBt:  Ex  hac  sylva  petuntur  arbores  aedificijs 
vicinorum  praediorum  servandis  aptae.  Anno  1562.  Hermannus  Abbas  ligna  hujus  sylvae 
inferiora  vendidit  Senatui  Goslariensi pro  600.floreno  uno  faciente  21 .  grossos Marianos.; 
hac  tamen  lege,  ut  cum  arboribus  ad  aedificandum  utilibus  relinquerentur  singulis  jugeris 
arbusculae  duodecim,  & ' spatio  decern  annorum  sylva  lignis  caedendis  liberaretur.65  Wenn 
wir  diese  Mitteilungen  Eckstorms  und  die  Vertragstexte  einer  ersten  Einschat- 
zung  zugrunde  legen,  so  diirfen  wir  von  einem  mittelwaldartigen  Bestand  ausge- 
hen,  also  von  einer  Mischung  aus  bauholzfahigem  Oberholz  in  klosterlicher  Nut- 
zung und  dem  vom  Goslarer  Rat  abzuerntenden  Unterholz.  Darauf  verweist 
auch  der  in  den  Dokumenten  verwendete  Terminus  LaB-  oder  HegereiBer: 
Durch  das  Stehenlassen  von  zwolf  dieser  BaumschoBlinge  (arbusculae)  pro  Mor- 
gen  sollte  das  schnellere,  natiirliche  Wiedererwachsen  des  Waldes  ebenso  unter- 
stiitzt  wie  brauchbares  Stammholz  produziert  werden.  Es  handelt  sich  um  eine 
typische  Erscheinung  der  Mittelwaldwirtschaft.66  Und  die  Beschreibung  einer 


65  Eckstorm,  wie  Anm.  16,  pag.  26 If. 

66  Vgl.  Brage  bei  der  Wieden  u.a.,  Niedersachsisches  Waldworterbuch.  Eine  Samm- 
lung  von  Quellenbegriffen  des  11.  bis  19.  Jahrhunderts,  Melle  1993,  S.  91:  LaBreis. 


Ressourcenknappheit  und  reichsstadtische  Kompensation  79 

Diversifikation  der  Bestande  in  personell  getrennte  Nutzungsebenen  paBt  eben- 
falls  sehr  gut  zu  den  bekannten  Erscheimmgsformen  des  vormodernen  Mittel- 
waldbetriebes,  wie  sie  von  Hans  Hausrath  skizziert  werden.67 

Prinzipiell  entsprachen  Mittelwalder  damals  sicherlich  am  ehesten  den  multi- 
funktionellen  Anforderungen  einer  klosterlichen  Ressourcenokonomie.  Wir  fin- 
den  die  charakteristische  Mischung  aus  Brennholz-,  Nutzholz-  und  Bauholz- 
elementen  auch  in  anderen  Klosterkontexten  Niedersachsens  wieder.68  Unter 
Berufung  auf  August  Seidensticker  kann  Hausrath  dabei  den  klosterlichen  Wal- 
dungen  in  Niedersachsen  grundsatzlich  einen  vergleichsweise  guten  Zustand  am 
Ubergang  vom  Mittelalter  zur  Friihen  Neuzeit  unterstellen  -  auch  und  gerade  im 
Gegensatz  zum  damaligen  Harz:  „In  den  iibrigen  braunschweigisch-hanno- 
verschen  Landen  bestand  nach  Seidensticker  die  Forstwirtschaft  des  15.  Jahrhun- 
derts  in  schlimmer  Waldverwiistung.  Nur  die  Klosterwalder  machten  eine  Aus- 
nahme."Allerdings  seien  diese  dann  nach  der  Reformation  ebenfalls  verfallen.69 
Die  Ursachen  dieses  angeblichen  Verfalls  nennt  Hausrath  freilich  nicht,  sie  sind 
sicherlich  auch  kaum  pauschalisierbar  und  lagen  keineswegs  nur  in  den  Konven- 
ten  begriindet. 

Um  zunachst  den  moglichen  Stellenwert  der  Vier  Berge  im  Rahmen  der 
Walkenrieder  Klosterokonomie  und  ihre  dementsprechende  Nutzung  vor  den 
Verkaufen  an  Goslar  etwas  besser  einschatzen  zu  konnen,  sei  ein  kursorischer 
Blick  auf  die  Geschichte  dieser  Walkenrieder  Liegenschaften  getatigt.  Hier  muB 
vieles  jedoch  Spekulation  bleiben,  da  zur  eigentlichen  Nutzung  der  Giiter  bei 
Goslar  keinerlei  Schriftquellen  iiberliefert  sind.70 

Walkenrieds  erstes  Auftreten  am  Ort  ist  bergbaulichen  Interessen  geschuldet. 


67  Hausrath,  wie  Anm.  58,  S.  28-38. 

68  Deutlich  fur  Lamspringe:  z.B.  NdsHStAH  Hild.  Br.  3,  11  Nr.  3:  Erlasse  der  Herzoge 
[.  .  .]  von  Braunschweig-Wolfenbiittel  an  das  Kloster  Lamspringe  betr.  Holzlieferungen  aus 
dessen  Forsten,  1572-1625,  und  NdsHStA  H  Hild.  Br.  3,  11  Nr.  56,  Holzregister  des  Klosters 
Lamspringe, 1621-1622;  sowie  fur  Marienrode:  vgl.  NdsHStAH  Cal.  Br.  7Nr.  1144,  Der  ver- 
botene  Holzverkauf  aus  den  Marienrodischen  Klosterforsten,1594. 

69  Hausrath,  wie  Anm.  58,  S.  279;  vgl.  August  Seidensticker,  Recht-  und  Wirtschaftge- 
schichte  norddeutscher  Forsten,  besonders  im  Lande  Hannover.  2  Bande,  Gottingen  1896. 

70  Vgl.  dazu  Alphei,  wie  Anm.  22,  S.  716:  „Welchen  Anteil  die  einzelnen  Betriebsteile  an 
der  Wertschopfung  der  gesamten  Stiftsbkonomie  im  Mittelalter  und  im  16.  Jh.  hatten,  ist  den 
Walkenrieder  Quellen  nicht  zu  entnehmen,  da  Zinsregister  und  Rechnungen  fur  diesen  Zeit- 
raum  nicht  iiberliefert  sind.  Erst  fur  das  17.  Jh.  liegen  einzelne  Forst-  und  Zinsregister  [.  .  .] 
vor";  die  folgende  Schilderung  der  Besitzgeschichte  Walkenrieds  in  Goslar  stiitzt  sich  auf  Al- 
phei, Walkenried,  S.  713-716,  sowie  Walter  Baumann,  Die  wirtschaftliche  Entwicklung  Wal- 
kenrieds im  Uberblick,  in:  Heutger,  wie  Anm.  22,  S. 99-135,  bes.  126f.;  an  urkundlicher 
Uberlieferung  zur  Besitzgeschichte  in  Ebelingerode  sind  heranzuziehen  UB  GS  I  486  (1227), 
622  (1246);  UB  GS  II  87-92  (1263),  104-106  (1265),  114-115  (1266),  175-181  (1272),  188-189 
(1273),  289  (1281),  304  (1283),  341  (1286),  344  (1286),  362  (1288);  UB  GS  III  252  (1311), 


80  Cai-Olaf  Wilgeroth 

Spatesten  um  1170  muB  man  dort  einen  Stadthof  besessen  haben,  und  ein  unda- 
tiertes  Giiterverzeichnis  des  Goslarer  Domstiftes  (nach  1186)  vermerkt  Walken- 
rieds  Wortzinspflicht  gegeniiber  den  Kanonikern  fiir  vier  Hausstellen  in  der 
Stadt.  1209  bestatigt  Otto  IV.  dem  Kloster  seinen  Stadthof  in  Goslar,  1225  bzw. 
1234  wird  die  Abgaben-,  Handels-  und  Zollfreiheit  durch  Privilegien  Heinrichs 
(VII.)  urkundlich  belegt.  Fiir  unser  Thema  relevant  sollten  dann  vor  allem  die  Er- 
werbungen  derjahre  1269  bzw.  1263-1282  werden:  Unter  dem  ersten  Datum  ver- 
kauften  die  Grafen  von  Wohldenberg  Walkenried  ihre  Stadtkurie  nebst  Kapelle 
und  Fischteich  -  diese  sollte  der  Haupthof  der  Zisterzienser  und  somit  deren  ad- 
ministrative und  kommerzielle  Zentrale  in  Goslar  werden.  Sechsjahre  zuvorhat- 
te  man  bereits  neun  Hufen  in  Ebelingerode  erworben,  zwischen  1272  und  1282 
kaufte  man  dann  das  gesamte  Dorf  samt  Zehnten  von  den  Herren  von  dem  Dike 
und  errichtete  dort  einen  zweiten  AuBenhof,  eine  nova  curia  mit  Grangienfunkti- 
on.  Diese  unterstandjedoch  nicht  dem  rector  curia  des  Stadthofes,  sondern  einem 
eigens  bestellten  magister  curiae.  Von  diesen  beiden  Hofen  aus  bewirtschaftete 
Walkenried  seine  oben  beschriebenen  Liegenschaften  bei  Goslar  v.a.  in  Immen- 
rode,  Hahndorf,  Weddingen,  Grauhof  (bis  1382),  Biintheim  und  Sudmerberg. 

Wir  konzentrieren  uns  hier  lediglich  auf  die  Grangie  Ebelingerode-Neuhof 
und  zitieren  den  Salzgitteraner  Heimatforscher  Carl  Witt: 71  „In  der  Nahe  von  Im- 
menrode  sind  mehrere  Ortschaften  Wiistung  geworden.  [.  .  .]  4.  Ebelingerode 
wird  westlich  von  Immenrode  am  Abhang  der  ,Vier-Berge'  gelegen  haben.  Sei- 
nen Namen  diirfte  es  seinem  Griinder  Ebeling  verdanken.  Von  diesem  Orte 
schrieb  sich  das  ,freie'  Geschlecht  von  Ebelingerode,  das  in  der  ersten  Halfte  des 
12.  Jahrhunderts  auftritt.  Seine  Mitglieder  waren  nahe  verwandt  mit  der  Goslar- 
schen  Freienfamilie  von  dem  Dike.  Diese  war  ihr  Erbe  zu  Ebelingerode  [.  .  .] 
(und)  besaB  [.  .  .]  Grundstiicke  und  den  Zehnten  der  Ansiedlung.  Verschiedene 
Giiter  des  Geschlechts  kamen  an  das  Zisterzienserkloster  Walkenried  am  Siid- 
harz,  und  so  verkauften  1266  Dietrich  und  Johann  v.  d.  Dike  dem  Kloster  7 
[neun?]  Hufen  zu  Ebelingerode.  Den  Zehnten  erwarb  Walkenried  1272.  Am  5. 
August  1311  gestattete  Bischof  Heinrich  von  Hildesheim  den  Armen  und  Siechen 
des  Neuen  Hospitals  an  der  Konigsbriicke  zu  Goslar,  den  Raum  von  etwa  30 
Morgen  Wald  bei  Ebelingerode  auszuroden  [cf.  UB  GS  III  252].  Ebenso  gab  im 
folgendenjahre  Herzog  Heinrich  der  Wunderliche  von  Braunschweig  dem  Neu- 
en Hospitale  das  Recht,  im  Felde  von  Ebelingerode,  welches  zu  seinem  Forst  ge- 
horte,  Kulturen  anzulegen  [cf.  UB  GS  III  270/271]  In  einer  Grenzbeschreibung 


270-271  (1312),  390  (1316),  393  (1316);  UB  GS  V  1257  (1400);  auf  Einzelnachweise  wird  ver- 
zichtet. 

71  Carl  Witt,  Engere  Heimat.  Beitrag  zur  Geschichte  der  ehemaligen  Amter  Lieben- 
burg  und  Woltingerode,  Salzgitter  1917,  S.  401-403;  zum  im  16.  Jahrhundert  fiir  die  Stadt 
Goslar  ressourcenokonomisch  ebenso  relevanten  Stadthof  vgl.  unten  Kap.  5. 


Ressourcenknappheit  und  reichsstadtische  Kompensation  81 

um  1470  [UB  GS  V  1257  (1400)?]  wird  Ebelingerode  noch  erwahnt,  dann  wird  der 
Ort  Wiistung  geworden  sein.  Kloster  Walkenried  verkaufte  1543  Giiter  und  Hofe 
zu  Ebelingerode  dem  Rat  der  Stadt  Goslar;  im  Jahre  1562  schloB  es  mit  der  Stadt 
einen  Vertrag  wegen  der  ,Vier  Berge'  ab.  Am  16.  Mai  1579  kamen  die  gesamten 
Besitzungen  fur  2900  Taler  an  den  Rat  der  Stadt.  -  Zwei  Waldstiicke  in  den  Vier 
Bergen  sind  noch  heute  wie  im  Jahre  1312  Eigentum  des  Herzogtums  Braun- 
schweig." 

Die  von  Witt  gesammelten  Informationen  muten  gerade  hinsichtlich  der  be- 
sitzrechtlichen  Stellung  der  Vier  Berge  fragmentarisch  an  und  lassen  vor  allem 
unbeantwortet,  wie  dieses  Waldgebiet  in  den  alleinigen  Besitz  des  Klosters  Wal- 
kenried gekommen  ist.  DaB  solches  mit  den  Erwerbungen  in  Ebelingerode  ver- 
kniipft  war,  ist  anzunehmen,  angesichts  seiner  spateren  Sonderstellung  jedoch 
nicht  zwingend.  Auch  der  Braunschweiger  Herzog  und  der  Hildesheimer  Bischof 
konnten  im  14.  Jahrhundert  laut  Witt  iiber  einen  Teil  der  Waldgebiete  bei  Ebelin- 
gerode verfiigen  -  das  miissen  freilich  nicht  automatisch  Bestande  in  den  Vier 
Bergen  gewesen  sein.72  Uberhaupt  ist  das  Problem  parzellengenauer  Abgren- 
zung  und  Bilanzierung  von  Wald-Offenland-Bereichen  ja  gerade  vom  14.  bis  hin 
zum  16.  Jahrhundert  kaum  zu  losen.  Dazwischen  liegt  -  Witt  sagt  es  fur  Ebelinge- 
rode selbst  -  eine  Phase  von  Wiistungsphanomenen,  von  der  auch  der  Vorharz- 
raum  bei  Goslar  nicht  unberiihrt  blieb.  Wo  und  wann  wurde  aus  Rodeland  wie- 


72  Witt  (ebd.  passim)  nimmt  eine  solche  Identitat  an,  wenn  er  von  noch  heutigen  (=  En- 
de  19.  Jahrhundert)  Waldbesitzanteilen  des  Herzogtums  Braunschweig  in  den  Vier  Bergen 
spricht.  Die  pertinentia  nostri  foresti  bzw.  in  nostra  districtu,  qui  fur st  dicitur  der  betreffenden 
Urkunden  des  Herzogs  (UB  GS  III  271/270)  verweisen  jedoch  zunachst  einmal  nur  auf  den 
bei  Ebelingerode  zu  suchenden  Forstbezirk  des  Herzogs;  von  den  Vier  Bergen  ist  weder  hier 
noch  beim  Bischof  die  Rede.  Im  Harzkontext  diirfte  der  Forstbegriff  damals  noch  eindeutig 
besetzt  gewesen  sein  und  sich  auf  den  1158  von  Kaiser  Friedrich  I.  an  Herzog  Heinrich  den 
Lowen  vergebenen  forestum  in  montanis  que  dicuntur  Harzbeziehen,  dessen  Bestandteil  die 
Vier  Berge  sicherlich  nicht  waren  (UB  GS  I  241).  Die  herzogliche  Besitznachbarschaft  mit 
dem  Bischof  von  Hildesheim  bei  Ebelingerode  konnte  aus  der  koniglichen  Ubereignung 
der  urspriinglich  zur  Pfalz  Werla  gehorenden  Besitzungen  an  das  Bistum  Hildesheim  im 
Jahre  1086  resultieren,  aus  denen  der  Harzforst  seinerzeit  ausgenommen  worden  war  (UB 
GS  I  142).  Bei  Ebelingerode  waren  diese  getrennten  ehemaligen  koniglichen  Besitzbereiche 
(Harz/ Werla)  dann  aufeinander  getroffen  -  deshalb  die  herzogliche  und  bischofliche  Ur- 
kunde  an  das  Neue  Hospital  ohne  Bezug  zu  den  Vier  Bergen.  DaB  im  19.  Jahrhundert  dann 
dennoch  ein  Eigentumsrecht  Braunschweig-Wolfenbuttels  an  diesen  Waldungen  prokla- 
miert  wurde,  diirfte  eher  auf  die  Auseinandersetzung  um  dieses  Gebiet  mit  Goslar  im  16./ 17. 
Jahrhundert  zuriickzufiihren  sein.  Dabei  wurden  im  Ubrigen  nur  mehr  territorialstaatliche 
Forst-  bzw.  Klosterhoheitsargumente  ins  Feld  gefiihrt,  jedoch  kein  Ruckbezug  auf  herge- 
brachte  Braunschweiger  Besitzrechte  aus  dem  14.  Jahrhundert  hergestellt.  Auch  die  Hildes- 
heimer Landesherrschaft  bemiihte  dann  nach  der  Restitution  des  GroBen  Stiftes  die  Amtzu- 
gehorigkeit  der  Waldungen  als  Reklamationsgrund. 


82  Cai-Olaf  Wilgeroth 

der  Wald?  Was  blieb  unter  dem  Pflug?  Spannend  erscheint,  daB  der  Rat  im  Rah- 
men  seiner  Vormundschaft  iiber  das  GroBe  Heilige  Kreuz  (Neues  Hospital)  73 
bereits  iiber  indirekte  EinfluBmoglichkeiten  im  Gebiet  Ebelingerode  verfiigt  ha- 
ben  diirfte.  Vor  dem  Hintergrund  von  dorflichen  Besitzrechten  auch  des  Klosters 
Neuwerk,  mit  denen  „das  nordliche  Vorgebiet  der  Stadt  Goslar  [.  .  .]  durch- 
setzt"  74  war,  erhohte  sich  somit  sicherlich  das  stadtische  Interesse  an  den  dorti- 
gen  Erwerbungen  im  16.  Jahrhundert  -  auch  und  gerade  gegen  Territorialisie- 
rungsanspriiche  des  Herzogs.  Denn  gewohntermaBen  war  das  Gebiet  eben  schon 
langer  durch  die  Stadt  und  ihre  Bewohner  groBflachig  integriert  worden,  und 
man  hatte  auf  die  Ressourcenabschopfung  moglicherweise  in  relativ  direkter 
Weise  EinfluB  genommen  (und  eben  nicht  nur  iiber  ohnehin  obwaltende  zen- 
tralortliche  Marktmechanismen).75 

DaB  das  Dorf  Ebelingerode  nach  1470  (1400)  als  terminus  post  quem  wiist  ge- 
fallen  sein  soil,  ist  angesichts  der  alleinigen  Erwahnungen  eines  bloQen  furwarck 
Ebelingerott  im  Zuge  der  spateren  Pachtvertrage  durchaus  vorstellbar.76  Wir  hat- 
ten  dann  am  Ort  im  15. /16.  Jahrhundert  nur  noch  mit  einem  zisterziensischen 
AuBenhof-  in  welchem  Zustand  auch  immer-  zu  rechnen.  Um  von  dort  nun  the- 
matisch  in  den  Wald  zu  gelangen,  greifen  wir  insbesondere  auf  Erkenntnisse 
Winfried  Schenks  iiber  die  zisterziensische  Bewirtschaftung  von  Waldern  in  Siid- 
deutschland  zuriick.77 

Ein  guter  Zustand  der  Holzung  ware  demzufolge  als  Konsequenz  einer  admini- 
strativen  Betreuung  durch  ein  Vorwerk  (Grangie)  prinzipiell  durchaus  vorstellbar 
und  nicht  untypisch  fur  zisterziensisch  „gepflegte"  Kulturlandschaften.  Schenk 


73  UBGSV22. 

74  Romer-Johannsen,  wie  Anm.  8,  S.  264;  vgl.  unten  Kap.  5. 

75  Was  hier  in  groben  Ziigen  als  informelle  EinfluBnahme  der  Stadt  auf  Ressourcenstro- 
me  aus  dem  landlichen  Bereich  beschreiben  wird,  geht  zuriick  auf  Erkenntnisse  der  moder- 
nen  Stadt-Umland-Forschung,  die  ihre  Wurzeln  u.a.  in  den  Uberlegungen  des  Geographen 
Walter  Christaller  zur  zentralortlichen  Raumwirksamkeit  von  Stadten  findet;  vgl.  den  Uber- 
blick  bei  Thomas  HILL,  Die  Stadt  und  ihr  Markt.  Bremens  Umlands-  und  AuBenbeziehun- 
gen  im  Mittelalter  (12.-15.  Jahrhundert),  Stuttgart  2004,  passim,  sowie  Werner  Trossbach 
u.a.,  Die  Geschichte  des  Dorfes.  Von  den  Anfangen  im  Frankenreich  zur  bundesdeutschen 
Gegenwart,  Stuttgart  2006,  S. 68-70  (Dorter  im  Sog  der  Stadte). 

76  Vgl.  oben  zu  Anm.  44. 

77  Winfried  Schenk,  Siiddeutsche  Kulturlandschaften  unter  zisterziensischem  EinfluB: 
Historisch-geographische  Auspragungen  und  aktuelle  planerische  Anforderungen,  in:  Ul- 
rich  Knefelkamp  (Hrsg.),  Zisterzienser.  Norm,  Kultur,  Reform  -  900  Jahre  Zisterzienser, 
Berlin  u.a.  2001,  S.  211-238,  hier  S.  230f.;  in  die  folgenden  Uberlegungen  sind  auch  Er- 
kenntnisse Winfried  Schichs  zur  Kulturlandschaft  der  Zisterzienserkloster  zwischen  Elbe 
und  Oder  eingeflossen  (vgl.  Winfried  Schich,  Die  Gestaltung  der  Kulturlandschaft  im  enge- 
ren  Umkreis  der  Zisterzienserkloster  zwischen  mittlerer  Elbe  und  Oder,  in:  Knefelkamp, 
ebd.,  S.  179-209);  dezidierte  Einzelnachweise  unterbleiben. 


Ressourcenknappheit  und  reichsstadtische  Kompensation  83 

stellt  fest,  daB  das  Wiistfallen  oder  von  Zisterzen  sogarbewuBt  praktizierte  Wiist- 
legen  von  Dorfern  mit  anschlieBend  nur  noch  einsam  verbleibendem  AuBenhof 
„die  Entwicklung  der  sich  seit  der  spatmittelalterlichen  Wiistungsphase  wieder 
schlieBenden  Walder  begiinstigt"  habe.  Auch  eine  zisterziensischerseits  begrenz- 
te  Anzahl  an  Siedelstellen  in  den  Klosterdorfern  habe  diesen  Effekt  gehabt.  Die 
„walddevastierende  bauerliche  Nachfrage"  in  den  entsprechenden  Bestanden  sei 
aufgrund  des  damit  niedrigeren  Siedlungsdrucks  geringergewesen,  und  einschla- 
gige  zisterziensische  Verordnungen  gegen  Waldweide  oder  Streuentnahme  so- 
wie  eine  effektive  Forstverwaltung  hatten  gegeniiber  den  wenigen  verbliebenen 
bauerlichen  Ein-  und  Umwohnern  die  Walder  fur  die  Holzproduktion  als  kloster- 
liche  Einnahmequelle  gesichert.  Noch  heute  wiirden  daher  Bestockung  und  Zu- 
stand  entsprechender  Klosterwalder  auffallig  mit  den  ehemaligen  siedlungsna- 
hen  Bauernwaldern  kontrastieren. 

Wir  wissen  iiber  die  entsprechenden  Verhaltnisse  in  den  Vier  Bergen  und  Ebe- 
lingerode  nichts.  Die  Ansiedlung  war  sicherlich  nicht  groB,  wobei  wir  wenigstens 
von  den  neun  Hufen  derer  von  dem  Dike  ausgehen  miissen.  Ob  die  Zisterzienser 
nach  der  Errichtung  ihrer  nova  curia  kiinstliche  Siedlungslimitation  betrieben  ha- 
ben,  ist  unbekannt.  DaB  im  15.  Jahrhundert  Ebelingerode  im  Gegensatz  etwa  zu 
Immenrode  oder  Hahndorf  wiist  fiel,  konnte  zumindest  darauf  verweisen,  daB 
Walkenried  hier  nicht  sonderlich  auf  innerdorfliche  Nachbarn  erpicht  war.  Viel- 
leicht  wollte  man  die  Waldbestande  in  der  Tat  selbst  kultivieren  und  bewirtschaf- 
tete  sie  exklusiv  vom  AuBenhof  aus. 

Schenk  relativiert  seine  Aussage  zur  zisterziensischen  Waldgiite  allerdings 
noch  in  einem  wichtigen  Punkt:  Es  sei  namlich  gegebenenfalls  eher  die  relative 
Siedlungsferne  klosterlicher  Walder  gewesen  anstatt  bloBe  zisterziensische  Wald- 
baukunst  oder  -politik,  welche  die  Grundlage  guter  Forstverhaltnisse  gebildet 
hatte.  Die  Vier  Berge  aber  stellten  auch  nach  dem  Abgang  Ebelingerodes  kaum 
eine  siedlungsferne  Wiistungsflur  dar.  Mehrere  Dorfer  und  die  Stadt  Goslar  iib- 
ten  besagten  Siedlungsdruck  weiterhin  aus,  lagen  als  potentielle  Ausgangspunkte 
walddevastierender  bauerlicher  und  stadtischer  Nachfrage  zu  nahe  und  hatten 
das  Nutzungsvakuum  des  wiistgefallenen  Ebelingerodes  miihelos  ausfiillen  kon- 
nen.  Was  konnte  und  wollte  Walkenried  da  exkludieren?  Als  Grundherr  in  Im- 
menrode und  Hahndorf  oblagen  dem  Kloster  schlieBlich  auch  gewisse  Fiirsorge- 
pflichten  (Weide,  Brennholz,  Bauholz) .  Zudem  bot  insbesondere  die  Stadt  Goslar 
natiirlich  Einnahmemoglichkeiten  aus  dem  Holz,  wobei  der  Stadthof  im  Zwei- 
felsfall  als  probate  Absatzplattform  dienen  mochte.78  Die  Goslarer  Tafelamtsregi- 


78  Vgl.  zur  auch  im  Goslarer  Kontext  wichtigen  Handelshausfunktion  dieser  Stadthofe 
gerade  im  Spatmittelalter  allgemein:  Wolfgang  Bender,  Zisterzienser  und  Stadte.  Studien 
zu  den  Beziehungen  zwischen  den  Zisterzienserklostern  und  den  groBen  urbanen  Zentren 


84  Cai-Olaf  Wilgeroth 

ster  freilich  schweigen  dazu.  Fur  den  genuin  stadtischen  Eigenbedarf  konnte 
Goslar  seinerzeit  noch  iiber  genug  „eigenes"  Holz  im  Harz  verfiigen.  Und  ein  gut 
vorstellbarer  privatbiirgerlicher  Holzbezug  vom  Walkenrieder  Stadthof  ware 
hochstens  in  Walkenrieder  Registern  aufgetaucht.  Solche  liegen  fur  das  16.  Jahr- 
hundert  jedoch  nicht  (mehr)  vor. 

Spatestens  fur  das  16.  Jahrhundert  muB  Schenk  in  Siiddeutschland  auch  von 
„mi61ichen  Verhaltnissen"  in  Klosterforsten  berichten,  die  „das  Resultat  eines 
iiberzogenen  klosterlichen  Eigenverbrauchs  und  intensiver  Waldnutzung  durch 
die  umliegende  [.  .  .]  Bevolkerung"  waren.  Vor  allem  in  politisch  schwierigen 
Phasen  hatte  solches  von  daniederliegenden  Klosterverwaltungen  nicht  mehr  ef- 
fektiv  verhindert  werden  konnen.79 

Moglicherweise  trifft  dieses  Entwicklungsszenario  auf  die  Goslarer  Verhaltnis- 
se  weitaus  besserzu  als  der  Gedanke  zisterziensisch  vorbildlich  gehegter  Waldbe- 
stande  in  der  Nahe  einer  „holzfressenden"  Bergbaustadt.  Auch  waren  die  Zister- 
zienser  spatestens  im  15.  Jh.  Geschaftsleute,  und  wir  diirfen  nicht  vergessen,  daB 
sie  selbst  im  Berg-  und  Hiittenwesen  des  Harzes  involviert  waren.  Wenn  dann  im 
16.  Jahrhundert  im  Zuge  der  Verhandlungen  um  eine  Ubernahme  der  Goslarer 
Besitzungen  Walkenrieds  durch  die  Stadt  klosterlicherseits  das  Argument  vorge- 
bracht  wird,  infolge  des  Bauernkrieges  sei  eine  Eigenverwaltung  der  Giiter  nicht 
mehr  zu  leisten,  konnte  dies  wiederum  darauf  verweisen,  daB  es  vorher  durchaus 
eine  striktere  Bewirtschaftung  mit  kommerziellen  Interessen  gegeben  hatte. 

Wie  auchimmersich  die  genaue  Situation  um  die  VierBerge  vor  der  Mitte  des  16. 
Jahrhundert  nun  dargestellt  haben  mag,  und  in  welch  konkretem  Zustand  der 
Wald  sich  dabei  befunden  hatte:  Schon  angesichts  seiner  BestandesgroBe,  Stadt- 
nahe  und  Verfiigbarkeit  handelte  es  sich  um  ein  interessantes  Erwerbsobjekt  fun- 
die  Goslarer  Verantwortlichen.  Unter  den  anfangs  noch  hauptsachlich  avisierten 
Zielsetzungen  einer  reinen  Brennholzokonomie  mit  relativ  kurzen  Umtriebszei- 
ten  ware  auch  ein  stark  iibernutzter  Waldbestand  noch  attraktiv  gewesen,  da  man 
ihn  sich  ziigig  wieder  hinreichend  bestocken  lassen  konnte.  Treibendes  Motiv 
zum  Erwerb  war  in  erster  Linie  das  Bemiihen  um  rasche  Kompensation  der  in 
den  1530er-Jahren  so  vehement  verspiirten  Harzwaldverluste  durch  ein  zu  recht- 
maBigem  Eigen  besessenes  Holzreservoir  (und  sei  es  nur  in  der  juristischen  Form 
der  Pacht) . 

Das  hatte  nicht  zuletzt  auch  psychologische  und  innenpolitische  Griinde  fur  ei- 
nen  Rat,  der  fur  die  Sicherstellung  ressourcenokonomischer  Selbstbestimmtheit 
der  Stadtbevolkerung  in  die  Verantwortung  genommen  wurde.  Nichts  machte 


des  mittleren  Moselraumes  (12.-14.  Jahrhundert),  Trier  1992,  S.  39-43;  s.  unten  Kap.  5. 
79    Schenk,  wie  Anm.  77,  S.  231. 


Ressourcenknappheit  und  reichsstadtische  Kompensation  85 

dies  deutlicher  als  der  Verlauf  der  Goslarer  Reformation.  Gerade  Brennholz  war 
essentiell  fiir  die  Menschen.  Und  auch  wenn  die  Vier  Berge  nicht  die  gesamte 
Stadt  wiirden  versorgen  konnen,  konnte  der  Rat  diesbeziiglich  zumindest  Tat- 
kraft  vorweisen.80  Denn  daB  man  1543  dann  im  Zuge  des  herzoglichen  Exils 
noch  einmal  kurzzeitig  Oberwasser  im  Harzwald  erlangen  wiirde,  war  bei  Be- 
ginn  der  Walkenrieder  Verhandlungen  noch  nicht  absehbar. 

Auf  welche  Weise  nutzte  die  Stadt  nun  die  ihr  iiberantworteten  Waldbestande? 
Erstaunlicherweise  sind  wirhinsichtlich  der  archivalischen  Uberlieferung  fiir  die 
Vier  Berge  besser  mit  umweltgeschichtlich  auswertbaren  Holzverkaufs-  und  Ein- 
schlagsregistern  ausgestattet  als  fiir  den  eigentlichen  Stadtforst.  Forstortspezifi- 
sche  Abrechnungen  der  Goslarer  Holzherren  fiir  Bestande  im  Harz  liegen  -  bis 
auf  allzu  fragmentarische  Ausnahmen  -  erst  seit  Ende  des  16.  Jahrhunderts  vor. 
Umso  erfreulicher  ist  es,  daB  stattdessen  fiir  die  Vier  Berge  als  einer  Art  stadti- 
schem  Eigen(wald)betrieb  anhand  der  fiir  die Jahre  1544  bis  1547bzw.  1565/1566 
vorliegenden  Register  representative  Zeitschnitte  unmittelbar  vor  und  nach  dem 
Riechenberger  Vertrag  moglich  werden.81  Dabei  ist  es  sicherlich  gewagt,  an  seri- 
elle  Quellen  mentalitats-  und  motivationsgeschichtliche  Aussagen  zu  kniipfen. 
Doch  scheint  es  unter  hermeneutischen  Aspekten  mangels  Alternativen  oppor- 
tun,  durch  eine  grafische  und  tabellarische  Auswertung  dieser  Register  zumin- 
dest fiir  die  Vier  Berge  wertvolle  Hinweise  auf  Bewirtschaftungsmodus, -intention 
und  -modifikation  seitens  des  Goslarer  Rates  zu  erhalten,  nachdem  wir  fiir  den 
Harzwald  jenerjahrzehnte  ansonsten  uninformiert  bleiben.82 


80  Vgl.  oben  Anm.  37. 

81  Es  handelt  sich  um  folgende  Signaturen  des  Goslarer  Stadtarchivs:  StA  GS  B  2284, 
2452,  4437,  6072,  6073,  6076  und  6077;  diese  Register  beziehen  sich  ausschlieBlich  auf  den 
Einschlag  oder  Verkauf  von  Malterholz;  davon  bleibt  das  fragmentarische  und  noch  nicht 
einzuordnende  Register  in  StAGS  B  4437  (Malterholzeinschlag  1543?)  im  Folgenden  unbe- 
riicksichtigt,  ebenso  StA  GS  B  6068  und  6069,  zwei  Register  zum  Binden  bzw.  Verkauf  von 
Wasen. 

82  Nicht  beriicksichtigt  sind  bei  dieser  Aussage  die  Moglichkeiten,  aus  durchaus  vorlie- 
genden holzverbrauchsbezogenen  Registern  Ruckschlusse  auf  den  Harzwald  und  seinen 
Zustand  zu  Ziehen  (z.B.  Sagemiihlen-,  Gruben-  oder  Brandholzregister).  Eine  entsprechen- 
de  Auswertung  wird  dabei  allerdings  erschwert,  da  vom  bloBen  Holzbedarf/verbrauch  na- 
tiirlich  nur  bedingt  auf  die  lokale  Holzentnahme  geschlossen  werden  kann.  Dies  gilt  erst 
recht  vor  dem  Riechenberger  Vertrag,  als  Goslar  noch  die  gesamte  Region  ressourcenoko- 
nomisch  zu  integrieren  vermochte;  nach  Riechenberg,  unter  den  Bedingungen  starker  terri- 
torialstaatlich  restringierter  Materialfliisse,  ist  der  Bezug  von  Goslarer  Holzverbrauchsregi- 
stern  auf  die  Goslarer  Waldbestande  mutmaBlich  unmittelbarer,  somit  besser  lokalisierbar  - 
gerade  dann,  wenn  man  die  transporttechnischen  Rahmenbedingungen  damaliger  Zeit  in 
Relation  zu  Sortimentierung  und  Preis  des  erwahnten  Holzes  setzt. 


86 


Cai-Olaf  Wilgeroth 


Malterholzeinschlag  1544 

(Quelle:  StA  GS  B  6076) 


Summe  It.  Tabelle  (Maker):  3924  Soil  It.  Register  (Matter):  3433* 

senkrecht:  Malteranzahl   |    waagerecht:  Abrechnung  der  Hauerlohne  (wochenweise;  nach  Ein- 
schlagmenge)    |  ,/-Z)=Januar  -  Dezember  |  HP=  Hiebpause   |    ??=  Daten  unbekannt  auf- 
grund  von  Uberlieferungsliicke   |  farbliche  Unterteilung  der  Balken  =  Zahl  der  pro  Woche  be- 
schaftigten  Holzhauer. 
*  Die  groBe  Abweichung  blieb  auch  bei  mehrmaliger  Durchsicht  des  Registers  unerklarlich. 


Zur  Erlauterung:  Die  insgesamt  drei  Diagramme  basieren  auf  der  Abrechnung 
der  wochendichen  Hauerlohne  (waagerechte  Achse)  fur  die  angegebenen  Jahre. 
Dabei  findet  sich  in  den  Registern  stets  die  Diktion  (exemplarisch):  Sab(a)to  nha 
Oculi  |  vij  lot  Lampe  Giseckes  vo(r)  \  xiiij  molder.83  So  konnen  wir  nicht  nur  die  Na- 
men  der  Waldarbeiter  und  ihren  Verdienst  ermitteln,  sondern  auch  die  einge- 
schlagenen  Holzmengen  genau  nachvollziehen.  Es  diirfte  sich  also  um  Akkord- 
arbeit  gehandelt  haben.  Als  relevante  Parameter  interessieren  uns  hier  nur  die 
wochendichen  Einschlagsmengen  (senkrechte  Achse),  die  Zahl  der  angelegten 


83    StA  GS  B  4437. 


Ressourcenknappheit  und  reichsstadtische  Kompensation 


87 


Hauer  (farbliche  Unterteilung)  und  der  Zeitraum,  in  dem  iibers Jahr  gesehen  ein- 
geschlagen  wurde. 


Malterholzeinschlag  1545  bzw.  1547 
(Quelle:  StA  GS  B  2284  und  6077) 


vim 


600  ■ 


500  ■ 


Jim 


200  ■ 


100  ■-=■■ 


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&bik  It.  Tabelle  (Maker):  4827  So//  It.  Registern  (Malter):  6087* 

senkrecht:  Malteranzahl   |    waagerecht:  Abrechnung  der  Hauerlohne  (wochenweise;  nach  Ein- 
schlagsmenge)    |  J-  D  =Januar  -  Dezember"    |    HP=  Hiebpause    |    ??=  Daten  unbekannt 
aufgrund  von  Uberlieferung  (extrapoliert  in  Idealverteilung  aus  bekannter  Maltergesamt- 
zahl    |  farbliche  Unterteilung  der  Balken  =  Zahl  der  pro  Woche  beschaftigten  Holzhauer. 
*    Differenz  resultiert  aus  fehlender  Lage  in  der  Mitte  des  1545er-Registers. 

Sehr  langer  Februar  resultiert  aus  unerklarlicher  zweimaliger  doppelter  Abrechnung" 

einer  Woche  bei  unterschiedlicher  Wochenbezeichnung. 


Wirbeginnen  beim  Einschlagszeitraum  fur  diejahre  1544  bzw.  1545/1547: 84  Im 
ersten  Jahr  der  erworbenen  Abnutzungserlaubnis  erstreckte  sich  die  Hiebperi- 


84  Die  folgenden  AuBerungen  zu  den  saisonalen  Gepflogenheiten  waidmannischer  Ta- 
tigkeit  basieren  weitgehend  auf  der  heutigen  Beriicksichtigung  der  Jahreszeitenverteilung; 
die  Goslarer  Bedingungen  des  16.  Jahrhunderts  konnten  davon  durchaus  verschieden  gewe- 


88  Cai-Olaf  Wilgeroth 

ode  gemessen  an  waidmannischen  Gepflogenheiten  bereits  ungewohnlich  weit 
ins Jahr  hinein  (bis  Mitte  Mai) ,  um  nach  einer  halbjahrigen  Pause  von  Mai  bis  No- 
vember erneut  einzusetzen.  In  den  Wintermonaten,  der  klassischen  Holzemte- 
zeit,  ging  der  Einschlag  mit  geringer  Intensitat  weiter,  pausierte  nur  um  Weih- 
nachten  herum.  Ahnlich  stellt  sich  die  Situation  der  Folgejahre  1545/1547  dar, 
wobei  die  Hiebzeit  nochmals  ausgedehnt  wurde  und  bis  zum  Hochsommer  (An- 
fangjuli)  auBerordentlich  lange  anhielt.  Es  schloB  wiederum  eine  Pause  an,  dies- 
mal  fiir  gut  vier  Monate  von  Juli  bis  November.  Zwar  kennen  wir  die  saisonale 
Hiebverteilung  des  dazwischen  liegenden  Jahres  1546  nicht,  jedoch  diirfen  wir 
davon  ausgehen,  daB  sich  unter  dem  Strich  eine  durchgangige  Hiebperiode  von 
etwa  acht  Monaten  jejahr  ergab.  Gerade  fiir  1546  sind  insgesamt  8221(!)  Malter 
Holz  ansonsten  kaum  denkbar  -  irgendwann  muBten  diese  ja  geschlagen  wer- 
den,  vermutlich  mit  noch  mehr  Arbeitskraften.85 

Zur  Beurteilung  dieser  knapp  zweidritteljahrigen  Hiebperiode  vollziehen  wir 
einen  Ortswechsel  ins  Hildesheimische.  In  einem  Schreiben  der  Rate  zu  Minden 
vom  6.  Mai  (sic!)  1584  an  den  Amtmann  zur  Marienburg  wird  eine  Beschwerde 
seitens  des  Klosters  Marienrode  wegen  defi  holzens  im  tofimerbergk  angezeigt:  Der 
Amtmann  habe  sich  unterstanden,  das  Kloster  unpillicherweise  zu  beeindrechtighen. 
Und  da  von  ermelten  closter  oder  denen  irigen  des  holzens  halben  bei  euch  ansuchunge  be- 
schiedhet  [.  .  .],  so  khonnen  sie  dock  von  euch  kein  richtig  bescheid  od(er)  anweisung  (erhal- 
ten),  dahero  sie  dann  dies  jar  kaum  den  dritten  theil  notturftiger  holzung,  und  wie  sie  deren 
von  alters  kundtlich  berechtiget,  [.  .  .]  bekomen,  unangesehen  das  sie  derhalben  bei  euch 
vielfaltig  angehalten,  aber  inen  die pilligkeit  nit  begegnen  mugen.  Sondern  vielmehr,  dafe 
sie  sie  jhedesmals  mit  blojien  worten  und  vergeblicher  vertrostung  solange  ufgehalten  und 
hingewiesen  worden,  bife  das  derfrulinge  eran  getreten.  Da  daJS  beschen,  hat  man  vermeint- 
lichfurgewandt,  dafi  holz  wehre  numehr gruen,  hette  ausgeschlagen  und  wollte  sich  keines- 
weges  thun  noch  verandtworten  lassenjheniger zeit  die  holzung  anzugreiffen,  noch  dieselbe 
dergestald verwusten zulassen.86  Im  Friihjahrund  Sommer-  so  die  hierentscheiden- 
de  Information  -  schlug  man  eben  kein  (Brenn-)Holz  ein,  wenn  man  die  Bestan- 
de  schonen  und  sich  selbst  nicht  mit  saftfrischem  und  vollbelaubtem  Holz  bela- 


sen  sein  angesichts  der  sogenannten  „Kleinen  Eiszeit",  in  welcher  wir  uns  damals  zeitlich  be- 
finden. 

85  Die  Kenntnis  dieses  Wertes  basiert  auf  dem  Uberlieferungsgliick:  das  Register  des 
Jahres  1547  war  offenbar  die  bloBe  Fortfiihrung  desjenigen  von  1546;  zwar  fehlt  der  1546er- 
Teil,  jedoch  ist  die  letzte  Seite  des  verlorenen  Abschnitt  zugleich  die  erste  Seite  des  Folge- 
jahres  (recto/verso).  Auf  der  letzten  Seite  eines  Jahres  wurde  immer  aufsummiert,  so  daB 
wir  zumindest  die  Einschlagssumme  fiir  1546  angeben  konnen  (vgl.  StA  GS  B  6077). 

86  NdsHStA  H  Cal.  Br.  7  Nr.  1108,  Streitigkeiten  zwischen  dem  Kloster  Marienrode  und 
dem  Amte  Marienburg  wegen  der  dem  Kloster  zustehenden  Holzungsgerechtigkeit  im  ToB- 
merberge,  1584-1601. 


Ressourcenknappheit  und  reichsstadtische  Kompensation  89 

sten  wollte.  Vor  dem  Hintergrund  dieser  auch  heute  noch  giiltigen  Regel  gibt  das 
saisonale  Einschlagsgebaren  des  Goslarer  Rates  in  den  Jahren  zwischen  1544 
und  1547  bereits  deutliche  Hinweise  auf  die  zugrunde  liegende  Motivation:  Man 
wollte  solange  wie  moglich  einschlagen,  um  so  viel  wie  moglich  aus  dem  Wald 
herauszuholen.  Man  schlug  das  Holz,  sooft  und  solange  man  dessen  bedurfte  und 
legte  eine  offenbar  unabdingbare  Pause  (warum?)  nurin  den  Hochsommer-  und 
Herbstmonaten  ein.  Bezeichnenderweise  beschwerte  sich  Walkenried  dann  1545 
ja  auch  iiber  das  Einschlagsverhalten  der  stadtischen  Waldarbeiter,  weil  diese 
nicht  nur  mehr  als  bloBes  Unterholz,  sondern  eben  auch  nicht  ublich  der  zeit  geha- 
wen  hatten.87  Im  Friihsommer  jedoch  lieB  der  Rat  sogar  am  meisten  Holz  ein- 
schlagen. Und  die  Arbeit  in  den  Vier  Bergen  ruhte  in  den  Sommer-  und  Herbst- 
monaten selbstverstandlich  nicht:  iiber  das  ganze  Jahr  verteilt  waren  die  Wasen- 
binder  damit  beschaftigt,  die  kleineren  Zweige  und  Aste  zu  Biindeln  zu  binden.88 

Damit  sind  wir  beim  nachsten  Parameter  angelangt:  der  Einschlagsmenge. 
Wie  konsumtiv  der  Rat  in  diesen  Jahren  agierte,  wird  erkennbar,  wenn  man  sich 
die  schieren  Quantitaten  und  ihre  Entwicklung  vergegenwartigt.  Die  Einschlags- 
menge kletterte  von  anfanglich  knapp  4000  (3500)  Maltern  Holz  auf  insgesamt 
8221  Malter  des  Jahres  1546;  1545  bzw.  1547  waren  es  zusammen  6087,  wobei  das 
Gros  angesichts  von  nur  neunwochiger  Hiebkampagne  1547  natiirlich  auf  das 
Vorjahr  entfiel  (5439:  654).  1546  war  urspriinglich  das  letzte  der  zunachst  erwor- 
benen  drei  Einschlagsjahre,  und  die  Zahlen  sprechen  fur  sich:  8221  Malter  sind 
das  Anderthalb-  bis  Zweifache  der  bisherigen  Einschlagsvolumina.  Und  wenn 
wir  die  650  Malter  von  1547  auf  das  ganze  Jahr  hochrechneten,  so  kame  bei  anhal- 
tendender  Hiebtatigkeit  und  gleichbleibendem  Einschlagsgebaren  theoretisch 
abermals  ein  Wert  von  einigen  tausend  Maltern  heraus.  Die  Schlagzahl  hatte  sich 
jedesjahr  drastisch  erhoht,  so  daB  sich  die  Einschlagsmengen  stets  um  einige  tau- 
send Malter  gesteigert  hatten.  DaB  Goslar  dann  1547  mit  dieser  Form  des  schie- 
ren Aberntens  derBestande  (Raubbau?)  nicht  fortfahren  konnte,  warmoglicher- 
weise  den  Zeitumstanden  geschuldet  -  wir  befinden  uns  im  historischen  Ereignis- 
verlauf  kurz  vor  der  Schlacht  bei  Miihlberg.  Vielleicht  hatte  man  fur  den  Moment 
die  Holzung  aber  auch  schlechterdings  erschopft,  wogegen  freilich  der  abermali- 
ge  Erwerb  schon  im  Jahr  1549  sprache. 

Zu  diesem  sich  abzeichnenden  Bild  von  einer  rein  konsumtiven  Form  der 
Waldnutzung  paBt  als  dritter  Parameter  schlieBlich  auch  die  enorm  groBe  Be- 
schaftigtenzahl:  In  den  Hochphasen  des  Jahres  1545  waren  bis  zu  28  Holzfal- 
ler(rotten)  in  den  Bestanden  unterwegs  und  ernteten  das  Unterholz  ab;  fiir  das 
nachfolgende  Jahr  1546  diirfte  diese  Zahl  moglicherweise  sogar  noch  iiberboten 


87  Vgl.  oben  zu  Anm.  62. 

88  Vgl.  StA  GS  B  6096,  Uthgave  vor  wasen  tho  binden,  15444546. 


90  Cai-Olaf  Wilgeroth 

worden  sein.  Auffallen  muB  jedoch,  wie  betrachtlich  die  Zahl  der  Waldarbeiter 
im  Jahresverlauf  auch  schwankte. 

Gleichwohl  ergeben  unsere  drei  Parameter  zusammengenommen  ein  klares 
Bild  vom  Vorgehen  des  Goslarer  Rates  und  lassen  Riickschliisse  zu  auf  das  zu- 
grundeliegende  Ressourcennutzungsverstandnis:  Man  hatte  das  Unterholz  zur 
Abnutzung  teuer  erworben,  also  gait  es  solches  auch  effektiv  abzunutzen  -  ohne 
Riicksicht  auf  den  nachmaligen  Zustand  der  Bestande.  Von  Nachhaltigkeit  noch 
keine  Spur!  Denn  das  ubergebiihrliche  Schlagen  sogar  zur  Unzeit  machte  letzt- 
lich  alle  vertraglichen  Bemiihungen  der  Zisterzienser  um  Erhalt  der  Bestande 
(LaBreiBer)  zunichte.  Der  Rat  betrieb  hierwohl  Kahlschlagwirtschaft  zugunsten 
der  dringenden  Holz-  und  Kohlbediirfnisse  seiner  Stadt  und  ihrer  nach  wie  vor 
im  Montanwesen  tatigen  Bewohner.  Es  gait,  die  Jahre  des  herzoglichen  Exils  und 
das  somit  wiedermogliche  Wirtschaften  rund  um  den  Rammelsberg  gewinnbrin- 
gend  zu  nutzen,  solange  die  Gunst  der  Stunde  anhielt.  Riickstande  waren  aufzu- 
arbeiten.  Und  selbst  wenn  man  um  die  waldschadigenden  Folgen  des  eigenen 
Vorgehens  wuBte  (wovon  wir  vor  dem  Hintergrund  damaligen  forstlichen  Wis- 
sens  eigentlich  auszugehen  haben):  War  es  zum  gegebenen  Zeitpunkt  aus  Gos- 
larer Sicht  iiberhaupt  angezeigt,  sich  in  den  Vier  Bergen  in  Zuriickhaltung  zu 
iiben?89 

Die  Kontrastierung  mit  der  Zeit  nach  dem  Riechenberger  Vertrag  soil  diese 
Diagnose  der  Goslarer  Waldnutzungskonzeption  als  ausschlieBlich  konsumtiv 
verdeutlichen  und  zugleich  deren  Wandel  hin  zu  einem  nachhaltigeren  Nut- 
zungsverstandnis  aufzeigen.  In  Anbetracht  der  drei  Parameter  Menge,  Zeitraum 
und  Beschaftige  sprechen  die  Zahlen  dabei  fur  sich:  Am  Beispiel  des  fiir  die  Jah- 
re 1565/1566  vorliegenden  Einschlagsregisters  erkennen  wir  die  veranderte  Vor- 
gehensweise  des  Rates.  Die  Hiebperiode  dauerte  nur  noch  von  Dezember  bis 
Anfang  Marz  und  umspannte  somit  lediglich  die  eigentlichen  Wintermonate, 
der  Schwerpunkt  lag  dabei  im  Januar.  Die  Zahl  der  Hauer  blieb  mit  maximal 
zwolf  iiberschaubar,  und  die  eingeschlagenen  Mengen  lagen  mit  nicht  einmal 

89  Hier  waren  eigentlich  auch  die  parallelen  Entwickhmgen  um  den  Harzwaldbesitz 
der  Stadt  Goslar  einzubeziehen;  in  diesem  Kontext  hatte  man  1543  mit  den  stadtbegiinsti- 
genden  Grenzziehungen  des  „Kleinen  und  GroBen  Schnitts"  (Kaiserforst,  Albrecht-von- 
der-Helle-Forst)  unter  der  Herrschaft  der  Bundesfiirsten  gerade  einen  vorteilhaften  Ent- 
wicklungsstand  erreicht  (vgl.  z.B.  StA  GS  B  2304,  Sammelakte:  Aufzeichnungen  bzgl.  Gos- 
larer Forstbesitz).  Vielleicht  meinte  man  vor  diesem  Hintergrund,  sich  das  Abernten  eines 
bloB  peripheren  Waldstiickes  erlauben  zu  konnen  -  die  Vier  Berge  sozusagen  als  schnelle, 
additive  und  zwischenzeitliche  Holzversorgung;  zur  Ambivalenz  der  ressourcenokonomi- 
schen  Abwagungsprozesse  im  Kontext  Montanwesen-Wald  vgl.  auch  die  Ausfuhrungen  bei 
Bernd  Marquardt,  Umwelt  und  Recht  in  Mitteleuropa.  Von  den  groBen  Rodungen  des 
Hochmittelalters  bis  ins  21.  Jahrhundert,  Zurich  u.a.  2003,  bes.  S.  178-182  (Umweltrecht  der 
Industrieforstbezirke:  Das  Recht  der  nachhaltigen  Energiewirtschaft). 


Ressourcenknappheit  und  reichsstadtische  Kompensation 


91 


Malterholzeinschlag  1565/1566 

(Quelle:  StA  GS  B  2452) 


700 
600 
500 
400 
300 


QDQOj 


a.ssa 


5   ~ 

2 


S-|>'1  §2221 «««»:; 


DB      «J    X      C"p.(,OHBHOHOHOH0.Q.0.0.E:=SE;SE;SaD-OHOHOHOH^&^&OHOHOHD-eHD-OHD- 


Summe  It.  Tabelle  (Matter):  2733  V2  So//  It.  Registern  (Malter):  2767  V2 

senkrecht:  Malteranzahl  |  waagerecht:  Abrechnung  der  Hauerlohne  (wochenweise;  nach  Ein- 
schlagsmenge)  |  D-  N=  Dezember  -  November  |  HP=  Hiebpause  |  farbliche  Unterteilung 
der  Balken  =  Zahl  der  pro  Woche  beschaftigten  Holzhauer. 


2800  Maltern  weit  unter  denjenigen  der  1540er-Jahre.  Immer  noch  hoch  zwar, 
aber  es  laBt  sich  hierbei  bereits  ein  Trend  zur  MaBigung  erahnen,  der  in  der  Fol- 
gezeit  anhalten  sollte  und  dabei  gewiB  nichts  mit  einem  eventuell  unergiebigen 
Zustand  der  Bestande  zu  tun  hatte.90 

Vielmehr  hatte  der  Rat  offenbar  seine  Bewirtschaftungsvorstellungen  gean- 
dert.  Wir  konnen  hier  nur  spekulieren:  Mit  dem  Riechenberger  Vertrag  sah  man 
sich  im  Harzwald  auf  den  vielzitierten  Rumpfbestand  des  Stadtforsts  zuriickge- 
worfen,  um  den  es  zudem  nicht  allzu  gut  bestellt  gewesen  sein  diirfte  angesichts 
seiner  vorherigen  montanwirtschaftlichen  Ubernutzung.  Die  Vier  Berge,  in  den 
1540er-Jahren  noch  als  bloBer  Brennholzfundus  genutzt,  erhielten  schon  von  da- 


90    Vgl.  unten  Anm.  94. 


92  Cai-Olaf  Wilgeroth 

her  eine  neue  Bedeutung  fiir  die  Stadt:  Einerseits  boten  sie  -  auch  bei  zunehmen- 
der  Verdrangung  der  Burger  aus  dem  Berg-  und  Hiittenbetrieb  -  eine  willkom- 
mene  Erganzung  zu  den  nach  wie  vorknappen  Ressourcenkapazitaten  der  Stadt 
(Hausnotdurft,  Zulieferergewerbe,  Handwerk,  Eigenbetriebe);  andererseits  bil- 
deten  sie  -  psychologisch  wichtig  -  ein  Gebiet  eigener  Herrschaft  vor  den  Toren 
der  Stadt,  wo  allenfalls  einige  Bauern  des  Umlandes,  kontrollierbar  in  Goslarer 
Pachtverhaltnissen,  Nutzungsanspriiche  hatten91  -  jedenfalls  aber  ohne  jene  im 
Stadtforst  vertraglich  fixierte  Forsthoheit  des  Herzogs. 

Wer  waren  die  Abnehmer  des  eingeschlagenen  Holzes?  Und  welche  Mengen 
wurden  gekauft?  Es  ware  eine  schone  Bestatigung  unsererbisherigen  Uberlegun- 
gen,  wenn  sich  Namen,  Professionen  und  Mengen  der  jeweiligen  Kaufer  in  die 
Goslarer  Wirtschaftskonjunktur  der  betreffenden  Jahre  einordnen  lieBen:  Inso- 
fern  namlich,  als  daB  wir  fiir  die  oben  diagnostizierte  erste  Phase  des  bloBen 
Raubbaus  an  den  Waldungen  (1544-1547)  eben  auch  eine  deutliche  Dominanz 
der  holzbediirftigsten  GroBverbraucher  (v.a.  Hiittenbetreiber)  unter  den  Kaufern 
erkennen  konnten  -  resultierend  aus  einer  bevorzugten  Bedienung  gerade  dieser 
Bediirfnisse  durch  den  Rat.  Dann  -  nach  dem  Riechenberger  Vertrag  -  miiBte 
dementsprechend  ein  breiteres  Spektrum  der  Stadtbewohner  an  der  nachhaltige- 
ren,  wenigermontanmonopolwirtschaftlich  ausgerichteten  Waldwirtschaft  parti- 
zipiert  haben.  Andererseits  besaB  die  Stadt  natiirlich  auch  nach  1552  noch  eine 
erkleckliche  Zahl  groBerer  wie  kleinerer  „Holzfresser"  (Vitriolhaus,  Bleihof,  Zie- 
gelei,  Kalkrose);  und  auch  schon  in  den  1540er-Jahren  hatten  selbstverstandlich 
alle  Einwohner  der  Stadt  Brennholzdefizite,  die  der  nicht  unumstrittene  Rat  tun- 
lichst  befriedigen  muBte.92 

Die  sich  hier  abzeichnende  statistische  „Gretchenfrage"  moge  fiir  den  Moment 
unentschieden  bleiben.  Da  eine  prosopographisch  zu  untermauernde  Interpreta- 
tion des  Zahlenmaterials  an  dieser  Stelle  zu  weit  fiihren  wiirde,  sehen  wir  davon 
ab,  die  ohnehin  nicht  immer  ganz  sicher  zu  transkribierenden  Namen  der  Kaufer 
vor  und  nach  1552  einfach  tabellarisch  zurDiskussion  zu  stellen.  Zu  viele  Fragen 
zur  Einordnung  der  98  bzw.  87  Personen  sind  noch  (und  bleiben)  unbeantwortet. 
Nur  so  viel:  Natiirlich  finden  sich  prominente  Namen  des  Goslarer  Hiittenmi- 
lieus  unter  den  Kaufern,  auch  an  vorderer  Position  -  aber  eben  nicht  nur,  und  in 
den  1540er-Jahren  kaum  signifikanter  als  in  den  1560er-Jahren.  Das  Spektrum 
der  Kaufer  ist  zu  beiden  Zeiten  differenzierter  zu  beurteilen. 

Auch  haben  wir  sowohl  1565  als  auch  1544-1547  mit  noch  anderen  Brenn- 
holzquellen  der  Stadt  zu  rechnen,  deren  statistische  Beriicksichtigung  aufgrund 


91  Vgl.  unten  Anm.  109. 

92  Fiir  den  alltaglichen  Brennstoffbedarf  diirfen  dabei  die  hier  nicht  betrachteten  Wa- 
senholzsortimente  selbstverstandlich  nicht  auBer  Acht  gelassen  werden. 


Ressourcenknappheit  und  reichsstadtische  Kompensation  93 

fehlenderUberlieferungjedochunmoglichist.  Es  wiirde  dasBild  also  zu  sehrver- 
falschen,  spiegelte  man  ausschlieBlich  die  Vier-Berge-Register  an  der  Wirt- 
schaftslage  der  Stadt.  Auch  tauchen  gar  nicht  alle  Abnehmer  von  Vier-Berge- 
Holz  darin  auf,  da  ein  gemessen  Teil  Holz  stadtischen  Einrichtungen  und  Aufga- 
ben  zugute  kam  (Vitriolhaus,  Kalkrose,  Ratsstube,  Grauer  Hof,  Wegebau,  Depu- 
tatholz  etc.)  und  an  anderer  Stelle  lediglich  summarisch  verbucht  wurde.93 

Nur  eine  Bemerkung  zur  Mengenverteilung:  Sie  scheint  1565/1566  homoge- 
ner  verlaufen  zu  sein  als  1544,  wo  wir  eine  deutlichere  Spitzengruppe  ausmachen 
konnen  -  nicht  deutlich  genug  jedoch,  um  die  These  von  einem  klaren  Holzmo- 
nopol  (des  Montangewerbes)  in  den  1540er-Jahre  zu  bestatigen.  Auch  miissen 
saisonale  Erwerbsvorlieben  der  Kaufer  noch  erklart  werden,  wie  sie  der  Diktion 
der  Register  zu  entnehmen  sind  (exemplarisch) :  Sab(a)to  nha  Reminescere  \  vj gul- 
den) Ludeke  Heifien  \  vor  Ix  molder. 

Wie  auch  immer  man  die  Verkaufszahlen  und  Kauferhorizonte  letztlich  inter- 
pretieren  mag,  die  Veranderungen  im  oben  nachgezeichneten  Einschlagsgeba- 
ren  des  Goslarer  Rates  spiegeln  bereits  eindriicklich  genug  ein  sich  wandelndes 
Nutzungsverstandnis  und  -bediirfnis  auf  Seiten  der  Stadt  Goslar  wider.  Man  be- 
wirtschaftete  die  Vier  Berge  seit  der  zweiten Jahrhunderthalfte  umsichtiger,  kon- 
trollierter  und  zuriickhaltender.  Dies  bestatigt  auch  ein  Blick  in  die  Tafelamtsbii- 
cher  spaterer Jahre,  in  denen  die  Verkaufe  an  Malter-  und  Wasenholz  sowie  des- 
sen  jeweilige  „Produktion"  verrechnet  sind:  Die  Einschlagsmengen  stagnierten 
auf  einem  relativ  moderaten  Level  von  einigen  hundert  Maltern  (Holz)  bzw. 
Schock  (Wasen).94  Die  Mentalitat  vom  einfach  abzuerntenden,  holzernen  acker 
hatte  man  aufgegeben,  um  sich  fortan  dem  Ziel  von  einem  herlich  schoen  holtz95  zu- 
zuwenden. 


93  StA  GS  B  2283,  Upnhame  van  vorkofftem  holte  uth  den  veer  barghen  de  anno  xliiij,  xlv,  xlvj 
und  xlvij,  (nach  1547). 

94  Z.B.  StA  GS  B  91,  Tafelamtsrechnung  1580:  716  Schock;  B  100,  Tafelamtsrechnung 
1585:  645  Malter,  197  Schock;  damals  freilich  hatte  der  Rat  -  rechtlich  abgesichert  -  auch 
wieder  andere  Waldbezirke  zur  Verfiigung  (Stadtforst),  und  muBte  nicht  in  den  Vier  Bergen 
soviel  wie  moglich  einschlagen.  DaB  die  geminderten  Einschlagsvolumina  nicht  einem 
schlechterdings  devastierten  Waldzustand  der  Vier  Berge  geschuldet  waren,  erhellt  aus  den 
in  Kap.  4  zu  besprechenden  dortigen  Konflikthorizonten  -  das  Holz  war  da  und  man  stritt 
sich  trefflich  darum.  Seit  Mitte  der  1590er -Jahre  blieben  die  entsprechenden  Rubriken  zu 
den  Vier  Bergen  in  den  Registern  dann  iibrigens  leer.  Der  Streit  mit  dem  Herzog  legte  die 
stadtische  Waldwirtschaft  dort  also  offenkundig  lahm. 

95  So  werden  die  Vier  Berge  dann  -  vielleicht  bewuBt  beschonigend  -  vom  Rat  im  Kon- 
text  seiner  Querelen  mit  dem  Herzog"  und  seinen  Untertanen  bezeichnet  (StA  GS  B  2691, 
Verzeichnisse  der  Ldnderey  davon  der  Vorwalter  zu  Walckenrede  die  Zinse  einem  Ehrbaren  Rade  der 
Stad  Goslar  jehrlichs  vorheentholt  und  auffnimpt,  (nach  1595),  fol.  lr). 


94  Cai-Olaf  Wilgeroth 

4.   Waldfrevel:  Der  Amtmann  zur  Liebenburg,  die  Bauern  des  Umlandes 
und  die  Ohnmacht  eines  Forsters. 

Die  Auswertung  der  Malterholzregister  hat  ergeben,  daB  sich  beim  Rat  der  Stadt 
Goslar  nach  dem  Riechenberger  Vertrag  und  dem  endgiiltigen  Verlust  der 
Harzwaldungen  offenbar  ein  ProzeB  des  Umdenkens  in  der  Waldbewirtschaf- 
tung  vollzogen  hatte.  Dementsprechend  verfolgte  man  nunmehr  langerfristige 
und  nachhaltigere  Ambitionen  in  den  Vier  Bergen.  Spatestens  seit  dem  endgiil- 
tigen Erwerb  der  Walkenrieder  Waldungen  im  Jahre  1579  ist  dabei  auch  an  ein 
forstwirtschaftlich  breiteres  Nutzungsspektrum  zu  denken  als  nur  die  Erzeugung 
von  Brennholz-  und  Wasensortimenten  im  Rahmen  einer  Niederwaldbewirt- 
schaftung. 

Dies  wird  aus  einem  anderen  quasi-seriellen  Quellenbestand  deutlich,  der  im 
Zuge  der  baldigen  Auseinandersetzungen  zwischen  der  Stadt  Goslar  und  den 
Herzogen  von  Braunschweig-Wolfenbiittel  um  die  Vier  Berge  und  die  iibrigen 
Walkenrieder  Giiter  entstanden  ist.  Es  handelt  sich  um  eine  Reihe  von  protokol- 
larischen  Berichten  des  stadtischen  Vier-Berge-Forsters  Dietrich  Elling  iiber  Ver- 
letzungen  der  Goslarer  Waldhoheit  vom  landesherrlichen  Umland  her.  Diese 
Dokumente96  liegen  in  dichter  Folge  fur  die  Jahre  1599-1628  vor  und  spiegeln 
nicht  nur  die  stadtischerseits  zu  beklagenden  Einfalle  und  Holzfrevelungen 
durch  die  herzoglichen  Amtsuntersassen  und  -bediensteten  wider.  Vielmehr 
spricht  aus  ihnen  auch  -  quasi  ex  negativo  und  zwischen  den  Zeilen  gelesen  -  das 
stadtische  Gegenmodell  zum  „schandlichen  Treiben"  der  Bauern  und  Amtleute. 
In  Grundziigen  erfahren  wir  so  etwas  iiber  die  Idealvorstellungen  der  Stadt  (bzw. 
ihres  Forsters)  von  einer  richtigen  und  guten  Waldbenutzung.  Zugleich  werden 
uns  aufschluBreiche  Details  iiber  damalige  wirtschaftliche,  forstliche  und  gesell- 
schaftliche  Strukturen  rund  um  den  Wald  mitgeteilt. 

Bevor  wir  uns  diesen  sehr  lebensnahen  Beschreibungen  naher  widmen,  sei 
aber  die  Frage  geklart,  wie  es  dazu  kommen  konnte.  Hatte  nicht  Goslar  mit  Wal- 
kenried  einen  formellen  Abnutzungs-  bzw.  Ubereignungsvertrag  hinsichtlich  der 
Vier  Berge  und  sonstigen  Liegenschaften  geschlossen?  Und  dies  nicht  zuletzt  des- 
halb,  um  dem  bekanntermaBen  gleichsam  vorhandenen  Interesse  des  Landes- 
herrn  (Saline  Liebenhall)  einen  rechtserheblichen  Riegel  vorzuschieben  -  auch 
vor  dem  Hintergrund  gemeinsamer  klosterlicher  wie  stadtischer  „ Antipathie"  ge- 
geniiber  territorialstaatlichen  Mediatisierungsbestrebungen? 


96  Ein  chronologisch  geschlossener  Bestand  von  etwa  siebzig  Folioseiten  (Einzelblat- 
ter/Doppelbogen)  in  StA  GS  B  2452;  die  Ursache  seiner  Genese  diirfte  die  gleiche  sein  wie 
bei  den  vom  Verfasser  eingehend  untersuchten  Gravamina  des  Forstes  von  1525ff.  (vgl.  oben 
Anm.  36):  man  sammelte  Argumente  fur  einen  ReichskammergerichtsprozeB  in  Form  von 
Forstfrevelereignissen. 


Ressourcenknappheit  und  reichsstadtische  Kompensation  95 

Die  Erklarung  findet  ihren  Ausgangspunkt  in  der  Entwicklung  der  Walkenrie- 
der  Schirm-  und  Schutzherrschaft  begriindet.97  Auf  die  religions-  und  territorial- 
politisch  verworrene  Situation  ist  hier  nicht  naher  einzugehen,  ebensowenig  auf 
die  innerkonventlichen  Differenzen.  Nur  soviel  sei  mitgeteilt:  Die  Grafen  von 
Honstein,  kaiserlich  verordnete  Inhaber  der  Schutzvogtei  iiber  das  Kloster  im  16. 
Jahrhundert  und  seit  1567/78  bestatigte  Administratoren,  hatten  als  Inhaber  der 
Vermogensverwaltung  und  Wirtschaftsfiihrung  den  VerauBerungen  seitens  des 
Konvents  bzw.  seiner  Vorstander  an  die  Stadt  stets  zugestimmt,  hatten  solche  so- 
gar  gefordert  zwecks  Sanierung  der  Klosterokonomie.98  Die  eigentlichen  ober- 
schutzherrlichen  Gerechtsame  iiber  Walkenried  besaB  jedoch  das  kurfiirstliche 
Haus  Sachsen.  Nachdem  es  diese  im  Jahr  1574  an  das  Bistum  Halberstadt  abge- 
treten  hatte,  wurden  sie  unter  der  bischoflichen  Regierung  des  Welfen  Heinrich 
Julius  1583  von  dort  an  Braunschweig-Wolfenbiittel  iibergeben;  letzteres  besaB 
zugleich  die  Anwartschaft  auf  die  Halberstadtischen  Lehen  Honsteins.  Mit  dem 
Tode  des  Grafen  Ernst  von  Honstein  im  Jahre  1593  standen  Herzog  Heinrich  Ju- 
lius sowohl  die  Obervogtei  als  auch  die  bisher  seitens  Honstein  ausgeiibte 
Schutzherrschaft  zu.  Folgerichtig  wahlte  ihn  der  Konvent  zum  Administrator. 

Damit  sollten  die  Probleme  fiirGoslarbeginnen,  denn  der  Herzog  forderte  die 
verauBerten  Giiter  fiir  das  Klostervermogen  zuriick,  indem  er  die  geschlossenen 
Vertrage  widerrief:  Sed  tamen  ipsi  contradictum  est,  a  Reverendifeimo  &  Illustrifeima 
Pricipe  &Domino,  Dn.  Hernico-Iulio.  Episcopo  Halberstadens.  DuceBrunsvic.  &Lunae- 
burg.  Administrator e,  quod Monasteium  inprecio  enormiter  esset  laesum;  quod  Conventua- 
les primarij  ad  contractum  non  essen(t)  adhibibiti;  quod non  accefeisset  consensus Illusitri- 
Jiimi  Principis,  Dn.  Iulij  Ducis  Bruns.  & Lunaeburg  sub  cuius  iurisdictione  nonnihil  bo- 


97  Vgl.  Heutger,  wie  Anm.  22,  S. 63-65  und  69-72  (Die  Administratoren  des  Klosters); 
Alphei,  wie  Anm.  22,  S.  690-695;  Leuckfeld,  wie  Anm.  18,  S.  105-119;  Gerhard  Streich, 
„Stift  und  Closter  Walkenried".  Die  niedersachsischen  Zisterzen  zwischen  Reichsstand- 
schaft  und  Landsassigkeit,  in:  Peter  Aufgebauer  u.a.  (Hrsg.),  Festgabe  fiir  Dieter  Neitzert 
zum  65.  Geburtstag,  Bielefeld  1998,  S.  196-228,  hier  S.  213-217;  Friedrich  Wagnitz,  Walken- 
ried und  die  Geschichte  der  Welfen,  Walkenried  1982,  S.  6-8;  die  Einzelnachweise  unter- 
blieben. 

98  Eckstorm,  wie  Anm.  16,  pag.  260:  Huic  contractui  quidem  consensum praebuerunt  Volck- 
marus.Wolfgangus  Comes  ab  Honstein,  &  Johannes  S.  Theologiae  Doctor,  Veteris-Campi  Abbas.  Der 
Abt  von  Altenkamp  war  damals  Visitator  des  Klosters;  vgl.  auch  die  spatere  Klageschrift 
des  Rates  gegen  Herzog  Heinrich-Julius  in  den  Artikeln  8  bis  11  (StA  GS  B  2691). 

99  Ebd.,  pag.  260.  Trotz  seiner  personlichen  Nahe  zu  den  welfischen  Administratoren, 
widmete  er  sein  Chronicon  doch  Herzog  Friedrich-Ulrich,  stellte  der  spatere  Prior  Walken- 
rieds  hier  Zweifel  an  der  RechtmaBigkeit  des  herzoglichen  Widerrufs  der  Vertrage  in  den 
Raum:  An  etiam penes  Procuratorem  fuerit potestas  vendendi  bona  ista primaria,  iudicet penes  quern 
est  iudicium.  Ilia  sed  in  Camera  Augusta  sub  iudice  lis  est.  (ebd.). 


96  Cai-Olaf  Wilgeroth 

nur  am  Rande;  ebensowenig  furs  Erste  die  Frage  der  vorgeblichen  oder  tatsachli- 
chen  herzoglichen  Motive.100  Entscheidend  sind  vielmehr  die  konkreten  Vor- 
kommnisse  im  Zuge  einer  Auseinandersetzung  um  die  holzernen  Ressourcen  der 
energie-  und  rohstoffbediirftigen  Nordharzregion. 

Noch  bis  in  das Jahr  1593  hinein  war  mit  den  Vier  Bergen  aus  Sicht  der  Stadt  al- 
les  in  Ordnung,  und  es  ist  anzunehmen,  daB  man  die  Bestande  seit  knapp  14  Jah- 
ren  vollig  eigenverantwortlich  am  Unter-  wie  Oberholz  nutzte.  Unter  dem  18. 
August  1593  wendet  sich  der  herzogliche  Bergvogt  an  den  Rat,  weil  jetz  vor  den 
Barge  an  dribescheiben  in  den  gebellen  [=  Gopel/Geipel]  hoch  nottihg.  Nicht  alleine  auff 
m g Fund Herren gruben  besonders  auch  so  wollauffEinesErbaren  rades gruben.Deshalb 
gelange  die  Bitte  an  den  Rat,  dieselben  wollen  zu  der  behuffdurch  denforster  einen  bu- 
chen  baum  zu  hauwen  an  weissen  lassen.101  Wir  erfahren  nicht,  ob  und  wo  der  Rat 
den  erbetenen  Buchenstamm  anzuweisen  und  zu  fallen  verstattet  hat.  Da  das 
Schriftstiick  jedoch  in  einem  Aktenkonvolut  iiberliefert  ist,  welches  sich  aus- 
schlieBlich  mit  den  Vier  Bergen  beschaftigt,  diirfen  wir  zumindest  annehmen, 
daB  der  Rat  der  Bitte  in  diesem  Waldbestand  nachkam  (oder  zumindest  spontan 
diese  Waldungen  vor  Augen  hatte,  als  es  um  die  Uberpriifung  der  Erfiillbarkeit 
ging) .  Losgelost  vom  tatsachlich  erfolgten  Einschlag  einer  Buche  gehen  daraus  je- 
doch zwei  umwelt-  wie  herrschaftsgeschichtlich  wichtige  Informationen  hervor: 
Erstens,  die  Vier  Berge  wurden  vom  Rat  mittlerweile  als  Bau-  und  Werkholzre- 
servoir  angesehen,  und  d.h.  auch  genutzt,  miissen  also  in  einem  adaquaten  Zu- 
stand  gewesen  sein.102  Zweitens,  die  herzogliche  Seite  sah  sich  damals  offenbar 
noch  an  die  RechtmaBigkeit  der  Walkenrieder  Vertrage  gebunden  (oder  gab  sol- 
ches  vor)  -  immerhin  ersuchte  man  ganz  offiziell  um  eine  Art  von  „Amtshilfe". 

Doch  weder  fur  die  Giiterkontrakte  noch  fur  die  Waldungen  sollte  diese  Art 
des  Bestandsschutzes  noch  sehrlange  gewahrt  bleiben:  Erste  Befiirchtungen  wur- 


100  Vgl.  unten  Kap.  6. 

101  StAGSB2452. 

102  Es  war  dem  Verfasser  nicht  moglich,  die  technikgeschichtliche  Frage  nach  den 
Durchmesseranforderungen  von  Treibscheiben  im  Gopel/Geipelbetrieb  zu  klaren.  Laien- 
haft  interpretiert  hat  man  sich  wohl  nicht  eben  den  geringsten  Brusthohendurchmesser  der 
benotigten  Buchenbaume  vorzustellen,  wenn  die  Treibscheiben  durch  das  bloBe  Schneiden 
von  Baumscheiben  erzeugt  wurden.  Insofern  laBt  sich  so  auf  das  zumindest  vereinzelte  Vor- 
handensein  stattlicher  Oberholzbaume  in  den  Vier  Bergen  schlieBen;  zur  damit  einherge- 
henden  Frage  der  tatsachlichen  Nutzung  der  Vier  Berge  als  Bauholzreservoir  sei  zudem  an- 
gemerkt,  daB  die  damaligen  Goslarer  Tafelamtsregister  ebenso  wie  zeitgleiche  Spezialab- 
rechnungen  fur  Bauholz  leider  durch  ausgesprochene  Brevitat  bzw.  Formalisierung 
gekennzeichnet  sind.  Dies  hat  zur  Folge,  daB  zwar  Bauholzquantitaten  und  mitunter  -qualit- 
aten  benannt  werden,  nicht  jedoch  deren  Herkunft  (Forstorte  etc.).  Die  im  Folgenden  ange- 
deuteten  Erkenntnisse  zum  Nutzungshorizont  der  Vier-Berge-Waldungen  leiten  sich  des- 
halb  ausschlieBlich  aus  konfliktiven  Quellenbestanden  ab. 


Ressourcenknappheit  und  reichsstadtische  Kompensation  97 

den  sogar  schon  einen  Monat  vor  der  Bauholzanfrage  des  Bergvogtes  laut.103  In 
einer  notariell  beglaubigten  Protestatio  geben  Biirgermeister  und  Rat  zu  Protokoll, 
ihnen  sei  nach  angelegter  kundtschaft glaubwiirdig furkommen  [...],  welcher gestalt  der 
furstliche  Braunschweigische  Amtmann  zu  Liebenburg,  auch  Bergvogten  und  Oberverwal- 
ters  Knecht  alhier,  neben  noch  anderen  zweyen,  so  ihnen  unbekannt,  durch  Winckelgafen 
am  verschienen  Sonnabendt,  war  der  14.  tagjulij  stylo  veteri,  bei  abendtlicher  zeitt  zwi- 
schen  sieben  und acht  uhren  ohngefehrlich  :\  welches  ohn  alien  zweiffel [.  .  .] damit  es  desto- 
weniger  von  den  nachbarn  in  acht genommen  wiirde,  mochte geschehen  \:  zu  eines  Erbaren 
Rahts  hoiffe  der  Graue  oder  walckenreider  hoiffgenant  sich  solten  gefunden  haben,  daselbst 
mitteinander  underredung  gepflogen  und  undt  nach  gepflogener  solch  underredung  der 
amptman  den  ring  an  der  thiir  ergriffen,  auch  ein  klein  spanchen  vor  derselben  thiir  ausge- 
schnitten,  und  die  andere  ihme  darzu  glilck  gewiinschet,  darbei  es  auch  nicht  erwenden  las- 
sen,  sondern  den  folgenden  Sontags  morgen  am  sutmerberge  in  dem  feldtbusche  am  knicke, 
auch  in  den  Vier  bergen  neben  Peter Bruningfl.  Oberforstersichfinden,  daselbst  zwei  mahl- 
zeichen,  als  wolffangel  an  zwei  Baume  hauen  lassen,  ferner  zu  Immenrode  eines  erbarn 
Raht  Pfbchtener  [Pdchtener?]  vor  sich  bescheiden,  undt  was  undt  wieviel  ein  jeglicher  an 
meierzahl,  an  acker  wiesen  undsonst  hette,  erkundiget  haben  sollten.  Obwohl  der  Rat  be- 
kennen  muB,  daB  man  noch  zur  zeitt  nicht  grundtlich  wissen  kontte,  wohin  solches  ge- 
richtet  oder gemeinet,  so  protestiere  er  schon  jetzt  fiir  den  Fall,  daB  es  dahin  gemeint 
sein  solte,  das  der  amptman  zu  behuffl.f.g.  undHerrn,  HerzogHeinrichsJulij,  sich  zur  pos- 
session desselben  hoffes,  geholzes,  feldtbusch,  landerei  und  gueter  zunehmen  gesinnet.  Man 
droht  sodann  mit  dem  Gang  vor  Reichskammergericht  wie  auch  mit  Pfandungs- 
und  VerfestungsmaBnahmen  vor  Ort,  um  seinen  rechtmaBigen  besitzzu  manuteni- 
ren.  Allerdings  wird  beschwichtigend  betont,  man  hielte  das  Ganze  gegebenen- 
falls  fiir  einen  bloBen  Alleingang  des  Amtmanns  und  seiner  Begleitern,  mochte 
dahinter  aber  kaum  eine  herzogliche  Initiative  vermuten. 

DaB  der  Rat  mit  seinen  MutmaBungen  durchaus  richtig  gelegen  hatte,  zeigt 
schon  die  Schilderung  der  jeweiligen  Reaktion  genannter  „Verdachtiger"  auf  die 
Uberbringung  dieses  Protestschreibens:  Wahrend  der  Amtmann  Peter  Droge- 
miiller  die  amtliche  Kopie  des  Notariatsprotokolls  vom  stadtischen  Boten  ohne 
besondere  Widerworte  annimmt,  reagieren  Oberforster  Peter  Briining  und  Berg- 
vogt  Heinrich  Scharre  so,  als  fiihlten  sie  sich  bei  etwas  ertappt:  Der  eine  habe  das 
Ganze  durchaufe  nun  nicht  wollen  hdren,  sondern  ist  stracks  davon  gangen,  der  andere 
habe  die  Dokumente  weder  hdren  noch  annehmen  wollen. 

Zweifelsohne  hatte  es  sich  ja  auch  um  eine  konspirative  „Nacht-und-Nebel- 
Aktion"  gehandelt,  bei  der  man  sich  -  mangels  offizieller  Legitimation?  -  sogar 
genotigt  gesehen  hatte,  die  eigene  Zuversicht  durch  die  Semiotik  symbolischer 
Gesten  zu  befordern:  Die  Tiir,  ihr  Ring  und  dessen  Ergreifung  konnten  fiir  die 

103    StA  GS  B  2452,  Protestatio  des  Rates  (Notariatsinstrument),  1593  Juli  18. 


98  Cai-Olaf  Wilgeroth 

Beanspruchung  des  Stadthofes  und  der  ihm  qua  Ertragsspeicherung  und  Pachter- 
hebung  administrativ  zugeordneten  Walkenrieder  Acker  stehen;  der  Holzspann 
miifite  im  Sinne  eines  pars  pro  toto  als  Versinnbildlichung  der  holzernen  Res- 
sourcen  innerhalb  der  zisterziensischen  Besitzmasse  gelesen  werden,  also  fur  die 
Vier  Berge,  den  Sudmerberg  sowie  verstreut  liegende  Einzelgeholze  stehen.  Von 
daher  wiirden  auch  Interesse  und  Beteiligung  von  Oberforster  und  Bergvogt 
plausibel  -  sie  brauchten  das  Holz.  Der  Amtmann  seinerseits  hatte  gewisse  terri- 
toriale  Ambitionen:  Die  Walkenrieder  Giiter  lagen  groBtenteils  in  seinem  Amts- 
bezirk,  stellten  jedoch  verfiigungsrechtlich  gesehen  extraterritoriales  Gebiet  dar; 
nicht  zuletzt  benotigte  auch  er  permanent  Holz  -  wir  denken  an  den  unter  Beteili- 
gung seines  Vorgangers  1537/1538  miBlungenen  Versuch,  sich  die  Vier  Berge  fiir 
die  Saline  Liebenhall  einzuverleiben.104 

Ob  damals  schon  der  Herzog  fiir  das  Vorgehen  seiner  lokalen  Amtstrager  for- 
mell  verantwortlich  zeichnete,  geht  aus  den  vorliegenden  Dokumenten  nicht  her- 
vor,  ist  jedoch  bei  allem,  was  iiber  Herzog  Julius'  Regierungsintensitat  bekannt 
ist,  mehr  als  wahrscheinlich.  Die  sehr  bemiihte  Unschuldsvermutung  des  Rates 
diirfte  diplomatischen  Riicksichten  geschuldet  gewesen  sein.  Spatestens  fiir  das 
Jahr  1597  werden  solche  Uberlegungen  dann  ohnehin  obsolet,  weil  man  aus  be- 
rufenem  Munde  von  den  wahren  Absichten  des  Herzogs  unterrichtet  wird: 105  Im 
Kontext  einer  eher  unbedeutenden,  jedoch  symptomatischen  Auseinanderset- 
zung  um  eine  vom  herzoglichen  Forster  veranlaBte  Abholzung  des  biirgerlicher- 
seits  gepachteten  Buschwerks  deft  Suttmerberges  erklart  der  Oberzehntner  Christof 
Sander  gegeniiber  dem  Ratssyndikus  und  im  Beisein  seiner  Kollegen  Peter  Briin- 
ing  und  Andreas  Koch  (Forster)  unmiBverstandlich,  daB  er  in  derlei  Angelegen- 
heit  nicht  gedenke,  sich  in  weitleuffige  disputation  mit  den  stadtischen  Gesandten 
zu  begeben.  Vielmehr  were  (es)  aberan  deme,  dafi  vor dieser Zeitt  ihn  zwei  underschiedt- 
liche  furstliche  befehlsschreiben  zu  handen  kommen,  darinnen  ihnen  sich  der  Walckenriedi- 
schen  holtzungk  anzunehmen  ufferlegt.  Ahnliches  gelte  fiir  den  Amtmann  zur  Lieben- 
burg  und  die  iibrigen  Walkenrieder  Giiter.  Und  weil  sie  solche  befehle  noch  bei  ihnen 
hetten,  theten  sie  sich  nach  denselbigen  richten. 

Damit  war  die  sprichwortliche  Katze  aus  dem  Sack,  und  es  verwundert  direkt 
ein  wenig,  daB  die  prozeBbefordernde  Supplikation  des  Rates  an  das  Reichskam- 
mergericht  noch  fast  ein Jahr  auf  sich  warten  lieB.  Erst  unter  dem  31.  August  1598 
liegt  diese  in  den  Akten  vor. 106  Der  Quellengattung  gemaB  wird  in  ihr  die  Vorge- 
schichte  des  Konfliktes  wiedergegeben  und  dabei  insonderheit  ein  geholtze,  die  Vier 


104  Informativ  zum  Zusammenhang  von  Holzverbrauch  und  Saline  vgl.   Witt,  wie 
Anm.  71,  S.  62-65  (Der  Betrieb  der  Saline  Liebenhall  unter  den  Herzogen). 

105  StA  GS  B  2692,  Instrumentum  super  turbata  possessione  sindici  (Notariatsinstrument) , 
1597  September  24. 

106  StA  GS  B  2692,  Original  supplicatio  pro  citations,  1598  August  31. 


Ressourcenknappheit  und  reichsstadtische  Kompensation  99 

Berge  genandt  sowie  die  Nutzung  ann  ober  undt  undergeholtze  hervorgehoben.  Nach 
einer  Phase  des  ungestorten  Besitzes  und  NieBbrauches  durch  die  Stadt  und  stets 
bereitwilliger  Pachtzinsverbuchung  seitens  des  Klosters  sei  man  daran  dann  von 
demjahr  93  hero  de facto  spoliiert  und  destituirt  worden.  Neben  den  recht  abstrakten, 
summarischen  Schilderungen  der  pacht-  und  meiergutbezogenen  Querelen  (Ab- 
gabensperre/Pachtgeldentzug)  wird  sodann  zuvorderst  derProbleme  in  den  Vier 
Bergen  bemerkenswert  konkret  gedacht.  Gleiches  trifft  zu  auf  die  beim  Reichs- 
kammergericht  eingereichte  und  iiber  weite  Strecken  wortgleiche  Klageschrift 
des  Rates.107  Synoptisch  greifen  wirnurjene  Details  heraus,  die  das  oben  bereits 
skizzierte  Bild  vom  Vorgehen  des  Amtmanns  und  des  Oberforsters  in  den  Vier 
Bergen  bzw.  Immenrode  vervollstandigen:108  Ersterer  habe  namlich  nicht  bloB 
zwischen  Vier  Bergen  und  Heilig-Kreuz-Geholz  an  einen  Schneidbaum,  daran  eines 
Erbaren  Raths  march  gestanden,  ein  ander  march,  alji  ein  Wolffangell  hauwen,  und  den 
aufigehauwenn  sporn  mit  gein  Immenrode  nehmen  lassen,  sondern  itzgenannter  Ampt- 
mann,  undsein  mitgefehrte  hatten  im  Zuge  dieser  frevelhaften  Entfernung  des  stad- 
tischen  KuhfuBes  (Grenzeichen)  diesen  erst  noch  respektlos  in  ihren  Schutzwagen 
geworffen  und  sodann  im  dor ff  Immenrode  [.  .  .J  zu  verstehen  geben,  das  sie  dadurch  das 
Geholze  die  Vier  Berge  genandt  eingenommen  hetten. 

Man  beachte:  Bezeichnenderweise  verkiindete  Amtmann  Peter  Drogemiiller 
seine  Tat  demonstrativ,  unmittelbar  und  personlich  vor  den  ortsansassigen  Bau- 
ern  und  Meiern  von  Immenrode.  Einerseits  sollten  hier  sicherlich  ipso  facto  ge- 
wandelte  Macht-  und  Hoheitsverhaltnisse  schlechterdings  rituell  implementiert 
werden  -  auch  und  gerade  bei  den  der  Stadt  Goslar  verpflichteten  Pachtern.  An- 
dererseits  konnte  der  Amtmann  vielleicht  begriindetermaBen  hoffen,  daB  man 
ihm  gerade  in  Immenrode  und  den  anderen  umliegenden  Dorfern  bereitwillig 
Gehor  fur  seine  Botschaft  schenkte:  Immerhin  waren  die  dort  ansassigen  Bauern 
durch  die  in  den  Vier  Bergen  weitgehend  exklusiv  und  streng  gehandhabte  stadti- 
sche  Eigenwaldwirtschaft  als  direkte  Anrainer  und  ehemalige  Nutzer  der  Bestan- 
de  ganz  besonders  betroffen.109  Der  Amtmann  wuBte  hier  moglicherweise  um 


107  StA  GS  B  2691,  Articulierte  Clag,  (undatiert);  NdsStA  WF  6  Alt  Nr.  545,  Klageschrift 
des  Rates,  1599  Marz  20. 

108  Die  Einzelnachweise  unterbleiben,  alle  Zitate  stammen  im  Folgenden  aus  den  in 
Anm.  106  bzw.  107  genannten  Dokumenten  (Supplikation  bzw.  Klageschrift)  im  StA  GS 
bzw.  NdsStA  WF. 

109  DaB  der  Rat  als  Pachtherr  der  dortigen  Bauern  diese  natiirlich  nicht  ganzlich  aus  den 
angestammten  Waldungen  heraushalten  konnte,  wird  deutlich  aus  einer  Formulierung  in  StA 
GS  B  2691,  (nach  1595),  einem  Verzeichnisse  der  Ldnderey  davon  der  Vorwalter zu  Walckenrede  die 
Zinse  einem  Ehrbaren  Rade  der  Stad  Goslarjehrlichs  vorheentholt  und  auffnimpt  Dort  heiBt  es  fol.  1  r : 
Ehrstlich  die  Hoeltzinse  die  vierebarge  genandt,  ist  ein  herlich  schon  holtz.  Der  Rat  kassierte  also 
durchaus  Holzzinsen  fur  Nutzungen  in  den  Vier  Bergen;  und  selbst  wenn  hier  nicht  gesagt 


100  Cai-Olaf  Wilgeroth 

ein  schwelendes  Unzufriedenheitspotential  gegeniiber  der  stadtischen  Admini- 
stration. Dieses  sollte  sich  in  den  folgendenjahren  undjahrzehnten  dann  auch  in 
zunehmend  unverhohleneren  und  selbstbewuBteren  Holz-  und  Waldfreveln  der 
Bauern  Bahn  brechen.  Der  vorgeblich  so  friedliebenden  Klage  des  Rates  von 
1599,  daB  vondiesem  allemzu  Goslar  und darumb  hero  insonderheit  aber  im  Gerichte  Lie- 
benburgzu  Handtorff,  Immenrode,  im  Gericht  Wiedela  zu  Weddi  und  andern  obarticulir- 
ten  orthen  ein  gemein  geschrey  und  unmuth  sey,  konnte  also  mitunter  die  begriindete 
Befiirchtung  zugrunde  gelegen  haben,  dieses  Geschrei  und  derUnmut  richte  sich 
vor  allem  gegen  die  Stadt  und  ihre  Ressourcenverwaltung  selbst. 

Den  AnstoB  lieferte  dabei  das  offizios-offizielle  Vorgehen  des  herzoglichen 
Forstpersonals,  welches  fortan  keine  Gelegenheit  auslieB,  die  stadtische  Holznut- 
zung  entwederzu  behindern  odersich  selbst  in  den  Vier  Bergen  zu  betatigen:  Bei- 
spielsweise  seien,  als  ein  Erbar  Rath  vor  ungefehr  dreien  jaren  in  denselben  vier  Bergen 
gemeiner  Stadt  und Biirgerschafft  zu guthe  etzlich  wafiholtz hawen  lassen,  [.  .  .]  diefurstli- 
che  Braunschweigische  Holtzforstere  zugefahren,  den  holzhauweren  das  hauwen  verbothen, 
die  fuhrleute  genotiget,  das  auffgeladen  holtze  abzuladen,  auch  etzliche  von  denselben  ir 
pferdt  und  wagen  aufzuspannen  angehalten  und  das  iibrige  wajiholz,  ohngefehrlich  43. 
Schock,  wohin  ihne  geliebet  abfiihren  lassen.  Den  Holzforster  des  Rates,  welcher  die 
Bestande  beforsten  und  begehen  sollte,  hatten  sie  dort  lengernicht  leiden  wollen,  ihn  al- 
so vertrieben  und  zu  dem  endt  ihme  ein  rohr,  so  er  neben  einen  spieji  an  der  seitten  zutra- 
gen  gepflogen,  genohmen.  SchlieBlich  habe  der  herzogliche  Oberforster  Peter  Briin- 
ing  zu  mehren  [Malen]  [.  .  .]  auji  derselbigen  vier pergen  [.  .  .]  hurten-Ruthen  zu  hauwen 
und  auszufuhren  vergdnnet,  und  dort  selbst  auch  Holz  einschlagen  lassen. 

Diese  eindringliche  Betonung  der  wald-  und  holzbezogenen  Konfliktereignis- 
se  bestatigt  im  Nachhinein  einmal  mehr  den  oben  gewonnen  Eindruck,  es  sei 
dem  Rat  bei  seinen  Walkenrieder  Bemiihungen  zuvorderst  um  den  Erwerb  drin- 
gend  benotigter  Holzressourcen  gegangen. 

Wie  sehr  wir  dann  das  in  den  Frevelprotokollen  Dietrich  Ellings  festgehaltene 
Gebaren  der  landesherrlichen  Untertanen  und  Beamten  in  den  Vier  Bergen  als 
im  Widerspruch  mit  der  stadtischen  Idealvorstellung  von  richtiger  Waldbehand- 
lung  und  Holznutzung  stehend  lesen  konnen,  wird  deutlich  anhand  einer  speziel- 
len  Formulierung  in  der  erwahnten  stadtischen  Klageschrift:  [Artikel]  56.  Item 
wahr,  das  auch  der  furstliche  Braunschweigische  Oberforster,  Peter  Briining  genannt,  sich 
auch  dip  jars  noch  ohnlengst  neben  etzlichen  des  stiffts  Walckenried  verwanten  und  dienern 
darinnenfinden  lassen,  holzhauwer  anlegen  und  weitlich  dawider  hauen  und  das  holz  hin 


wird  von  wem,  so  haben  wir  doch  an  die  Bauern  des  Umlandes  zu  denken.  Goslarer  Burger 
hingegen  diirften  ihr  Holz  auf  dem  stadtischen  Holzmarkt  vom  Rat  erworben  haben.  Die  im 
Folgenden  besprochenen  Forsterberichte  Dietrich  Ellings  zeigen  jedoch,  daB  die  Bauern  da- 
bei vom  Rat  in  ihrer  Nutzung  strikt  reglementiert  worden  sind. 


Ressourcenknappheit  und  reichsstadtische  Kompensation  101 

und  wieder  verkauffen  lassen.110  Der  hier  zentrale  Ausdruck  weitlich  dawider  laBt 
sich  mit  Hilfe  der  Gebriider  Grimm  sprachlich  zu  einem  „unwaidmannisch"  mo- 
dernisieren.111  Damit  wird  sprachterminologisch  die  Referenz  zu  einem  allge- 
meinen  waldwirtschaftlichen  Wissens-  und  Normenkatalog  hergestellt,  und  wir 
diirfen  daher  annehmen,  daB  der  Rat  offenbar  seine  eigenen  und  durchaus  wohl- 
iiberlegten  Vorstellungen  von  einem  brauchbaren  Wald  und  dessen  Behandlung 
hatte.  Der  stadtische  Forster  war  diesbeziiglich  als  verlangerter  Arm  des  Rates 
Funktionstrager  vor  Ort.  Er  sollte  die  Waldbauvorstellugen  implementieren  und 
als  Korrektiv  bei  forstlichen  Fehlentwicklungen  wirken.  Insofern  sind  seine  mit- 
unter  sogar  kommentierenden  Protokolle  Ausdruck  dessen,  was  er  vor  dem  Hin- 
tergrund  der  stadtischen  „Forstplanungen"  als  korrekturbediirftig  und  schadhaft 
erachtete.  Entsprechende  Planungsgedanken  miissen  also  in  die  vorliegenden 
Texte  eingeflossen  sein  und  konnen  -  behutsam  interpretierend  -  in  ihren 
Grundlinien  herausgelesen  werden,  ohne  dabei  freilich  elaborierte  Forstwirt- 
schaftsprinzipien  zu  erhalten.112 

Eine  dementsprechende  Auswertung  soil  und  kann  hier  nur  exemplarisch  er- 
folgen,  indem  die  skizzierten  Erkenntnismoglichkeiten  im  wirtschafts-,  forst-, 
und  gesellschaftsgeschichtlichen  Bereich  schlaglichtartig  angedeutet  werden.113 

Zunachst  einmal  sind  es  forstgeschichtliche  Informationen,  die  fur  unser  The- 
ma  von  Interesse  sind,  vor  allem  in  einer  Zeit,  in  welcher  waldzustandsbeschrei- 


110  StA  GS  B  2691;  die  Variante  in  NdsStA  WF  6  Alt  Nr.  545  hat  weidtlich  dawider  hawen 
lassen;  die  Supplicatio pro  citatione  des  Rates  (StA  GS  B  2692)  schreibt  weidlich  darwider  hau- 
wen  bzw.  waidlich  dawider  (NdsStA  WF  6  Alt  Nr.  545). 

111  DWB,  Band  28,  Sp.  605:  weidlich  ~  von  Wald  (cf.  waidlich);  DWB,  Band  2,  Sp.  870: 
dawider  (uneigentlich)  ~  dagegen. 

112  Der  Verfasser  ist  sich  bewuBt,  daB  er  hier  ein  Idealbild  vom  Verhaltnis  „Entschei- 
dungsebene  -  Funktionarsebene"  zeichnet,  welches  so  in  der  historischen  Realitat  kaum 
existiert  haben  diirfte.  Gerade  am  Beispiel  der  friihmodernen  Staatlichkeit  und  ihrer  loka- 
len  Funktionstrager  ist  solches  in  der  historischen  Forschung  inzwischen  Gemeingut,  auch 
im  Bereich  des  Forstwesens  und  seiner  Geschichte:  Der  vormoderne  Forster/Forstknecht 
vor  Ort  ist  inzwischen  ins  Zwielicht  geriickt  angesichts  des  begriindeten  Verdachts  von  zwi- 
schen  Delinquenten  (Bekannte/Verwandte?)  und  Dienstherren  gespaltener  Solidaritatsbe- 
ziige  vor  allem  bei  seinen  waldpolizeilichen  Entscheidungen  (vgl.  Anm.  134).  Dies  im  Hin- 
terkopf  erscheint  der  Waldbeamte  als  hermeneutisches  Konstrukt  an  dieser  Stelle  jedoch 
brauchbar,  um  die  Forsterberichte  in  dergenannten  Weise  auszuwerten,  ohne  dabei  standig 
die  Identitat  von  forsterlicher  und  ratsherrlicher  Sichtweise  zu  hinterfragen.  Immerhin  liegt 
ein  solidaritatsbefordernder  Konflikt  mit  auswartigen  Forstfrevlern  vor.  Ohnehin  muBten 
wir  konsequenterweise  ja  auch  die  Ratsmitglieder  gegeniiber  ihren  Kollegen  und  dem  Rest 
der  Einwohnerschaft  hinsichtlich  ihrer  je  eigenen  Waldansichten  individualisieren,  was 
letztlich  am  Quellenbestand  scheitert. 

113  Ausfuhrlicher  dann  Wilgeroth,  wie  Anm.  1;  vgl.  zu  den  Berichten  kurz  auch  schon 
Holzmann,  wie  Anm.  24,  S.  91-93,  der  allerdings  nur  deren  Wert  als  Frevelprotokolle  be- 
trachtet  und  die  Vielschichtigkeit  der  Information  ignoriert. 


102  Cai-Olaf  Wilgeroth 

bende  Schriftquellen  sowohl  aus  stadtischer  Provenienz  als  auch  mit  auBerharze- 
rischer  Pertinenz  so  gut  wie  gar  nicht  vorliegen.114 

Diedrich  Ellingk  Forster  in  den  vier  Bergen  berichtet-  so  oderso  ahnlich  setzen  die 
auf  der  stadtischen  Kanzlei  aufgezeichneten  Protokolle  stets  ein  -,  daJS  in  diesem 
Jahr  [=  1599]  Curdt  Immenrodt  zu  Handorff  und  Hans  Fricken  zu  Immenrodt,  einjeder 
allejahr  ein  Fuder  Eichenholz,  so  viel  seeks  Pferde  vor  dem  Wagen  ziehen  konnen,  hawen 
liefeen}15  Eichenholz  -  eine  Baumarteninformation,  die  angesichts  ihrer  breiten 
Bekanntheit  zwar  unspektakular  erscheint,  aber  damals  in  den  Quellen  eben 
doch  nicht  so  haufig  war,  wie  man  annehmen  konnte.  Vor  allem  noch  speziellere 
Arten  sind  sparlich  erwahnt,  wie  etwa  die  haselen  und  buchen  oder  die  Linde,  wel- 
che  von  einem  Hahndorfer  zu  Gerten  geschnitten  worden  sind.116 

Natiirlich  konnten  auch  die  modernen  Palaowissenschaften,  die  Forstbotanik 
oder  die  Pflanzensoziologie  derartige  Informationen  iiber  das  prinzipielle  Vor- 
handensein  von  Baumarten  im  Untersuchungsgebiet  liefern.  Dabei  diirfte  sich 
basierend  auf  potentiellen  Waldgesellschafstypen  oder  vermittels  Makro-  bzw. 
Mikroresteanalysen  das  Spektrum  der  Arten  sogar  noch  erheblich  erweitern.  Das 
terminologische  Vorhandensein  (oder  Nicht- Vorhandensein)  dieser  oder  jener 
Baumart  in  unseren  Quellen  spiegelt  jedoch  nicht  nur  die  Existenz  eines  botani- 
schen  Phanomens  (oderdes  zeitgenossischen  Wissens  darum),  sondern  auch  die- 
jenige  eines  kulturgeschichtlichen:  Das  spezifische  Aufmerksamkeitspotential 
gegeniiber  unterschiedlichen  Baumarten  resultierte  allgemein  aus  ihrer  jeweili- 
gen  ressourcenokonomischen  Relevanz  im  Rahmen  damaliger  Gesellschafts- 
und  Wirtschaftsbedingungen.  Was  man  nicht  gebrauchte,  beachtete  man  wohl 
auch  nicht,  und  die  Zeiten  des  Botanisierens  um  seiner  selbst  Willen  waren  noch 
fern.  Oder  bediente  sich  unser  Forster  schon  einer  der  eigenen  Profession  ge- 
schuldeten,  reduktionistischen  Terminologie? 

Neben  den  Baumarten  erfahren  wir  aus  den  Konflikthorizonten  etwas  iiber  die 
Sortimentsstarken  und  Zweckbestimmung  der  Holzer,  teilweise  sogar  bezogen 
auf  einzelne  Forstorte:  drei  hundert  und  zwantzigk  schock  wasen  [.  .  .]  ferner  ein  fuder 


114  Die  seit  1546  vorliegenden  Braunschweig-Wolfenbiittelschen  Forstbereitungen  be- 
ziehen  sich  zunachst  ausschlieBlich  auf  den  eigentlichen  Harzwald  (vgl.  allg.  Hans-Joachim 
Kraschweski,  Wirtschaft  und  Gesellschaft  vor  dem  DreiBigjahrigen  Krieg,  in:  Horst-Riidi- 
gerjARCK  u.a.,  Die  Braunschweigische  Landesgeschichte.  Jahrtausendriickblick  einer  Regi- 
on, Braunschweig  2001,  S.  483-512).  Bestandesbeschreibungen  zum  Harzvorland  fehlen 
noch  lange  Zeit.  Hier  bieten  einzig  die  Erbregister  der  betreffenden  Amter  und  Kloster  eine 
Moglichkeit,  Einblicke  in  den  Zustand  der  jeweiligen  Holzungen  eines  Gebietes  zu  erhal- 
ten.  Die  diesbeziigliche  Durchsicht  ebendieser  Register  durch  den  Verfasser  ergab  dabei 
ein  sehr  disparates  Bild  vom  Informationsgehalt  dieser  Quellengattung. 

115  StA  GS  B  2452,  Forsterbericht,  1599  Mai  12. 

116  StA  GS  B  2452,  1615  Mai  27. 


Ressourcenknappheit  und  reichsstadtische  Kompensation  103 

hopfenstangen  [.  .  .]  ein  fuder  eichenholtz  [■  ■  ■]  zwei  fuder  hude  Ruden  [.  .  .]  ein  fuder 
Schnetel  [.  .  .]  und  ein  fuder  Zaun  gereden  seien  1599  von  unterschiedlichen  Personen 
unerlaubt  gehauen  worden.117  Wir  erfahren  zwar  nicht,  wo  genau  der  Einschlag 
stattfand,  und  aus  welchem  Holz  diese  Sortimente  bestanden,  aber  immerhin  be- 
kommen  wir  eine  Ahnung  davon,  in  welchen  Alterklassen  sich  der  Gesamtbe- 
stand  damals  bewegte.  Denn  zu  jedem  Sortimentsterminus  paBt  eine  bestimmte 
Starke  des  Holzes.  In  manchen  Fallen  wird  diese  sogar  genannt:  Der  Propst  zum 
Reiffenberge  [.  .  .]  habe  vor  ohngefehr  14.  tagen  in  den  vier Bergen  zehen  Eichen  Beume zum 
theill  29.  zum  theill  26.  schuh  langk  und  ein  weinigk  dicker  ah  eine  hechttonne  einschla- 
gen  lassen.  Ein  FischfaB?  -  Dies  bedeutete  einen  beachtlichen  Durchmesserund 
diirfte  unsere  schon  durch  die  Geipelscheiben  gestiitzte  These  von  einer  seitens 
der  Stadt  mittlerweile  betriebenen  Bauholzwirtschaft  in  den  Vier  Bergen  noch- 
mals  unterstreichen.118  An  anderer  Stelle  ist  von  Eichen  eines  butterfasses  dicke  die 
Rede,  was  auf  jiingeres  Alter  als  zuvor  verweiBt.  Auch  an  die  gemeinhin  schwa- 
cheren  Nutzholzsortimente  haben  wir  zu  denken,  auf  welche  es  der  Stadt  bei  ihrer 
Bewirtschaftung  ebenfalls  angekommen  sein  diirfte. 

In  seltenen  Fallen  lassen  sich  die  aus  Baumarten  und  Sortimenten  abgeleiteten 
Information  zum  Waldbestand  auch  im  Raum  verorten:  Wenn  auf  Anweisung 
Peter  Briinings,  des  herzoglichen  Oberforsters  zu  Langelsheim,  zunachst  zwei- 
hundertt  schock  wasen  in  den  Vier  Bergen  am  Kuckucksberge  gehauen  worden  sind,  und 
dieser  im  gleichen  Jahr  auch  am  Kuckucksberg  [.  .  .]  in  einem  jungen  hey  40.  Malder 
holtz,  sodann  nochmals  siebzig  Schock  Wasen  und  hundert  Malter  Holz  an  den 
Eichenheistern  nach  hauen  lassenhat,  da  zuvor  ein  Erbar  Rath  einen  hagen  machen  lassen, 
so  erfahren  wir  recht  genau  etwas  iiber  den  Forstort  Kuckucksberg  und  seinen 
vorherigen  wie  nachherigen  Bestockungsgrad.119  Derartige  Einschlagszahlen 
miiBten  nun  noch  auf  die  Waldflache  umgerechnet  werden. 

Apropos  Waldflache:  Die  Forsterberichte  geben  auch  den  einen  oderanderen 
historisch-geographischen  Hinweis  an  die  Hand:  Dem  Verfasser  hat  sich  bei  sei- 
nen Untersuchungen  bisweilen  die  Frage  nach  dem  eigentlichen  Umfang  des 
Waldgebietes  gestellt.  War  es  iiberhaupt  groB  genug,  um  ein  derart  intensives  En- 
gagement der  Stadt  zu  rechtfertigen,  wie  der  Verfasser  es  hier  darlegt?  Das  heuti- 
ge  Vier-Berge-Areal  erscheint  doch  eher  gering  dimensioniert.  Allerdings  heiBt 
es  zumjahr  1614,  daB  Henni  Unverhauen  [.  .  .]  und  Daniel  Heinen,  beide  Einwohner  zu 


117  StA  GS  B  2452,  Ftirsterbericht,  1599  Mai  12. 

118  Natiirlich  hatte  urspriinglich  nicht  die  Stadt  die  Eichen  zu  solchen  Stammdurch- 
messern  heranwachsen  lassen;  dieses  Verdienst  gebiihrte  Ende  des  16.  Jahrhunderts  wohl 
noch  der  ehemals  zisterziensischen  Bauholzschonung,  wie  sie  in  den  ersten  Abnutzungsver- 
tragen  verankert  war.  Die  Stadt  Goslar  iibernahm  diese  „Schatze"  und  diirfte  sie  weiter  ge- 
hegt  und  gepflegt  haben. 

119  StA  GS  B  2452,  Forsterbericht,  1607  Mai  16. 


104  Cai-Olaf  Wilgeroth 

Immenrode,  undt  Simon  RoJSen,  einwohner zu  jerstidde  [.  .  .J  an  einem  andern  ortt  bey  der 
oley  von  demforster  uffder  warte  angewiesen,  da  das  beste  holtz  in  den  vier  bergen  stunde, 
urn  dort  Stammwasen  zu  schlagen. 120  Neben  der  erfreulichen  Mitteilung  iiber  die 
Giite  des  dortigen  Holzes,  seien  die  mit  den  lokalen  Verhaltnissen  unvertrauten 
Leser  darauf  hingewiesen,  daB  die  Olei,  ebenfalls  ein  Waldgebiet,  hier  als  Be- 
standteil  der  Vier  Berge  benannt  wird,  heute  aber  nicht  mehr  dazugezahlt  werden 
diirfte.  Die  Vier  Berge  des  16.  Jahrhunderts  hingegen  gewinnen  dadurch  gegen- 
iiber  heutigen  Verhaltnissen  einiges  an  Ausdehnung. 

Die  schluBendliche  Auswertung  samtlicher  Forstwirtschaftsaspekte  wird  die 
oben  geauBerte  Vermutung  bestatigen,  daB  es  sich  in  den  Vier  Bergen  in  puncto 
der  vorhandenen  Sortimente  und  ihrer  erkennbaren  Verteilung  im  Bestand  spa- 
testens  Ende  des  16.  Jahrhunderts  um  einen  Mittelwald  handelte. 

DaB  bei  aller  Willkiir  der  herzoglichen  Administration  das  Holz  natiirlich 
nicht  vollig  grundlos  eingeschlagen  wurde,  sondern  auch  die  deren  Holzhauer 
entsprechend  zweckgebunden  ihre  Anweisungen  durch  Forster  und  Amtleute  er- 
hielten,  darf  man  trotz  alledem  annehmen.  Wir  erfahren  zumeist  etwas  iiber  die 
jeweilige  Bestimmung  der  unrechtmaBig  eingeschlagenen  Wasen,  Malter  und 
Stammholzer:  Holzmann  erwahnt  etwa  die  vom  Oberforster  Peter  Briining  mit 
einem  gewissen  Privatinteresse  angelegte  Ziegelei  nebst  Tongrube  bei  den  Vier 
Bergen.  Das  Holz  dazu  nahm  dieser  sich  einfach.121  Uberhaupt  waren  es  wohl 
hauptsachlich  landesherrliche  Eigenbetriebe  und  Funktionstrager,  welche  von 
dem  Holz  profitierten.  Beispielsweise  wurden  auf  GeheiB  des  Rentmeisters  Joa- 
chim Teichmeier  von  den  zimmerleuten  des  Herzogs  fur  den  Schleusenbau  an  der  II- 
se  bei  Hornburg  neun  und  zwantzigk  eichen  beume  eingeschlagen.122  Auch  die  lan- 
desherrlichen  Kloster  und  Konvente  in  Ohlhof  (Kloster  Neuwerk) ,  Riechenberg, 
Grauhof  (Kloster  Georgenberg)  und  Woltingerode  wurden  versorgt  bzw.  durften 
sich  bedienen.123  DaB  auch  die  Saline  Liebenhall  ihren  Teil  erhalten  haben  wird, 
ist  anzunehmen. 

Nicht  zuletzt  waren  es  aber  die  Bauern  des  Umlandes,  vor  allem  aus  Immenro- 
de und  Hahndorf,  welche  im  wahrsten  Sinne  des  Wortes  auf  eigene  Rechnung  ar- 
beiteten  und  so  den  Bestanden  zusetzten:  Luddeke  Unverhauen,  seines  Zeichens 


120  StA  GS  B  2452,  Forsterbericht,  1614  April  9. 

121  Holzmann,  wie  Anm.  24,  S.  92;  StA  GS  B  2452,  Forsterbericht,  1612  Marz  21,  nach 
Peter  Briinings  Tod  kaufte  der  Herzog  dessen  Witwe  die  Ziegelhiitte  ab  und  betreib  diese 
durch  seinen  Amtmann  weiter  (StA  GS  B  2452,  Forsterbericht,  1614  Marz  31  und  1618  Marz 
28;  passim). 

122  StA  GS  B  2452,  Forsterbericht,  1602  Februar  27  und  Mai  22. 

123  StA  GS  B  2452,  Forsterbericht,  1604  Januar  28:  Probst  zu  Riechenberg:  Bauholz, 
Verwalter  zum  Ohlhof:  Bauholz,  Zaungerten;  1614Juni  4:  Ohlhof:  hopffstifehn  oder  stangen; 
1599  Mai  12:  Grauhof:  hude  Ruden  fur  den  Schafereibetrieb. 


Ressourcenknappheit  und  reichsstadtische  Kompensation  105 

Forstknecht  in  herzoglichen  Diensten124  auf  der  Warte  bei  Hahndorf,  scheute 
sich  nicht,  ein  lukratives,  kleines  Familienunternehmen  nebenher  zu  betreiben: 
Das  Holz,  welches  seine  beiden  Sonne  in  den  Vier  Bergen  einschlugen,  lieB  der 
Vater  nach  der  stadt  fahren,  um  es  dort  zu  verkaufen,  teilweise  sogar  im  Zuge  des 
Vorkaufs  noch  vor  den  Toren. 125  Gerade  als  Forstknecht  machte  er  sich  damit  bei 
seinem  stadtischen  Kollegen  Elling  sehr  unbeliebt  (Berufsethos?).  Deshalb  soil- 
ten  wir  uns  bei  alien  protokollierten  Anschuldigungen  fragen,  ob  sie  der  objekti- 
ven  Wahrheit  entsprachen;  etwa  jene,  derzufolge  Unverhauen  extra  ein  herde  vieh, 
neuntzehn  heuptter  in  Kommission  nahm  und  diese  bewuBt  in  die  hey  undjungen  lo- 
hen  teglichs  treiben  liejie,  damit  die  vierBerge  und  holtzungjo  gar  verwustet  werden  sollten. 
Fur  diesen  Akt  der  Sabotage  soil  er  sogar  einen  eigen  hirten  engagiert  haben.126 

Andere  Bewohner  der  Dorfer  Immenrode  und  Harlingerode  gerierten  sich 
gleichermaBen  waldschadigend,  indem  sie  iiber  Gebiihr  ihr  Vieh  weideten  und 
standig  die  Erweiterung  der  offenbar  stadtischerseits  durchaus  zugestandenen 
Viehquoten  reklamierten:  Zwei  regularen  Rindern,  einem  Ochsen  und  13  Kii- 
hen  sollen  die  handorffschen  mitt  den  Pferden  nachfolgen  und  sagen  worumb  es  ihnen 
nicht  vergonnett  sein  sollte,  weill  die  Kiihe  die  weide  da  haben.  Hier  trifft  bauerliche 
Waldnutzungslogik  auf  stadtische  Waldschonungsbestrebungen,  ein  grundsatzli- 
ches  Problem,  dem  sich  auch  das  Heilig-Kreuz-Holz  gegeniiber  sah,  welches  bey- 


124  StA  GS  B  2452,  Forsterbericht,  1609  Januar  28,  passim:  Unverhauen  muB  durch  die 
herzogliche  Forstadministration  unter  Peter  Briining  zum  Forstknecht  iiber  die  Vier  Berge 
bestellt  worden;  in  dieser  Funktion  bewohnte  er  die  Hohe  Warte  bei  Hahndorf,  einen  der 
Grenzpunkte  des  Waldgebietes.  Es  ist  anzunehmen,  daB  Unverhauen  auch  schon  zu  Gosla- 
rer  Zeiten  eine  entsprechende  Funktion  innegehabt  hat,  da  es  damals  iiblich  war,  die  Wart- 
punkte  im  Gelande,  zumeist  Bestandteile  der  Landwehr,  mit  dauerhaften  Bewohnern  zu  be- 
setzen  und  ihnen  gewisse  Nutzungsprivilegien  im  jeweils  bewachten  Abschnitt  einzurau- 
men.  Die  Loyalitat  dieser  Personen  gait  dabei  nicht  immer  ihrem  Dienstherren,  sondern 
vielfach  ihrer  eigenen  Person.  Wenn  Unverhauen  also  zunachst  unter  Goslarer  Administra- 
tion tatig  war,  dann  jedoch  nahtlos  in  herzogliche  Dienste  iiberwechselte,  so  steht  er  bei- 
spielhaft  fur  einen  bestimmten  Typus  von  dorflich-landlichem  Funktionstrager,  wie  er  im 
Zuge  des  Territorialisierungsprozesses  in  den  sich  zwischen  stadtischer  und  landesherrli- 
cher  Gebietsdominanz  wandelnden  Rahmenbedingungen  auftauchte.  (vgl.  dazu  dann  aus- 
fiihrlicher:  Wilgeroth,  ,  wie  Anm.  1)  Dem  lag  freilich  nicht  Opportunismus  zugrunde,  son- 
dern vielfach  auch  Zwangslagen  (vgl.  unten  zu  Anm.  131). 

125  StA  GS  B  2452,  Forsterbericht,  1600  Mai  24  und  1610  Februar  16;  leider  ist  eine  Re- 
aktion  des  Rates  auf  die  extramurale  Vorkaufs-  und  intramurale  Kauftatigkeit  seiner  Burger 
nicht  vermerkt.  Steuerte  man  gegen,  wie  es  eigentlich  iiblich  gewesen  ware?  Oder  gab  man 
dem  elementaren  Bediirfnis  nach  Brennholz  nach?  Auch  andere  Dorfbewohner  betatigten 
sich  an  dieser  „Hehlerei"  des  Vier-Berge-Holzes  und  verkauften  dasselbige  als  Brennholz- 
laufer  und  Kiepentrager  in  die  Stadt  (was  im  Rahmen  ressourcenokonomischer  Stadt-Um- 
land-Verhaltnisse  prinzipiell  ja  auch  nicht  ungewohnlich  war,  abgesehen  von  der  unrecht- 
maBigen  Beschaffung  der  Ware)  (vgl.  StA  GS  B  2452,  Forsterbericht,  1599  Mai  12). 

126  StA  GS  B  2452,  Forsterbericht,  1603  Juli  9  und  1614  Juli  23. 


106  Cai-Olaf  Wilgeroth 

de  von  kuhen  undt  pferden  jo  so  weinigk  vorschonet  wurde.127  Angesichts  der  fakti- 
schen  Riickendeckung  derartiger  Aktionen  durch  die  herzogliche  Forstadmini- 
stration,  konnte  die  Stadt  derlei  Schaden  in  denjungen  Heiden  von  Pferden,  Kuhen, 
Schaffen,  und  Schweinen  damals  nur  noch  visitieren  lassen,  wohingegen  sie  friiher 
sicherlich  strenger  durchgegriffen  hatte.128  Das  gilt  auch  fur  das  wilde  Einschla- 
gen  von  Holz,  von  dem  sich  die  der  Stadt  gegeniiber  zunehmend  respektlos  auf- 
tretende  bauerliche  Bevolkerung  nicht  mehr  abhalten  lieB:  Es  kohmme  auch  nie- 
mandts  mehr  hin  in  die  vier  Berge,  allein  die  Einwohner  von  Immenrode  und  Handorff, 
und schleppen  und  dragen  das  holtz  mit  sich  nach  hauji,  auch  geben  sie  ihme,  Diederich  El- 
ling,  unnutze  wortt,  und  sagen,  waf  er  in  alda  in  dem  holtze  zu  schaffen  hette?  und  weil 
sonst  keinforster  in  die  vier  Berge  kohme,  verwilsteten  sie  das  holtz  und  handelten  darin 
nach  ihrem  gefallen.129 

DaB  kein  anderer  Forster  in  die  Vier  Berge  komme  (sc.  um  dort  Aufsicht  zu 
fiihren),  ist  wohl  ein  Vorwurf  an  die  herzogliche  Administration:  Diese  selbst  be- 
diene  sich  zwar  in  den  Waldungen  nach  ihrem  Belieben  und  habe  dort  auch  im- 
merhin  Forstknechte  zur  sonstigen  Waldaufsicht  installiert.  Allerdings  hieBen 
solche  dann  -  nomen  non  est  omen!  -  ausgerechnet  Unverhauen,  und  man  gebe 
sich  keinerlei  weitere  Miihe  bei  der  Aufsicht  iiber  deren  korrekte  Tatigkeit  wie 
iiberdie  Baumbestande:  So  habe  Unverhauen  [.  .  .]  nicht  grofeuffsicht, und  derhalben 
die  einwdnere  zu  handorff  undt  immenrode  eine  dracht  holtzes  nach  der  anderen  darauf 
holten,  und  also  das  holtz  durch  und  durch  verwustett  werde.130  Die  Schuld  aber  lag  in- 
des  nicht  eigentlich  bei  den  Forstknechten.  DaB  man  keinen  forster  mehr  in  den  vier 
Bergen  sehe  oder  vernehme  riihre  daher,  daB  Kerll  uffder  warte  dorthin  nicht  mehr  ge- 
he,  denn:  Peter Bruning gebe  ihme  nichts  dafur.  Insofern  wird  vielleicht  auch  der  Ne- 
benerwerb  Unverhauens  im  Holzhandelsgeschaft  verstandlich.131 

Der  herzoglichen  Seite  lag  in  den  Vier  Bergen  also  offenbar  wenig  daran,  eine 
territorialstaatliche  Forsthoheit  vermittels  waldwirtschaftlicher  Vorbildlichkeit 
und  administrativer  Integration  zu  implementieren;  schlichte  Abnutzung  eines 
giinstig  gelegenen  Holzbestandes  war  anscheinend  das  Ziel.  Nebenbei  befriedig- 
te  man  die  Bediirfnisse  der  Untertanen,  indem  man  diesen  nahezu  freie  Hand 
lieB. 

Wie  wenig  die  Vier  Berge  in  die  offizielle  Struktur  der  landesherrlichen 
Forstverwaltung  integriert  werden  sollten,  wird  auch  daran  deutlich,  daB  es  hier 
Kompetenzgerangel  zwischen  dem  Oberforster  in  Langelsheim  und  dem  Amt- 
mann  zur  Liebenburg  gab:  Ersterer  hatte  durch  den  Forstknecht  Unverhauen  bey 


127  StA  GS  B  2452,  Forsterbericht,  1600  Juni  3. 

128  StA  GS  B  2452,  Forsterbericht,  1600  Juni  9. 

129  StA  GS  B  2452,  Forsterbericht,  1610  Februar  16. 

130  StA  GS  B  2452,  Forsterbericht,  1609  Januar  28. 

131  StA  GS  B  2452,  Forsterbericht,  1609  Juli  15. 


Ressourcenknappheit  und  reichsstadtische  Kompensation  107 

der  oley  [.  .  .J  drey  holtzhawer  anfangen  (lassen),  stammwasen  zu  hauen,  wahrend  der 
Amtmann  am  folgenden  Tag  bereits  ihnen  gebotten  sie  sollten  an  dem  orte  da  sie  ange- 
wiesen  nicht  mehr  hauen  und  in  dieser  Angelegenheit  auch  den  Oberforster  und 
den  Forstknecht  dazu  aufgefordert,  dieselben  sollten  ihme  den  hauwes  anmelden  und 
das  Hauen  an  besagtem  Orte  unterlassen.132  Zu  guter  letzt  mischte  sich  auch  das 
Kloster  Walkenried  wieder  unter  die  vorgeblichen  Entscheidungskompetenztra- 
ger:  1616  gibt  Curdt  Immenrodt  aus  Hahndorf  zu  Protokoll,  daB  das  Closter 
Walckenrede  ihm  sieben  Eichen  Beume  [.  .  .]  erlaubet  habe  fur  sein  Bauvorhaben.133 
Damals  freilich  galten  die  einstigen  Vertrage  zwischen  Stadt  und  Kloster  aber 
schon  lange  nicht  mehr. 

All  dem  Stand  der  stadtische  Forster  Elling  letztlich  ohnmachtig  gegeniiber. 
Die  Bauern  und  Dorfbewohner,  mit  denen  man  einst  nachbarschaftlich134  zu- 
sammengearbeitet  oder  die  man  zumindest  kontrolliert  hatte,  sahen  sich  an  frii- 
here  Vereinbarungen  nicht  mehr  gebunden.  Da  halfen  auch  eindringliche  Appel- 
le  an  das  gesunde  Rechtsempfinden  nichts,  wie  sie  noch  im  Jahre  1614  Jochen 
Rodtger,  ein  stadtischer  Forstaufseher,  an  seinen  herzoglichen  Kollegen  in  Hahn- 
dorf, Luddeke  Unverhauen,  gerichtet  haben  soil:  Luddeke  was  will  daraus  werden, 
meine  herren,  der  Erbar  Rath  der  stadt  Gojilar,  haben  an  den  vier  bergen  ihr  gulden  undt 
gelt,  und  ihr  gebrauchet  des  holtzes.  Darauf  habe  Unverhauen  nur  erwidert,  er  konte 
nichts  darzu,  er  mujite  tuhen  was  ihme  der  Ambtman  zur  Liebenburg  bevohlen.135  Der 
Herzog  hatte  im  Lande  die  Vorherrschaft  iibernommen,  und  Goslar  hatte  fortan 
de  facto  auch  dort  das  Nachsehen,  wo  man  sich  de  iure  im  Recht  befand.  Letzt- 
lich muBten  so  alle  Aufsichts-  und  Protokollierungsbemiihungen  stets  in  die  mo- 
notone Klage  miinden,  daB  die  Vierberge  [.  .  .]  so  jemmerliche  vorwustet,  das  efi  zu  er- 
barmen  were.136  Die  Dreistigkeit  der  landesherrlichen  Beamten  kannte  dabei 
kaum  Grenzen,  wenn  wir  horen,  wie  Peter  Briining  zwei  Wochen  lang  Wasenholz 
durch  Einwohner  Hahndorfs  einschlagen  laBt  und  dieses  Holz  anschlieBend  in 
die  Stadt  Goslar  fahrt.137 

Dies  muBte  den  Goslarer  Verantwortlichen  -  abgesehen  von  der  Tatsache  des 

132  StA  GS  B  2452,  Forsterbericht,  1614  April  9;  auch  Marquardt,  wie  Anm.  89,  S.  176, 
verweiBt  auf  das  notorische  Problem  im  regionalen  Kontext  von  monofunktional  gewidme- 
ten  Industrieforstbezirken,  daB  die  umliegenden  Holzungen  gegen  die  Ubergriffe  des  indu- 
striellen  Holzbedarf  geschiitzt  werden  muBten.  Vielleicht  ging  es  dem  Amtmann  hier  auch 
darum. 

133  StA  GS  B  2452,  Forsterbericht,  1616  November  28. 

134  Man  kannte  sich.  Dietrich  Elling  kann  nahezu  jeden  holzfrevelnden  Dorfbewohner 
namentlich  benennen,  und  muB  nur  selten  sein  diesbeziigliches  Unwissen  eingestehen  (z.B. 
StA  GS  B  2452,  Forsterbericht,  1609  Marz  1). 

135  StA  GS  B  2452,  Forsterbericht,  1614  Marz  31. 

136  StA  GS  B  2452,  Forsterbericht,  1600  Mai  24. 

137  StA  GS  B  2452,  Forsterbericht,  1610  Februar  16. 


108  Cai-Olaf  Wilgeroth 

manifesten  Ressourcenverlustes  -  um  so  schmerzlicher  sein,  als  man  doch  ganz- 
lich  andere  Waldbauvorstellungen  in  den  Vier  Bergen  zu  verwirklichen  gesucht 
hatte.  Nur  zwei  einfache  Beispiele  zum  AbschluB :  Dietrich  Elling  berichtet  das  Peter 
Briining  in  die  vierberge  vor  etzlichen  wochen  seeks  holtzhauwer  [.  .  .J  anweisen  lassen,  die 
darin  wasen  binden,  das  holtzaufschliefien,  auch  mehrentheils  die  eichen  heister,  so  vordie- 
sem,  wur  ein  Erbar Rath  daselbst  hauen  lajien,  stehen pleiben,  mitt  abhauen.138  Der  Rat 
betrieb  also  eine  Form  selektiver  Bestandesschonung,  indem  er  sich  die  zisterzi- 
ensische  Vorgabe  zu  eigen  gemacht  hatte  eine  gewisse  ZahljungerBaume  stehen- 
zulassen,  denen  man  als  Heister  zukiinftig  groBere  Aufgaben  zugedacht  hatte. 

1613  hatten  die  Mohlhofischen  diesen  verschienen  Wintter,  viertzigk  schock  wasen  und 
sieben  stiege  bundt  Zaungertten  in  den  vier  Bergen  hauen  lassen.  Offenbar  hatte  die  Stadt 
damit  weniger  ein  Problem.  Den  der  eigentliche  Kritikpunkt  in  dem  Protokoll  ist, 
daB  sie  jetzt  -  Mitte  April  -  noch  anitzo  mit  dem  hauwen  immerfortfahren.139  In  die- 
sem  Fall  war  es  also  die  iibergebiihrliche  Ausweitung  der  Hiebperiode,  an  der 
sich  der  Rat  -  hierin  einst  selbst  Missetater  -  storen  muBte.  Auch  diesbeziiglich 
hatte  man  sich  offenkundig  besonnen. 

5.  Exkurs:  Getreideversorgung  wahrend  der  politischen 
und  klimatischen  „Kleinen  Eiszeit". 

Bisher  waren  es  vor  allem  „holzerne"  Aspekte,  welche  unsere  Betrachtung  der 
Beziehungen  zwischen  Goslar,  Walkenried  und  den  Landesherren  dominiert 
haben.  Im  vertraglichen  Zusammenhang  mit  dem  WalkenriederLiegenschaftser- 
werb  standen  fur  die  Stadt  jedoch  von  Anfang  an  auch  agrarwirtschaftliche  Effek- 
te.  Auch  Lebensmittel  konnen  zu  den  knappen  Ressourcen  gezahlt  werden. 

Wolfgang  Bender  betont  in  seiner  Studie  zu  Zisterziensern  und  Stadten  im  Mo- 
selgebiet  den  Stellenwert  der  klosterlichen  Stadthofe  fiir  die  spatmittelalterliche 
Gesamtokonomie  urbanerZentren.140  Er  schreibt  den  Stadthofen  dabei  ein  Biin- 


138  StA  GS  B  2452,  Forsterbericht,  1612  Marz  21. 

139  StA  GS  B  2452,  Forsterbericht,  1613  April  10. 

140  Bender,  wie  Anm.  78,  bes.  S.  13-56:  Stadthofe  seien  „sinnfalligster  Ausdruck  der 
wirtschaftlichen  Aktivitaten  und  derzunehmenden  Stadt-  und  Marktorientiertheit  des  grau- 
en  Ordens  [.  .  .]  als  lokale  Wirtschaftszentren  der  Kloster  und  als  Herbergen  fiir  Ordenange- 
horige"  gewesen,  zudem  hatten  sie  die  „enge  Verflechtung  des  Landes  mit  der  Stadt"  doku- 
mentiert,  indem  sie  den  „Zentralortscharakter  der  urbanen  Siedlungen  unterstrichen  und 
wiederum  zentralitatsfordernd  wirkten".  Die  Stadthofe  hatten  den  Zisterziensern  die  Mog- 
lichkeit  geboten,  ihre  UberschuBproduktion  abzusetzen,  und  die  stadtische  Nachfrage  nach 
agrarischen  und  anderen  Erzeugnissen  zu  befriedigen  sowie  Handelsgeschafte  mit  der  stad- 
tischen  Bevolkerung  abzuschlieBen.  Dies  „korrespondierte  mit  einer  gesteigerten  Nachfra- 
ge der  standig  wachsenden  Bevolkerung  [.  .  .]  nach  Erzeugnissen  klosterlicher  Mehrproduk- 
te  jeglicher  Art  besonders  fiir  die  Lebensmittelversorgung  aber  auch  fiir  die  Rohstoffverar- 


Ressourcenknappheit  und  reichsstadtische  Kompensation  109 

del  von  Funktionen  zu,  aus  dem  wir  nur  die  „wirtschaftlichen  Aufgaben"  heraus- 
greifen  und  in  abgewandelter  Form  auf  die  Goslarer  Konstellation  iibertragen 
wollen:  „Grangienfunktion"  -  „Handelshof "  -  „Renthof".141 

Benders  Ausfiihrungen  zeigen  uns  zunachst,  daB  sich  diese  drei  Funktionen 
kaum  immer  sauber  voneinander  trennen  lieBen  bzw.  vielfach  miteinander  korre- 
spondierten  (Grangie  -  Handelshof),  im  Laufe  der  Zeit  zudem  flieBend  ineinan- 
deriibergingen  (Grangie  /Handelshof-  Renthof).  Eine  agrarokonomische  Gran- 
gienfunktion  des  Goslarer  Stadthofes  war  im  Laufe  seiner  Geschichte  moglicher- 
weise  am  wenigsten  prasent,  denn  die  Anwesenheit  in  Goslar  war  wohl 
zuvorderst  dem  montanwirtschaftlichen  Engagement  der  Zisterzienser  geschul- 
det.142  Lediglich  in  den  Giiterkontrakten  des  16.  Jahrhunderts  schimmert  mit  den 
erwahnten  umfanglichen  Pertinenzien  und  Giiterannexen  des  Stadthofes  eine 
Art  von  Eigenwirtschaftlichkeit  jenseits  des  urspriinglichen  Bergbaus  auf.  Jedoch 
sollte  hier  die  agrarwirtschaftliche  „Kooperation"  mit  dem  AuBenhof  in  Ebelin- 
gerode  nicht  vergessen  werden.143  Der  Stadthof  selbst  wird  dabei  als  Zinshebe- 
stelle  im  Rahmen  der  Pachtverhaltnisse  des  Umlandes  sowie  zur  Sammlung  und 
Lagerung  der  Agrarertrage  gedient  haben. 

Uns  interessiert  vorrangig  die  eigentliche  Handelsfunktion  der  Niederlassung: 
Diese  befand  sich  -  und  das  ist  vielleicht  schon  der  vielsagendste  Befund  -  auf  der 
bereits  im  Mittelalter  so  bezeichneten  „KornstraBe".144  Die  Namensgebung  die- 
ses vom  ostlichen  Stadteingang,  dem  Breiten  Tor,  direkt  zum  Marktplatz  fiihren- 
den  StraBenzuges  kam  dabei  nicht  von  ungefahr,  sondern  riihrte  sicherlich  auch 
vom  dort  anzusiedelnden  zisterziensischen  Getreidehandel  her.  Dieser  basierte 


beitung  des  Handwerks  (Holz,  Wolle,  Haute,  Eisen  etc.)."  Und  „ohne  die  Versorgung  durch 
einheimische  und  auswartige  geistliche  Institutionen"  waren  groBere  Stadte  kaum  in  der 
Lage  gewesen,  groBen  Einwohnerzahlen  in  ihren  Mauern  zu  beherbergen.  Mit  der  Verande- 
rung  der  klosterlichen  Giiterbewirtschaftung  (Pacht  statt  Eigenwirtschaft)  im  Spatmittelal- 
ter  habe  ein  Stadthof  dann  immer  mehr  die  Rolle  der  Sammelstelle  fiir  Pachtzinsen  und  Ab- 
gaben  erfullt. 

141  Ebd.,  S.  36-45;  vgl.  auch  Walter  Haas  u.a.,  Klosterhofe  in  norddeutschen  Stadten, 
in:  Cord  Meckseper  (Hrsg.),  Stadt  im  Wandel.  Kunst  und  Kultur  des  Burgertums  in  Nord- 
deutschland  1150-1650,  Band  3.  Stuttgart-Bad  Cannstatt  1985,  S.  399-440,  bes.  S.  408 ff., 
S.  410-421  findet  sich  ein  Verzeichnis  der  Klosterhofe  in  Norddeutschland,  wobei  die  Anga- 
ben  zur  zisterziensischen  Dependance  unter  „Goslar"  nicht  vollig  korrekt  sind. 

142  Alphei,  wie  Anm.  22,  S.  701  f. 

143  Ebd.,  S.  713. 

144  Vgl.  Karl  Frolich,  Die  Goslarer  StraBennamen.  Ein  Beitrag  zur  staditschen  Verfas- 
sungstopographie  des  Mittelalters  und  zur  vergleichenden  StraBennamenforschung,  Gie- 
Ben  1949,  S.  94f.:  KornstraBe;  Frolich  schlieBt  sich  einer  funktionellen  Deutung  der  StraBe 
an,  wenn  er  auf  die  namengebenden  Kornwagen  abhebt,  die  vom  Breiten  Tor  zum  Markt  ge- 
fahren  seien.  Ein  Kornhaus  als  ortsfesten  Namensgeber  schlieBt  er  aus,  vergiBt  jedoch,  den 
Walkenrieder  Hof  in  diese  Uberlegung  einzubeziehen. 


110  Cai-Olaf  Wilgeroth 

auf  den  umfanglichen  Walkenrieder  Liegenschaften  in  den  Dorfern  des  Goslarer 
Umlandes,  wie  sie  dann  im  16.  Jahrhundert  an  den  Rat  der  Stadt  verpachtet  bzw. 
verkauft  wurden.  Was  vom  fernen  Kloster  aus  unter  den  nachreformatorischen 
Bedingungen  nicht  mehr  rentabel  bzw.  administrierbar  schien,  bot  dem  Goslarer 
Rat  die  Moglichkeit,  den  elementaren  Anforderungen  der  stadtischen  Getreide- 
versorgung  Rechung  zu  tragen. 

Diese  Kornlieferungsfunktion  der  sogenannten  Walkenrieder  Acker  lieBe  sich 
anhand  der  dazu  im  Stadtarchiv  Goslar  vorliegenden  Register  quantifizieren  und 
hinsichtlich  ihrergesamtstadtischen  Relevanz  abschatzen.145  Dies  muB  an  dieser 
Stelle  unterbleiben,  wobei  abernoch  auf  Folgendes  hingewiesen  sei:  Herzogliche 
BlockademaBnahmen  gegeniiber  der  Stadt  in  den  Jahren  nach  1525  hatten  dem 
Rat  gezeigt,  wie  sehr  man  auf  ein  frei  zugangliches  agrarisches  Umland  angewie- 
sen  war,  und  welches  Verwundbarkeitspotential  darin  lag,  iiber  den  Zugang  zur 
Stadt  nicht  selbst  bestimmen  zu  konnen.  Dies  gait  eben  nicht  nur  im  Hinblick  auf 
Holz  und  Kohle,  sondern  fur  alle  moglichen  Handelswaren. 

DerTerritorialisierungszugriff  Heinrichs  desjiingeren  erstreckte  sich  dem  An- 
spruch  nach  bis  vor  die  Tore  der  Stadt,  spatestens  nach  Riechenberg  1552,  letzt- 
lich  aber  schon  als  Konsequenz  derHildesheimer  Stiftsfehde  seit  1523  mit  Uber- 
nahme  der  stifthildesheimischen  Amter  Liebenburg  und  Vienenburg  im  Zuge 
des  Quedlinburger  Rezesses.146  Auch  die  an  den  Herzog  gekommenen  Kloster 
Riechenberg  und  Georgenberg  sind  hier  zu  beriicksichtigen  -  sie  hatten  Besit- 
zungen  in  diesem  Umland,  welches  lange  Zeit  automatisch  auf  die  Stadt  Goslar 
orientiert  gewirtschaftet  und  produziert  haben  diirfte.  Ein  machtigerLandesherr 
konnte  da  theoretisch  ansetzen,  zumal  sich  fortan  auch  verstarkt  andere  Abneh- 
mer  agrarischerProdukte  im  Oberharz  finden  sollten.  Die  schwierige  Ertragslage 
unter  den  klimatischen  Bedingungen  der  sogenannten  „Kleinen  Eiszeit"  diirfte 
das  Goslarer  Empfinden  dieses  territorialpolitischen  Drohpotentials  dabei  noch 
erheblich  verstarkt  haben.147 

Besonders  am  Schicksal  der  Neuwerker  Besitzungen  konnte  das  Interesse  der 
Stadt  deutlich  werden,  die  bisherige  Selbstverstandlichkeit  der  Ressourcen-  und 
Lebensmittelversorgung  auch  weiterhin  zu  gewahrleisten:  Das  nordliche  Vor- 
land  der  Stadt  Goslar  war  mit  Klosterbesitz  Neuwerks  durchsetzt,  quasi  von  die- 

145  Vgl.  z.B.  StA  GS  B  2688,  Anno  1543Mychaelis  anfengcklich.  Register  des  walckenredeschen 
gudes  by  wemejerlyken  tinse  undfelle  bedaget  ock  welcke  tynse gegeve  und  de  noch  schuldich  syn,  1543- 
1551.  Darin  finden  sich  sowohl  die  monetaren  wie  naturalen  Einnahmen  des  Rates  verbucht; 
in  StA  GS  B  2705  bzw.  2705,  zwei  weiteren  Registern,  finden  sich  dann  zu  den  Jahren  1562- 
1565  die  inname  van  vorkofftem  korn  als  Weite,  Rogge,  haver,  und  Gerstenn  verzeichnet. 

146  Dazu  Meier,  wie  Anm.  32,  S.  80-83. 

147  Zur  „Kleinen  Eiszeit"  vgl.  statt  vieler:  Riidiger  Glaser,  Klimageschichte  Mitteleuro- 
pas.  1000  Jahre  Wetter,  Klima,  Katastrophen,  Darmstadt  2001,  pass. 


Ressourcenknappheit  und  reichsstadtische  Kompensation  111 

sem  dominiert  (Immenrode,  Dornten,  Weddingen,  Langelsheim,  Jerstedt,  Ohl- 
hof).  Vor  dem  Hintergrund  der  Ratsvormundschaft  iiber  das  Kloster  und  seine 
Wirtschaftstatigkeiten  konnen  wir  also  von  einer  informellen  Gebietsherrschaft 
der  Stadtvater  ausgehen,  auf  welcher  die  regionale  Ressourcendominanz  Goslars 
nicht  zuletzt  fuBte.148  Eine  Dominanz  allerdings,  die  im  Zuge  der  reformatori- 
schen  Wirren  zwischen  Goslar  und  Neuwerk  unter  der  mit  rechtem  Nonnentrotz 
erbetenen  Einmischung  Heinrichs  des  Jiingeren  und  seiner  Nachfolger  ins  Wan- 
ken  geriet,  weil  die  Herzoge  die  Giiter  Neuwerks  im  ehemaligen  GroBen  Stift 
Hildesheim  ebenso  beschlagnahmten  wie  den  Ohlhof,  das  klosterliche  Vorwerk 
bei  Goslar.  Seit  Mitte  des  16.  Jahrhunderts  (spatestens  ab  1575)  war  der  agrar- 
wirtschaftliche  Arm  des  Klosters  damit  fur  die  Belange  der  Stadt  ebenso  lahm- 
gelegt  wie  zuvor  schon  die  umfanglichen  Neuwerker  Wald-  und  Forstrechte.  Er- 
schwerend  kam  hinzu,  daB  der  Nonnenkonvent  sich  iiber  die  Glaubensfrage 
zerstritten  hatte,  und  alle  konzertierten  Revindikationsbemiihungen  daran  schei- 
tern  muBten.149 

Die  Walkenrieder  Giiter  boten  dem  Rat  die  willkommene  Chance,  auch  im  Be- 
reich  der  Lebensmittelversorgung  kompensatorisch  tatig  zu  werden.  Interessan- 
terweise  deckte  sich  der  Einzugsbereich  des  Walkenrieder  Giiterbesitzes  sogar 
partiell  mit  demjenigen  Neuwerks  (deutlich  bei  Immenrode  und  Weddingen). 
Wollte  der  Rat  hier  an  alte  Bindungen  ankniipfen  oder  solche  vielmehr  aufrecht- 
erhalten,  um  Ressourcenstrome  auch  zukiinftig  auf  die  Stadt  zu  lenken?  Konnte 
er  iiber  die  unmittelbaren  Walkenrieder  Pachter  hinaus  auf  innerdorfliche  Mit- 
nahmeeffekte  bei  den  iibrigen  ortsansassigen  Meiern  und  Bauern  hoffen?150 


148  Romer-Johannsen,  wie  Anm.  8,  S.  255  und  264;  Goslar  selbst  besaB  keine  direkten 
agrarischen  Liegenschaften  im  Harzvorland.  Bei  einer  geschatzten  Einwohnerzahl  von  6000- 
7000  Personen  um  1500  lieB  sich  stadtische  Entwicklung  und  Prosperitat  in  fiir  den  Rat  ver- 
laBlicher  Weise  nur  durch  eine  Kontrolle  auch  der  agrarischen  Grundversorgung  sicherstel- 
len  (vgl.  zu  den  demographischen  Aspekten:  Peter-Johannes  Schuler,  Goslar  -  Zur  Bevolke- 
rungsgroBe  einer  mittelalterlichen  Reichsstadt,  in:  Meckseper,  wie  Anm.  141,  S.  443-456). 

149  Romer-Johannsen,  wie  Anm.  8,  S.  257-259  und  263f.  bzw.  265f.;  seit  1575  unter- 
band  Herzog Julius  jegliche  Zufuhr  von  den  Neuwerker  Giitern  nach  Goslar. 

150  Derlei  Uberlegungen  sind  relativ  unbefangen  formuliert  und  basieren  auf  einer 
betont  unformalistischen  Vorstellung  von  innerdorfgemeinschaftlichen,  grundherrlichen, 
marktwirtschaftlichen  wie  auch  machtpolitisch-landesherrlichen  EinfluBgroBen.  Ein  Stuck 
weit  speisen  sie  sich  auch  aus  „revolutionaren"  Uberlegungen,  wie  sie  Jiirgen  Schlumbohm, 
Bernd  Marquardt  u.a.  zurje  lokalen  Realitat  fruhmoderner  Territorialstaatlichkeit  angestellt 
haben  (Jiirgen  Schlumbohm,  Gesetze,  die  nicht  durchgesetzt  werden  -  ein  Strukturmerkmal 
des  friihneuzeitlichen  Staates?,  in:  Geschichte  und  Gesellschaft  23  (1997),  S.  647-  663;  Mar- 
quardt, wie  Anm.  89,  bes.  S.  16-18).  Fiir  das  wirtschaftliche  Stadt-Land-Verhaltnis  um  Goslar 
harren  sie  ihrer  historiographischen  Aufarbeitung;  allg.  Ansatze:  Trossbach,  wie  Anm.  75, 
S.  80f.  (Dorfgemeinde  und  Staatsbildung),  sowie  Marquardt,  wie  Anm.  89,  S.  204-211  (Stadte 
und  regionale  Netzwerke  lokaler  Herrschaften);  allg.  auch  Rolf  Kiessling,  Die  Stadt  und  ihr 


112  Cai-Olaf  Wilgeroth 

6.  Fazit:  Natur  und  Macht  in  Zeiten  ressourcenokonomischer 
Territorialisierung. 

Jahrhunderte  lang  hatte  die  Stadt  Goslar  den  Harzwald  und  sein  Vorland  wirt- 
schaftlich  beherrscht,  ohne  dort  tatsachlich  Grundherr  zu  sein.  Angesichts  ihrer 
vorteilhaften  Lage  war  die  Stadt  Schwergewicht  genug  gewesen,  um  Rohstoffstro- 
me  und  wirtschaftspolitische  Prozesse  an  sich  zu  binden.  Im  16.  Jahrhundert  - 
mit  dem  Einsetzen  des  Territorialisierungsprozesses  und  einer  verstarkten  auch 
okonomischen  Gebietsintegration  durch  den  Landesherren  -  griffen  solche  in- 
formellen  Mechanismen  nicht  mehr.  Gerade  Goslar  bekam  die  neue  Konkur- 
renzsituation  schmerzlich  zu  spiiren.  Nach  langem  Ringen  mit  Heinrich  dem 
Jiingeren  muBte  man  1552  erkennen,  daB  die  spatmittelalterliche  Regionaldomi- 
nanz  politisch  wie  wirtschaftlich  zu  Ende  gegangen  war.  Man  verlor  die  Rechte 
am  Berg-  und  Hiittenwesen  sowie  an  den  Harzwaldern.  Fortan  waren  neue  Wege 
zu  beschreiten,  um  sich  unter  jah  gewandelten  Rahmenbedingungen  das  ressour- 
cenokonomische  Auskommen  zu  sichern. 

Joachim  Radkau  sprach  einst  mit  Blick  auf  eine  der  zentralen  Fragen  vormo- 
dernerUrbanitat  vom  „Ratsel  der  stadtischenBrennholzversorgung":151  Ohne  ei- 
ne gesicherte  Energieversorgung  basierend  auf  dem  organisch  nachwachsenden 
Brennstoff  Holz  muBte  urbanes  Leben  zwangslaufig  zum  Stillstand  kommen.  Zu- 
dem  fungierte  Holz  als  universeller  Bau-  und  Werkstoff  und  war  auch  von  daher 
unersetzlich.152 

Hierin  lagen  unseres  Erachtens  fur  den  Goslarer  Rat  die  Beweggriinde  seiner 
Verhandlungen  mit  dem  Zisterzienserkloster  Walkenried  begriindet,  als  letzte- 
res  seine  regionalen  Liegenschaften  zu  verkaufen  trachtete:  Die  Motivation  der 
Stadt  zum  Erwerb  der  Vier  Berge  haben  wir  in  den  Harzwaldverlusten  der  ersten 
Halfte  des  16.  Jahrhunderts  zu  suchen,  wobei  wir  im  Zuge  der  Ereignisse  einen 
Paradigmenwechsel  in  den  zugrundeliegenden  Goslarer  Waldbewirtschaftungs- 
prinzipien  konstatieren  konnten.  Abgesehen  von  den  eigentlichen  Vertragen 
lieB  dieser  sich  an  Einschlags-  und  Verkaufsregistern  ebenso  verdeutlichen  wie 

Land.  Umlandpolitik,  Biirgerbesitz  und  Wirtschaftsgefiige  in  Ostschwaben  vom  14.  bis  ins 
16.  Jahrhundert,  Koln  u.a.  1989.  Auch  wird  hier  das  Spannungsverhaltnis  zwischen  Stadt 
Goslar  und  herzoglichen  Landesherren  zu  hermeneutischen  Zwecken  sicherlich  ein  wenig  zu 
iiberspitzt  dargestellt,  wenn  man  an  die  spatere  „Interessenallianz"  vor  Ort  denkt  -  Goslar 
und  seine  Bewohner  blieben  fur  den  Herzog  natiirlich  wichtig  im  Rahmen  der  spateren  Un- 
terharzer  Montanstrukturen.  Dennoch:  In  den  turbulenten  Jahren  des  16.  Jahrhunderts 
konnte  Goslar  solches  nicht  absehen.  Eine  selbstbestimmte  Ressourcenverfiigbarkeit  muBte 
zudem  generell  angenehmer  sein  als  eine  solche  von  Herzogs  Gnaden. 

151  Joachim  Radkau,  Das  Ratsel  der  stadtischen  Brennholzversorgung  im  „holzernen 
Zeitalter",  in:  Dieter  Schott,  Energie  und  Stadt  in  Europa,  Stuttgart  1997,  S.  43 ff. 

152  So  insbesondere  auch  Schubert,  wie  Anm.  36,  passim. 


Ressourcenknappheit  und  reichsstadtische  Kompensation  113 

an  spateren  konfliktbeziiglichen  Schriftquellen.  Eine  noch  in  den  1540er-Jahren 
obwaltende  Mentalitat  des  bloBen  Aberntens  von  Holzackern  wich  mit  den  tie- 
fen  Einschnitten  des  Riechenberger  Vertrages  von  1552  der  Erkenntnis,  daB 
man  die  stadtische  Grundversorgung  mit  Brenn-,  Nutz-  und  Bauholz  auf  eine 
breitere  und  dauerhaftere  Grundlage  stellen  miisse.  Die  Vier  Berge  wurden  zum 
mittelwaldartig  gehegten  und  genutzten  Holzreservoir  des  Rates,  um  dabei  dem 
stadtischen  Eigenbedarf  ebenso  zu  dienen  wie  der  VerauBerung  des  Holzes  an 
die  Einwohner. 

Seit  den  1590er-Jahren  kollidierte  dieser  stadtische  Waldbetrieb  sowohl  mit 
der  landesherrlichen  Administration  Walkenrieds  wie  mit  dem  territorialstaatli- 
chen  Bedarf  an  Holz  und  anderen  Waldressourcen.  Im  Zuge  der  resultierenden 
Auseinandersetzungen  um  die  Vier  Berge  stoBen  wir  seitdem  auf  eine  Vielzahl 
von  Akteuren  im  Wald:  Herzogliche  Amtleute,  Oberforsterund  Holzhauergerie- 
ten  dabei  -  gefolgt  von  dorflichen  Eorstknechten  und  bauerlichen  Hirten  -  vor 
Ort  mit  stadtischen  Forstern,  Biirgern  und  Notaren  aneinander  -  ebenso  wie  ihre 
jeweiligen  Vorstellungen  von  rechtmaBiger  Waldnutzung  und  Forsthoheit. 

Radkau  stellte  seine  groBe  synthetisierende  Abhandlung  einer  Weltumweltge- 
schichte  unter  die  Uberschrift  „Natur  und  Macht".153  Macht  -  so  konnte  man  es 
verkiirzt  ausdriicken  -  gereicht  ihm  zum  Explicans  im  Beziehungs-  und  Nut- 
zungsgeflecht  von  Mensch  (Gesellschaft)  und  Natur. 

Dieser  Macht-Begriff  fiigt  sich  als  Erklarungsmoment  gut  in  die  Geschichte  der 
Vier  Berge  ein:  Wirbefinden  uns  mit  dem  16.Jahrhundert  in  einer  (forst-)hoheit- 
lichen  Schwebephase.  Die  Stadt  Goslar  sah  sich  als  rechtmaBige  Eigentiimerin 
der  Waldungen  einem  Landesherrn  gegeniiber,  dem  es  auf  die  Durchsetzung  ei- 
ner derartige  Rechtszustande  iiberwolbenden  Territorialherrschaft  ankam.  Auf 
der  lokalen  Ebene,  in  den  Vier  Bergen,  hatte  sich  dieser  forstpolitische  Schwebe- 
zustand  seinerzeit  sogar  in  der  Landschaft  ablesen  lassen  -  an  einem  devastierten 
Waldbestand. 

Die  Bestande  litten  darunter,  daB  die  Stadt  sie  nicht  mehrzu  hegen  vermochte, 
wahrend  die  herzoglichen  Beamten  noch  nicht  im  Rahmen  ausreichend  fester 
Strukturen  zu  agieren  brauchten  und  sich  der  Geholze  einfach  selektiv  annah- 
men.  Das  Waldgebiet  hing  quasi-anarchisch  in  der  Luft  zwischen  landesherrli- 
cher  Territorialhoheit  und  stadtischer  Regionalherrschaft  -  eine  Unentschieden- 
heit,  die  den  Waldern  schon  immer  schlecht  bekam. 

Die  spezifische  Positionierung  derDorfbewohner  von  Immenrode  und  Hahn- 
dorf  in  diesem  Konflikt  zeigt  ebenfalls  diese  unklaren  Verhaltnisse  an.  Auch  die 
Bauern  muBten  im  Wettlauf  um  knappe  Ressourcen  ihre  Chancen  zwischen  un- 


153   Joachim  Radkau,  Natur  und  Macht.  Eine  Weltgeschichte  der  Umwelt,  Miinchen 
2000. 


114  Cai-Olaf  Wilgeroth 

klaren  landesherrlichen  und  stadtischen  Anspriichen  nutzen.  Man  konne  nicht 
anders,  hat  Luddeke  Unverhauen,  bezeichnenderweise  zu  Protokoll  gegeben. 
Vielleicht  ahnte  (oder  befiirchtete)  man,  daB  bei  dereinst  vollausgepragter  lan- 
desherrlicher  Forsthoheit  genausowenig  eine  ungehinderte  Partizipation  an  der 
Waldnutzung  moglich  sein  wiirde,  wie  zu  Goslarer  Zeiten. 

Die  Zuganglichkeit  zum  Wald  war  damals  zunachst  eine  Frage  der  schieren 
Machtverhaltnisse,  die  Korrektheit  seiner  Nutzung  eine  solche  der  Perspektive. 
Wir  haben  hier  den  Standpunkt  der  Stadt  eingenommen,  von  dem  aus  sowohl  die 
herzoglichen  als  auch  die  bauerlichen  Verhaltensweisen  im  Wald  als  Freveltaten 
angesehen  werden  muBten.  Unwillkiirlich  ist  man  geneigt,  dem  fur  die  landes- 
herrliche  Beamtenschaft  zuzustimmen  und  den  Bauern  Verstandnis  entgegenzu- 
bringen.  Doch  das  ware  unhistorisch  und  wir  enthalten  uns  jeder  moralischen 
Verurteilung. 

Am  Ende  noch  eine  Anmerkung  zum  weiteren  Verlauf  des  Konfliktes  im  17. 
Jahrhundert:  In  dem  verzweifelten  Versuch,  dem  „Spiel"  von  Macht  und  Ohn- 
macht  zu  entrinnen,  reichte  der  Goslarer  Rat  1598  beim  Reichskammergericht 
eine  Supplicatio  pro  citatione  gegen  den  Herzog  von  Braunschweig- Wolfenbiittel 
ein.154  Daran  sollte  sich  ein  langjahriger  ProzeB  kniipften,  zu  dem  parallel  sich 
aber  -  die  zeitgleichen  Forsterberichte  Dietrich  Ellings  zeigen  es  -  auch  weiter- 
hin  Freveltaten  in  den  Vier  Bergen  ereigneten.  Hinzu  kommt,  daB  sich  dann  mit 
der  Restitution  des  Hochstiftes  Hildesheim  und  der  Riickgabe  des  Amtes  Lie- 
benburg  die  Rechtslage  und  Machtkonstellation  ab  1635  nochmals  verkompli- 
zierten.155 

An  den  zugehorigen  Akten  der  Archive  in  Goslar  bzw.  Wolfenbiittel  wird  da- 
bei  deutlich,  wie  prioritar  es  dem  Rat  auf  die  Holzung  vor  den  Toren  der  Stadt  an- 
gekommen  ist.  Zwar  wird  in  den  Klageartikeln  der  Stadt  ebenso  der  herzoglichen 
wie  spateren  klosterlichen  Invektiven  beziiglich  der  Vorwerke,  Meiergiiter, 
Pachtzinsen  und  Kornabgaben  gedacht;  jedoch  ergibt  sich  aus  einer  quantitati- 
ven  wie  qualitativen  Dominanz  der  Vier-Berge-Klagepunkte  ein  eindeutiges 
Bild:  Dem  Rat  war  es  vor  allem  um  die  holzernen  Ressourcen  gegangen,  als  er 
mit  Walkenried  ins  Geschaft  kam.156  Vielleicht  hatte  man  seinerzeit  auf  Seiten 


154  Vgl.  StA  GS  B  2692:  Original  Supplicatio  pro  citatione,  1598  August  31. 

155  Vgl.  die  Akten  im  StA  GS  B  2692  bzw.  B  2452  (Walkenrieder  Acker),  sowie  im 
NdsStA  WF  11  Alt  Walk  Nr.  37  (Walkenrieder  Akten,  1508ff.;  z.  Zt.  der  geplanten  Einsicht- 
nahme  leider  zur  Sicherungsverfilmung  in  Biickeburg);  6  Alt  Nr.  545  (Reichskammerge- 
richt): der  Rotulus  lauft  vom  20.  Marz  1599  bis  zum  12.  September  1665;  Hildesheimer  Be 
standezumThemaimNdsHStAHHild.  Br.  1,6,9,  Nr.  11  und  Hild.  Br.  l,9,2Nr.  14,  19,20 
und  33. 

156  Etwas  Statistik:  Abzuglich  derganz  allgemeinen,  formaljuristischen  sowie  lediglich 


Ressourcenknappheit  und  reichsstadtisctie  Kompensation  115 

des  Klosters  sogar  eine  „Alles-oder-nichts-Taktik"  bei  den  Verkaufsverhandlun- 
gen  gefiihrt,  um  eine  Zerstiickelung  des  Besitzes  und  miihsame  Verhandlungen 
mit  einer  Vielzahl  von  Einzelkaufern  zu  vermeiden.  Der  Erwerb  der  agrarischen 
Liegenschaften  lieBe  sich  dann  als  Bedingung  fiir  den  Erwerb  der  Holzungen  vor- 
stellen.  Gleichzeitig  erinnern  wir  uns  an  die  klosterliche  Beteuerung,  man  wolle 
am  liebsten  mit  dem  lokal  verorteten  Rat,  nicht  so  gerne  mit  dem  territorialen 
Herzog  ins  Geschaft  kommen. 

Wir  verfolgen  diesen  ohne  Ausgang  gebliebenen  ProzeB  nicht  weiter,  weil  er 
fiir  unser  Thema  nur  wenige  Informationen  liefert,  vielmehr  rechtsgeschichtli- 
ches  Interesse  beanspruchen  diirfte:  Wie  bei  den  meisten  Prozessen  wahrend  der 
damaligen  Epoche  territorialstaatlicher  Durchsetzung  von  Hoheitsanspriichen 
geht  es  nicht  um  das  „wie"  von  Nutzungen,  sondern  zumeist  um  das  „ob"  bzw. 
„wer".  Der  Informationsgehalt  bewegt  sich  deshalb  -  mit  Ausnahme  der  stadti- 
schen  Klageschrift  -  auf  einer  eher  abstrakten,  formaljuristischen  Ebene,  weniger 
im  Bereich  konkreter  alltags-,  wirtschafts-  oder  umweltgeschichtlich  relevanter 
Einzelheiten.157  Zudem  nimmt  der  vorliegende  ProzeB  bei  Fragen  derRechtma- 
Bigkeit  von  klosterlichen  GiiterverauBerungen  bzw.  deren  ungestorter  Nutzung 
durch  den  Kaufer  nur  seinen  Ausgang.  Im  gerichtlichen  Verlauf  tritt  dann  immer 
mehr  die  Frage  in  den  Vordergrund,  ob  der  Herzog  von  Braunschweig-Wolfen- 
biittel  als  Administrator  des  Klosters  iiberhaupt  riickwirkend  EinfluB  auf  Ver- 
tragsabschliisse  zwischen  dem  Kloster  Walkenried  und  Dritten  nehmen  diirfe, 
wie  er  dies  unter  einem  vielleicht  nur  frommelnden  „ad-pias-causas-Deckmantel- 
chen"  der  Klosterordnung  von  1569  mit  „laesio-enormis-Arg\imentena  hinsicht- 

Giiterteile  benennenden  Artikel  (Nr.  1-45)  beziehen  sich  von  den  67  (62)  Nummern  der 
stadtischen  Klageschrift  allein  7,  noch  dazu  die  ausfiihrlichsten  und  detailliertesten,  auf  die 
Vier  Berge  und  dortige  Holzfrevel.  Ein  Abschnitt  blofler  Aufzahlung  und  Benennung  der 
Einzelgiiter  beginnt  in  Artikel  22  (17)  bezeichnenderweise  mit  dem  geholtz,  die  vier  berge  (Die 
unterschiedliche  Zahlung  der  Artikel  resultiert  aus  diesbeziiglich  voneinander  abweichen- 
den  Uberlieferungsbestiinden:  StA  GS  B  2691  bzw.  NdsStA  WF  6  Alt  Nr.  545). 

157  Hier  bestatigt  sich  die  Kategorisierung  der  einzelnen  ProzeBdokumente  nach  ihrem 
jeweiligen  rechts-,  wirtschafts-  oder  sozialgeschichtlichen  Informationsgehalt,  wie  sie  Ernst 
Pitz,  Ein  niederdeutscher  KammergerichtsprozeB  von  1525.  Beitrag  zum  Problem  der 
rechtsgeschichtlichen  und  wirtschaftsgeschichtlichen  Auswertung  der  Reichskammerge- 
richtsakten,  Gottingen  1969,  S.  7f.,  S.  95 ff.  vornimmt.  Dezidierte  Zeugenaussagen  liegen  im 
Bestand  leider  nicht  vor;  Marquardt,  wie  Anm.  89,  S.  245f.,  kann  hier  eine  „Forschungslii- 
cke"  fiir  die  Bestande  des  Reichskammergerichts  und  des  Reichshofrates  attestieren:  „Eine 
systematische  Auswertung  [.  .  .]  unter  umweltrechtsgeschichtlichen  Gesichtspunkten  steht 
noch  aus."  Obwohl  sich  hier  durchaus  etwas  in  der  Forschung  tut  (z.B.  Stefan  von  Below 
u.a.,  Wald  -  von  der  Gottesgabe  zum  Privateigentum.  Gerichtliche  Konflikte  zwischen  Lan- 
desherren  und  Untertanen  um  den  Wald  in  der  friihen  Neuzeit,  Stuttgart  1998)  trifft  diese 
Diagnose  nach  wie  vor  zu  -  die  reichen  Bestande  an  Akten  der  obersten  Reichsgerichtsbar- 
keit  harren  ihrer  umwelthistorischen  Entdeckung. 


116  Cai-Olaf  Wilgeroth 

lich  einer  Zweckentfremdung  von  Klostergiitern  tat.158  Damit  verlassen  wir  je- 
doch  den  engeren  ressourcenpolitischen  Bereich,  wenngleich  die  grundlegende 
Entscheidung  in  derlei  Fragen  enorme  rohstoffliche  und  materielle  Konsequen- 
zen  fur  die  jeweils  Betroffenen  zeitigen  mochte. 

Statt  dessen  enden  wir  an  diesem  Punkt  des  Geschehens  zu  Anfang  des  17.  Jahr- 
hunderts  mitjenem  Satz  Holzmanns,  den  auch  dieseran  das  Ende  seiner  Darstel- 
lung  gestellt  hat:  „Weiter  glaubt  sich  der  Verfasser  hier  nicht  erklaren  zu  diirfen, 
weil  sein  Zweck  war,  Alles  nur  geschichdich,  nicht  juristisch  darzustellen".159 


158  Vgl.  Hans-Walter  Krumwiede,  Kirchengeschichte  Niedersachsens.  Bd.  1:  Von  der 
Sachsenmisson  bis  zum  Ende  des  Reiches  1806,  Gottingen  1995,  S.  178:  ,,1570  ordnete  Her- 
zogjulius  an,  die  Klostergiiter  nur  zu  den  Zwecken  zu  verwenden,  zu  denen  sie  gestiftet  sei- 
en,  „ad  pias  causas,  zu  Gottes  Lob  und  Ehre,  zur  Erhaltung  von  Kirchen  und  Schulen  und 
zum  gemeinsamen  Nutz  des  Fiirstentums".  In  der  Praxis  waren  schon  unter  Herzogjulius 
und  seinen  Nachfolgern  Heinrich  Julius  und  Friedrich  Ulrich  die  Klosterintraden  fur  die 
Wirtschaft  des  Landes  und  die  Aufbesserung  seiner  Finanzen  wenig  skrupelhaft  verwendet 
worden."  Solches  ist  beispielsweise  nachweisbar  fur  das  Kloster  Lamspringe  und  seine  For- 
sten  (vgl.  HStAH  Hild.  Br.  3,11  Nr.  3,  Erlasse  der  Herzoge  Julius,  Heinrich  Julius  und  Fried- 
rich  Ulrich  von  Wolfenbiittel  an  das  Kloster  Lamspringe  betr.  Holzlieferungen  aus  dessen 
Forsten,  1572-1625).  Die  Maximen  dieser  Klosterpolitik  diirften  aquivalent  auch  im  Falle 
der  Walkenrieder  Giiter  und  ihrer  Reklamation  Anwendung  gefunden  haben;  zur  Sache 
auch  Leuckfeld,  wie  Anm.  18,  S.  132,  und  besonders  Eckstorm,  wie  Anm.  16,  pag.  260; 
Heineccius,  wie  Anm.  2,  pag.  518. 

159  Holzmann,  wie  Anm.  24,  S.  93. 


4. 

Determinanten  der  Waldentwicklung  im  Westharz 

(16.-18.  Jahrhundert) 


Von  Peter-M.  Steinsiek 


Einfiihrung 

Der  folgende  Beitrag  behandelt  die  politischen  und  okologischen  Aspekte  einer 
Forstwirtschaft,  welche  notwendig  nachhaltig  den  friihneuzeitlichen  Bergwerks- 
haushalt  des  Westharzes  mit  der  zentralen  Ressource  Holz  zu  versorgen  hatte.  Im 
ersten  Teil  werden  einige  Ergebnisse  aus  vorangegangenen  Untersuchungen 
resp.  Veroffentlichungen  referiert  und  deshalb  bewusst  kurz  und  beispielhaft 
skizziert.  Sie  betreffen  vor  allem  die  Nutzung  und  den  Wandel  der  Westharzer 
Waldokosysteme.1  Durch  den  Einsatz  von  Geographischen  Informationssyste- 
men  lieB  sich  die  Entwicklung  verschiedenerZustandsparameter  (Baumartenzu- 
sammensetzung,  Starkengliederung  und  Dichte  der  Bestockung)  im  Untersu- 
chungszeitraum  bis  auf  die  Forstortsebene  hinab  analysieren  und  darstellen.2  Die 

1  Untersucht  wurden  ausschlieBlich  die  landesherrlichen  welfischen  Bergwerksforsten. 

2  Fur  methodische  Details  vgl.  Peter-M.  Steinsiek,  Martin  Jansen,  Ulrike  Hinuber,  Auf 
dem  Priifstand.  Zur  Nachhaltigkeit  von  Wald  und  Holz  im  Westharzer  Bergrevier  vor  1800, 
in:  Wolfgang  lNGENHAEFF,Johann  Bair  (Hrsg.),  Bergbau  und  Holz.  Schwazer  Silber  -  4.  In- 
ternational Montanhistorischer  Kongress  Schwaz  2005  [...],  2006,  S.  239-259.  Weil  noch 
nicht  alle  geplanten  Analysen  abgeschlossen  werden  konnten,  sind  die  unten  mitgeteilten 
Angaben  iiber  die  historischen  Holznutzungen  und  die  Waldzustandsentwicklung  als  vor- 
laufig  anzusehen. 

Peter-M.  Steinsiek,  s.  Z.  Institut  fur  Forstpolitik,  Forstgeschichte  und  Naturschutz  der 
Universitat  Gottingen:  Erhebung,  Aufbereitung  und  Darstellung  der  forsthistorischen  In 
formationen;  okologische  Analysen;  Planung  der  Layouts  (Karten,  Diagramme).  Martin 
Jansen,  s.  Z.  Institut  fur  Forstliche  Biometrie  und  Informatik  der  Universitat  Gottingen:  An- 
leitung  und  Betreuung  der  Digitalisierungsarbeiten;  okologische  Analysen;  Planung"  der 
Layouts  (Karten,  Diagramme) .  Ulrike  Hinuber  (ebd.) :  Durchfuhrung  der  Digitalisierungsar- 
beiten; Planung  und  Erstellung  der  Layouts  (Karten,  Diagramme). 

Die  Untersuchungen  wurden  gefordert  vom  Niedersachsischen  Ministerium  fur  Wissen- 
schaft  und  Kultur  aus  Mitteln  des  Niedersachsischen  Vorab  der  Volkswagen-Stiftung,  ferner 
von  der  Georg-Ludwig-Hartig-Stiftung,  der  Hermann-Reddersen-Stiftung  sowie  von  den 
Niedersachsischen  Landesforsten  AoR. 


118  Peter-M.  Steinsiek 

politische  Steuerung  der  Waldnutzung  hatte  die  Schonung  der  Ressource  zum 
Ziel  und  wurde  vom  Verfasser  im  Rahmen  einer  historischen  Politikfeldanalyse 
untersucht.3 

Im  zweiten  Teil  werden  bestimmte  okologische  Risiken  der  forstlichen  Wirt- 
schaft  im  Harz  erlautert,  um  die  Gefahrdung  der  Produktionsziele  durch  abioti- 
sche  und  biotische  Faktoren  zu  illustrieren.  Zu  den  abiotischen  Gefahrdungen 
gehorte  namendich  das  Witterungsgeschehen  und,  als  anthropogenes  Spezifi- 
kum,  der  Hiittenrauch.  Zu  den  biotischen  Risiken  zahlte  vor  allem  der  massen- 
hafte  Befall  der  Fichten  durch  Borkenkafer. 

Umlenkung  der  Waldentwicklung  durch  Nutzung 

Wir  besitzen  bereits  recht  genaue  historische  Kenntnisse  iiber  Aufkommen  und 
Entwicklung  zentralerRessourcen  im  Harz,  zumindest  in  seinem  westlichen  Teil. 
Dies  gilt  besonders  fur  die  Zeit  nach  1500.  Neben  Wasser  hatten  zweifellos  Wald 
und  Holz  in  dem  hierzu  betrachtenden  Zeitraum  essentielle  Funktionen  fur  Wirt- 
schaft  und  Gesellschaft  zu  erfiillen.  Bei  ihnen  handelte  es  sich  auch  definitionsge- 
maB  um  echte  Ressourcen,  d.  h.  um  sich  selbst  erneuernde  Systeme  bzw.  nach- 
wachsende  Giiter.  Wie  gezeigt  werden  konnte,  waren  in  der  Bergwirtschaft  des 
westlichen  Harzes  fur  die  Entstehung  von  Nachhaltigkeit  der  Holzversorgung  fol- 
gende  Hauptfaktoren  maBgeblich,  die  zugleich  den  Schutz  des  Waldes  bewirkten 
(Abb.  1). 

Neben  dem  engeren  politischen  Prozess  mit  seinen  Instrumenten  und  Strate- 
gien  zur  Umsetzung  von  staatlichen  Waldschutzprogrammen  konnten  auch  Zei- 
ten  politischer  und  soziookonomischer  Instabilitat  im  Zuge  von  Seuchen  und 
Kriegen  zu  einem  Riickgang  der  Holznachfrage  und  somit  zu  einer  Schonung  der 
Ressource  fiihren.  Als  entscheidend  fur  das  Erreichen  von  Nachhaltigkeit  jedoch 
erwiesen  sich  Nutzungsblockaden.  Sie  waren  das  Ergebnis  von  informalen  Kon- 


Die  Auspragung  der  Waldzustandsparameter  wird  in  der  zusammenfassenden  Analyse 
maBgeblich  von  derjeweiligen  Flachenausstattung  der  historischen  Forstorte  gesteuert.  Die 
Anwendung  von  Geographischen  Informationssystemen  ermoglichte  es,  die  Flacheninhal- 
te  genauer  als  bisher  zu  ermitteln.  Dies  ist  der  Grund  dafiir,  dass  die  Daten  iiber  die  Ent- 
wicklung der  Starkengliederung  und  Holzartenanteile  in  den  Forsten  des  Westharzes  von 
den  entsprechenden  Angaben  in  fruheren  Veroffentlichungen  des  Verfassers  abweichen 
konnen  (vgl.  Peter-M.  Steinsiek,  Nachhaltigkeit  auf  Zeit.  Waldschutz  im  Westharz  vor  1800, 
Munster  u.  a.  1999;  ders.,  Der  Wald  in  der  Bergwirtschaft  des  westlichen  Harzes  1550-1810: 
Nutzung,  Steuerung,  okosystemare  Entwicklung,  in:  Hans-Jiirgen  Gerhard,  Karl  Heinrich 
Kaufhold,  Ekkehard  Westermann  (Hrsg.),  Europaische  Montanregion  Harz,  Bochum 
2001,  S.  307-322). 

3    Vgl.  Steinsiek,  Nachhaltigkeit,  wie  Anm.  2. 


Determinanten  der  Waldentwicklung  im  Westharz 


119 


Abb.  1:    Hauptfaktoren  fiir  die  Entstehung  son  Waldschutz  itn  Westharz  vor  1800 

(vereinfacht). 


kurrenzmechanismen  zwischen  den  gewerblichen  und  nichtgewerblichen  Nut- 
zern  des  Waldes.4 

Das  verbindende  Band  istjedoch  die  Okologie.  Wirkommen  nicht  umhin,  das 
Verhalten  der  Okosysteme  innerhalb  der  sehr  komplexen  Beziehungen,  welche 
das  Verhaltnis  der  menschlichen  Gesellschaft  zur  naturalen  Umwelt  pragen,  mit- 
zuberiicksichtigen.  Die  naturale  Umwelt  wiederum  ist  ihrerseits  durch  kompli- 
zierte,  reagible  Prozesse  gekennzeichnet.  Sie  bestimmten  und  bestimmen  auch 
heute  in  entscheidendem  Umfang  die  Uberlebensfahigkeit  des  Menschen. 

Holznutzung 

Dass  der  Wald  als  Lieferant  von  Brenn-  und  Baustoffen  etc.  eine  iiberragende 
Rolle  in  der  Wirtschafts-  und  Sozialgeschichte  des  Harzes  gespielt  hat,  bedarf  an 
dieser  Stelle  keiner  naheren  Erlauterung.  Die  folgenden  Ubersichten  sollen  den 
hohen  nichtgewerblichen  Anteil  am  Holzverbrauch  in  Erinnerung  rufen.  Er  be- 
lief sich  auf  zusammen  33  %  in  dererstenHalfte  des  18.Jahrhunderts  (Tab.  1).  Zu- 
gleich  wird  deutlich,  in  welch  groBem  Umfang  seinerzeit  Holz  als  Energieliefe- 
rant  eingesetzt  wurde  (Tab.  2). 


4  Diese  Mechanismen  sind  ausfiihrlich  beschrieben  bei  Steinsiek,  Nachhaltigkeit,  wie 
Anm.  2. 

5  Die  Angaben  fiir  den  hannoverschen  Harz  umfassen  jeweils  auch  den  elbingerodi- 


120  Peter-M.  Steinsiek 

Tab.  1:    Verteilung  des  Holzverbrauchs  aufdie  hauptsachlichen  Konsumenten 
am  westlichen  Harz  in  der  ersten  Halfte  des  W.Jahrhunderts 
(Quelle:  Steinsiek,  Nachhaltigkeit,  mie  Anm.  2,  S.  180). 


Hannoverscher  Harz 

Kommunionharz 

zusammen 

Holz  fur  den 
Bergwerkshaushalt 

65% 

69% 

67% 

Holz  f.  den  privaten 
Verbrauch 

35  % 

31% 

33  % 

Tab.  2:   Anteile  des  gewerblichen  Kohlholzes  und privaten  Brennholzes  am  gesamten 
Holzverbrauch  im  westlichen  Harz  in  der  ersten  Halfte  des  18.Jahrhunderts 
(Quelle:  Steinsiek,  Nachhaltigkeit,  wie  Anm.  2,  S.  180). 

Hannoverscher  Harz        Kommunionharz  zusammen 

Gewerbl.  Kohlholz  39  %  41  %  40  % 

Privates  Brennholz  32  %  29  %  30  % 


Die  oben  bereits  angedeuteten  externen  Einflussfaktoren  verursachten  zum 
Teil  betrachtliche  Schwankungen  in  der  Nutzungsintensitat  der  Forsten.  Dariiber 
hinaus  macht  Abbildung  2  deutlich,  dass  im  grubenhagenschen  bzw.  hanno- 
verschen  Harzteil  die  Entwicklung  ebenmaBiger  verlief  und  insgesamt  dort 
wesendich  weniger  Holz  genutzt  wurde  als  im  wolfenbiittelschen  bzw.  Kommu- 
nionharz.6 

Jene  Schwankungen  sagen  jedoch  an  sich  noch  nichts  dariiber  aus,  ob  und  in- 
wieweit  das  Hauptziel  der  staatlichen  Forstpolitik,  namlich  eine  Nachhaltigkeit 
der  Holzversorgung,  erreicht  worden  ist.  Nachhaltigkeit  meinte  in  diesem  Zu- 
sammenhang  die  Anpassung  der  Holznutzung  an  die  Leistungsfahigkeit  der  Fors- 
ten. Als  Verbum  nach  halten  tritt  sie  uns  bereits  1654  in  einem  Forstordnungsent- 
wurf  fur  den  Kommunionharz  entgegen.7  Nun  ist  Papier  bekanntlich  geduldig,  so 

schen  Anteil. 

6  Seit  1635  befand  sich  der  Nordteil  des  westlichen  Harzes  in  gemeinschaftlicher  Ver- 
waltung  der  verschiedenen  erbberechtigten  Linien  des  Gesamthauses  Braunschweig-Liine- 
burg.  Der  Siidteil  blieb  „einseitig"  im  grubenhagenschen  bzw.  hannoverschen  Besitz.  Die 
Kommunion  am  Oberharz  endete  1788. 

7  Dort  heiBt  es,  dass  vor  der  Errichtung  einer  neuen  Sagemiihle  in  der  Forst  u.  a.  wohl 


Determinanten  der  Waldentwicklung  im  Westharz 


121 


10      10     m      ts     to      to 


Abb.  2:    Entwicklung  der  Holznutzungen  im  Westharz  von  der  Mitte  des  16.  bis  Ende  des 
1 8 .  Jahrhunderts  (Quelle:  Steinsiek,  Nachhaltigkeit,  wie  Anm.  2,  S.  191). 


dass  es  keinen  Sinn  macht,  von  der  Formulierung  eines  (vorlaufigen)  Programms 
bereits  auf  dessen  erfolgreiche  Umsetzung  zu  schlieBen. 

Urn  solches  sicherer  ermessen  zu  konnen,  muss  neben  dem  Holzertrag  auch 
der  Zustand  der  Ressource  selber  beurteilt  werden,  und  zwar  durch  die  Analyse 
von  aussagefahigen  Zustandsparametern  (Baumartenzusammensetzung,  Star- 
kengliederung  und  Dichte  der  Bestockung,  s.  o.).  Diese  Analysen  ergaben,  dass 
es  im  Untersuchungszeitraum  (zweite  Halfte  des  16.  bis  zweite  Halfte  des  18. 


iiberlegt  werden  miisse,  wie  Lange  die  Holtzung  [im  Sinne  von  Holznutzungen;  d.  Verf.J  so  aufsol- 
chen  Sagemiihlen  [.  .  J  zu  schneiden  ist,  nach  halten  konne  (Nieders.  Landesarchiv,  Hauptstaats- 
archiv  Hannover  [kiinftig  HStA  H],  Hann.  84a  Nr.  1  [Entwurf  einer  Forstordnung  fur  den 
Kommunionharz,  Kapitel  5,  Punkt  1,  1654]).  Der  Kameralist  und  Freiberger  Berghaupt- 
mann  HannB  Carl  von  Carlowitz  (1645-1714)  hat  vermutlich  als  erster  den  Grundsatz  der 
forstlichen  Nachhaltigkeit  (Nachhaltigkeit  der  Holzerzeugung  und  Holzproduktion)  im 
Rahmen  seiner  „Sylvicultura  Oeconomica"  erlautert  und  publiziert.  Dennoch  fehlt  es  nicht 
an  Quellen,  die  belegen,  dass  Nachhaltigkeit  spatestens  seit  Beginn  der  Friihen  Neuzeit  im 
Harzwald  ein  bekanntes  und  gebrauchliches  Wirtschaftsprinzip  gewesen  ist  (HannB  Carl 
von  Carlowitz,  Sylvicultura  Oeconomica  [.  .  .],  Leipzig  1713). 

8  Den  Berechnungen  zum  Holzaufkommen  lagen  folgende  Qjuellengattungen  zugrun- 
de:  Forstrechnungen,  Bergwerkstabellen  und  Kohlenordnungen,  Holzverbrauchsiibersich- 
ten;  weiterhin  wurde  der  Holzverbrauch  im  Anhalt  an  die  Metallausbringung  der  Hiitten 
nachkalkuliert;  fur  die  Quellennachweise  und  Berechnungsgrundlagen  vgl.  Steinsiek, 
Nachhaltigkeit,  wie  Anm.  2,  S.  170ff. 


122 


Peter-M.  Steinsiek 


Jahrhunderts)  im  Harz  nicht  zu  raubbauartigen  Nutzungseingriffen  gekommen 
ist,  welche  den  Wald  nachhaltig  geschadigt  oder  gar  verwiistet  hatten. 

Allerdings  wird  dabei  auch  sichtbar,  dass  die  Forsten  ihr  Antlitz  im  Laufe  der 
Zeit  deutlich  veranderten: 

-  In  der  ersten  Halfte  des  17.  Jahrhunderts  nahmen  im  Laub-  und  Nadelholz 
schwache  Holzermit  einem  Brusthohendurchmesser  (BHD;  Messung  des  ste- 
henden  Baumes  bei  etwa  1,3  m  Hohe)  von  weniger  als  15  cm  noch  etwa  ein 
Viertel  der  Bestockung  ein.9  Wahrend  des  DreiBigjahrigen  Kriegs  aberkonn- 
ten  sich  die  bis  dahin  stark  beanspruchten  Forsten  insgesamt  erholen  und  da- 
mit  die  rohstofflichen  Voraussetzungen  fur  die  sich  anschlieBende  Bliitephase 
des  Harzer  Bergbaus  schaffen.  Das  nachfolgende  Balkendiagramm  zeigt  die 
Verteilung  der  Stammstarken  fur  samtliche  Baumarten  um  die  Mitte  des  18. 
Jahrhunderts.  Die  Vorrate  an  Kohlholz  -  mit  einem  mittleren  Brusthohen- 
durchmesser von  etwa  23  cm  -  und  an  Schachtholz  -  mittlere  Brusthohen- 
durchmesser bei  34  bis  57  cm  -  waren  beachtlich,  und  gerade  diese  Dimensio- 
nen  spielten  eine  besonders  wichtige  Rolle  fur  das  Berg-  und  Hiittenwesen. 

cm  BHD 

>S0  |1 

=>40-50  ^^B5 

>30-40  ^  42 

>25-30  ~"~~124 

>Z0-Z5  ]19 

>15-20  |6 

>10-15  ]1 

>0-10  z\2 


10 


20  30  40 

Flachenanteile  in  % 


50 


60 


Abb.  3:    Verteilung  der  Durchmesserstufen  bei  Laub-  und  Nadelholz  in  den  Forsten  des  Westharzes 
1731/50;  %-Angaben  gerundet  (Quelle:  Steinsiek  et  al.,  wie  Anm.  2,  S.  247). 


9  Hierbei  ist  zu  bedenken,  dass  bei  den  beiden  fraglichen  Forstbereitungen  der  Anteil 
derjenigen  Holzer,  fiir  die  eine  Zuordnung  zum  Laub-  bzw.  Nadelholz  nicht  moglich  war, 
zusammen  etwa  7  %  betrug. 

10  Die  Waldzustandsanalysen  wurden  fiir  vier  unterschiedliche  Zeitschnitte  durchge- 
fiihrt.  Zur  Auswertung  gelangte  jedes  Mai  eine  General-Forstbeschreibung  pro  Harzteil  (das 
hannoversche  Protokoll  ist  nachfolgend  jeweils  zuerst  genannt) :  1596/ 1583  (Nieders.  Landes- 
archiv,  Staatsarchiv  Wolfenbiittel  [kiinftig  StA  Wf],  2  Alt  Nr.  8481;  4  Alt  10  VIII  Nr.  1), 


Determinanten  der  Waldentwicklung  im  Westharz 


123 


Ausgedehnte  nutzungsbedingte  BloBen  gab  es  zu  keinem  Zeitpunkt, 
wenn  man  von  denjenigen  absieht,  welche  durch  Sturm-  und  Schnee- 
bruch  und  auch  durch  Hiittenrauch  verursacht  worden  sind  (s.  u.). 
Die  einstige  Vorherrschaft  des  Laubholzes  ging  im  17.  Jahrhundert  zu- 
gunsten  der  Fichte  verloren.  Bis  1990  konnte  die  Fichte  ihren  Anteil  auf 
70  %  steigern.11 


uu  - 

70- 

70 

60- 

se 

59 

39 

61 

r 

59 

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~    50  ■ 

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44 

41 

41 

E    40  - 

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OJ 

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o 

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30 

lo- 
o- 

1 

_ 

L 

_ 

D  Laubholz 
n  Nadelholz 


1583/96  1630/42  1677/91  1731/50  1990 

Abb.  4:    Laub-  und  Nadelholzanteile  an  den  Forsten  des  Westhaiz.es  1583/96-1731/50; 

die  aktuellen  Verhdltnisse  spiegelt  etwa  die  Kategorie  „  1990"  wider;  %-Angaben  gerundet 

(Quelle:  Steinsiek  et  al.,  wie  Anm.  2,  S.  248,  verdnd.). 

Die  umstehenden  Karten  zeigen  die  Verteilung  der  Bestandestypen12  gegen 
Ende  des  16.  Jahrhunderts  und  um  die  Mitte  des  18.  Jahrhunderts.  Von  Inter- 
esse  sind  jetzt  lediglich  die  dunkelgrau  markierten  Flachen  mit  reiner  oder 
fast  reiner  Fichtenbestockung.  Man  erkennt,  dass  die  Fichte,  welche  urspriing- 


1630/1642  (HStAH,  Celle  Br.  57  Nr.  189;  StA  Wf,  92  NeuANr.  1),  1677/1691  (HStAH,  Harm. 
84a  Nr.  19;  Harm.  84a  Nr.  23),  1731/1750  (HStA  H,  Harm.  82a  Lauterberg  Nr.  63;  StA  Wf, 
4  Alt  16  Nr.  357-359). 

11  Der  vermeintlich  leichte  Riickgang  der  Fichtenanteile  zwischen  der  zweiten  Halfte 
des  17.  und  der  ersten  Halfte  des  18.  Jahrhunderts  ist  moglicherweise  auf  die  Quellenlage 
zuriickzufuhren.  Denn  die  Forstbeschreibungen  vor  allem  des  jiingsten  Zeitschnitts  sind  we- 
sentlich  ausfuhrlicher  und  sorgfaltiger  abgefasst  als  die  alteren  Beschreibungen.  Sie  erlaub- 
ten  daher  auch  eine  genauere  Skalierung  der  Zustandsparameter. 

12  Die  Bestandestypen  bezeichnen  Bestande,  welche  durch  bestimmte  Mischungsver- 
haltnisse  der  zu  Laub-  bzw.  Nadelholz  zusammengefassten  Baumarten  charakterisiert  sind. 


124 


Peter-M.  Steinsiek 


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Determinanten  der  Waldentwicklung  im  Westharz  125 

lich  vermutlich  auf  die  Hochlagen  des  Harzes  (oberhalb  etwa  800  m  u.  NN) 
beschrankt  war,  bereits  im  16.  Jahrhundert  den  Harzrand  z.B.  unweit  Miin- 
chehof  erreicht  hatte,  obgleich  sie  in  der  fraglichen  Zeit  noch  nicht  massiv  ge- 
fordert  wurde.13  Eine  planmaBige  Verjiingung  der  Forsten  setzte  im  Harz 
iiberhaupt  erst  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  ein.14  Und  auch  da  gait,  dass  dem 
Laubholz  aufgrund  der  besseren  Kohlen-Brennwerte  ausreichende  Flachen 
belassen  werden  mussten.  Hinzu  kam,  dass  die  Waldnutzungsrechte,  nament- 
lich  die  Weiderechte  der  Bevolkerung,  Laubholzbestande  wesentlich  voraus- 
setzten.  Gleichwohl  ist  das  Vordringen  derFichte  im  Untersuchungszeitraum 
nicht  zu  iibersehen.  Details  konnen  hier  wie  auch  im  Folgenden  nicht  erortert 
werden. 

Auf  der  gegeniiberliegenden  Seite: 

Abb.  5:    Verteilung  der Bestandestypen  in  den  Forsten  des  Westharzes  1583/96  (links)  und 
1731/50  (rechts)  (Quelle:  Steinsiek  et  al.,  wie  Anm.  2,  S.  250). 

Zur  Erlauterung: 

-  Die  groBraumige  Schlagwirtschaft  kam  der  Verjiingungsokologie  der  Fichte 
entgegen. 

-  Eine  indirekte  Forderung  erfuhr  die  Fichte  auch  dadurch,  dass  sie  vom  Wild 
und  vom  Vieh  weniger  verbissen  wird  als  das  Laubholz. 

-  Die  fruhneuzeitliche  Kleine  Eiszeit  mit  ihrer  kiihlen  und  feuchten  Witterung 
in  der  Vegetationsperiode  unterstiitzte  die  okologischen  Anspriiche  derFich- 
te ebenfalls  und  diirfte  zu  ihrer  Ausbreitung  mit  beigetragen  haben.15 

-  Nutzungs-  und  immissionsbedingte  Bodenverschlechterungen  konnen  auf 
bestimmten  Standorten  ebenfalls  zu  einer  Begiinstigung  derFichte  gegeniiber 
dem  anspruchsvolleren  Laubholz  fuhren. 

Risiken 

Damit  sind  diejenigen  Faktoren  angesprochen,  welche  im  Harz  die  Forstwirt- 
schaft  in  besonderer  Weise  pragten  und  die  Verfiigbarkeit  der  Waldrohstoffe  be- 
grenzten.  Zu  einer  Destabilisierung  der  Waldokosysteme  konnte  zunachst  bereits 

13  Unterhalb  des  Verbreitungsoptimums  der  Fichte  nimmt  die  Konkurrenzkraft  des 
Laubholzes  mit  abnehmender  Meereshohe  zu. 

14  Im  Kommuniongebiet  des  Westharzes  war  1750  die  Anordnung  geschehen,  in  Zu- 
kunft  darauf  zu  achten,  dafi  Tannen  brter  mit  Tannen  Saamen,  und  Reviere  worauf  sonst  hartes 
holtz  gestanden,  auch  mit  harten  Saamen  wieder  besaet  wiirden  (HStA  H,  Harm.  82a  Lautenthal 
Nr.  30  [pag.  250f.]).  Ahnliches  ist  aus  dem  hannoverschen  Harz  iiberliefert. 

15  Eine  geringere  Aktivitat  der  Sonne,  ein  verstarkter  Vulkanismus  sowie  eine  schwa- 
chere  Auspragung  des  Golfstroms  werden  als  Ursachen  der  Kleinen  Eiszeit  (etwa  15.-19. 
Jahrhundert)  im  Nordatlantikraum  angesehen. 


126 


Peter-M.  Steinsiek 


Abb.  6:    Nutzungsvielfa.lt  ah  Programm:  Holz  und  Reisig  fiir  gewerbliche  und  private  Zwecke, 

Waldweide,     Jagd.  Daneben  warder  Wald  Lebensraum  (auch)  fiir  den  Menschen  und  hot  zahlrei- 

che  Beschdftigungsmbglichkeiten  (Quelle:  Forst-Magazin,  1763,  Titelblatt  [Ausschnitt]). 


der  Entzug  von  Biomasse  durch  Holznutzung  und  Waldweide  fiihren.  Nicht  al- 
lein  der  Export  von  Nahrstoffen  auf  Standorten,  die  von  Hause  aus  nahrstoffarm 
sind,  sondern  auch  Versauerungsprozesse  konnen  zu  langfristigen  Veranderun- 
gen  und  Verschlechterungen  der  Boden  fiihren  und  damit  auf  die  Lebensbedin- 
gungen  des  Waldes  Einfluss  nehmen.  Wenn,  wie  im  Harz  geschehen,  etwa  bis  zu 
13  Festmeter  Holz  pro  ha  und  Jahr  den  Forsten  entnommen  und  gegebenenfalls 
auch  das  besonders  nahrelementreiche  Laub  und  Feinreisig  von  derBevolkerung 
eingesammelt  wurden,  dann  wird  deutlich,  dass  dies  allein  bereits  die  Leistungs- 
fahigkeit  bestimmter  Waldstandorte  stark beeintrachtigen  musste.17  Dariiberhin- 


16  Die  Ziege  (im  Mittelgrund  des  Kupferstichs)  gait  von  Amts  wegen  und  grundsatzlich 
als  waldverderblich  und  durfte  daher  meist  nicht  an  der  Waldweide  teilnehmen.  Umso  be- 
merkenswerter  erscheint  deshalb  ihre  Verwendung  in  dieser  programmatischen  Illustrati- 
on. Sie  weist  insofern  auf  die  besondere  Bedeutung  der  Ziegenhaltung  fiir  die  menschliche 
Subsistenz  in  jener  Zeit  hin.  Im  Harz  scheint  die  Ziegenweide  im  Wald  nur  ganz  gelegent- 
lich  und  bei  Vorliegen  besonderer  Griinde  zugelassen  worden  zu  sein. 


Determinanten  der  Waldentwicklung  im  Westharz 


127 


aus  ist  wahrscheinlich,  dass  sich  in  vielen  Fallen  die  Anfalligkeit  der  Waldbaume 
gegeniiber  Schadereignissen  erhohte. 

In  diesem  Zusammenhang  darf  besonders  im  Harz  der  Hiittenrauch  oderbes- 
ser  die  durch  ihn  verursachte  Beschadigung  der  Waldstandorte  nicht  unerwahnt 
bleiben.  Die  gasformige  Emission  von  Schwefeldioxid  und  Schwermetallen  hat 
in  der  naheren  und  weiteren  Umgebung  der  Hiitten  zu  teilweise  flachenhaftem 
Waldsterben  gefiihrt  und  die  Waldboden  bis  heute  gepragt.  Dem  Hiittenrauch 
selber  kam  damit  der  Charakter  eines  forstlichen  Standortsfaktors  im  Harz  zu. 
Sehr  bekannt  geworden  ist  die  von  dem  Chemiker  Dr.  Julius  von  Schroder  und 
dem  Stadtischen  Oberforster  zu  GoslarCarl  ReuB  1883  veroffentliche  Monogra- 
phic „Die  Beschadigung  der  Vegetation  durch  Rauch  und  die  Oberharzer  Hiit- 
tenrauchschaden". 18 


Abb.  7:    Haufenrostung  von  sulfidischen  Erzen  unter  freiem  Himmel.  Links  im  Hintergrund  sind 
die  Schmelzhiitten  an  der  beachtlichen  Rauchentwicklung  zu  erkennen  (Quelle:  Georg  Engelhard 
Lbhneyfi,  Bericht,  Vom  Bergkwerck,  Wie  man  dieselben  Bawen,  und  in  guten  Wolstandt  bringen 
soil,  sampt  alien  darzu  gehbrigen  Arbeiten,  Ordnung  und  rechtlichen  Procefi,  [Zellerfeld]  1617, 

hinter  Bl.  79;  Ausschnitt). 


17  Bei  den  zuletzt  genannten  und  noch  zu  nennenden  „Eigenschaften"  von  Waldokosys- 
temen,  die  sich  in  forstlicher  Nutzung  oder  unter  anderweitigem  menschlichen  Einfluss  be- 
fanden,  handelt  es  sich  selbstverstandlich  urn  Zuschreibungen  aus  Sicht  des  Wirtschafters. 
Diese  Perspektive  folgt  der  historischen  Fragestellung.  Uber  Art  und  AusmaB  weitergehen- 
der  okologischer  Implikationen  ist  damit  jedoch  nichts  ausgesagt. 

18  Julius  von  Schroeder,  Carl  Reuss,  Die  Beschadigung  der  Vegetation  durch  Rauch  und 
die  Oberharzer  Hiittenrauchschaden,  Berlin  1883.  In  gleicher  Beziehung  sah  sich  dann  Carl 


128  Peter-M.  Steinsiek 

Sicher  ist,  dass  iiberall  dort,  wo  im  und  am  Harz  Erze  gerostet  bzw.  verhiittet 
wurden,  die  oben  genannten  Stoffe  mit  wechselnden  Anteilen  auf  die  umgeben- 
de  Vegetation  -  und  iibrigens  auch  auf  Menschen  und  Tiere  -  einwirkten.  Eine 
Goslarer  Urkunde  aus  dem  friihen  15.  Jahrhundert  besagt,  dass  die  Erzrosten  auf 
GeheiB  des  Rates  auBerhalb  der  Stadt  angelegt  werden  sollten,  damit  die  Burger 
nicht  durch  den  Gestank  belastigt  wurden.  Das  Rosten  der  Rammelsberger  Erze 
wird  urspriinglich  etwa  in  der  Weise  stattgefunden  haben,  wie  es  oben  im  Bild 
dargestellt  ist.  In  bis  zu  drei  Umgangen  wurde  das  Erz  iiber  einem  Holzfeuer 
miirbe  gemacht  und  dabei  der  gebundene  Schwefel  freigesetzt.  Der  elementare 
Schwefel  sammelte  sich  in  dazu  hergerichteten  Mulden  und  konnte  auf  diese 
Weise,  wie  es  hieB,  gefangen  werden.  Ohne  Frage  hatten  die  Arbeiter  dabei  Hol- 
lenqualen  zu  leiden.  Imjahr  1639  klagte  ein  Miihlenbesitzer  bei  Altenau  der  Ob- 
rigkeit,  dass  er  wegen  des  Rauches  der  nahe  gelegenen  Hiitte  kein  gesundes  Vieh 
erhalten  konne.19 

Der  Rauch  wirkte  zunachst  schadlich  auf  die  oberirdischen  Pflanzenorgane. 
Seine  Bestandteile  fiihrten  ferner  und  nachhaltig  zu  einer  Versauerung  der  ohne- 
hin  oft  basenarmen  Boden  und  zu  einer  groBflachigen  Anreicherung  bzw. 
Mobilisierung  von  toxischen  Schwermetallen.  Daraus  konnte  wiederum  eine 
Schwachung  der  Waldbaume  resultieren,  eine  verminderte  Stabilitat  und  damit 
Anfalligkeitgegeniiberz.  B.  Borkenkafern.  Diese  Zusammenhange  iibrigens  sind 
bereits  von  forstlichen  Zeitgenossen  der  ersten  Halfte  des  19.  Jahrhunderts  im 
Harz  erkannt  und  beschrieben  worden. 

Eine  erste  namentliche  Erwahnung  in  forstlichem  Kontext  fanden  Waldscha- 
den  durch  Hiittenrauch  in  den  Kommunion-Forstbeschreibungen  von  1691/92, 
und  zwar  fur  die  Lautenthaler  Forst  am  Kleinen  Bromberg  unweit  der  Lautentha- 
ler  Silberhiitte  sowie  fiir  die  Wildemanner  Forst  am  Hiitteberg.20  Schon  die  Be- 
schreibung  des  zuletzt  genannten  Forstorts  durch  Groscurt  und  Ernst  in  ihrem 

Auf  der  gegeniiberliegenden  Seite: 
Abb.  8:  Ansicht  der Bergstadt  Wildemann  im  Harz  1654  aus  sudostlicher  Richtung  (Quelle:  Mar- 
tin Zeiller,  Topographia  und  Eigentliche  Beschreibung  Der  Vornembsten  State  [.  .  .]  in  denen 
Hertzogthiimern  Braunschweig  und  Liineburg  [.  .  .],  Frankfurt  a.  M.  1654,  vor  S.  109). 


ReuB  zehn  Jahre  spater,  1893,  zu  der  folgenden  Parodie  des  hinlanglich  bekannten  Harzer 
Wahlspruchs  veranlasst:  „Es  trocknet  die  Tanne,  es  rostet  das  Erz,  Gott  troste  des  armen 
Forstmannes  Herz!"  (Carl  Reuss,  [Referat  iiber  Hiittenrauchbeschadigungen  im  Harz],  Ver- 
handlungen  des  Harzer  Forstvereins,  1893,  S.  45f.,  Zitat  S.  45).  Im  Harz  war  iibrigens  mit 
„Tanne"  stets  die  Fichte  (Picea  abies  [L.]  Karst.)  gemeint. 

19  HStA  H,  Cal.  Br.  3  Nr.  78. 

20  HStA  H,  Hann.  84a  Nr.  23,  pag.  323;  HStA  H,  Ha.  84a  Nr.  25  [Wildemanner  Forst, 
pag.  13]. 


Determinanten  der  Waldentwicklung  im  Westharz 


129 


130  Peter-M.  Steinsiek 

beriihmten  Forstabrissbuch  von  1680  deutet  auf  den  schadigenden  Einfluss  von 
Hiittenrauch  hin,  wenn  gesagt  wird,  dass  des  Berges  gantzer Boden  [.  .  .]  iiberall  tru- 
ckener  nicht  gar fruchtbarer  Natur  [ist]  absonderlich  gegen  Siiden  herab:  Daher  an  solcher 
seiten  nicht  Viel  holtzes  Zu  finden  [.  .  .J.21  Unsere  Annahme  wird  gestiitzt  durch  den 
bekannten  Kupferstich  aus  der  Werkstatt  Merians  von  1654,  welcher  den  fragli- 
chen  Ort  -  hier  rechts  im  Bild  -  aus  siidostlicher  Richtung  zeigt.  Die  Rauch- 
schwaden  der  Silberhiitte  am  FuB  des  Hiittenbergs  sind  deutlich  zu  erkennen. 
Der  Waldzustand  in  der  Rauchfahne  derHiitte  lasst  es  nicht  unwahrscheinlich  er- 
scheinen,  dass  es  sich  dabei  um  Schadsymptome  handelt.  Die  Beispiele  lieBen 
sich  vermehren. 

In  den  umfangreichen  und  ausfiihrlichen  Waldzustandsberichten  des  18.  Jahr- 
hunderts  wurden  Waldschaden  durch  Hiittenrauch  immer  wieder  und  ausdriick- 
lich  beschrieben.  Aus  dem  Jahr  1845  stammt  dann  bekanntlich  die  erste  wissen- 
schaftliche  Auseinandersetzung  mit  den  Waldschaden  durch  Hiittenrauch  im 
Harz  durch  Gustav  Rettstadt.22  Rettstadt  hatte  schon  damals  erkannt,  dass  ein 
moglicher  Pfad  zur  Schadigung  der  Baume  iiber  den  Boden  fiihren  musste. 
Schroder  und  ReuB  veranschlagten  1883  die  allein  im  Oberharz  an  Innerste  und 
Oker  belegenen  Schadflachen  auf  mehr  als  4.400  ha. 

Eine  Umweltverschmutzung  ersten  Ranges  stellten  auch  die  schwermetallhal- 
tigen  Pochsande  dar.  Sie  entstanden  bei  der  Erzaufbereitung,  wurden  besonders 
mit  Innerste  und  Oker  weit  in  das  nordliche  Harzvorland  transportiert  und  fiihr- 
ten  dort  bei  Uberschwemmungen  zu  einer  Vergiftung  der  anliegenden  Landerei- 
en.  Ihnen  widmete  1822  der  hannoversche  „Landesphysiograph"  Georg  Fried- 
rich  Wilhelm  Meyer  eine  erste  bahnbrechende  Untersuchung.23  Diesbeziigliche 
Auseinandersetzungen  zwischen  der  Harzer  Bergverwaltung  und  der  betroffe- 
nen  Bevolkerung  sind  freilich  schon  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  aktenkundig  ge- 
worden.24 

AbschlieBend  soil  von  einer  Gefahrfiir  die  Nachhaltigkeit  der  Holzversorgung 
die  Rede  sein,  welche  sich  in  derzweiten  Halfte  des  18.  Jahrhunderts  zu  einer  re- 


21  StA  Wf,  92  Neu  A  Nr.  2a  [Henning  Groscurt  undJohann-Zacharias  Ernst,  Der  Gantze 
Hoch  Fiirstl.  Braunschw.  Liineburgische  COMMUNION  Haartz  Wie  Solcher  auffs  genaue- 
ste  gemessen,  auffgetragen,  Calculiret  und  beschrieben  [.  .  .],  1680,  pag.  304]. 

22  [Gustav  Rettstadt,]  Ueber  die  Einwirkung  des  Rauches  der  Silberhutten  auf  die 
Waldbaume  und  den  Forstbetrieb,  Allgemeine  Forst-  undJagd-Zeitung  11,  1845,  S.  132-140. 

23  Georg  Friedrich  Wilhelm  Meyer,  Die  Verheerungen  der  Innerste  im  Fiirstenthume 
Hildesheim  nach  ihrer  Beschaffenheit,  ihren  Wirkungen  und  ihren  Ursachen  betrachtet 
[...],  Gbttingen  1822.  Meyer  war  zwischen  1832  und  1856  der  erste  und  einzige  Inhaber  ei- 
nes  Lehrstuhls  fur  Forstwissenschaft  an  der  Universitat  Gbttingen. 

24  Vgl.  Steinsiek,  Nachhaltigkeit,  wie  Anm.  2,  S.  248f.  „Hausthiere,  welche  aus  der  In- 
nerste ofter  saufen,  Hiihner,  welche  den  Innerstesand  aufpicken,  sterben  an  Bleivergiftung" 
(Schroeder  &  Reuss,  wie  Anm.  18,  S.  155). 


Determinanten  der  Waldentwicklung  im  Westharz 


131 


Abb.  9: 

Entwicklungsstadien 

(teilweise  vergrbfeert) 

und  Frajibild 

(verkleinert) 

des  Buchdruckers 

(Ips  typographies  L.) 

(Quelle: 

Caspar  Heinrich 

von  Sierstorpff, 

Ueber  einige 

Insektenarten, 

welche  den  Fichten 

vorzuglich  schddlich 

sind,  und  iiber  die 

Wurmtrocknifi 

der  Fichtenwdlder 

des  Harz.es, 

Helms  tedt  1794). 


gelrechten  Katastrophe  entwickelte.  Gemeint  sind  die  Schaden,  welche  ein  winzi- 
ges  Insekt,  der  Borkenkafer  und  besonders  der  sogenannte  Buchdrucker  (Ips  ty- 
pographic L.)  an  den  Fichten  des  Harzes  anrichtete.  Der  fragliche  Zeitraum 
zeichnete  sich,  abweichend  vom  Trend  derKleinen  Eiszeit,  durch  eine  Folge  von 
heiBen  und  trockenen  Sommern  aus.  Klimageschichtliche  Analysen  machen  es 
wahrscheinlich,  dass  ahnliche  Witterungsbedingungen  seinerzeit  in  Mitteleuropa 
verbreitet  geherrscht  haben.  Die  Fichte  kann  unter  derartigen  Verhaltnissen  stark 
geschwacht  und  sogar  abgetotet  werden  -  dies  vor  allem  auf  Standorten,  die  f lach- 
griindig  sind  und/oder  auBerhalb  ihres  eigentlichen  Optimums  liegen. 

Eine  solche  Disposition  pflegt  der  Buchdrucker  fur  Kalamitaten  zu  nutzen. 
Das  Brutgeschaft,  fur  das  sich  dieser  Kafer,  der  im  Harz  auch  „schwarzer  Wurm" 


132  Peter-M.  Steinsiek 

genannt  wurde,  neben  liegendem  Holz  mit  Vorliebe  schwachelnde  Fichten  aus- 
wahlt,  kann  dieselben  bei  einer  entsprechenden  Befallsdichte  zum  Absterben 
bringen.  Die  Fichten  gehen  an  Wasser-  und  Nahrstoffmangel  zugrunde,  sie  ver- 
trocknen  -  daher  die  Bezeichnung  Wurm-Trocknis.  Wenn  auBerdem  durch 
Sturm,  Schnee  oder  nutzungsbedingt  das  Angebot  an  bruttauglichem  Holz  zu- 
satzlich  erhoht  ist,  drohen  Massenvermehrungen. 

Schriftliche  Hinweise  auf  entsprechende  Schaden  im  Harz  liegen  bereits  aus 
dem  ausgehenden  Mittelalter  vor.  Mit  der  zunehmenden  Bedeutung  des  Holzes 
fur  den  Bergwerkshaushalt  anderte  sich  selbstverstandlich  auch  die  Wahrneh- 
mung  von  Storungen  und  Gefahrdungen  der  Ressource.  Auch  solchen  Faktoren 
ist  es  zuzuschreiben,  dass  seit  dem  17.  Jahrhundert  die  Schadensmeldungen  hau- 
figer  wurden  und  sich  ein  regelrechtes  Monitoring  herausbildete,  welches  den 
heutigen  Waldschadenserhebungen  vergleichbar  ist.  Als  eigentliche  Krise  und 
schlieBlich  Katastrophe  jedoch  wurden  erst  die  Kalamitaten  seit  den  70erjahren 
des  18.  Jahrhunderts  gedeutet  und  beschrieben. 

Worin  aber  bestand  die  Gefahr  fur  die  forstliche  Nachhaltigkeit?  Zunachst 
mussten  BekampfungsmaBnahmen  eingeleitet  werden,  in  deren  Verlauf  die  be- 
fallenen  Fichten  in  groBer  Zahl  gefallt  wurden.  Ein  erhebliches  Problem  bereitete 
dann  die  weitere  Verwertung  des  Holzes.  Im  Harz  wurden  daher  eigens  Eisenhiit- 
ten  neu  angelegt,  um  das  Schadholz  vor  dessen  Verderb  nutzen  zu  konnen.  Einer 
solchen  kurzen  Phase  des  Holziiberflusses  schloss  sich  eine  sehr  ausgedehnte 
Phase  an,  in  demur  wenig  hiebsreifes  Holz  zur  Verfiigung  stand.  Die  forstlichen 
Obrigkeiten  und  die  Bergwerksbetreiber  mussten  deshalb  ein  existentielles  Inter- 
esse  daran  haben,  derartige  Schadereignisse  zu  verhindern  bzw.  wirksam  zu  be- 
kampfen. 

Es  war  bereits  sehrfriih  erkannt  worden,  dass  eine  effektive  Bekampfungs-  und 
Vorbeugungsmethode  darin  bestand,  befallene  Fichten  moglichst  schnell  zu  fal- 
len und  die  Borke  mitsamt  der  Kaferbrut  zu  verbrennen.  Nachrichten  iiber  die 
Wirksamkeit  und  die  Anwendung  dieses  Verfahrens  sind  fur  den  Harz  Anfang 
des  18.  Jahrhunderts  aktenkundig  geworden.  Nachdem  freilich  besonders  Stiir- 
me  im  Verlauf  des  18.  Jahrhunderts  zu  einem  massenhaften  Anfall  an  Schadholz 
gefiihrt  hatten  und  damit  auch  die  Bekampfungskosten  drastisch  angestiegen  wa- 
ren,  entschlossen  sich  im  Harz  die  verantwortlichen  Berghauptleute,  die  Sam- 
melhiebe  einzustellen.  Man  gab  an  -  und  selbstverstandlich  fanden  sich  dafiir 
auch  die  geeigneten  Gewahrsleute  -,  dass  der  Nutzen  des  Verfahrens  doch  im 
Grunde  gar  nicht  erwiesen  sei.  Es  wurde  den  Forstbediensteten  aufgegeben, 
durch  Versuche  herauszufinden,  welches  die  wahre  Ursache  der  Wurmtrocknis 
im  Harz  eigentlich  sei. 

Einige  Worte  zum  wissenschaftsgeschichtlichen  Hintergrund:  Die  Aufklarung 
hatte  ihr  Licht  zwar  schon  in  das  Studium  der  Natur  entsandt,  aber  noch  langst 


Determinanten  der  Waldentwicklung  im  Westharz  133 

nicht  jeden  Winkel  erreicht.  So  schrieb  der  „Insecto"-Theologe  Friedrich  Christi- 
an Lesser  aus  Nordhausen  1738  den  Kafern  allgemein  ein  durchaus  zielgerichte- 
tes,  weil  gottgewolltes,  erzieherisches  Wirken  zu.25  Besonders  in  katholischen  Ge- 
genden  war  seinerzeit  die  Hoffnung  verbreitet,  dass  [.  .  .J  dergleichen  Gdttliche 
Straffen  nicht  durch  Menschliche  Millie  undFleiJi,  sondern  durch  Processiones  und  exercisi- 
ren  abgewendet  werden  [.  .  .]  konnten.26  Solches  wurde  dann  Ende  des  Jahrhun- 
derts,  1798,  als  Volkswahn  bezeichnet,  welcher  bekampft  werden  miisse,  weil  er 
„Indolenz  und  Unthatigkeit"  nach  sich  Ziehen  konne.  „Da  die  Unwissenheit  und 
Einfalt  es  einmal  zu  einer  Glaubenssache  gemacht  haben,  so  kommt  es  den  Geist- 
lichen  zu,  einen  solchen  schadlichen  Glauben  durch  Unterricht  auszurotten,  und 
Licht  zu  verbreiten".27 

Die  Ansicht,  dass  sich  Borkenkafer  aus  Eiern  entwickelten,  hatte  folglich  nach 
wie  vormit  dem  iiberkommenen  Glauben  an  deren  Entstehung  aus  einer  fauligen 
Urzeugungsmasse  zu  wetteifern.  Da  mochte  es  noch  recht  leicht  fallen,  mit  Hin- 
weis  auf  den  vermeintlich  spekulativen  Charakter  der  noch  wenig  gesicherten  Er- 
kenntnisse  eben  diese  in  Zweifel  zu  Ziehen  und  neuerliche  Untersuchungen  anzu- 
beraumen. 

Es  bildeten  sich  zwei  Hypothesen  zur  Entstehung  des  Fichtensterbens  heraus. 
Ihre  Anhanger  schlossen  sich  zu  rivalisierenden  Parteien  zusammen  und  nutzten 
das  entstehende  neue  Medium  der  gelehrten  Zeitschrift  zu  ausgiebigen  literari- 
schen  Auseinandersetzungen: 

-  Die  sogenannte  Wind-Partei  machte  geltend,  dass  Wurzelschaden,  welche 
durch  die  Einwirkung  starken  Windes  verursacht  wiirden,  das  Vertrocknen 
der  Fichten  herbeifuhrten. 

-  Die  Anhanger  der  Wurm-Partei  wiederum  waren  davon  iiberzeugt,  dass  Bor- 
kenkafer die  erste  Ursache  des  Fichtensterbens  darstellten. 

Eine  bis  zuletzt  heftig  umstrittene  Frage  war  diejenige  nach  der  Virulenz  der  Ka.- 


25  Friedrich  Christian  Lesser,  Insecto -Theologia,  Oder:  Vernunfft-  und  SchrifftmaBi- 
ger  Versuch,  Wie  ein  Mensch  durch  aufmercksame  Betrachtung  derer  sonst  wenig  geachte- 
ten  Insecten  Zu  lebendiger  ErkanntniB  und  Bewunderung  der  Allmacht,  WeiBheit,  der  Giite 
und  Gerechtigkeit  des  grossen  Gottes  gelangen  konne,  Frankfurt,  Leipzig  1738. 

26  Dieser  Hinweis  stammt  aus  dem  Brandenburgischen.  Im  Juli  1748  sah  sich  die  neu- 
markische  Kammer  veranlasst,  Vorkehrungen  gegen  drohende  Schaden  durch  Wander- 
heuschrecken  zu  treffen,  welche  sich  in  der  polnischen  Nachbarschaft  bereits  eingefunden 
hatten.  Die  Kammer  warnte  davor,  jener  oben  zitierten  polnischen  Sicht  beizutreten  und  tat 
sie  als  gefahrlichen  Aberglauben  ab  (Geheimes  Staatsarchiv  PreuBischer  Kulturbesitz,  II. 
HA,  Neumark,  Materien,  Heuschrecken  Nr.  1).  Bemerkenswert  ist,  dass  die  Kammer  sich 
von  einer  Forderung  der  natiirlichen  Gegenspieler  groBeren  Nutzen  erhoffte  und  dazu  ein 
Patent  wegen  Schonung  der  Stare,  Krahen  und  Dohlen  erneuerte. 

27  Der  besorgte  Forstmann,  1798,  1.  Bd.,  S.  358f.,  466 f. 


134  Peter-M.  Steinsiek 

fer,  mit  anderen  Worten:  BesaBen  Borkenkafer  die  Fahigkeit,  auch  gesunde  Fich- 
ten  anzugreifen?  Von  dieser  Frage  und  ihrer  Beantwortung  hing  es  entscheidend 
ab,  auf  welchem  Weg  und  mit  welchen  Kosten  weiter  vorzugehen  ware.  Wiirden 
die  Kafer  allein  bereits  erkrankte  Fichten  befallen,  wiirde  dieses  Geschehen 
kaum  mehr  als  ein  Regulativ,  ein  unausweichlicher  natiirlicher  Vorgang  anzu- 
sehen  sein.  Teure  BekampfungsmaBnahmen  hatten  dann  keinen  besonderen 
Nutzen. 

Ganz  anders  jedoch  verhielte  es  sich,  wenn  die  Frage  bejaht  wiirde.  Dann  wa- 
ren  umfangreiche  Vorbeugungs-,  Kontroll-  und  BekampfungsmaBnahmen  un- 
umganglich.  Aus  Sicht  des  preuBischen  Ministers  Friedrich  Anton  von  Heynitz  - 
er  war  von  Wolfenbiittel  mit  Zustimmung  Hannovers  als  Gutachter  (auch)  iiber 
solche  Fragen  bestellt  worden  -  schienen  samtliche  Plane  fur  die  Zukunft  des 
Harzes  ohne  eine  Losung  der  Borkenkaferfrage  vergebens  zu  sein.  Daher  seien 
alle  notwendigen  Schritte  zur  Steuerung  jenes  landverderbliche [n]  UbelfsJ  der 
Wurmtrocknis  unverziiglich  einzuleiten  und  vor  allem  die  erforderlichen  Gelder 
bereitzustellen,  wenn  dem  unvermeidlichen  Untergang  des  Harzes  und  selbst  benachbar- 
ter  Amter  vorgebeiigt  werden  soil.28  „Es  schmerzt  doppelt",  musste  der  Vize-Berg- 
hauptmann  Friedrich  Wilhelm  Heinrich  von  Trebra  1783  in  den  Schriften  der 
Berlinischen  Gesellschaft  naturforschenderFreunde  bekennen,  „wenn  man  unge- 
mein  groBen  Schaden  durch  einen  ungemein  kleinen  Teufel  in  derNatur  anrich- 
ten  sieht".29  Ahnlich  der  Sparofen-Literatur  entwickelte  sich  mit  der  Literatur 
iiber  die  Wurmtrocknis  ein  eigenes  Genre.  Ihm  ist  zu  entnehmen,  dass  bereits 
1705  in  einem  GoslarerBerggebetbuch  um  den  gottlichen  Schutz  des  Waldes  vor 
schadlichen  Wiirmern  angehalten  worden  ist.30  Die  Borkenkaferkalamitaten  des 
18.  Jahrhunderts  in  den  welfischen  Fiirstentiimern  gaben  Anlass  zur  Berichter- 
stattung  selbst  in  schwedischen  Korrespondenzblattern. 

Der  hannoverschen  Landesregierung  erschien  die  Klarung  des  Sachverhalts 
so  bedeutsam,  dass  sie  1782  iiber  die  Konigliche  Sozietat  der  Wissenschaften  zu 
Gottingen  immerhin  200  Taler  fur  die  beste  Antwort  auf  die  Frage  ausloben  lieB, 
welches  die  bewahrtesten  Mittel  wider  die  sogenannte  Wurmtrocknis  am  Harze 
seien.  Den  Preis  gewann  ein  Harzer,  und  zwar  der  Auditor  beim  Amtsgericht  zu 
Clausthal,  Ludewig  Schwickard.  Schwickard  hatte  diejuroren,  zu  denen,  das  sei 
angemerkt,  die  besten  Kopfe  des  Kurfiirstentums  gehorten,  hinsichtlich  seiner 
Vorgehensweise  und  der  daraus  resultierenden  Schliisse  iiberzeugt.  Mit  ihm  wa- 


28  StA  Wf,  29  Alt  Nr.  14  [11.10.1784]. 

29  [Friedrich  Wilhelm  Heinrich]  von  Trebra,  Nachrichten  vom  Schwarzen  Wurm  und 
der  WurmtrockniB  in  den  Fichten  oder  Rothtannen,  Schriften  der  Berlinischen  Gesellschaft 
naturforschender  Freunde  1783,  4.  Bd.,  S.  77-98,  Zitat  S.  77. 

30  Vgl.  Johann  Friedrich  Gmelin,  Abhandlung  iiber  die  Wurmtrocknis,  Leipzig  1787, 
S.  59f. 


Determinanten  der  Waldentwicklung  im  Westharz  135 

ren  sich  alle  beteiligten  Mitglieder  der  Sozietat  einig,  dass  der  Buchdrucker  zwei- 
felsfrei  auch  gesunde  Fichten  angreifen  und  abtoten  konne. 

Doch  nun  geschah  etwas  Sonderbares,  Unerhortes:  Die  Konigliche  und  Kur- 
fiirstliche  Kammer  weigerte  sich,  die  Preisschrift  in  vollem  Umfang  im  Hanno- 
verschen  Magazin  abzudrucken.  Fur  die  Gottinger  Professoren  kam  das  Verhal- 
ten  der  Kammer  einem  Affront  gleich.  Christian  Gottlob  Heyne  fiirchtete,  dass 
das  Ansehen  seiner  Gesellschaft  beschadigt  werden  konnte  und  hielt  das  von  der 
Kammer  beabsichtigte  Vorgehen  fur  unvereinbar  mit  der  Ehre  und  Wiirde  der 
Sozietat.  Er  ging  sogar  so  weit,  darin  Gefahren  fur  die  Freiheit  des  Denkens  und 
Urteilens  erblicken  zu  miissen.31 

Zu  den  wahren  Motiven  des  Verhaltens  in  dieser  Frage  hat  sich  die  Kammer  in 
Hannover  nicht  geauBert.  Freilich  konnen  sie  nur  schwerwiegende  Griinde  dazu 
bewogen  haben,  ein  Verfahren  offenkundig  scheitern  zu  lassen,  das  von  ihr  selber 
auf  den  Weg  gebracht  und  iiber  die  Landesgrenzen  hinaus  publik  gemacht  wor- 
den  war.  Zwar  enthielt  Schwickards  Schrift,  wie  von  der  Kammer  richtig  bemerkt 
worden  ist,  im  Grundsatz  nichts  Neues.  Allerdings  lieB  sich  auch  den  Argumen- 
ten,  die  dafiir  sprachen,  dass  auch  gesunde  Fichten  vom  „Wurm"  angegriffen  wer- 
den konnten  und  dieser  somit  in  erster  Linie  das  Fichtensterben  verursachte, 
kaum  etwas  Substantielles  entgegensetzen. 

Somit  wiirde  durch  die  offentlich  gemachte  Forderung  des  Preistragers,  zum 
Schutz  derHarzerFichtenforsten  ohne  Riicksicht  auf  die  Kosten  unverziiglich  ta- 
tig  zu  werden  und  selbst  ganze  Reviere  zu  opfern,  der  Regierung  in  Hannover  ein 
entsprechendes  Vorgehen  formlich  aufgezwungen  worden  sein.  Hinzu  kommt, 
dass  eine  Veroffentlichung  jenes  kritischen  zweiten  Teils  der  gekronten  Preis- 
schrift das  bisherige  Vorgehen  als  falsch  gebrandmarkt  hatte.  Denn  seit  den  70er 
Jahren  des  18.  Jahrhunderts  durfte  aus  Kostengriinden  Schadholz  nicht  mehr  ge- 
sondert  aufgearbeitet  werden.  Hannover  war  offenbar  nicht  gewillt,  sich  das  Heft 
des  Handelns  aus  der  Hand  nehmen  zu  lassen. 

Tatsachlich  ist  man  im  Harz  dann  doch  noch  dazu  iibergegangen,  den  Ver- 
wiistungen  des  Borkenkafers  entgegenzuwirken,  und  zwar  in  Anlehnung  an  die 
bereits  in  der  Vergangenheitbewahrten  und  von  Schwickard  wissenschaftlich  be- 
statigten  MaBnahmen.  Moglicherweise  mochten  weniger  die  Inhalte  der  Preis- 
schrift an  sich,  als  vielmehr  der  Zeitpunkt  ihrer  Bekanntgabe  den  Regierenden  in 
Hannover  ungelegen  gekommen  sein. 

In  diesem  Beitrag  wurden  ganz  bewusst  diejenigen  okologischen  Aspekte  aus 
der  Forst-  und  Umweltgeschichte  des  Harzes  betont,  welche  in  besonderer  Weise 
die  Verfiigbarkeit  der  Ressourcen  Wald  und  Holz  determinierten.  Es  handelte 
sich  dabei  im  eigentlichen  Sinn  um  Risikofaktoren.  Deren  Einfluss  auf  die  nach- 

31    Archivder  Akademie  der  Wissenschaften  zu  Gottingen,  Scient.  196  vol.  15,Fasz.  42. 


136 


Peter-M.  Steinsiek 


JfckiitVi  then  Ji'igjh  ^it ,  't*j7i  ^.j.; 


h.-.-Hy 


Abb.  10:   Ansicht  des  Landschaftlichen  Hauses  zu  Hannover  mit  einer  Ausschnittsvergrbfeerung 

der  Hausinschrift  „POSTERITATI" 

(Quelle:  Niitzliche  Sammlungen  vomjahre  1758,  4.  Teil,  Titelkupfer). 


haltige  Holzproduktion  weitestgehend  zu  mindern,  macht  das  Wesen  einer  gere- 
gelten  Forstwirtschaft  aus.  Im  Harz  war  dieses  Risikobewusstsein  stark  ausge- 
pragt.  Folglich  entwickelten  sich  hier  sehr  friih  fortschrittliche  Methoden  der 
forstlichen  Ertragsregelung. 

Weil  jedoch  bekannt  war,  dass  auch  ihre  Ergebnisse  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  unsicher  blieben,  ging  man  im  Harz  eher  vorsichtig  mit  der  Ressource  um. 
Man  hielt  Reserven  vor  und  iibte  ein  auch  fur  heutige  Problemlagen  bedenkens- 
wertes  Redundanz-Verhalten.  Solange  also  der  Westharzer  Bergwerkshaushalt 
darauf  angewiesen  war,  die  Versorgung  mit  Energie,  mit  Bau-  und  Werkstoffen 
im  Wesentlichen  aus  eigenen  Quellen  zu  gewahrleisten,  war  Nachhaltigkeit 
schlechterdings  ein  Uberlebensprinzip. 

„POSTERITATI",  fur  die  Nachwelt,  lautete  das  Motto  als  Hausinschrift  der 
kurfiirstlich-hannoverschen  Landstande.  Auch  die  politische  Steuerung  der  Res- 


Determinanten  der  Waldentwicklung  im  Westharz  137 

sourcennutzung  stellte  einen  Versuch  dar,  die  wirtschaftlichen  und  gesellschaftli- 
chen  Interessen  am  Bergbau  an  die  Leistungsfahigkeit  der  naturalen  Nutzungs- 
systeme  anzupassen.  Das  Modell  versagte  jedoch  in  der  schweren  okologischen 
Krise  gegen  Ende  des  18.  Jahrhunderts.  Nicht  anders  als  katastrophal  musste  aus 
Sicht  der  Betroffenen  das  Geschehen  erscheinen,  welches  auf  mutmaBlich  min- 
destens  30.000  ha  die  Fichte  der  Verwiistung  durch  den  Borkenkafer  preisgab. 
Jetzt  sollten  obrigkeitliches  Scheinhandeln  und  sogar  kontraproduktives  Verhal- 
ten  das  Scheitern  des  Krisenmanagements  vertuschen.  DerPolitologe  Volker  von 
Prittwitz  hat  am  Beispiel  von  neuzeitlichen  Umweltkrisen  und  Bedrohungen  das 
Verhalten  politischer  Institutionen  analysiert  und  ist  zu  ganz  ahnlichen  Deutun- 
gen  gekommen.  Auch  dort  stieB  er  auf  Desinformation,  Informationsunterdrii- 
ckung  und  Verdrangung.  Fur  dieses  Phanomen  pragte  er  den  Begriff  des  Kata- 
strophen-Paradoxes.32 

Zusammenfassung  und  Schlussbemerkung 

Mit  dem  Beginn  von  planmaBigen,  intensiven  Bergbauaktivitaten  im  16.  Jahr- 
hundert  wurden  die  Forsten  des  westlichen  Harzes  in  bisher  nicht  dagewesener 
Weise  den  gewerblichen  und  privaten  Holzbediirfnissen  erschlossen.  Die  Analy- 
se derhistorischen  politischen  Prozesse  zeigt,  dass  gesetzliche  Bestimmungen  (re- 
gulative Instrumente) ,  die  Einflussnahme  iiber  wirtschaftliche  Mechanismen 
(okonomische  Instrumente)  sowie  forstbetriebliche  MaBnahmen  neben  der  Auf- 
klarung  und  Kontrolle  (informationelle  Instrumente)  allein  nicht  ausreichten,  um 
zunachst  die  Holzversorgung  des  Bergwerkshaushalts  nachhaltig  sicherzustellen 
(Abb.  11). 

Vielmehr  erwies  sich  im  Ringen  um  die  Ressource  die  Vielfalt  der  verschiede- 
nen  Nutzerinteressen  als  ein  auBerordentlich  wirksames  Mittel  gegen  Raubbau. 
Die  Ausstattung  der  Bergbevolkerung  mit  weitreichenden  Waldnutzungsrechten 
(Holzbezug  und  Waldweide)  stellte  eine  wichtige  landesherrliche  Initiative  zur 
Aufnahme  und  Aufrechterhaltung  des  Bergbaus  dar.  Wenn  auch  derRahmen  fur 
die  Ausiibung  jener  Rechte  immer  enger  gefasst  und  eine  Umwandlung  oder  Ab- 
losung  angestrebt  wurden,  so  ist  doch  zu  keiner  Zeit  ernsthaft  erwogen  worden, 
dieselben  zugunsten  des  Bergbaus  willkiirlich  aufzuheben.  Dasselbe  traf  auch  auf 
die  im  Harz  berechtigten  Bewohner  der  angrenzenden  Amter  zu.  Folglich  musste 
die  Berg-  und  Forstverwaltung  gewahrleisten,  dass  neben  der  Holzversorgung 
des  Montangewerbes  auch  der  nichtgewerbliche  Bedarf  an  Rohstoffen  gedeckt 
wurde.  Weil  keine  Moglichkeiten  bestanden,  Holz  oderHolzkohlen  in  groBerem 


32    Volker  von  Prittwitz,  Das  Katastrophen-Paradox.  Elemente  einer  Theorie  der  Um- 
weltpolitik,  Opladen  1990. 


138 


Peter-M.  Steinsiek 


Gewerblicher  SektDr 


Slaatliche 
Inslitulionen 


n    r 


Nutzungs- 


e=> 


PrivaterSeklor 


Staatliche  Programme 

zur  nachhalligen  Sicherstellung 
der  Nutzungen  des  Waldes 


J3U 


Politi  k  i  m  pl&me  ntatio  n : 
regulative 
okonomi&che  Inslrumente 

informationelle 


JZL 


C 


^ 


<= 


<T  J>  Waldschutz  durch 

fomnale  Nu&jngsbesch.ra'nkurigen 
und  informs  [a  Nutzungsblockadan 

<*> 


Technologies 

Defizite  der  Messung 

Holzbzw.  SteinkohlE 

als  Energietrager 


:  . 


S  oziob  konomisch  os 

Umfeld: 

Zeiten  politi&cher 

und  wirtschafUicher 

Instabililat 


Okologischc  Faktoron:       Klima      Wilterung       Baden      phytophage  Orgsnismen 


Abb.  11:    Hauptfaktoren  fur  die  Entstehung  von  Nachhaltigkeit  und  Waldschutz  im  Westharz 
vor  1800  (Quelle:  Steinsiek,  Nachhaltigkeit,  wie  Anm.  2,  S.  262). 


Umfang  und  iiber  einen  langeren  Zeitraum  von  auswartigen  Forsten  zu  beziehen, 
blieb  im  Harz  nur  iibrig,  die  Nutzung  des  Waldes  an  dessen  Leistungsfahigkeit 
anzupassen.  Dies  war  der  Grund  fur  die  wiederkehrenden  Forstbereitungen.  Er- 
gab  die  Gegeniiberstellung  von  geschatzten  Nutzungskapazitaten  und  kalkulier- 
tem  Holzbedarf  Anzeichen  fiir  eine  mogliche  Mangelsituation,  kam  neben  ande- 
ren  auch  die  (voriibergehende  oder  teilweise)  Stilllegung  von  Hiitten  als  Gegen- 
maBnahme  zur  Anwendung.33 

Die  Forstwirtschaft  ist  als  ausgesprochene  Risikowirtschaft  in  besonderer  Wei- 
se  den  abiotischen  und  biotischen  Bedingungen  des  Standorts  unterworfen.  Dies 
gilt  gerade  auch  fiir  den  Harz.  Sturm  und  Schnee  haben  hierimmerwieder  Wald- 
schaden  zur  Folge  gehabt  und  damit  eine  nachhaltige  Holzbedarfsdeckung  ge- 
fahrdet.  Als  ein  weiteres  Spezifikum  des  Harzes  muss  in  diesem  Kontext  die 
Schadigung  des  Waldes  und  seiner  Boden  durch  Hiittenrauch  angesehen  wer- 
den.  Waldschaden  durch  Hiittenrauch  sind  im  Harz  seit  dem  17.  Jahrhundert  be- 
zeugt.  So  ist  nicht  auszuschlieBen,  dass  eine  Anderung  der  biologischen  Bodenei- 
genschaften,  welche  durch  den  Eintrag  von  Sauren  und  Schwermetallen  im  Zuge 
der  Erzverhiittung,  aber  auch  durch  die  intensiven  Nutzungen  bewirkt  wurde,  im 
Zusammengehen  mit  Klimafaktoren  zu  einer  umfassenden  und  zunehmenden 

33  In  der  ersten  Halfte  des  18.  Jahrhunderts  findet  sich  der  Hinweis,  dass  es  dringend 
erforderlich  sei,  den  Betrieb  des  Berg-  und  Hiittenwesens  dem  Leistungsvermogen  der 
Forsten  anzupassen,  damit  nicht  in  wenigen  Jahren  alles  miteinander  liegen  bleiben  und  die 
gantze  Communion  crepiren  miisse  (StA  Wf,  30  Alt  Nr.  274  [24.3.1723,  §  3]). 


Determinanten  der  Waldentwicklung  im  Westharz  139 

Schwachung  der  Waldbaume  gefiihrt  hat.  Diese  wiederum  konnte  fiir  die  verhee- 
renden  Schaden,  welche  durch  Borkenkafer  in  der  zweiten  Halfte  des  18.  Jahr- 
hunderts  den  Fichtenforsten  des  Harzes  zugefiigt  wurden,  mitverantwortlich  ge- 
wesen  sein.  Damit  jedoch  gerieten  auch  die  bis  dahin  bewahrten  Mechanismen 
einer  schonenden  Waldnutzung  in  Gefahr. 

Die  historischen  Bestimmungsgriinde  fiir  den  Erfolg  oder  das  Scheitern  von 
umweltpolitischem  Lernen  riicken  zunehmend  in  das  Zentrum  geschichtlicher 
Untersuchungen.  Das  Harzer  Beispiel  zeigt,  dass  auf  dem  Weg  der  historischen 
Analyse  verbliiffende  Analogien  zu  aktuellen  Umweltveranderungen  und  ihren 
Steuerungsproblemen  aufgedeckt  werden  konnen.  Voraussetzung  dafiir  ist,  dass 
der  Untersuchung  der  historischen  politischen  Prozesse  ein  theoretischer  Ansatz 
sowie  eine  nachvollziehbare  Methodikzugrundeliegen.  Durch  sie  ist  gewahrleis- 
tet,  dass  die  Annahmen  iiber  das  Zustandekommen  und  die  Determinanten  ge- 
sellschaftlichen  Handelns  in  der  Geschichte  iiberpriifbar  bleiben  und  weiterent- 
wickelt  werden  konnen. 

Selbstverstandlich  sind  moglichst  viele  und  vielfaltige  Quellen  in  die  Betrach- 
tung  einzubeziehen.  Fiir  eine  Fragestellung,  wie  sie  hier  vorgestellt  wurde,  ist  es 
freilich  entscheidend,  dass  neben  der  Analyse  von  historischen  Bestimmungs- 
griinden  fiir  die  Entstehung  und  Umsetzung  von  Politik  auch  die  Zielerreichung 
gepriift  wird.  Der  „Erfolg"  oder  das  „Scheitern"  der  staatlichen  Forstpolitik  lieB 
sich  nicht  zuletzt  am  Zustand  derRessource  selbermessen.  Erst  die  Nachkalkula- 
tion  der  Holznutzungen  und  die  Erhebung  von  Waldzustandsparametern  in  ei- 
nem  dem  Untersuchungszweck  geniigenden  Umfang  erlauben  es,  begriindete 
Hypothesen  dariiber  anzustellen,  ob  und  inwieweit  ein  historisches  Nachhaltig- 
keitsziel  erreicht  wurde  oder  Raubbau  zu  einer  ernsthaften  Bedrohung  fiir  die 
menschliche  Subsistenz  geworden  ist. 

Fiir  die  historische  Umweltforschung  gilt,  dass  sich  ihre  Fragestellungen  in  der 
Regel  nur  durch  ein  Zusammengehen  von  Vertretern  der  jeweils  beriihrten  wis- 
senschaftlichen  Disziplinen  adaquat  bearbeiten  lassen.  Die  oben  referierten  For- 
schungsergebnisse  waren  ohne  die  Einbeziehung  derPolitikwissenschaft  und  der 
Biometrie  nicht  moglich  gewesen.  Die  Beurteilung  von  Waldressourcenmangel 
in  der  Geschichte  setzt  neben  der  Herstellung  von  begrifflicher  Klarheit  und  ei- 
ner Analyse  des  soziookonomischen  Politikfeldes  auch  voraus,  dass  die  forstli- 
chen  Quellen  angemessen  herangezogen  und  kritisch  ausgewertet  werden.  Dafiir 
kann  es  notwendig  sein,  Fachvertreter  aus  Forstwissenschaft  (Forstgeschichte) 
und  Okologie  zu  konsultieren. 

Uber  diesen  Punkt  scheinen  in  Fachkreisen  immer  noch  Meinungsverschie- 
denheiten  zu  bestehen.  Dies  ist  umso  erstaunlicher,  da  doch  derNutzen  von  Inter- 
disziplinaritat  gerade  auf  den  Gebieten  der  historischen  Umweltforschung  inzwi- 
schen  hinreichend  dokumentiert  ist.  Die  vonjoachim  Radkau  und  anderen  in  den 


140  Peter-M.  Steinsiek 

1980erjahren  angestoBene  Debatte  iiber  die  „Berechtigung"  historischer  Holz- 
not-Alarme34  zielte  wesentlich  auf  die  Fehler,  welche  sich  durch  einen  unkriti- 
schen  Umgang  mit  (obrigkeitlichen)  Quellen  ergaben  und  zu  Trugschliissen  fiihr- 
ten.  Dabei  bleibt  jedoch  die  oben  getroffene  Feststellung  wichtig,  dass  Antworten 
auf  die  Frage  nach  einem  geschichtlichen  Ressourcenmangel  unbefriedigend 
sind,  wenn  nicht  versucht  wurde,  die  Ressource  ihrerseits  in  den  Blick  zu  nehmen. 
Hierzu  ist  es  freilich  unerlasslich,  sich  auf  Fallstudien  zu  konzentrieren.35  Die 
durch  sie  erhaltenen  Erkenntnisse  konnen  zunachst  und  grundsatzlich  nur  fur  die 
untersuchte  Region  „Giiltigkeit"  beanspruchen.  Dennoch  erlauben  sie,  weiterge- 
hende  Hypothesen  dariiber  anzustellen,  welche  Faktoren  in  ahnlichen  Situatio- 
nen  den  Umgang  mit  der  Ressource  wesentlich  bestimmt  haben  konnten. 

Vor  diesem  Hintergrund  sollte  die  Auseinandersetzung  iiber  einen  friihindus- 
triellen  Holz-  oder  Waldressourcenmangel  in  Deutschland  langst  den  Charakter 
einer  Grundsatzdebatte  verloren  haben.  Dies  vor  allem  deshalb,  weil  sie  im  Kern, 
wie  gesehen,  den  korrekten  Umgang  mit  Geschichtsquellen  und  deren  Analyse 
meinte.  Wenn  von  (forstlichen)  Umwelthistorikern  gleichwohl  immer  noch  Ver- 
mutungen  iiber  Holzmangel  angestellt  werden,  ohne  dass  eine  intensive  Beschaf- 
tigung  mit  den  forstfachlichen  Quellen  iiberhaupt  fur  erforderlich  gehalten  wur- 
de, ist  dies  einmal  mehr  iiberraschend.  Und  sollten  zudem  auf  diesem  (beque- 
men)  Weg,  wie  es  gelegentlich  geschieht,  Thesen  selbst  iiber  „globale"  historische 
Strukturen  des  Umweltverhaltens  von  menschlichen  Gesellschaften  gewagt  wer- 
den, dann  sind  solche  nicht  anders  als  spekulativ  zu  bezeichnen.  Instruktiv  wiir- 
den  sie  freilich  dann  zu  nennen  sein,  wenn  sie  auf  breiter  Datengrundlage  empi- 
risch  fundiert  und  nachpriifbar  waren.36 


34  Em  Ende  dieser  Auseinandersetzungen  scheint  noch  nicht  in  Sicht;  fur  einen  Zwi- 
schenbericht  vgl.  Winfried  Schenk,  Holznote  im  18.  Jahrhundert  -  Ein  Forschungsbericht 
zur  „Holznotdebatte"  der  1990erjahre,  Schweizerische  Zeitschrift  fur  Forstwesen  157,  2006, 
S.  377-383. 

35  Sofern  Forstbeschreibungen  iiberhaupt  iiberliefert  sind,  handelt  es  sich  bei  ihnen, 
wie  gesehen,  um  auBerordentlich  wichtige  Quellen  zur  Rekonstruktion  von  historischen 
Waldzustanden.  Es  konnte  gezeigt  werden,  dass  der  Mangel  einer  ihnen  innewohnenden 
einseitigen,  „gouvernementalen"  Sichtweise  im  Kommunionharz  durch  die  Beteiligung  von 
Vertretern  konkurrierender  Fachrichtungen,  vor  allem  jedoch  durch  die  Mitwirkung  der 
verschiedenen  fiirstlichen  Linien  mit  ihren  gegensatzlichen  Interessenpositionen  wenigs- 
tens  teilweise  geheilt  wurde. 

36  Der  Institutionenforscher  Wolfgang  Seibel  ist  davon  iiberzeugt,  dass  sowohl  die  Ge 
schichts-  als  auch  die  Politikwissenschaft  von  einer  gegenseitigen  Erganzung  profitieren 
wiirden.  Allerdings  bestehe  die  Gefahr,  zu  wenig  Handlungen  und  zu  schnell  Strukturen 
wahrzunehmen.  Ein  exaktes  Quellenstudium  bewahre  vor  voreiligen  Schliissen  (Wolfgang 
Seibel,  Historische  Analyse  und  politikwissenschaftliche  Institutionenforschung,  in:  Ar- 
thur Benz,  Wolfgang  Seibel  (Hrsg.),  Theorieentwicklung  in  der  Politikwissenschaft  -  eine 
Zwischenbilanz,  Baden-Baden  1997,  S.  357-376,  hier  S.  359,  368). 


5. 

Die  friihneuzeitliche  Bauholzversorgung 
auf  dem  Lande 


Von  Wolfgang  Dorfler 


In  memoriam  Ulrich  Klages  aus  Heidenau 

Das  Schicksal  aller  mittelalterlichen  Stadte  entschied  sich  an  der  Frage  ihres  Zu- 
griffes  auf  die  Ressourcen  Holz  und  Wasser.1  Die  Knappheit  des  Holzes  betraf  in 
der  Friihen  Neuzeit  bekannterweise  die  Stadte,  die  Salinen,  Hiitten  und  Bergwer- 
ke.  „Die  Klage  iiber  den  einreiBenden  Holzmangel  zieht  sich  wie  der  sprichwort- 
lich  rote  Faden  durch  die  Geschichte."2  Die  aus  den  Quellen  iiberreichlich  beleg- 
bare  Diagnose  des  Holzmangels  waraberdurchaus  interessengebunden,3  so  dass 
es  lohnend  ist  zu  fragen:  Wie  stand  es  wirklich  mit  der  Versorgung  der  landlichen 
Bevolkerung  mit  Holz  besonders  mit  Bauholz?  Dieser  Frage  ist  zudem  seit  lan- 
gem  weder  in  der  Landes-  noch  der  Forstgeschichte  nachgegangen  worden.4 

Die  Schwierigkeit  einer  Antwort  liegt  darin,  dass  es  Selbstauskiinfte  der  landli- 
chen Bauherren  iiber  ihre  Wege  zum  Bauholz  nicht  gibt.5  Die  zeitgenossisch  von 


1  Ernst  Schubert,  Der  Wald:  Wirtschaftliche  Grundlage  der  mittelalterlichen  Stadt,  in: 
Mensch  und  Umwelt  im  Mittelalter,  Frankfurt/M.  1989,  S.  257-274.  -  Ders.,  Alltag  im  Mittel- 
alter,  Darmstadt  2002,  S.  50-64.  -  Fiir  die  niedersachsischen  Verhaltnisse  vgl.  Antje  Sander, 
Organisationsstruktur  stadtischer  Baustoffversorgung  im  Spatmittelalter,  in:  Historisches 
Bauwesen  Material  und  Technik.Jahrbuch  fiir  Hausforschung  Band  42,  1994,  S.  23-32.  -Ant- 
je Sander-Berke  Baustoffversorgung  spatmittelalterlicher  Stadte  Norddeutschlands,  Koln/ 
Weimar  1995.  -  BettinaBoRGEMEiSTER,  Die  Stadt  und  ihr  Wald,  Hannover  2005. 

2  Stefan  von  Below /Stefan  Breit,  Wald  -  von  der  Gottesgabe  zum  Privateigentum, 
Stuttgart  1998,  S.  41. 

3  Below/Breit,  wie  Anm.  2,  S.  42.  -Joachim  Radkau  hatte  in  den  1980erjahren  inten- 
siv  das  zeitgenossische  Interesse  an  der  Behauptung  vom  Holzmangel  untersucht,  vgl. 
DERS,  Zur  angeblichen  Energiekrise  des  18.  Jahrhunderts:  Revisionistische  Betrachtungen 
iiber  die  „Holznot",  in:  Vierteljahresschrift  fiir  Sozial-  und  Wirtschaftsgeschichte,  Band  73, 
1986,  S.  1-37. 

4  In  Regionalstudien  allerdings  finden  sich  gelegentlich  Hinweise,  so  bei  Heinrich  Pro- 
ve, Dorf  und  Gut  im  alten  Herzogtum  Liineburg,  Heft  11,  1927,  S.  48-50  und  S.  75-88.  - 
Harm  Prior,  Rittergut  und  Meierhofe  auf  der  Stader  Geest,  Stade  1995,  S.  164-189. 

5  Eine  Ausnahme  sind  die  im  Anschreibebuch  von  Heinrich  Dobbelmann  dokumen- 


142  Wolfgang  Dorfler 

Zimmerleuten  erstellten  Materiallisten,  Baurechnungen  und  Inventare6  lassen 
schon  die  benotigten  Baume  nach  Zahl  und  Starke  nur  ungenau  erkennen,  vor  al- 
lem  iiberliefern  sie  aber  nicht  die  Wege  der  Holzbeschaffung.  Antrage  auf  Holz- 
bewilligungen  sind  extrem  selten  erhalten  und  zudem  kritisch  zu  lesen,  weil  fest- 
zustellen  ist,  dass  weder  das  beantragte  noch  das  bewilligte  Holz  zum  Bau  der 
Hauser  und  Nebengebaude  ausreichen  konnte. 

Bauholzbedarf  nach  Majigabe  des  erhaltenen  Baubestandes 

Eine  aussagekraftige  Quelle  dagegen  sind  die  Gebaude  selbst,  denn  sie  bewahren 
ja  das  Holz,  das  zu  ihrem  Bau  eingesetzt  wurde  und  erlauben  Aussagen  iiber 
Menge  und  unter  giinstigen  Umstanden  auch  iiber  die  Herkunft  des  Baustoffes. 
Diese  sachkundliche  Quelle  auszuwerten,  wird  von  der  historischen  Hausfor- 
schung  geleistet.7  Sie  hat  in  den  letztenjahrzehnten  ihr  Instrumentarium  enorm 


tierten  Bauholzbeziige.  Dessen  abgebranntes  Haus  wurde  1815-17  weitgehend  mit  Bauholz- 
spenden  von  Nachbarn  neu  errichtet  (drei  Viertel  der  Stamme  fur  das  Gefiige  wurde  ge- 
spendet,  ein  Viertel  vom  Bauherren  angekauft).  Bei  gespendetem  Holz  bleibt  die  Frage  un- 
geklart,  woher  die  Spender  das  Holz  bezogen  haben.  Veroffentlicht  sind  die  baurelevanten 
Aussagen  der  Quelle  durch  Helmut  Ottenjann,  Der  Neubau  eines  Artlander  Bauernhauses 
durch  Bauherrn,  Bauhandwerker  und  bauerschaftliche  Solidargemeinschaft  1815-1817,  in: 
Auf  den  Spuren  der  Bauleute  -  Berichte  zur  Haus-  und  Bauforschung,  Band  8,  Marburg 
2005,  S.  285-353. 

6  1.  Holzliste  mit  Anzahl  der  Baume  fiir  Schafstall  und  Scheune  in  Ottensen  (Ldkr.  Sta- 
de)  von  1677  in:  StA  Stade  Rep  30  Nr.  65  Bl.  1-3.  -  2.  Abbruch  und  Wiederverwendung  ei- 
nes bestehenden  Hauses  und  Erweiterung  beim  Wiederaufbau  mit  Holzliste  fiir  das  Jahr 
1693  bei  Hans-Jiirgen  Vogtherr,  Bauen  im  17.  Jahrhunderts,  Uelzen  1980.  -  3.  Sehr  aus- 
fuhrliche  Ausschreibung  fiir  den  Neubau  eines  Bauernhauses  im  Bremer  Landgebiet  durch 
einen  Zimmermann  aus  der  Siidheide  von  1713  abgedruckt  und  erlautert  durch:  Hans  Her- 
mann Meyer,  Der  Fall  Heinrich  Bude.  Das  Problem  der  Einfuhr  von  Bausatzen  ganzer  Hau- 
ser ins  Territorium  der  Reichsstadt  Bremen,  in:  Landlicher  Hausbau  in  Norddeutschland 
und  den  Niederlanden  -  Berichte  zur  Haus-  und  Bauforschung,  Band  4,  Marburg  1996, 
S.  57-114,  hier  S.  59-80.  -  4.  Holzliste  und  ausfiihrliche  Baubeschreibung  nach  Fertigstellung 
eines  Hallenhauses  (Kiisterhaus)  und  eines  Backhauses  in  Achim  von  1732,  in:  StA  Stade 
Rep  83  Stade  Nr.  519.  -  5.  Holzliste  fiir  den  Neubau  eines  Bauernhauses  von  1738  in  Vehlen 
bei  Biickeburg  bei  Ulrich  von  Damaros,  Baukontrakte  und  Bauzeichnungen,  in:  Auf  den 
Spuren  der  Bauleute,  wie  Anm.  5,  S.  93-111,  hier  S.  98.  -  6.  Holzliste  fiir  mehrer  Gebaude  in 
einem  Inventar  von  1777  in  Hollen  (Ldkr.  Diepholz),  in:  Martfeld  -  Chronikder  ehemaligen 
Gemeinde  Kleinenborstel,  Martfeld  1997,  S.  394-398.  -  7.  Holzliste  fiir  ein  Bauernhaus  vom 
Ende  des  18.  Jahrhunderts,  die  beim  Tannenholz  auch  die  Anzahl  der  Stamme  ausweist,  bei 
Appens  (Hrg.),  Die  Bauern  und  Hausbesitzer  mit  ihren  Vorfahren  in  den  55  Dorfern  des 
Kreises  Peine,  Goslar  1938,  S.  247.  -  8.  Holzliste  fiir  ein  neu  zu  erbauendes  Kleinbauern- 
haus  beijulius  H.  W.  Kraft,  Kontrakt  und  Holzliste  von  1840  fiir  ein  Haus  in  Sottrum,  in: 
Der  Holznagel,  Heft  3,  1988,  S.  25-28. 

7  Die  Hausforscher  sind  oft  noch  studierte  Volkskundler,  seltener  Kunsthistoriker  oder 


Bauholzversorgung  auf  dem  Lande  143 

verfeinern  konnen8  und  bedeutende  neue  Ergebnisse  produziert,  diese  erfuhren 
allerdings  in  den  Geschichtswissenschaften  wenig  Aufmerksamkeit.9  Der  Haus- 
bau  also  gibt  die  eindruckvollste  Auskunft  iiber  die  Phasen  der  Starke  landlicher 
Bauherren  und  guter  oder  zumindest  ausreichender  Holzversorgung  und  eben 
auch  umgekehrt  iiber  die  Phasen  des  Mangels  bzw.  der  Depression  im  landlichen 
Raum,  der  Ressourcenknappheit,  der  Waldverwiistung  oder  der  wirksamen 
Holzaufsicht. 

Aus  derZeit  vor  1520  sind  in  Nordwestdeutschland  und  den  ostlichen  Nieder- 
landen  bisher  nur  22  Gebaude  bzw.  Gebaudeteile  bekannt  geworden,  Bauern- 
hauserund  Nebengebaudeje  etwa  zurHalfte.10  Setzt  man  aber  die  Liste  der  alte- 
sten  landlichen  Gebaude  fur  die  Zeit  nach  1520  oder  gar  nach  1560  fort,  dann 
schwillt  sie  sprunghaft  an.  Mehrere  Hundert  im  16.  Jahrhundert  erbautet  landli- 

Architekten,  oft  und  erfolgreich  aber  auch  Handwerker  und  ehrenamtlich  tatige  Baudenkmal- 
pflegeraus  fachfremden  Berufen.  DerNordwestdeutscher  Arbeitkreis  fiirlandliche  Haus-  und 
Gefugeforschung  als  Regionalgruppe  des  Arbeitskreises  fur  Hauforschung  (AHF)  und  Fach- 
gruppe  der  Interessengemeinschaft  Bauernhaus  (IGB)  vereint  seit  20Jahren  auf  seinenjahres- 
tagungen  zwischen  60  und  120  Forscher  aus  sechs  deutschen  Bundeslandern  und  den  ostli- 
chen Provinzen  der  Niederlande,  davon  etwa  ein  Drittel  Laien  im  oben  genannten  Sinne.  Im 
zentraleuropaweit  tatigen  AHF  ist  bei  500  Mitgliedern  allerdings  nur  eine  kleine  Zahl  von 
nicht  hauptberuflich  mit  dem  Thema  befassten  Forschern  eingeschrieben.  -  Zur  Situation  der 
Forschungsgemeinschaft  vgl.  Volker  Glantzer,  Hausforschung  in  Niedersachsen.  Strukturen, 
Schwerpunkte,  Aufgaben,  in:  Volkskunde  in  Niedersachsen.  Regionale  Forschung  aus  kultur- 
historischer  Perspektive,  S.  31-41,  Cloppenburg  2002  und  Ders.,  Heimatpflege  und  Denkmal- 
pflege  in  Niedersachsen  1905  und  2005.  Ein  Vergleich,  in:  Zukunft  Heimat  Niedersachsen. 
lOOJahre  Niedersachsischer  Heimatbund,  Delmenhorst/Berlin  2005,  S.  111-141. 

8  Zu  nennen  sind  die  Dendrochronologie,  die  hochgradig  verfeinerte  Bauaufnahme 
nach  gefiigekundlichen  Kriterien,  die  verformungsgetreuen  Aufmasszeichnungen,  die  re- 
stauratorische  Untersuchungen  der  Wandflachen  und  die  Archaologie  in  den  Gebauden 
und  der  Umgebung  des  Hauses. 

9  Die  jiingere  universitare  Kulturanthropologie  ignoriert  die  Ergebnisse  der  Hausfor- 
schung, geschweige  denn,  dass  sie  sich  selbst  noch  forschend  engagieren  wiirde.  Siehe  dazu: 
Konrad  Bedahl,  Befund  und  Funktion.  Tendenzen,  Moglichkeiten  und  Grenzen  der  Haus- 
forschung und  ihre  Beziehung  zur  Volkskunde,  in:  Volkskultur  und  Moderne.  Europaische 
Ethnologie  zurjahrtausendwende.  Festschrift  fur  Konrad  Kostlin  zum  60.  Geburtstag,  Wien 
2000,  S.  355-378.  -  Wolfgang  Dorfler,  Hausforschung  zwischen  „alter"  Gefugeforschung 
und  „neuer"  Volkskunde,  in:  Der  Holznagel,  Heft  1,  2006,  S.  41-53  hier  S.  42-45. 

10  Heinrich  Stiewe,  Landliches  Bauen  zwischen  Spatmittelalter  und  fruher  Neuzeit.  Er- 
gebnis  und  offenen  Fragen  zum  alteren  Hausbau  in  Nordwestdeutschland,  in:  Zeitschrift  fur 
Agrargeschichte  und  Agrarsoziologie  Heft  1,  2006,  S.  9-36,  hier  S.  13-14.  Aus  der  Kompli- 
ziertheit  der  FuBnoten  in  seiner  Arbeit  ist  zu  ersehen,  aus  welch  entlegenen  Quellen  eine 
solche  Liste  geformt  werden  muss.  Neueste  Befunde  sind  zu  erganzen  aus:  Volker  Glant- 
zer, Ein  spatmittelalterlichen  Hallenhaus  im  Artland,  in:  Berichte  zur  Denkmalpflege  in 
Niedersachsen  4,  2006,  S.  121-123.  Im  stadtischen  Bereich  sind  aus  dieser  Periode  und  die- 
sem  Raum  bereits  viele  Hundert  Gebaude  aufgefunden  worden. 


144  Wolfgang  Dorfler 

che  Gebaude  sind  in  Nordwestdeutschland  bekannt.  Wir  haben  es  mit  einer  au- 
Bergewohnlichen  Baukonjunkturmit  einem  Maximum  im  zweiten  Drittel  des  16. 
Jahrhunderts  zu  tun,  die  zudem  zu  einer  fast  vollstandigen  Ausraumung  des  alte- 
ren  Bestandes  gefiihrt  hat.11  Das  ist  ein  Charakteristikum  des  nordwestdeutschen 
Raums;  in  Siiddeutschland 12  oder  gar  in  der  Schweiz  sind  inzwischen  zahlreiche 
landliche  Holzbauten  des  Mittelalters  bekannt,  wobei  das  alteste  bisherbekannte 
Haus  1176  (d) 13  erbaut  wurde.14 

Wie  viel  Holz  brauchte  man  fur  ein  Bauernhaus  in  Fachwerkbauweise?  Sche- 
pers  berichtet  fur  die  groBten  Bauernhauser  von  Stammquerschnitten  zwischen 
120  bis  150  cm  und  zwolf  Meter  Lange  iiber  dem  Wurzelstock  und  also  von  „ei- 
nem  kleinen  Wald",  der  fur  die  Errichtung  eines  solches  Hauses  gefallt  werden 
musste.15  Seedorf  konkretisierte  die  Zahl  auf  etwa  40  Baume16  und  Timm  nennt 


11  Fred  Kaspar,  Ein  neuer  Anfang  im  Spatmittelalter?  Zum  mittelalterlichen  landlichen 
Hausbau  in  Norddeutschland,  in:  Haus  und  Kultur  im  Spatmittelalter,  Bad  Windsheim 
1998,  S.  151-159. 

12  Konrad  Bedal,  Spatmittelalterlicher  bauerlicher  Hausbau  in  Siiddeutschland.  Ver- 
such  eines  Uberblicks  -  Bestand,  Formen  und  Befunde,  in:  The  rural  house  from  the  migra- 
tion period  to  the  oldest  still  standing  buildings.  Pamatky  Archeologicke  -  Supplementum 
15,  Ruralia  IV,  Prague  2002,  S.  240-256.  -  Ders.,  Fachwerk  vor  1600  in  Franken.  Eine  Be 
standsaufnahme,  Petersberg  2006. 

13  Dieses  ist  die  in  der  Hausforschung  gebrauchliche  Kennzeichnung.  Sie  besagt,  dass 
das  Datum  durch  die  Dendrochronologie  ermittelt  wurde.  Eine  solche  Kennzeichnung  ist 
notwendig,  da  das  Baudatumjiingerist  als  das  dendrochronologisch  ermittelte,  aberregelhaft 
bei  ganzen  Gebauden  nur  Unwesentliches.  Eichenholz  wurde  zum  Zweck  des  Hausbaus  ge- 
fallt und  frisch  verarbeitet.  Es  wurden  Holzfallungen  nur  zu  Zweck  des  konkreten  Baus  ge- 
nehmigt.  Die  Holtingsprotokolle  setzten  nicht  nur  Fristen  fur  das  Entfernen  des  gefallten  Hoi 
zes  aus  dem  Wald  -  zwischen  zwei  Tagen  (Spelle  1435,  Hans  Verhey,  Waldmarken  und  Hol- 
tigsleute  in  Niedersachsen  im  Lichte  der  Volkskunde,  Wiirzburg  1935,  S.  117)  und  2  Monaten 
(Ihr.  Koniglichen  Majest.  Zu  Schweden  in  dero  Herzogthiimer  Bremen  und  Verden  neu-an- 
geordnete  Holtz-  und  Jagt-Ordnung,  Stade  den  20.  Julii  1692,  in:  Der  Herzogthiimer  Bremen 
und  Verden  Polcey-  Teich-  Holz-  und  Jagt-Ordnung,  herausgegeben  und  gedruckt  von  Peter 
Heinrich  Erbrich,  Stade  1732,  S.  165),sondern  auch  einejahresfrist  fur  das  Verbauen  des  zu- 
geteilten  Holzes  (C.  H.  Edmund  Freiherr  von  Berg,  Geschichte  der  Deutschen  Walder  bis 
zum  Schlusse  des  Mittelalters,  Dresden  1871  Neudruck  Amsterdam  1966,  S.  215-217).  Weiter 
wurde  die  leichtere  Bearbeitbarkeit  des  frischen  Holzes  immer  wieder  als  Argument  fur  die 
ziigige  Verzimmerung  des  gefallten  Holzes  angefiihrt,  was  aber  angesichts  der  verbreiteten 
Verwendung  von  Altholz  im  Bau  wohl  von  untergeordneter  Bedeutung  war.  Bestatigt  wird 
die  Regel  des  geringen  Abstandes  zwischen  Fallzeit  und  Bauzeit  durch  die  dendrochronolo- 
gisch ermittelten  Holzfalldaten  bei  auch  inschriftlich  datierten  Bauten. 

14  Benno  Furrer,  Living  in  a  wooden  box  -  Late  Medieval  log  houses  in  central  Swit- 
zerland and  northern  Tessin,  in:  The  rural  house,  wie  Anm.  12,  S.  143-150. 

15  Josef  Schepers,  Das  Bauernhaus  in  Nordwestdeutschland,  Miinster  1943,  Neudruck 
Bielefeld  1973,  S.  86. 

16  Hans  Heinrich  Seedorf,  Forstwirtschaft,  in:  Die  Deutschen  Landkreise  -  Der  Land- 


Bauholzversorgung  auf  dem  Lande  145 

30  Baume  als  notwendig  fiir  den  Bau  eines  Zweistanderhauses  mit  Ankerbalken- 
geriist.17  Aus  Ottenjanns  Zahlen  lasst  sich  der  Verbrauch  von  0,33  m3  Eichenholz 
pro  Quadratmeter  Bauernhausgrundflache  berechnen.18  Ein  Versuch  der  exak- 
ten  Bauholzberechnung  wurde  im  Kreisheimatmuseum  Syke  untemommen.  Das 
dort  aufgebaute  Modell  quantifiziert  den  Bauholzbedarf  eines  der  iiberaus  an- 
sehnlichen  Hauser  dieser  Region  auf  78  m3  oder  112  Festmeter,  fiir  die  ein  120 
jahriger  Wald  von  5000  m3  GroBe  hatte  gefallt  werden  miissen.  Daraus  lasst  sich 
berechnen,  dass  hier  etwa  50  Eichen  als  fiir  diesen  Hausbau  erforderlich  angese- 
hen  wurden.19  Eine  exakte  Analyse  des  Holzbedarfs  an  Hand  eines  vorhandenen 
Gebaudes  stammt  von  Ulrich  Marx.20  Er  hat  fiir  ein  1812  erbautes  Bauernhaus  ei- 
nen  Bedarf  von  achtzehn  140jahrigen  Eichen  ermittelt,  die  als  Viertelholzer  Ver- 
wendung  fanden.  Im  Haus  waren  weiter  vier  Deckenbalken,  eine  Anzahl  von 
Dachstuhlstandern  und  das  Fachwerk  des  Hintergiebels  aus  wiederverwendetem 
Eichenholz.  Weiter  wurden  21  schlanke  Fichtenstamme  zu  Balken  und  Sparren 
verbaut,  so  dass  der  Gesamtbedarf  fiir  das  Hausgeriist  bei  alleiniger  Verwendung 
von  neuem  Eichenholz  sich  auch  hier  auf  mindestens  30  Baumen  berechnen 
lasst.  Darin  ist  das  Holz  fiir  die  Deckenbohlen,  die  Giebelverschalung  und  den 
gesamten  Innenausbau  (Fenster,  Tiiren,  wandfeste  Schranke,  Treppen)  noch 
nicht  enthalten. 

Als  Minimum  zum  Bau  eines  Kotnerhauses  mit  drei  Dielenfachen  werden  20 
Eichen  mit  einem  Stammdurchmesser  von  50  bis  120  cm  und  einer  nutzbaren 
Lange  von  acht  Metern  angesehen.  Solche  Baume  waren  je  nach  Standortbedin- 
gungen  80  bis  200Jahre  alt.  Man  hatte  also  aus  einem  Wald  von  1600  Baumen  je- 
des  Jahr  ein  Kleinbauernhaus  erbauen  konnen,  wenn  man  nur  den  Zuwachs  ver- 
brauchend  hatte  bauen  wollen.  Dieser  Wald  hatte  als  gepflegter  Hochwald  eine 
Flache  von  16  ha  benotigt,  da  man  dort  100  „Starkeichen"  pro  ha  rechnet.21 


kreis  Wesermiinde,  1968,  S.  246. 

17  Albrecht  Timm,  Die  Waldnutzung  in  Nordwestdeutschland  im  Spiegel  der  Weistii- 
mer,  Koln/Graz  1960,  S.  74. 

18  Ottenjann,  wie  Anm.  5,  S.  295-296.  Er  selbst  lieferte  auf  Grund  eines  Rechenfehlers 
die  Angabe  von  2,99  m3  pro  m2  Grundflache.  Zahlen  fiir  eine  solche  Berechmmg  finden 
sich  schon  bei  Helmut  Flohr,  Bau-  und  Zimmerhandwerk  im  Calenberger  Land,  Hannover 
1991,  S.  118-121.  Daraus  lasst  sich  die  Zahl  von  0,27  m3  Bauholz  pro  m2  Grundflache  er- 
rechnen. 

19  Die  Angaben  sind  hoher  als  die  in  den  zitierten  Genehmigungen  etc.  uberlieferten 
und  dennoch  immer  noch  deutlich  niedriger,  als  sie  nach  der  Ottenjannschen  Berechnung 
sein  wurden. 

20  Ulrich  Marx,  Kulturrohstoff  Holz.  Bauholzverwendung  am  Beispiel  eines  Vierstan- 
derhauses  von  1812  in  Badeke  am  Siintel,  in:  Landlicher  Hausbau,  wie  Anm.  6,  S.  255-272, 
hier  S.  262-267. 

21  Walter  Kremser,  Niedersachsische  Forstgeschichte:  eine  integrierte  Kulturgeschich- 


146  Wolfgang  Dorfler 

In  der  Mittelwaldwirtschaft  der  norddeutschen  Tiefebenen  kamen  nur  30  bis 
60  als  Bauholz  geschonte  Baume  auf  einem  ha  Waldflache.22 

Im  Reichskammergerichtsprozess  des  Bremer  Domkapitels  gegen  die  adelige 
Familie  Cliiver  erklarte  der  beklagtejohann  Cliiver,  dass  die  68  groBen  fruchttra- 
genden  Eichen,  die  erund  seine  Mutterum  1575  in  den  Waldern  des  Domkapitels 
hatte  schlagen  lassen,  fiir  den  Bau  eines  Vorwerkgebaudes  bei  seinem  Adelshof 
gebraucht  worden  seien.23  Ein  solches  Vorwerk  entsprach  einem  groBen  einstel- 
ligen  Hof  mit  bis  zu  acht  Dielenfachen.  Fiir  die  Deckenbalken  solcher  Bauten 
nahm  man  in  dieser  Zeit  quadratisch  zugerichtete  Holzer  mit  30-40  cm  Kanten- 
hohe  und  9  m  Lange.  Fiir  Sparren  waren  bei  einer  Dachneigung  von  50°  diinnere 
und  etwas  kiirzere  Baume  erforderlich.  Deckenbalken,  Sparren  und  regional  un- 
terschiedlich  auch  die  Rahme  waren  meist  Einzelbaume,  an  denen  noch  im  ver- 
bauten  Zustand  Wurzel-  und  Zopfende  unterscheidbar  ist.  Die  iibrigen  Holzer 
des  inneren  Hausgeriistes  und  auBeren  Fachwerks  sind  mit  der  Sage  aus  oft  sehr 
starken  Baumen  als  Halb-  oder  Viertelholzer  hergestellt  worden.  Seit  dem  18. 
Jahrhundert  wurden  auch  fiir  die  Balken  und  Sparren  Halb-  oder  sogar  nur  Vier- 
telholzern  verwendet.  Man  unterschied  in  den  Waldinventaren  das  hochwertige 
lang  gewachsene  Bauholz  fiir  Balken,  Sparren  und  Rahme  von  dem  kurzen,  das 
nur  fiir  Schwellen  und  Stander  geeignet  war  (s.  u.  S.  162). 

Stolz  und  wirtschaftliche  Kraft  prasentierten  die  Bauern  im  16.  und  17.  Jahr- 
hundert im  Erscheinungsbild  ihrer  Hauser  und  zwar  durch  die  Machtigkeit  der 
sichtbaren  Holzer  im  auBeren  Fachwerk  und  besonders  auf  der  Diele.  Manche 
Stander  erreichen  iiber  60  cm  Breite,  ebenso  die  Unterschlagsriegel  im  Flett. 
Auch  die  Kopf  bander  sind  von  enormer,  statisch  nicht  begriindeter  Breite.24  Vom 


te  des  nordwestdeutschen  Forstwesens,  Rotenburg  (Wiimme),  1990,  S.  82. 

22  Martin  Speier/ Ansgar  Hoppe,  Waldnutzung  und  Waldzustand  mittelalterlicher  und 
neuzeitlicher  Allmenden  und  Marken  in  Mitteleuropa,  in:  Uwe  MEiNERs/Werner  Rosener 
(Hrsg.),  Allmenden  und  Marken  vom  Mittelalter  bis  zur  Neuzeit,  Cloppenburg  2004,  S.  47- 
63,  hierS.  54. 

23  Wolfgang  Dorfler,  Herrschaft  und  Landesgrenze:  die  langwahrenden  Bemiihungen 
um  die  Grenzziehung  zwischen  den  Stiften  und  spateren  Herzogtiimern  Bremen  und  Ver- 
den,  Stade    2004,  S.  653.  -  Thassilo  von  der  Decken,  Die  Familie  Cliiver  Teil  3,  in:  Stader 

Jahrbuch,  Neue  Folge,  Heft  73,  1983,  S.  108;  Quelle:  StA  Stade  Rep  27  B  3721q,  Bl.  12-28. 
Strittig  war  im  Prozess,  ob  der  Adelige  in  den  Waldern  des  Amtes  Ottersberg  wirklich  nach 
seinem  Baubedarf  hauen  durfte.  Es  spricht  einiges  dafiir,  dass  dieser  Zweck  des  Holzge- 
brauchs  sogar  nur  eine  Schutzbehauptung  der  Adelsfamilie  gewesen  ist,  denn  seine  Mutter 
hatte  zwei  Jahre  zuvor  schon  18  fruchttragende  Eichen  schlagen  lassen,  ohne  einen  Bau 
zweck  nachzuweisen.  Die  Kapitalisierung  des  Bauholzes  durch  den  Adel  war  bereits  iiblich. 
Der  Wert  der  gefallten  68  Baume  wurde  1575  auf  500  Taler  taxiert. 

24  Ulrich  Klages/ Wolfgang  Dorfler /Hans-Joachim  Turner,  „Bauernhaus-Genealo- 
gie"  im  Landkreis  Rotenburg  -  Eine  vergleichende  Analyse  der  Innengefiige  alterer  Bau 
ernhauser  2.  Teil,  in:  Rotenburger  Schriften  Heft  80/81,  1994,  S.  35-114,  hier  S.  108. 


Bauholzversorgung  auf  dem  Lande  147 

spaten  17.  bis  zum  19.  Jahrhundert  wurden  im  Elbe-Weser-Dreieck  und  der  siid- 
lich  angrenzenden  Liineburger  Heide  zwar  noch  groBe  Bauernhauser  gebaut, 
doch  nie  mehr  unter  Verwendung  solcher  iiberdimensionierter  Eichenholz- 
mengen. 

Zur  Quantifizierung  des  landlichen  Bauholzbedarfes  miissen  Uberlegungen 
zur  Lebens-  bzw.  Nutzungsdauer  der  Bauernhauser  und  zur  Vermehrung  der  Hof- 
stellen  sowie  der  landlichen  Nebengebaude  angestellt  werden.  Der  sich  dabei  er- 
gebende  Bedarf  lasst  sich  fur  die  Friihe  Neuzeit  am  folgenden  Beispiel  demon- 
strieren:  Von  den  ca.  1000  Bauernhausern  des  alten  Amtes  Rotenburg,  wie  sie 
1600  bestanden,25  haben  lediglich  zehn  die  nachsten  400  Jahre  iiberstanden.  Ein 
solches  Haus  kann  von  derbautechnischen  Seite  her  500  und  mehrjahre  alt  wer- 
den,26 wurde  dies  aber  nur  in  Ausnahmefallen.  Brande,  Vernachlassigung,  Ver- 
anderung  der  Wirtschaft-  und  Lebensweise  oder  das  Renommierbedurfhis  der 
Bewohner  haben  zu  einer  „vorzeitigen"  Beendigung  der  Lebensdauer  und  damit 
zu  einem  Bedarf  an  neuem  Baumaterial  gefiihrt.  Umgekehrt  hat  die  qualitatvolle 
Ausfiihrung  eines  Baus  dessen  Uberlebenschancen  erhoht,  so  dass  wirin  viel  gro- 
Berem  MaBe  oberschichtliche  als  unterschichtliche  alte  Bausubstanz  auf  dem 
Lande  finden.  Gute  Voraussetzungen  fur  das  wenig  veranderte  Uberdauern  eines 
Hauses  waren  gegeben,  wenn  die  Hausstelle  nach  primarer  Prosperitat  herunter 
sank  und  so  der  Anpassungsdruck  in  Richtung  Modernisierung  des  Hauses  ge- 
mindert  wurde.  Die  durchschnittliche  Nutzungsdauer  eines  neuzeitlichen  landli- 
chen Fachwerkhauses  wurde  mit  150  Jahren  beziffert. 

Aber  nicht  nur  der  VerschleiB  sondern  ebenso  die  Veranderung  der  Wirt- 
schaftsweise  fiihrte  dazu,  dass  Bauernhauser  und  Nebengebaude  verschwanden 
und  stattdessen  neue  Gebaudetypen  errichtet  wurden,  wodurch  neuer  Bauholz- 
bedarf  entstand.  Beispielhaft  sei  erwahnt,  dass  die  Speicher  iiberfliissig  wurden, 
als  im  18.  Jahrhundert  die  „Schiittboden"  in  den  Bauernhausern  zu  Kornspeicher 
ausgebaut  wurden.  Etliche  der  alten  Speicher  wurden  aber  zu  Backhausern  um- 
gebaut  und  iiberlebten  so.27  Die  alten  Backhauser  der  Heide  waren  oft  zugleich 
auch  in  einem  Teil  als  Hauslingshauser  genutzt,28  aber  fur  diesen  Zweck  unprak- 

25  Ermittelt  aus  dem  16.  Pfennigschatz  des  Jahres  1560  (StA  Stade  Rep  5b  Fach  101  Nr. 
8)  durch  Berechnung  einer  iiber  10  Dorfer  durchschnittlichen  Schatzsumme  von  13  Mark 
pro  Hof  und  einem  Gesamtschatz  von  ca.  12000  Mark  unter  Beriicksichtigung  einer  gerin- 
gen  Stellenvermehrung  zwischen  1560  und  1600. 

26  Das  fiihrte  zu  dem  programmatischen  Titel  der  Ausstellung  von  1994  im  Weserre- 
naissance-Museum  SchloB  Brake:  ,,500  Jahre  Garantie  -  Auf  den  Spuren  alter  Bautechnik". 
Unter  dem  gleichen  Titel  ist  auch  eine  Publikation  zum  Thema  erschienen  als:  Materialien 
zur  Kunst-  und  Kulturgeschichte  Nord-  und  Westdeutschlands,  Band  12,  1994. 

27  Heinz  Riepshoff,  Speicher  und  Backhauser  in  der  Grafschaft  Hoya,  o.  J.  ca.  1997, 
S.  11-38. 

28  Eduard  Kuck,  Das  alte  Bauernleben  der  Liineburger  Heide,  Leipzig  1906,  Neudruck 


148  Wolfgang  Dorfler 

tisch,  so  dass  nach  der  Ausbreitung  des  Hauslingswesens  seit  dem  Ende  des  18. 
Jahrhunderts  miniaturisierte  Hallenhauser  als  Hauslingshauser  in  groBer  Zahl 
neu  errichtet  wurden.  Schafstalle  nahmen  im  16.  Jahrhundert  stark  an  Zahl  zu, 
verschwanden  dann  im  19.  Jahrhundert  weitgehend  wieder,  oder  wurden  zu 
Kleinbauernhausern  umgenutzt.  In  der  gleichen  Zeit  verschwanden  die  Feld- 
scheunen,  die  im  17.  Jahrhundert  als  feuersichere  Vorratsgebaude  auBerhalb  der 
Hofstellen  errichtet  worden  waren.  Stattdessen  entstanden  im  18.  Jahrhundert 
groBere  hofnahe  Scheunengebaude,  oft  mit  angebauten  Schweinestallen. 

Die  landlichen  Gebaude  Nordwestdeutschlands  waren  bis  zum  Ende  des  18. 
Jahrhunderts  aus  Eichenholz  gebaut,  weil  kein  anderes  vergleichbar  geeignetes 
Bauholz  verfiigbar  war.  Buchenholz  ist  als  Bauholz  minderwertig.29  Im  Hand- 
werk  aber  wurde  Buchenholz  verwendet,  so  bei  den  Mobeltischlern,  den  Wagen- 
bauern  und  z.B.  fiir  Stauanlagen  an  Wassermiihlen,30  an  Stellen  also,  wo  ohnehin 
von  keinergroBen  Langlebigkeit  derGerate  bzw.  Bauwerke  ausgegangen  wurde. 
Als  Feuerholz  und  bei  der  Erzeugung  von  Holzkohle  und  Pottsohl  (Kaliumcarbo- 
nat  zur  Glasschmelze)  ist  es  dem  Eichenholz  gleichwertig  gewesen.  Es  ist  die  ver- 
breitete  Beschreibung  der  Eichen-Buchenwalder  der  Eriihen  Neuzeit  aber  zu  re- 
lativieren;  den  Buchen  kamen  weniger  Fiirsorge  und  Aufzuchtsbemiihungen  zu 
Gute.31  Dass  Buchen  in  den  Waldern  haufig  vorkamen,  lag  daran,  dass  sie  der  Ei- 
che  gegeniiber  ein  besseres  biologisches  Durchsetzungsvermogen  haben.  Der 
Siegeszug  der  Buche  hin  zum  „Dunkelwald"  war  nach  Kremsers  Analyse  „die 
groBte  und  plotzlichste  Umwandlung  des  Waldes  in  der  Neuzeit";32  er  erfolgte 
aber  erst  im  19.  Jahrhundert,  war  durch  die  groBe  Nachfrage  nach  Buchenbrenn- 
holz  bedingt  und  moglich  geworden,  weil  inzwischen  Nadelholz  in  ausreichen- 


Hildesheim  1976,  S.  216-220;  Horst  W.  Lobert,  Arbeiter  auf  dem  Lande,  Landwirtschafts- 
museum  Liineburger  Heide,  Suderburg  1991,  S.  18  und  S.  20. 

29  Auch  der  Wert  der  Bucheckern  fiir  die  Schweinemast  ist  in  den  Darstellungen  unkri- 
tisch  zu  hoch  angesetzt  worden.  Dazu  A.  Zimmermann,  Untersuchungen  iiber  das  Abster- 
ben  des  Nadelholzes  in  der  Liineburger  Heide,  in:  Zeitschrift  fiir  Forst-  und  Jagdwesen  Heft 
6,  1908,  S.  357-391,  hierS.  379. 

30  Ein  Beispiel  fiir  Antrage  auf  Buchenstamme  zu  „Schleusenholz"  durch  den  Miiller  zu 
Goldbeck  (Ldkr.  Stade)  in  denJahrenl677-79:  StA  Stade  Rep  30  Nr.  52. 

31  Carl  Jordens,  Wirtschaftsgeschichte  der  Forsten  in  der  Liineburger  Heide  vom  Aus- 
gang  des  Mittelalters  bis  zum  Beginn  des  neunzehntenjahrhunderts,  Braunschweig  1931,  S. 
136.  -  Die  Anlage  von  Buchenkampen  ist  eine  Seltenheit  und  Buchenhester  wurden  nur  als 
Aufzahlungen  im  Zusammenhang  mit  Eichenhesterpflanzungen  erwahnt 

32  Kremser,  Forstgeschichte,  wie  Anm.  21,  S.  13  und  S.  73-74.  -  Die  Ortsnamen  auf  Bu- 
che sind  in  Norddeutschland  haufiger  als  die  auf  Eiche,  was  ich  als  Hinweis  auf  die  biologi- 
sche  Uberlegenheit  der  Buche  im  Rahmen  der  Spontanvegetation  auf  den  Boden  deutet,  die 
in  der  mittelalterlichen  Ausbauperiode  primar  genutzt  wurden.  Dass  Berg,  wie  Anm.  13,  S. 
143,  beide  Baumarten  fast  gleichhaufig  in  Ortsnamen  fand,  scheint  mir  daran  zu  liegen,  dass 
er  die  niederdeutsche  Form,  die  in  Bockel,  Bokel  etc.  steckt,  nicht  beriicksichtigt  hat. 


Bauholzversorgung  auf  dem  Lande  149 

der  Menge  als  Bauholz  herangezogen  worden  war  und  das  langsam  wachsende 
Eichenholz  ersetzen  konnte. 

Im  Protokoll  des  Holtings  auf  dem  Stuvenwald  im  Landkreis  Harburg  von 
1555  heiBt  es:  Albert  will ein Huszbwen  von  4  Vacken,  dartho  bedarfhe  5 Balken,  3Boi- 
ken,  2  Eeken,  2  Bohme  tho  Stenderen,  7  Bohm  tho  Bantholte  (Kopf bander  und  Riegel) , 
7  Bohm  tho  Legem,  (Schwellen) ,  10  Spahre.33  Dieser  Antrag  ist  nicht  wortlich  zu  neh- 
men,  da  wirkein  einziges  Haus  mit  drei  Buchenbalken  gefunden  haben.  Dass  der 
Bauer  in  seinem  Antrag  drei  Buchen  auffiihrte,  ist  als  Vorwand  zu  verstehen:  das 
minderwertige  Holz  wurde  leichter  genehmigt,  und  was  er  dann  wirklich  fallte 
und  abtransportierte,  warkaum  zu  kontrollieren.  Wenn  ermit  dem  gefallten  Holz 
auf  seiner  Hofstelle  angekommen  war,  war  auch  die  Entnahme  ungenehmig- 
ten  Holzes  nicht  mehr  zu  ahnden.34  1559  klagten  die  Adeligen  von  Weye  gegen 
die  von  Heimbruch,  dass  diese  im  Thodt  (einem  Wald  im  Ldkr.  Harburg)  an 
Fremde  „Ellernholz"  verkauften,  die  Fremden  dann  aber  nicht  nur  die  Erlen,  son- 
dern  auch  die  Eichen  und  Buchen  schliigen  und  zwar  sogar  solche,  die  „in  Mast 
stehen".35 

In  den  Bauernhausern  des  mittleren  Elbe-Weser-Dreiecks  bestand  der  „Speck- 
balken",  also  der  im  Flett  in  unmittelbarer  Nahe  zum  Herdfeuer  liegenden  De- 
ckenbalken  des  Hallenhauses,  sehr  oft  aus  Buchenholz,  ebenso  ein  Teil  der  De- 
ckenbohlen  und  das  Feuerrahm.  Buchenholz  wurde  in  der  Nahe  des  Herdfeuers 
verwendet,  um  durch  den  scharfen  Rauch  den  Schadlingsbefall  des  Holzes  in 
Grenzen  zu  halten.  Der  Buchenbalken  im  Flett  ist  als  ein  Kompromiss  zwischen 
dem  Wunsch  nach  groBtmoglichem  Bauen  und  dem  verfiigbaren  Eichenbau- 
holzangebot  zu  verstehen  und  blieb  ein  Nachteil,  da  der  Anobienbefall  von  Bu- 
chenholz auch  durch  den  scharfen  Rauch  im  Flett  nicht  verhindert  werden  konn- 
te.36 In  der  Beschreibung  eines  Hofes  auf  der  Stader  Geest  aus  dem  Jahre  1709 
findet  sich  folgende  Notiz,  die  zugleich  fiir  den  Zustand  der  Hauser  in  dieser  holz- 


33  Willi  Meyne,  Die  ehemalige  Hausvogtei  Moisburg.  Geschichte  ihrer  Dorfer  und  Ho 
fe,  Buxtehude  1936,  S.  61-63,  hier  zitiert  nach  Ulrich  Klages,  Amtlich-restriktive  Bauholzzu- 
weisung  und  ihre  Auswirkung  auf  das  landliche  Bauwesen  in  der  Nordheide,  in:  Bauen  nach 
Vorschrift?  Obrigkeitliche  Einflussnahme  auf  das  Bauen  in  Nordwestdeutschland.  Beitrage 
zur  Volkskultur  in  Nordwestdeutschland  Band  102,  2002,  S.  83-96  hier  S.  83. 

34  Verhey,  wie  Anm.  13,  S.  108. 

35  Schreiben  vom  30.  7.  1559,  zitiert  nach  Hermann  Schettler,  Die  Markgenossen- 
schaft  des  Todt,  Tostedt  1988,  S.  39. 

36  Beim  Abbau  eines  Bauernhauses  in  Narthauen  (Ldkr.  Rotenburg)  wurde  der  Dach- 
stuhl  durch  Zug  am  vorderen  Sparrenpaar  niedergelegt.  Die  alten  und  schon  zweitverwen- 
deten  Eichendeckenbalken  und  auch  zwischengelegte  jiingere  Nadelholzbalken  uberstan- 
den  den  Aufprall  des  Dachstuhls,  der  machtige  Buchenbalken  im  Flett  aber  zerbarst  in  meh- 
rere  Teile,  weil  er  bis  in  den  Kern  von  Schadlingen  zerfressen  war;  Wolfgang  Dorfler, 
Haus  Narthauen  Nr.  1  geborgen,  in:  Der  Holznagel  1,  1989,  S.  8-18,  hier  S.  16-18. 


150  Wolfgang  Dorfler 

armen  Zeit  steht:  Ein  Balcke  mit  im  Haufie  war  mitten  entzwey  undstunden  zwei  Stub- 
ben  darunter,  und  ein  Balcke  ist  auch geringe,  denen  ein  Buchen  Balcke  zu  Hiilfe gelegt,  wel- 
chen  die  Wiirmer  bereits  gefressen.37 

Bei  kleineren  Hausern  vor  allem  in  den  Marschen  finden  sich  Eschenholz  fiir 
Sparren,  seltener  auch  fiir  Stander  und  Balken.  Das  Eschenholz  ist  dem  Eichen- 
holz  hinsichdich  Zahigkeit  und  Bestandigkeit  gegen  Schadlingsbefall  ebenbiirtig. 
In  den  Marschen  haben  Eschen  gegeniiber  Eichen  zudem  den  besseren  Wuchs. 
Allerdings  erreicht  die  Esche  keinen  so  kraftigen  und  geraden  Stamm,  dass  sie 
identisch  verwendbar  ware.  Ulmen,  Linden  und  Kastanien  finden  sich  gelegent- 
lich  an  untergeordneten  Stellen  des  Geriistes,  etwa  als  Walmsparren.  Obwohl  der 
in  Hannover  gebrauchliche  Amtseid  der  Zimmermeister  aus  dem  18.  Jahrhun- 
dert  vorschreibt:  [Ihr habt] Eure  Anschldge  darnach  ein[zu]richten,  dass  bey  neuen,  auch 
zu  reparierenden  Gebduden,  anstatt  der  bisherigen  Balken  und  Sparren  von  Eiche  und  Tan- 
nen  oder  Ellern,  Birken  und  Espen  genommen  werden,3&  ist  es  ein  singularer  Fall,  dass 
wir  Birkenstamme  als  Bauholz  verwendet  gefunden  haben.39 

Zum  Nadelholz  ist  zu  berichten,  dass  weite  Teile  des  heutigen  Niedersachsens 
bis  zu  Ende  des  18.,  z.  T.  auch  bis  zur  Mitte  des  19.  Jahrhunderts  nicht  iiber  als 
Bauholz  nutzbare  Bestande  verfiigten.40  Das  gait  nicht  nur  fiir  die  Geestgegenden, 
sondern  ebenso  fiir  die  Mittelgebirge  entlang  der  Weser.41  Allein  die  Harzregion 
und  Teile  der  Siidheide  hatten  auch  schon  im  Spatmittelalter  und  der  Friihen 
Neuzeit  mit  eigenem  Nadelholz  bauen  konnen.42  Die  mittelalterliche  Fachwerk- 
stadt  Quedlinburg  ist  weitgehend  aus  Nadelholz  des  Harzes  erbaut,  was  beweist, 
dass  aus  diesem  Holz  erbaute  Hauser  700  und  mehrjahre  Bestand  haben  konnen. 

Die  Marschen  verfiigten  ohnehin  seit  der  Friihen  Neuzeit  kaum  noch  iiber  ei- 
gene  Bauholzbestande.  Marschenhauser  entlang  der  Elbe  sind  im  altesten  Be- 


37  Prior  wie  Anm.  4,S.  13undS.  173.  Das  Protokoll  waru.  a.  aufgenommen  worden,  weil 
der  Bauer  ohne  Erlaubnifi  einen  grofien  Eichenbaum  zum  Unterhalt  seinen  HauJSes gefellet  hatte. 

38  Eidesformel  als  Anhang  an  die  Cammer-Instruktion  vom  24.  Februar  1745  gedruckt 
bei  Ernst  Spangeneerg,  Sammlung  der  Verordnungen  und  Ausschreiben  welche  fiir  samtli- 
che  Provinzen  des  Hannoverschen  Staates,  jedoch  was  den  Calenbergischen,  Liineburgi- 
schen  und  Verdenschen  Theil  betrifft,  seit  dem  Schlusse  der  in  denselben  vorhandenen  Ge- 
setzessammlungen,  bis  zur  Zeit  der  feindlichen  Ursurpation  ergangen  sind,  1.  Theil  2.  Ab- 
teilung,  Hannover  1819,  S.  148. 

39  Bei  einem  Dreistanderbau  mit  einseitiger  Kubbung  in  Bevern  (Ldkr.  Holzminden) 
von  1598  wurde  um  1790  die  niedrige  AuBenwand  erhoht,  so  dass  ein  scheinbarer  Vierstan- 
derbau  resultierte.  Fiir  diesen  Umbau  waren  lange  Sparrenauflaufer  notig,  wofiir  Birken- 
stamme Verwendung  fanden,  die  iiberraschend  nun  schon  mehr  als  210  Jahre  iiberstanden 
haben  (pers.  Mitteilung  Dr.  Ulrich  Klages,  Heidenau,  August  2006). 

40  Zimmermann,  Nadelholz,  wie  Anm.  29,  S.  361-373. 

41  Jiirgen  Delfs,  Die  FloBerei  in  Stromgebiet  der  Weser,  Bremen-Horn  1952,  S.  42  und 
S.  74-76;  Roland  Henne,  FloBe  von  der  Oberweser,  Holzminden  2005,  S.  18-19. 

42  Beispiele  dazu  weiter  unten  S.  164. 


Bauholzversorgung  auf  dem  Lande  151 

stand  des  15.  Jahrhunderts  aus  Eichenholz,  aber  bereits  im  16.  Jahrhundert  mit 
groBen  Anteilen  machtiger  Nadelholzer  erbaut.  Im  17.  Jahrhundert  und  wieder 
seit  dem  19.  Jahrhundert  sind  hier  sogar  die  Stander  und  das  auBere  Fachwerk 
nicht  aus  Eiche.  Die  Erklarung  dafiir  ist  die  FloBerei  auf  der  Elbe,  die  Nadelholz 
aus  der  Siidheide,  Mecklenburg,  Brandenburg  und  den  Gebirgen  des  „Oberlan- 
des",  also  des  Thiiringen  Waldes  und  des  heutigen  Tschechiens,  bis  an  den  Unter- 
lauf  der  Elbe  und  in  die  Marschen  des  Alten  Landes  brachte,  spater  auch  iiber  die 
Seitenfliisse  ins  Landesinnere  hinein.43 

Das  importierte  Weichholz  nun  erlaubte  eine  viel  weitspannendere  Bauweise, 
als  es  die  Eiche  ermoglicht  hatte.  Die  Balken,  Rahme  und  Sparren  sind  langer 
und  durch  ihr  geringeres  Eigengewicht  bei  guter  Biegestabilitat  auch  belastbarer. 
Breitere  Dielen  sowie  groBere  Balkeniiberstande  und  damit  groBere  Dachraume 
wurden  gewonnen.  Es  waren  auf  dem  Lande  aber  zunachst  nur  die  oberschichtli- 
chen  Bauherren,  die  sich  dieses  wertvollen  Holzes  bedienen  konnten.  In  Stade  ist 
beispielsweise  die  aufwandige  holzerne  Innen-  und  Dachkonstruktion  des 
Schwedenspeichers  aus  gefloBtem  Nadelholz  gebaut.  Aus  dem  gleichen  Holz  er- 
baut ist  auch  das  Viehhaus  des  adeligen  Bremerschen  Gutes  in  Cadenberge  von 
1747  (i) 44  (Ldkr.  Cuxhaven)  und  der  Kornspeicher  des  adeligen  Gutes  Nieder 
Ochtenhausen  (Ldkr.  Rotenburg)  von  etwa  1788  (d).  1832  (i)  wurde  dann  erst- 
mals  ein  groBes  Geestbauernhaus  in  Ober  Ochtenhausen  (Ldkr.  Rotenburg)  mit 
importierten  Tannenbalken  erbaut,45  die  offensichtlich  mit  dem  Tiedenhub  die 
Oste  aufwarts  gefloBt  worden  waren.  Dieses  Wissen  riihrt  aber  nicht  aus  der 
Uberlieferung  oder  archivalischen  Quellen  her,  die  nur  selten  einmal  wie  beim 
Stader  Schwedenspeicher  Hinweise  geben;  es  sind  vielmehr  wieder  die  Gebaude 
selbst,  die  Auskunft  geben.  Die  verbauten  Nadelholzer  weisen  die  Spuren  der 
FloBzimmerung  und  durch  den  Holzhandel  angebrachte  typische  eingeritzte 
Zeichen  auf,  die  am  Holz  auch  nach  dem  Verbauen  zu  finden  sind.  Ulrich  Klages 


43  Delfs,  wie  Anm.  41,  Abb.  30  S.  74;  Ulrich  Klages,  Alte  Marschenhauser  als  Zeugen 
der  ElbfloBerei,  in:  Flosserei  auf  der  Elbe,  Teil  1:  Wege  und  Ziele  ihrer  Erforschung,  in:  Lau- 
enburger  Hefte  zur  Binnenschiffahrtsgeschichte  3,  1992,  S.  23-27;  fur  Mecklenburg  und 
Brandenburg  Fritz  Solinger,  Holzhandel  und  Waldwirtschaft  des  Herzogs  Adolf  Friedrich 
II.  von  Mecklenburg-Strelitz,  in:  Mecklenburg-Strelitzer  Geschichtsblatter,  1928,  119-181, 
hier  S.  152-155  und  166-171;  fur  Sachsen:  Gerhart  Heinz  John,  Die  ElbfloBerei  in  Sachsen, 
Leipzig  1934,  S.  88-95. 

44  Die  Abkiirzung  bedeutet,  dass  das  Baudatum  durch  eine  Inschrift  iiberliefert  ist,  sie- 
he  Anmerkung  13. 

45  Die  FloBholzverwendung  fur  die  Gebaude  in  Stade,  Cadenberge  und  Nieder  Och- 
tenhausen ist  in  der  einschlagigen  Literatur  zu  den  Gebauden  und  in  den  Denkmalverzeich- 
nissen  nicht  erwahnt.  Zum  Haus  in  Ober  Ochtenhausen:  Ulrich  Klages /Wolfgang  Dorf- 
ler,  Ein  hauskundlicher  Rundgang  durch  Ober  Ochtenhausen,  in:  Ober  Ochtenhausen, 
Band  I:  Geschichte  des  Dorfes,  2005,  S.  736-754,  hier:  745-747. 


152  Wolfgang  Dorfler 

fiihrte  als  erster  diesen  Beweis  an  den  stehenden  Gebauden  und  bereitete  damit 
vielen  neuen  Erkenntnissen  den  Weg.46  Im  Ober  Ochtenhausener  Haus  finden 
sich  zwei  Arten  von  Bohrungen:  groBe  als  Spuren  der  ElbefloBerei  und  deutlich 
kleinere  vielleicht  fiir  die  Neueinbindung  in  Form  von  Oste-FloBen. 

Die  FloBerei  „einheimischer"  (also  hessischer  und  niedersachsischer)  Holzer 
auf  der  Weser  war  zunachst  eine  LaubholzfloBerei,  die  besonderen  Bedingungen 
unterliegt.  Aus  Thiiringen  und  aus  der  Siidheide  sind  auch  iiber  die  Weser  schon 
in  der  Friihen  Neuzeit  NadelholzfloBe  bis  in  die  norddeutsche  Tiefebene  ge- 
langt.47  Wirhaben  in  der  1619  (i)  erbauten  Diele  des  Haupthauses  von  Gut  Holte 
(Ldkr.  Cuxhaven)  bereits  gefloBte  Weichholzbalken  verbaut  gefunden.  Seit  dem 
19.  Jahrhundert  sind  dann  auch  aus  dem  Weserbergland  Nadelholzstamme  die 
Weser  abwarts  und  die  Seitenfliisse  aufwarts  gefloBt  worden48  und  haben  dann 
auch  den  bauerlichen  Schichten  zur  Verfiigung  gestanden,  wie  Hauser  in  Wum- 
mensiede  (Niederblockland,  Bremen)  von  um  1810  (d)49  und  in  Spieka-Alten- 
deich  (Ldkr.  Cuxhaven)  von  1826  (i)  zeigen.  Bei  Letzterem  sind  auch  die  Kopf- 
bander  und  sogar  die  Stander  aus  Nadelholz  gefertigt  worden. 

Der  systematische  Anbau  von  Nadelholz  in  den  Geestgebieten  des  Elbe-We- 
ser-Dreiecks  begann  im  friihen  18.  Jahrhundert  und  war,  trotz  groBen  Aufwandes 
noch  jahrzehntelange  von  nur  geringem  Erfolg  gekront.50  Es  bestanden  Wider- 
stande  der  Bauern  gegen  Tannen-  und  Kiefernforsten,  da  die  noch  immer  fiir  un- 
entbehrlich  gehaltene  Waldweide  in  Nadelholzbestanden  nicht  moglich  ist.  Ab 
1790  standen  erste  einheimische  Tannen,  Fichten  und  Kiefern  auch  im  Elbe-We- 
ser-Dreieck  als  Bauholz  zur  Verfiigung  und  flachendeckend  wurde  ab  1840  fiir  al- 
le  Langholzer  (Balken,  Rahme,  Sparren)  nur  noch  Weichholz  verwendet.  Wenig 
spater  sank  der  Bedarf  an  Eichenbauholz  auch  auf  der  Geest  zusatzlich  durch  die 
massenhafte  Produktion  von  preiswerten  Ziegelsteinen,  die  ab  1870  zum  Massiv- 
bau  der  AuBenwande  fiihrte.  Diese  Entwicklung  war  in  den  holzarmen  Marsch- 
gebieten  der  Fliisse  und  der  Nordkiiste  schon  Jahrzehnte  friiher  abgelaufen. 


46  Ulrich  Klages,  FloBholzer  in  den  Marschenhausern  an  der  unteren  Elbe,  in:  Histori- 
sches  Bauwesen,  Material  und  Technik,  Jahrbuch  fiir  Hausforschung  42,  1994,  S.  181-214. 

47  Delfs,  wie  Anm.  41,  S.  18-22  und  S.  74-76;  Henne,  wie  Anm.  41,  S.  19  und  S.  26. 

48  Anzucht  von  Nadelholz  im  Soiling  nach  1745:  Carl  Hermann  Langerfeldt,  Das 
Forstwesen  im  Herzogthume  Braunschweig,  in:  Die  Landwirthschaft  und  das  Forstwesen  im 
Herzogthume  Braunschweig.  Festgabe  fiir  die  Mitglieder  der  XX.  Versammlung  deutscher 
Land- und  Forstwirthe,  Braunschweig  1858,  S.  97-170,  hier  S.  150  und  S.  157  FN  120;  Delfs, 
wie  Anm.  41,  S.  75. 

49  Gutachten  zum  Haus  Bavendamm,  Wummensiede  1  durch  Ulrich  Klages  fiir  das 
Bremer  Landesmuseum  -  Focke  Museum  mit  Datum  vom  4.  10.  1992. 

50  Ausfiihrlich  dazu  Friedrich  Tamss,  Die  herrschaftlichen  Forsten,  in:  Das  hannover- 
sche  Amt  Rotenburg  im  18.  Jahrhundert,  Rotenburger  Schriften,  Drittes  Sonderheft,  1958, 
S.  42-55  und  S. 73-74. 


Bauholzversorgung  auf  dem  Lande  153 

Bauholz  aus  der  Allmende 

In  der  Literatur  wird  regelmaBig  das  mittelalterliche  Recht  zitiert,  dass  jeder  Be- 
rechtigte  in  den  gemeinschaftlichen  Waldungen  schlagen  durfte,  was  er  meinte 
fur  den  Eigengebrauch  notig  zu  haben.  1339  hieB  das:  Ein  jeder  mag  how  en  to  sinnen 
Timmer  und  to  sinen  Towen,51  also  das  Bauholz  und  Zaunholz  nach  dem  Bedarf  sei- 
ner Hufe  frei  entnehmen.  1495  wurde  dieses  Recht  starker  spezifiziert  und  die 
Zahl  der  Berechtigten  eingeengt;  so  heiBt  es  fur  den  Bereich  des  Todts  im  heuti- 
gen  Landkreis  Harburg:  Item  de  holtinges  luden  int  gemen  to  gefunden,  enjewelk  have- 
ner, im  holtinge  besetten,  mogen  sinen  kolhofunde  sinen  inhofbetunen  mit  eken  unde  boken- 
holte  ungepandet,  unde  denne  geliken,  ok  to  erem  buwe  unde  erer  berninge  (Feuerholz,)  na 
erer  nottofticheit  houwen  eken  und  boken  holt  ungepandet.52  1502  ist  es  der  Versuch  alte 
Rechte  zu  verteidigen,  wenn  auf  der  Holtigsversammlung  des  Velberschen 
Bruchs  die  an  den  Marken  berechtigte  Bauern,  hier  „die  Erben"  genannt,  vom 
Landesherren  fordern:  Ein  ider Erve  schall  houwen  to  syner Notdorft,  ein  iklicher Erve 
magfahren  so  stark  he  konde.53  Im  Spatmittelalter  scheint  die  Holtingsversammlung 
der  Ort  gewesen  zu  sein,  auf  dem  der  Bauholzbedarf  angemeldet  und  aus  nach- 
barlicher  Kenntnis  die  benotigten  Baume  bewilligt  wurden.  Allerdings  sind 
quantitativen  Aussagen,  wie  die  Zahl  derzu  schlagenden  Baume  und  das  dafiirzu 
zahlende  Geld,  in  den  Protokollen  so  gut  wie  nie  iiberliefert.54  Die  Aufsichtstatig- 
keit  dieser  Zusammenkiinfte  hat  sich  nach  Wortlaut  der  Protokolle  vor  allem  auf 
die  AbwehrfremderNutzerund  die  milde  Ahndung  ungenehmigter  Holzentnah- 
men  konzentriert;  den  Bauwiinschen  der  eigenen  Leute  haben  die  Versammlung 
nicht  erkennbar  entgegengewirkt,  so  dass  der  Verbrauch  von  Eichenbauholz 
nicht  wirksam  begrenzt  wurde. 

Die  Markennutzung  des  Mittelalters  wird  in  der  alteren  Literatur  idealisierend 
dargestellt:  Die  auf  ihren  Hufen  sitzenden  Bauern  sollen  entnommen  haben,  was 
sie  brauchten,  fern  von  Profitstreben  und  Prunksucht  also  die  Walder  gepflegt 
und  so  den  Spagat  geschafft  haben,  die  Baume,  die  zugleich  die  wichtigste  Mast 
lieferten,  als  universelles  Bauholz  zu  nutzen  und  gleichzeitig  zu  schonen.55  Die 
Bauern  hatten  sich  an  derlukrativen  Vermarktung  des  Holzes  nicht  beteiligt,  weil 


51  Zitiert  nach  Timm,  wie  Anm.  17,  S.  72. 

52  Holting  im  Todtholze  vom  8.  10.  1495,  zitiert  nach  Schettler,  wie  Anm.  35,  S.  30. 

53  Zitiert  nach  Verhey,  wie  Anm.  13,  S.  114-115. 

54  In  Sasbach  am  Rhein  wurden  nach  dem  dortigen  Markrecht  von  1432  generell  15 
Baume  fur  ein  Haus  und  11  fur  eine  Scheune  zugeteilt  (zitiert  bei  Berg,  wie  Anm.  13,  S.  211). 
Wenn  man  erganzende  Holzbeschaffung  ausschlieBt,  kann  dieses  Beispiel  als  Bestatigung 
fur  die  weiter  unten  verfolgte  These  von  der  schwachen  Bauweise  spatmittelalterlicher  Bau- 
ernhauser  genommen  werden. 

55  Z.  B.  bei  Verhey,  wie  Anm.  13. 


154  Wolfgang  Dorfler 

sie  den  Ressourcen  gegeniiber  schonender  gewesen  waren.  Diese  Verklarung  des 
bauerlichen  Verhaltens  wurde  in  den  30  und  40erjahren  des  20.  Jahrhundert  aus 
ideologischen  Griinden  gepflegt.56  Die  Zusicherung  der  Bauern,  dass  eine  Forst- 
hoheit  in  ihrer  Hand  nit  Ausreitung  des  Holz.es  zu  Folge  haben  wiirde,  ist  aber 
durchaus  realistisch,  da  die  landliche  Gemeinde  sicher  besser  als  jeder  Grund- 
oder  Landesherr  die  Kontrolle  iiber  die  Waldungen  wahrnehmen  konnte.57 

Fiir  das  Bauen  in  der  friihen  Neuzeit  gait  der  Idealzustand  der  freien  bauerli- 
chen Nutzung  der  Marken  schon  nicht  mehr.  Als  Folge  der  alten  bauerlichen 
Berechtigungen  in  den  Marken  und  Allmenden  bestand  ein  Anrecht  auf  Bauholz- 
zuteilung.  Als  Quellen  zurFrage  der  Holzbewirtschaftung  bieten  sich  die  Holzge- 
richtsprotokolle  und  die  in  der  Friihen  Neuzeit  einsetzende  landesherrschaftliche 
Gesetzgebung  an.  Diese  Quellen  wurden  bisher  meist  unter  forstgeschichtlicher 
Fragestellung  ausgewertet.58  Die  „Holtingsprotokolle"  und  Gesetze  geben  als  ob- 
rigkeitliche  Quellen  die  Befiirchtungen  und  Absichten  derLandesherrschaft  wie- 
der,  aber  die  Note  der  bauwilligen  Untertanen  lassen  sich  allenfalls  erahnen.  Wie 
immer  stellt  sich  bei  der  Betrachtung  von  Gesetzestexten  die  Frage  nach  der 
Durchsetzung  derartiger  landesherrschaftlicher  Regulierungsversuche.59 

Die  wolfenbiittelsche  Forstordnung  von  1547  regelte  diese  Frage  nach  Christa 
Graefes  Darstellung  folgendermaBen:  „  Jeder  [Untertan]  sei  nur  in  sein  eigenthum- 
bliche  holtze  Zimblicher  weis  und  seiner  notturft  nach  zum  Hauen  berechtigt.  Diese 
notturft  setzte  nun  aber  nicht  mehr  das  jeweilige  zustandige  Holting  fest,  sondern 
die  Zuteilung  von  Holz  geschah  auf  Anweisung  Vnserer  beschlossten  man  oder  der Er- 
ben  gemeinheit,  Vnser  Ambttleuten,  Forster  Vnd  der  Verordneten  der  Dorffer,  einem  Gre- 
mium  also,  das  sich  aus  dem  zustandigen  Gutsherren,  dem  Vertreter  des  Herzogs 
und  den  Holzgeschworenen  zusammensetzte."60  Der  Forstordnungsentwurf  im 


56  Timm,  wie  Anm.  17,  S.  97. 

57  Peter  Blickle,  Studien  zur  geschichtlichen  Bedeutung  des  deutschen  Bauernstandes. 
Quellen  und  Forschungen  zur  Agrargeschichte  Band  35,  Stuttgart,  New  York  1989,  S.  44-46; 
Below/Breit,  wie  Anm.  2,  S.  45  und  S.  51. 

58  Nachteil  der  Forstgeschichte  fiir  die  hier  untersuchten  Fragen  ist,  dass  sie  im  19.  und 
friihen  20.  Jahrhundert  zumeist  von  Forstern  geschrieben  wurde.  Die  Beamten  verstanden 
ihren  Stand  primar  als  Hiiter  des  Waldes  und  also  als  natiirlichen  Gegner  der  Bauherren 
und  anderen  Nutzer.  Die  Forsthistoriker  reihen  mitunter  selbst  die  Amtmanner  unter  die 
Verbiindeten  der  Waldnutzer  und  damit  die  Gegner  des  Waldes  ein,  z.B.  Fleischmann  1825 
zustimmend  zitiert  von:  Walter  Kremser,  Friihgeschichte  des  Eichenanbaus  in  Niedersach- 
sen,  in:  Rotenburger  Schriften   61,  1984,  S.  7-88,  hier  S.  64. 

59  Grundsatzliche  Uberlegungen  zum  Begriff  der  „Durchsetzung"  bei  Thomas  Spohn, 
Bauen  nach  Vorschrift?  wie  Anm.  33,  Zur  Einleitung  S.  1-68  und  ebenda  Wolfgang  Fritz- 
sche,  Uberlegungen  zum  Begriff  „Durchsetzung"  in  Bezug  auf  historische  Bauordnungen, 
S.  183-204. 

60  Christa  Graefe   Forstleute.  Von  den  Anfangen  einer  Behorde  und  ihren  Beamten 


Bauholzversorgung  auf  dem  Lande  155 

gleichen  Territorium  von  1585  fordert:  Wie  wol  einjede  Commun  und  Gemeinde  Wel- 
de  (Walder)  nutzen  und gebrauchen,  so  behuret  undstehet  uns  dock  zu,  als  dem  Regents  Le- 
hen  und Landesfursten  wegen  furstlicher  Obrigkeit  und  tragenden  Ampts  halbe,  rein  billigs 
notwendigs  Aufsehen  und  also  die  oberste  Inspection  daruber  haben  zulassen.61 

Auch  der  Verdener  Bischof  Eberhard  erlieB  1567  eine  „Regulierung  der  Ver- 
haltnisse in  den  Bauernholzungen",  nach  der  die  Anweisung  nur  durch  die  bi- 
schoflichen  Beamten  gemeinsam  mit  gewahlten  und  vereidigten  Holzgeschwore- 
nen  geschehen  durfte.62  Das  Beispiel  der  Bauernholzung  in  Malstedt  (Ldkr.  Ro- 
tenburg)  scheint  die  Durchsetzung  dieser  Vorschrift  zu  bestatigen.  Uber  sie  hieB 
es  um  1650 : 1st  eine  dorffschaftliche  Holtzung,  es  darfaber  kein  Unterthan  ohne  vorher  er- 
langte Permission  aus  Koniglicher  Cammer  etwas  aus  solchen Holtz haurn.63  Da  im  Her- 
zogtum  Verden  die  Verhaltnisse  gut  iiberliefert  sind,  wird  aber  klar,  dass  es  neben 
der  kostenpflichtigen  Bewilligung  auch  die  kostenlose  Konsensregelung  gegeben 
hat  und  sogar  weiterhin  den  „freien  Hieb"  in  einigen  der  dorfnahen  Walder.  So 
heiBt  es  1692  fur  Riekenbostel  (Ldkr.  Rotenburg)  und  sinngemaB  auch  fur  eine 
Reihe  anderer  Dorfer  der  Region:  [Das  Dorf]  hat  eigene  Holtzung  von  Eichen  und 
Biichen  Holtz  untereinander.  Die  Dorfschafft  [.  .  .]  hat  darin  einenfreyen  Hieb,  wirdje- 
doch  von  denen  Eingesessenen  bestmoglichst  geschonet  und  nicht  darin  gehauen,  wo  ihnen 
nicht  die  hdchste  Not  dazu  dringet.  Uber  die  Baume  in  der  Allmende  des  Dorfes  Waf- 
fensen  (Ldkr.  Rotenburg)  hieB  es:  Die  aufihrem  Lande  stehenden  Baume  [konnen] 
sie,  wan  es  dem  Rothenburgischen  Holtzvoigt  angemeldet,  zu  nothigen  Bauholtz  ohne  Ent- 
gelt  frey  fallen.  Dagegen  ist  fur  die  Vogtei  ScheeBel  im  gleichen  Jahr  festgehalten: 
Wan  die Bauren  zu  reparirung  ihrer  Gebdude  -  sonsten  wird  anitzo  nichts  consentiret  -  et- 
was fallen  wollen,  milssen  sie  den  pro  tempore  Amts  Vogt  darumb  ansprechen  und  12  Schill. 
Stdmgeldt  geben.64 

Vielerorts  erteilte  seit  dem  16.  Jahrhundert  also  nicht  mehr  die  landliche  Ge- 


Braunschweig-Wolfenbiittel  1530-1607.  Wolfenbiitteler  Forschungen  Band  43,  1989,  S.  74- 
75;  darin  auch  Abdruckderbraunschweigischen  Holzordnung  des  lG.Jahrhunderts  im  Wort- 
laut  S.  221-227.  Bei  Langerfeldt  wie  Anm.  48,  S.  109  lieBt  sich  die  Zusammenfassung  dieses 
Paragraphen  so:  „Bauholz  darf  nurmit  Wissen  und  auf  Anweisung  der  Amtleute,  beschloBten 
Manner  und  Forster  gehauen  werden  (auch  in  den  Gemeindewaldungen)". 

61  Zitiert  nach  der  Veroffentlichung  bei  Graefe,  wie  Anm.  60,  S.  240.  Diese  ansonsten 
sehr  gut  lesbare  Arbeit  befleiBigt  sich  beim  Abdruck  der  Quellen  eines  ungewohnlichen  Pu- 
rismus  in  Form  der  buchstabengetreuen  Wiedergabe.  Ich  habe  die  Schreibung  hier  wie  bei 
den  weiter  unten  folgenden  Zitaten  vereinfacht. 

62  Richard  Hesse,  Entwicklung  der  agrar-rechtlichen  Verhaltnisse  im  Stifte,  spaterem 
Herzogtum  Verdenjena  1900,  S.  74,  FN.  3. 

63  Hinrich  Zahrenhausen,  Ein  Verzeichnis  der  Staatsforsten  unserer  Heimat  aus  dem 
17.  Jahrhundert,  in  Stader  Archiv,  Neue  Folge  Heft  19,  1929,  S.  80-90,  hier  S.  89. 

64  Hinrich  Miesner  (Hrg.),  Die  Jordebiicher  des  Kreises  Rotenburg  1692/94,  Roten- 
burg 1938,  S.  283  (Riekenbostel),  S.  470  (Waffensen)  und  S.  58  und  S.  68  (Vogtei  ScheeBel). 


156  Wolfgang  Dorfler 

nossenschaft  der  Holtingsleute  alleine  die  Erlaubnis  zum  Fallen,  sondern  die 
Amtmanner  der  Landesherren  mussten  iiber  die  Antrage  befinden  und  lieBen 
durch  die  Forstknechte  oder  Holzvogte  die  genehmigten  Baume  aussuchen,  an- 
weisen  und  kennzeichnen.  Die  Uberreste  der  alten  bauerlichen  Berechtigungen 
zum  Holzbezug  aus  den  Marken  begegnen  in  Norddeutschland  aber  bis  in  das 
18.  Jahrhundert  hinein.  Ihre  Ablosung  erfolgte  offenbar  sehr  uneinheitlich,  da 
zeitgleiche  Quellen  bestehende  Anspriiche  wie  auch  deren  bereits  vollzogene 
Beseitigung  wiedergeben.  In  Gebieten  mit  bestehender  Berechtigung  erreichte 
das  vom  Bauwilligen  zu  entrichtende  Geld,  namlich  Stammgeld  und  Lohn  fun- 
die  Holzknechte,  meist  noch  nicht  den  Marktwert  des  Holzes.  Es  wurde  den 
Bauwilligen  im  18. Jahrhundert  aber-  so  weit  die  Quellen  dies  erkennen  lassen 
-  die  gewiinschte  Zahl  der  Stamme  zusammengestrichen.  Auch  in  solchen  Re- 
gionen  musste  Bauholz  auf  dem  Lande  zugekauft  oder  auf  anderen  Wegen  be- 
sorgt  werden. 

Befriedigende  Auskunft  iiber  die  friihneuzeitlichen  Verhaltnisse  beziiglich  der 
Bauholzversorgung  ist  aus  den  „Holzordnungen",  „Reskripten"  und  anderen  ob- 
rigkeitlichen  Archivalien  nicht  zu  erhalten.  Die  dort  niedergelegten  landesherr- 
schaftlichen  Losungsideen  lassen  allerdings  auf  Konflikte  riickschlieBen.  Als 
Beispiel  sei  die  Bekampfung  der  offenbar  weit  verbreiteten  Bestechungspraxis65 
gewahlt:  die  schlecht  bezahlten  und  schlecht  ausgebildeten  Holzvogte  und 
Holzknechte  haben  sich  von  den  Bauwilligen  durch  „beilaufende  Summen"  zu 
ziigiger  und  quantitativ  ausreichender  Bauholzzuteilung  bewegen  lassen.66  Gene- 
rell  ist  die  Uberlieferung  der  Bestechungspraxis  natiirlich  sparlich,  da  weder  die 
Zahlenden  noch  die  Empfanger  an  einer  schriftlichen  Fixierung  interessiert  wa- 
ren.  Die  Holzordnungen  aber  betonen  regelmaBig,  dass  die  Holzanweisungen 
durch  die  Vogte  ohne  Gunst  und  Gaben  zu  erfolgen  habe.67  Der  Erfindungsreich- 


65  Below/Breit,  wie  Anm.  2,  S.  52. 

66  Langerfeldt,  wie  Anm.  48,  S.  115  spricht  distanziert  nur  von  der  „in  den  furstlichen 
Erlassen  so  oft  beklagten  Untreue  der  Forster"  und  fiihrt  die  Holzverluste  iiberwiegend  auf 
die  Aufarbeitung  des  Holzes  durch  den  Empfanger  zuriick,  wodurch  nach  seiner  Ansicht 
„viel  Holz  unberechnet  blieb". 

67  Bremischen  Holzordnung  von  1588  (HStA  Hannover  Celle  Br.  60  Nr.  25,  Bl.  131R 
und  Bl.  132);  Herzog  Otto  von  Harburg  an  Herzog  Otto  denjiingeren  von  Braunschweig 
vom  3.  8.  1555:  Die  Heimbruch'schen  Vogte  beschweren  die  Leute  auf  dem  Thot  mit  Anweisungen  des 
Bauholzes,  um  fur  sich  Trinkgelder  zu  erpressen;  zitiertbei  Schettler,  wie  Anm.  35,  S.  36.  Hesse, 
wie  Anm.  62,  S.  78  berichtete  iiber  „eine  besondere  Vergiitung",  die  die  Rotenburger  Vogte 
fur  die  Anweisung  von  Holz  gefordert  hatten  und  die  im  Landtagsabschied  von  1566  verbo- 
ten  wurde.  Die  Holzordnung  Herzog  Christian  Ludwigs  von  1665  notierte:  CVI.  Und  soil 
auch  mit  Uebernehmung  und  Schatzung  der  Leute,  mit  Schreib-  Stamm-  und  Anweis- Geld  iiber  altes 
und  bekanntes  Herkommen  eines  jeden  Oris  nicht  geschritten  werden,  desgleichen  Zehrung  auf  diesel- 
ben  oder  Annehmungsgeschenck  hiemit  gdnzlich  verboten  seyn  (Chur-Braunschweig-Luneburgische 


Bauholzversorgung  auf  dem  Lande  157 

turn  beim  Abwickeln  dieser  Geschafte  scheint  bei  Forstern  und  Bauern  groB  ge- 
wesen  zu  sein.  Der  wolfenbiittelsche  Holzordnungsentwurf  von  1585  zahlt  auf: 
Die  Forstknechte  sollen,  wenn  sie  den  Untertanen  Holz  zuteilen,  sich  dafiir  keine 
Verehrung  geben  lassen,  sie  wiirden  Forstbriiche  zu  ihrem  eigenen  Nutzen  haufig 
unterschlagen,  sie  wiirden  eigenmachtig  Holzbriiche  nachlassen  und  die  Amt- 
manner  wiirden  fur  ihre  Entscheidungen  Gift  und  Gabe  oder  einige  Stichpfennige 
nehmen.  SchlieBlich  wiirden  die  Untertanen  im  Kruge  und  bei  anderen  Gelagen  fur 
die  Amtleute  bezahlen  oder  sie  ausquitieren.68  Die  Landesherrschaft  war  bemiiht, 
diese  Gewohnheiten  einzudammen,  dazu  fiihrte  man  Listen,  Bewilligungszettel, 
Markierung  des  bewilligten  Holzes  und  Gegenkontrollen  ein,  konzentrierte  die 
Holzbewilligungen  auf  wenigejahrliche  Termine  im  groBen  Rahmen  oder  fiihrte 
die  gemeinsame  Kennzeichnung  des  bewilligten  Holzes  durch  eine  Gruppe  von 
Mannern  ein.69 

Als  weitere  MaBnahme  haben  einzelne  vorausschauend  denkende  Landesher- 
ren  seit  derMitte  des  lG.Jahrhunderts  die  Walderzu  schiitzen  gesucht,  indem  sie 
durch  die  Definition  einer  generellen  Oberhoheit  iiber  alle  Forsten  ihres  Landes 
sich  iiber  die  lokalen  Nutzer  stellten.  Aus  der  Literatur  ist  zu  ersehen,  dass  eine 
solche  Verstaatlichung  der  Walder  nicht  nur  gegeniiber  den  bauerlichen  Nutzern 
der  Mark  sondern  auch  gegen  Adel  und  Pralaten  durchzusetzen  versucht  wurde. 
Herzog  Julius  von  Braunschweig- Wolfenbiittel  stellte  1585  fest:  Demnach  wir  an- 
fangs  unser Regierung  befunden,  dafe  die  Holtzungen  in  unserem  Fiirstenthumb  Wolfenbiit- 
lischen  Theils,  die  Fiisse  sehr  nach  sich  gezogen  und  diinne  warden  und  deswegen  leichtlich 
zu  vermuthen  gehabt,  dafe  wo  dieselben  nicht  durch  sonderliche  Mittel  wiederumb  geheget 
und  ersparet,  man  dadurch  kiinftig  einen  unwiederbringlichen  Schaden  erwarten  miis- 
sen.70  Seine  im  gleichenjahr  1585  verfasste  Newe Holtz-  und Forstordnung gehort  zu 
den  ausfiihrlichsten  und  interessantesten  ihrer  Art.  Sie  ist  nur  als  handschriftli- 
cher  Entwurf  iiberliefert  und  wurde  nicht  rechtskraftig.71  Auch  wenn  die  Ursa- 


Landesordnungen  und  Gesetze  zum  Gebrauch  des  Fiirstenthums  Liineburg,  auch  angehori- 
gen  Graf-  und  Herrschaften  Zellischen  Theils  Caput  VIII  Section  I  Von  Forst-  und  Mast-Sa- 
chen,  Liineburg  1745).  1755  hieB  es:  [Es]  sollen  die  Beamten.  [.  .  .]  dieserwegen  [der  Besichti- 
gung  des  Altbaus  bei  Neubauplanen]  keine  weitere  Gebiihr  und  eben  so  wenig  die  Fbrster  und 
Holzooigte  etwas  iiber  das  bisher  gewbhnliche  Stamm-Geld  z.u  fordern,  oder  anzunehmen  berechtigt 
seyn  (Verordnung  der  Regierung  in  Stade  vom  10.  Januar  1775)  gedruckt  bei  Spangenberg, 
wie  Anm.  38,  S.  465-466. 

68  Graefe,  wie  Anm.  60,  S.  81  und  249-255. 

69  Berg,  wie  Anm.  13,  S.  213. 

70  Einleitung  zu  einem  Dekret  vom  22.  Juni  wegen  der  Eroffnung  des  Steinkohlenberg- 
werks  in  Hohenbiichen,  zitiert  nach  Kremser,  Forstgeschichte,  wie  Anm.  21,  S.  199. 

71  Veroffentlicht  und  erlautert  bei  Graefe,  wie  Anm.  60,  S.  227-255  und.  S.  65-106.  Sie- 
he  auch  Kremser,  Forstgeschichte,  wie  Anm.  21,  S.  200,  der  aus  dem  Entwurf  die  Erkenntnis 


158  Wolfgang  Dorfler 

chen  dafiir  nicht  sicher  bekannt  sind,  so  ist  doch  wohl  die  Spekulation  erlaubt, 
dass  dies  am  Widerstand  der  Stande  gelegen  hat.  Dieselben  hatten  an  der  Be- 
schlussfassung  der  Landesgesetze  und  also  auch  jeder  Holzordnungen  teil  und 
nutzten  ihre  Position,  indem  sie  mehrere  solcher  Ordmmgen  verhinderten  oder 
zumindest  so  weit  verwasserten,  dass  sie  im  Resultat  unwirksam  waren.  Herzog 
Julius  konnte  sich  nicht  durchsetzen.  Sein  Nachfolger  Herzog  Heinrich  Julius 
richtete  den  Entwurf  seiner  Forst-  und  Holzordnung  an  Grafen,  Prdlaten,  Stifter, 
Kloster,  Ritterschaft,  Stddte,  gemeine  Landschaft  und  alle  Unterthanen.  Dort  schrieb  er 
unter  anderem  hinein:  Es  sollen  unsere  Fdrsters  in  der  Prdlaten  Kloster-Holtzung,  auch 
denen  von  der  Ritterschaft  Geholtzunge  [.  .  .jfleifiig  Ufachtung  haben,  gleich  unsere  eignen 
Geholtzunge,  dafi  niemand zur  Ungebiihr  darin  verwuste  oder  haue.  Auch  er  konnte  da- 
mit  nicht  durchdringen:  „Die  Stande  verweigerten  prompt  die  Billigung",  stellte 
Walter  Kremser  in  seiner  niedersachsischen  Forstgeschichte  lakonisch  fest.72 

Die  Forsthistoriker  haben  die  Auseinandersetzungen  zwischen  den  Landesher- 
ren  und  dem  Adel  um  die  Herrschaft  iiber  den  Wald  und  seine  Produkte  gerne  zu 
ihrem  Thema  gemacht  und  dabei  durchgangig  Partei  ergriffen,  indem  sie  adels- 
kritisch  und  landesherrschaftsfreundlich  argumentierten.  Sie  iibergingen  dabei, 
dass  auch  Landesherren  aus  Geldnot,  Jagdleidenschaft  oder  Nachlassigkeit  die 
Pflege  der  Walder  hintangestellt  haben  und  mitunter  dort,  wo  sie  den  Zugriff  auf 
adeligen  Waldbesitz  erlangten,  Missstande  erst  verursachten.73  Fur  Mecklen- 
burg-Strelitz  sind  die  hemmungslosen  Verwiistungen,  die  ein  von  Geldnoten  ge- 
driickterFiirst  in  denjahren  vorund  nach  1700  verursachte,  gut  dokumentiert.74 

Ldndliche  Baukonjunkturen 

Fiir  die  Frage  nach  dem  Zeitpunkt  des  auch  in  vielen  landlichen  Regionen  einset- 
zenden  Bauholzmangels  taugen  die  zeitgenossischen  Klagen  nicht,  da  in  ihnen 
die  iiberlagerten  Interessen  iiberwogen;  dagegen  konnte  man  an  die  Analyse  von 
Waldzustandsberichten  denken.  Fiir  den  Bereich  der  Stifte  Bremen  und  Verden 
gibt  es  quantitativ  auswertbaren  Quellen  dieser  Art  erst  seit  derMitte  des  17.Jahr- 
hunderts.  Die  100  Jahre  davor  lassen  sich  aber  iiber  die  Untersuchung  von  Ge- 
bauden  und  der  archivalischen  Quellen  zum  Hausbau  erschlieBen,  aus  denen  der 
Zeitraum  der  Bautatigkeit  und  die  verbrauchten  Holzmengen  ermittelt  werden 


zitiert,  dass  Holz  nicht  zu  den  Bodenschatzen  gehbrt,  die  man  abbauen  konnte,  vielmehr  eine  Boden- 
frucht  war,  die  es  anzubauen  gait. 

72  Kremser,  Forstgeschichte,  wie  Anm.  21,  S.  203. 

73  Einen  solchen  Fall  einschlieBlich  der  adeligen  Gegenwehr  hat  Christa  Graefe  doku- 
mentiert. Es  ging  dabei  um  Walder  der  Familie  von  der  Streithorst  in  Konigslutter  und 
Brunsrode  (Graefe,  wie  Anm.  60,  S.  100-101). 

74  Solinger,  wie  Anm.  43,  S.  126-133. 


Bauholzversorgung  auf  dem  Lande  159 

konnen.  Das  Beispiel  der  Adelsfamilie  Cliiver,  die  im Jahr  1557  zahlreiche  frucht- 
tragende  Eichen  im  Amt  Ottersberg  gefallt  hatte,  um  eine  GroBbauernhaus  zu  er- 
richten,  ist  schon  zitiert  worden.  Die  Nachricht  passt  in  die  eindrucksvolle  von 
der  Hausforschung  festgestellte  norddeutsche  Baukonjunktur,  die  1520  langsam 
beginnt,  1560  ihren  Hohepunkt  erreicht  und  dazu  fiihrte,  dass  innerhalb  von  60 
Jahren  nicht  nur  groBer  Teil  des  Bestandes  an  alten  Bauernhausern  erneuert  und 
dabei  vergroBert  wurde,  sondern  -  iiber  die  in  die  gleiche  Zeit  fallende  Hofetei- 
lung  -  auch  ein  starkes  Anwachsen  derZahl  derHofe  erfolgte.  Zujedem  Bauern- 
hof  gehorten  eine  Scheune,zu  der Mehrheit  derHofe jetzt  auch  ein  Schafstall  und 
oft  noch  ein  Speicher;75  alle  diese  Fachwerkgebaude  sind  aus  Eichenholz  errich- 
tet.  Die  folgende  Tabelle  zeigt,  wie  sich  die  GebaudegroBen  (gezahlt  in  „Fach",  al- 
so dem  Abstand  zwischen  zwei  Deckenbalken)  in  dem  kurzen  Zeitraum  zwi- 
schen  1548  und  1560  verandert  haben.  Als  Beispiel  wurden  vier  Dorfern  des  Am- 
tes  Rotenburg  (Wiimme)  gewahlt.76 

Tabelle  1:    Grbjie  der  Gebdude  in  vier  Dorfern  des  Amies  Rotenburg 


Dorf 

Anzahl  der 
1548/1560 

Hofe 

Summe  der 
Fach77 

GebaudegroBen  in 

1548 

1560 

Hesedorf 

8/8 

Hauser 

27 

32 

Scheunen 

22 

30 

Kaven 

21 

10 

Spieker 

- 

4 

Jeersdorf 

8/9 

Hauser 

19 

32 

Scheunen 

11 

20 

Kaven 

5 

10 

75  In  einem  Weistum  derjahre  1533-44  aus  Hollenstedt  ist  die  Berechtigung  zum  Fallen 
des  Holzes  thorn  huse,  schune,  efft  backhuse  festgehalten  (Kuck,  wie  Anm.  28,  S.  215). 

76  Dorfler,  Landesgrenze,  wie  Anm.  23,  S.  274-276;  Quellen:  StAStade  Rep  28  I  RNr. 
17  Bd.  2,  Blatt  508-515  und  521-524  sowie  Rep  5b  Fach  1001  Nr.  8,  Blatt  65R-76R  und 
111-115R. 

77  Dass  beide  Quellen  eine  gleiche  Art  von  Zahlung  nach  „Fachen"  aufweisen,  zeigt  der 
letzte  Ort  Abbendorf.  Die  Stellen  dieses  Dorfes  waren  nach  einer  Wustungsperiode  erst  zu 
Beginn  des  16.  Jahrhundert  neu  bebaut  worden,  so  dass  der  Bestand  an  Hausern  und  Scheu- 
nen zwischen  1548  und  1560  noch  nicht  so  „veraltet"  war,  wie  der  in  den  anderen  Dorfern  und 
also  die  Gebaude  zumindest  bis  1560  weiter  genutzt  wurden.  Bei  den  Schafstallen  allerdings 
bestand  in  Abbendorf  ein  groBer  Nachholbedarf.  In  Jeersdorf  ist  die  stark  angestiegene  Zahl 


160  Wolfgang  Dorfler 


Dorf 

Anzahl  der  Hofe 
1548/1560 

Summe  der 
Fach 

Gebaudegrofien  in 

1548 

1560 

Westerholz 

7/  7 

Hauser 

22 

25 

Scheunen 

21 

21 

Kaven 

19 

21 

Abbendorf 

4/4 

Hauser 

14 

14 

Scheunen 

12 

12 

Kaven 

1 

19 

Spieker 

1 

2 

Wenn  der  Unterschied  zwischen  den  zusammen  27  Fach  aller  Bauernhauser  in 
Hesedorf  von  1548  gegen  32  Fach  von  1560  auch  auf  den  ersten  Blick  nicht  groB 
erscheint,  so  bedeutet  das  doch,  dass  von  den  acht  Hofen  des  Dorfes  in  diesen 
zwolfjahren  fiinf  vergroBert  wurden.  Sie  sind  dabei  wahrscheinlich  immerkom- 
plett  neu  erbaut  wurden,  da  wir  keine  verlangerten  Gebaude  aus  dieser  Zeitstufe 
gefunden  haben.  Fiir  die  Annahme  einer  Neubauwelle  gibt  es  auch  andere  ge- 
wichtige  Argumente,  die  sich  aus  grundsatzlicher  Anderung  der  bauerlichen 
Wirtschaft  in  diesen  Jahrzehnten  ergeben.78  Auch  die  Nebengebaude  wurden, 
soweit  wir  es  aus  dem  Bestand  wissen,  nicht  durch  Addition  vergroBert,  sondern 
durch  Neubauten  ersetzt  bzw.  erstmalig  dem  Gebaudebestand  der  Hofe  hinzuge- 
fiigt.  Das  erlaubt  die  Schlussfolgerung,  dass  der  Bauholzverbrauch  in  den 
Geestdorfern  Nordwestdeutschlands  in  der  Mitte  des  16.  Jahrhunderts  enorm 
hoch  gewesen  ist.  Die  Baukonjunktur  entsprach  einem  verbreiteten  landlichen 
Wohlstand  der  Zeit,  wie  er  z.B.  in  einer  wirtschafthistorischen  Untersuchung  fiir 
das  Stift  Verden  festgestellt  wurde:  79  „Mit  Notwendigkeit  muss  man  [.  .  .]  zu  der 
Uberzeugung  gelangen,  dass  man  es  hier  [in  der  2.  Halfte  des  16.  Jahrhunderts]  in 
diesem  kleinen  -  unter  geistlichem  Szepter  stehenden  -  Territorium  mit  einer  fiir 
die  bauerliche  Bevolkerung  auBerst  giinstigen  Entwicklung  der  wirtschaftlichen 
Verhaltnisse  zu  tun  hat."  Die  beriihmte,  wenn  auch  in  ihrer  Allgemeingultigkeit 
kritisierte  Tabelle  Wilhelm  Abels  zu  den  Getreidepreisen  zeigt  einen  Verlauf,  der 
im  hier  untersuchten  Zeitabschnitt  die  Baukonjunkturphasen  gut  abbildet.80 


nicht  allein  durch  die  Griindung  der  einen  neuen  Kleinbauernstelle  zu  erklaren. 

78  Uberlegungen  dazu  sind  am  Ende  dieser  Arbeit  zusammengestellt. 

79  Hesse,  wie  Anm.  62,  S.  79. 

80  WilhelmABEL,  Agrarkrisen  und  Agrarkonjunktur  in  Mitteleuropa  vom  13.  bis  zum  19. 
Jahrhundert,  Berlin  1935.  Auch  der  Peak  in  den  Zeiten  des  DreiBigjahrigen  Krieges  ent- 


Bauholzversorgung  auf  dem  Lande  161 

Es  lasst  sich  schatzen,  dass  in  den  sechs  Jahrzehnten  zwischen  1530  und  1590 
im  Amt  Rotenburg  jede  der  tausend  Hofstellen  80  Eichen  in  neue  Gebaude  ver- 
baut  hat,  mithin  80  000  hundert-  bis  hundertzwanzigjahrige  Baume  in  GOJahren; 
das  bedeutet  1300  Baume  projahr.  Diese  hatten  bei  nachhaltiger  Wirtschaftswei- 
se  eine  Flache  von  3000  ha  Mittelwald  allein  fiir  das  Bauholz  benotigt.  Die  3000 
ha  aber  waren  die  gesamte  Flache,  die  das  Amt  an  Waldern  aufzubieten  hatte 
und  deren  Holz  auch  fiir  alle  anderen  Anspriiche  herhalten  musste.  Es  war  also 
eine  verbrauchende  Wirtschaftsweise,  deren  negative  Wirkung  aber  durch  die 
damalige  Baurevolution,  die  zum  Erstellen  enorm  langlebiger  Gebaude  fiihrte, 
abgemildert  wurde.  Es  hat  im  16.  und  friihen  17.  Jahrhunderts  in  den  Geestgebie- 
ten  Norddeutschlands  noch  ausreichend  Bauholz  gegeben.  Zusammenfassend 
waren  es  sechs  Griinde,  die  fiir  die  enorme  friihneuzeitliche  Neubauwelle  auf 
dem  Lande  zusammengekommen  waren:  eine  grundsatzliche  Nutzungsande- 
rung  der  Bauernhausdiele,  ein  wirtschaftlicher  Aufschwung  der  bauerlichen  Be- 
triebe,  eine  zuverlassige  Erblichkeit  der  Hofstellen,  ausreichende  Bauholzvor- 
kommen,  ein  neuer  bauerlicher  Stolz  und  der  Wille,  Wohlstand  und  Selbstbe- 
wusstsein  nach  auBen  zu  zeigen. 

Die  in  den  Holzordnungen  und  anderen  obrigkeitlichen  Dokumenten  aber 
auch  in  einer„literarischen  Modegattung"81  iiberlieferten  Klagen  iiberden  Man- 
gel waren  regionale  Phanomene  in  der  Umgebung  von  Wirtschaftsbetrieben  und 
Stadten,  die  von  den  Autoren  auf  das  ganze  Land  projiziert  wurden.  Als  Beispiel 
sei  der  Forsthistoriker  A.  Zimmermann  genannt,  der  1908  resiimierte:82  „Die  al- 
lernachste  Ursache  des  [heutigen]  Ruins  [der  Walder]  liegt  wohl  in  dem  bedenk- 
lich  groBen  Holz-Uberflusse,  dessen  sich  unsere  Vorfahren  zu  erfreuen  gehabt 
haben  und  den  sie  unbesorgt  fiir  die  Zukunft  nach  so  gar  unhaushalterischen 
principiis  genutzt  und  den  Fall  eines  Mangels  fiir  die  Nachkommen  vielleicht 
nicht  als  moglich  gedacht  haben." 

In  einem  Streitfall  zwischen  den  Stiften  Bremen  und  Verden  ist  iiberliefert, 
dass  imjahr  1604  in  den  Waldern  von  drei  Orten  im  Grenzgebiet,  namlich  in  den 
Steinfelder,  Nartemer  und Horster Holzungen  bei  die  500  Stdmme  umgeweht  seien.83  Die 

spricht  der  regional  nachzuweisenden  Neubaukonjunktur!  Die  Tabelle  ist  wiedergegeben  bei 
Walter  Achilles,  Landwirtschaft  in  der  friihen  Neuzeit,  Munchen  1991,  S.  4.  Dort  ist  die 
grundsatzliche  Kritik  an  der  Wertigkeit  der  von  Abel  herangezogenen  Parameter  zusammen- 
gefasst. 

81  Below/Breit,  wie  Anm.  2,  S.  42. 

82  Zimmermann,  Nadelholz,  wie  Anm.  29,  S.  374;  wenig  spater  (S.  377)  zitiert  er  als  Be- 
leg  fiir  das  mangelnde  Problembewusstsein  der  Bauern  den  Ausspruch  der  bauerlichen  In 
teressenten  des  Holzes  Siising  im  Amt  Ebstorf  von  1718:  Der  Siising  wollte  wohl  Siising  bleiben, 
es  ware  solange  Holz  darin  gewachsen  und  wiirde  wohl  bleiben. 

83  Dorfler,  Landesgrenze,  wie  Anm.  23,  S.  394.  Quelle:  StA  Stade  Rep  5b  Fach  83 
Nr.  13d,  Bl.  29. 


162  Wolfgang  Dorfler 

drei  gleichnamigenDorferhattenzu  damaligerZeitzusammen  35  „Feuerstellen". 
Allein  die  durch  den  Sturm  niedergelegte  Holzmenge  hatte  ausgereicht,  um  ein 
Drittel  der  Bauernhauser  dieser  drei  Dorfer  neu  zu  erbauen.  Die  Walder  zumin- 
dest  dieser  Region  waren  also  auch  zu  Beginn  des  17.  Jahrhunderts  noch  ergiebig. 
Eine  Waldzustandsbeschreibung,  die  50Jahre  spater  verfasst  wurde,  zeigt  fur  die 
drei  eben  erwahnten  Walder  ein  anderes  Bild:  [Das]  Steinfelder Holtz,  ein  gantzjun- 
ges Biichen  Holtz,  und zeiget  sich  ein  guter Zuwachs  an  unter Busch;  [das]  Narder Holtz,  ist 
von  den  Unterthanen  vor  langenjahren gantz  verhauen  warden,  so  dass  auch  wenig  iiber  30 
alte  Stiimpell,  so  nichts  wehrt  sind,  gefunden  werden  konnen;  [im]  Hosterwall  ist  gleich- 
falls  nichts  an  Holtzungen  verhanden  sondern  [sind]  nur  einige  alte  Stiimpel  zu  sehen.84 
Von  den  drei  Waldern  waren  also  nur  Spuren  geblieben. 

Im  benachbarten  Amt  Zeven  waren  um  1650  in  den  acht  „koniglichen-"  und 
weiteren  acht  „gemeinschaftlichen  Holtzungen"  nur  noch  wenige  gute  Baume 
vorhanden.  Im  koniglichen  Zevener  Ahn-  und  der  Herrenbrock  gab  es  400  zu  groJS  und 
klein  Bauholzdienliche  Stdmme,  im  Bohnster  Hoop  ohngefehr  700  Eichen,  so  nur  zu  Stan- 
der-  und Legde-Holtzzu  gebrauchen  ist.  Von  den  Dorfwaldern  waren  einmal  100 zum 
Bau  dienliche  Stdmme  und  dann  in  zwei  Forsten  zusammen  380  zu  Legden-Holz  und 
Stdnder  dienliche  Stdmme,  sowie  in  zwei  weiteren  Waldern  510  aber  nur zur Mastung 
und  nicht  zum  Bau  dienliche  Stdmme.  Hier  wie  im  Amt  Bremervorde  und  der  Borde 
Beverstedtgab  es  also  nach  dem  DreiBigjahrigenKriege  noch  einzelne  zuBauholz 
dienliche  Baume  und  auch  einige  junge  Anpflanzungen,  iiber  die  es  hieB,  dass  sie 
mit  der  Zeit  ein  gutes  Holzwerdenkonnten.  Viele  Bauernhauser  hatte  man  aber  auch 
damit  nicht  errichten  konnen.  In  den  Waldern  der  Amter  Ottersberg,  Osterholz, 
Hagen  und  der  Borde  Leesum  war  iiberhaupt  kein  Bauholz  mehr  festgestellt  wor- 
den;  diese  Holzungen  wurden  als  ganz  verhauenen  beschrieben. 

Diese  Verhaltnisse  sind  aber  regional  unterschiedlich.  Eine  exemplarische  Un- 
tersuchung  zur  Baukonjunktur  im  17.  Jahrhunderts  hat  Heinrich  Stiewe  fiir  Lip- 
pe-Detmold  vorgelegt.  Erfand  einen  Einbruch  derNeubautatigkeit  auf  dem  Lan- 
de  in  denjahren  zwischen  1630  und  1650  und  die  Befriedigung  des  Nachholbe- 
darfs  nach  1650,  wofiir  also  noch  entsprechende  Holzmengen  vorhanden 
gewesen  seinmiissen.  Auch  Stiewe  konnte  aberbereits  fiir  das  Jahr  1631  einen  be- 
sonders  prachtigen  Neubau  eines  Hauses  in  Lothe  (Gemeinde  Schieder-Schwa- 
lenberg)  nachweisen.85  Es  verzogerte  sich  also  auch  in  Lippe  nicht  alle  BaumaB- 
nahmen  bis  in  die  Zeit  nach  dem  Ende  des  Krieges. 

Von  den  Holzungen  des  Dorfes  Hemslingen  (Ldkr.  Rotenburg)  etwa  hieB  es 


84  Zahrenhausen,  wie  Anm.  63,  S.  80-90  auch  fiir  das  Folgende.  Quelle:  StA  Stade  Rep 
5a  Fach  237  Nr.  67. 

85  Heinrich  Stiewe,  Baukonjunktur,  Kriegszerstorung  und  Wiederaufbau,  in:  Rainer 
Springhorn  (Hrsg.)  Lippe  1618-1648.  Der  lange  Krieg  -  Der  ersehnte  Frieden,  Detmold 
1998,  S.  109-132,  hier  S.  111. 


Bauholzversorgung  auf  dem  Lande  163 

1692 :  Mehrenteils  were  ihre  Holtzung,  uffm  Heinhop genandt,  ruiniret  und  verhauen,  wel- 
ches geschehen  kurzt  vorher  als  die  Schweden  diese  Lander  zum  ersten  mahl  occupiret  (De- 
zember  1630),  da  ihre  gantze  Dorffschaft  abgebrandt,  dass  dahero  die  Hduser  und  Ge- 
bdwde  auf  solchem  Holtze  wieder gebauet  werden  muJSen.  Es  bleibt  anzumerken,  dass 
dieser  Dorfbrand  als  alleiniger  Grand  dafiir,  dass  nach  60  Jahren  das  Bauholz 
noch  nicht  wieder  nachgewachsen  war,  wenig  iiberzeugend  ist. 

Der  Fall  eines  GroBbrandes  ist  auch  fiir  das  Dorf  Everstorf  (heute  Heidenau, 
Ldkr.  Harburg)  zu  erschlieBen.  Dort  wurden  drei  groBe  Hauser  trotz  enorm  un- 
terschiedlicher  Verzimmerung  iibereinstimmend  dendrochronologisch  auf  die 
Jahre  1638  bis  1641  datiert.  Dazu  fand  sich  die  archivalische  Nachricht,  dass  1638 
die  Kaiserlichen  unter  den  Grafen  Toscana  66  Gebdude  in  Everstorf  angeziindet  hdtten. 
Mit  dem  Nachweis  einer  Brandoberflache  bei  wiederverwendeten  Holzern  mit 
dem  Falldatum  „um  1613"  und  eines  Brandhorizontes  unter  einem  derHauser,  er- 
gibt  sich,  dass  hier  wahrscheinlich  ein  groBer  Teil  des  Dorfes  im  Rahmen  der 
Kriegshandlugen  eingeaschert  worden  war.  Die  unterschiedliche  Bauart  der 
Hauser  nun  erklart  sich  durch  den  Einsatz  von  zur  Hilfe  geholter  Zimmerleute  aus 
benachbarten  Regionen  Norddeutschlands,  die  ihre  eigenen  Bautraditionen  mit- 
brachten.86  Auch  hier  wurde  bereits  mitten  im  „GroBen  Kriege"  kraftig  gebaut. 

Nicht  iiberall  konnte  noch  im  oder  bald  nach  dem  Krieg  der  Baubedarf  ziigig 
befriedigt  werden.  Im  Bauantrag  des  oben  erwahnten  Jiirgen  Konig  aus  Leven- 
sen  (Ldkr.  Harburg)  von  1663  warberichtet  worden:  Jiirgen  Konig,  des  Herren  Meier, 
selbigen  ist  fur  30 Jahren  dasHauf  von  den  Soldaten  abgebrannt,  hattesich  bif  hero  in  der 
Scheuren  behelffen  mussem  und  selbige  nunmehr  auch  einfallen  wollteP  Sein  Haus  war 
1633  in  den  Kriegshandlungen  zerstort  worden  und  war  hier  auch  drei  Jahrzehn- 
te  spaternoch  nicht  wiederaufgebaut.  In  Gliisingen  im  gleichen  Landkreis  dage- 
gen  wurde  das  sehr  alte  Innengefiige  einer  Kotnerstelle  1649  mit  neuen  Umfas- 
sungswanden  versehen,  wobei  die  enorm  holzverbrauchende  Standerbohlenbau- 
weise88  zur  Ausfiihrung  kam.  Und  auch  weiter  siidlich  in  Wilsede  (Ldkr.  Soltau- 
Fallingbostel)  wurde  1647  die  Kate  Riechmann  in  dieser  aufwendigen  Bauweise 
errichtet,89  die  das  Vorhandensein  ausreichender  Bauholzmengen  und  guter  Fi- 
nanzen  bei  den  Bauherren  anzeigt. 


86  Ulrich  Klages,  Bauernhausforschung  in  der  Samtgemeinde  Tostedt.  Dorfbrande 
und  Wiederaufbau  in  drei  Jahrhunderten,  in:  Renate  Dorsam /Ulrich  Klages  (Hrsg.),  900 
Jahre  Tostedt,  Heidenau  2004,  S.  187-209,  hier  S.  200-202. 

87  Klages,  Bauholzzuweisung,  wie  Anm.  33,  S.  86-87. 

88  Zur  Erlauterung  der  Bauweise:  Fred  Kaspar,  Stabbau,  Standerbohlenbau,  Fachwerk. 
Zur  Fruhgeschichte  des  Fachwerks  in  Norddeutschland,  in:  Beitrage  zum  stadtischen  Bauen 
und  Wohnen  in  Nordwestdeutschland,  Munster  1988,  S.  59-78. 

89  Ulrich  Klages,  Kotnerhauser  der  nordlichen  Liineburger  Heide,  in:  Liineburger 
Blatter  Heft  29,  1993,  S.  33-54,  hier  S.  35  und  S.  43. 


164  Wolfgang  Dorfler 

Die  Liste  dieser  Befunde  lasst  sich  verlangern.  Fur  das  Hochstift  Verden  und 
die  siidlich  angrenzenden  Heideregionen  ist  von  einer  regelrechten  Baukonjunk- 
tur  in  den  Jahren  1630  bis  1650  -  also  den  Zeiten  des  Krieges  selbst  und  der  un- 
mittelbaren  Nachkriegszeit  -  zu  berichten,  die  vor  allem  durch  die  Prachtentfal- 
tung,  die  bei  diesen  Neubauten  getrieben  wurde,  imponiert.  Als  Beispiele  seien 
hier  fiinf  Hauser  genannt:  Koues  Hus  in  Hassendorf  (jetzt  Heimathaus  Sottrum) 
mit  einer  ersten  Bauphase  1626/27  (d),  einem  Baustopp  und  Fertigstellung  1630/ 
31  (d),90  Cohrs  Hus  in  Riekenbostel  von  1640  (i),  derHof  KolkNr.  3  in  Oberdorf- 
mark  1642  (i)91  derBriimmerhof  aus  Moide  von  1644  (i),92  sowie  Hinners  Hus  in 
Benkel  von  1647  (d).93  Nie  zuvor  oder  danach  sind  Hauser  unter  solchem  enor- 
men  Holzverbrauch  errichtet  worden  (Tabelle  3).94  In  Ostereistedt  (Ldkr.  Roten- 
burg)  wurde  ein  um  1560  errichtetes  groBes  Bauernhaus  1650  unter  Erhalt  des  In- 
nengefiiges  prachtig  umgestaltet.  Die  Giebel  wurden  unter  Verwendung  von 
breiten  Holzern,  aufwandigen  Kopfbandern  und  verzierten  Knaggen  errichtet 
und  dabei  Pferdestalle  und  Kammerfach  neu  erbaut.  Auch  die  Sparren  des  Da- 
ches  wurden  auf  moderne  Sparrenschwellen  gestellt.95  Solche  BaumaBnahmen 
an  einem  sicher  noch  nicht  baufalligen  Haus  zeigen  die  Abwesenheit  von  wirt- 
schaftlicher  Not,  ja  sogar  Formen  des  bauerlichen  Reichtums  an. 


90  Dietrich  Claus  u.  a.,  Das  Heimathaus  in  Sottrum,  Sottrum  1999. 

91  Horst  Lobert,  Die  altesten  Bauernhauser  der  Liineburger  Heide,  Suderburg  1993, 
S.  2. 

92  Gerhard  Eitzen  Bauernhausforschung  in  Deutschland.  Gesammelte  Aufsatze  1938- 
1980,  Hosseringen  2006,  Aufsatze  22,  23,  24  und  33  (S.  292-312  und  S.  334-335).  HorstLo- 
bert,  Zur  Baugeschichte  des  niederdeutschen  Hallenhauses  von  1644  auf  dem  Brummerhof, 
in:  Berichte  zur  Denkmalpflege  in  Niedersachsen  1,  1983,  S.  10-15  gibt  eine  kurzen  Uber- 
blick,  wahrend  die  Dissertation  von  Hans-Jurgen  Vogtherr,  Die  Geschichte  des  Brummer- 
hofes,  Uelzen  1986,  keine  Hinweise  iiber  die  Herkunft  der  ungeheuren  Holzmengen  verof- 
fentlicht  hat,  die  1640  hier  verbaut  wurden.  Darauf  hatte  hingewiesen  in  seiner  Besprechung 
zu  Vogtherrs  Arbeit:  Ulrich  Hagenah  in:  Niedersachsisches  Jahrbuch  fur  Landesgeschichte 
59,  1987,  S.  366-368. 

93  Wolfgang  Dorfler,  Wettlauf  gegen  eine  Abrissgenehmigung,  in:  Der  Holznagel, 
Heft  3,  1991,  S.  40-41;  Ders.:  Hinners  Hus  in  Benkel  wiedererstanden,  in:  Der  Holznagel, 
Heft  6,  1998,  S.  24-30;  Ludwig  Fischer  u.  a.,  Ein  Haus  zieht  um.  Erfahrungen  mit  der  Um- 
setzung  eines  Baudenkmals,  Lilienthal  2002. 

94  Tabelle  modifiziert  nach  Klages  u.  a.  1994,  wie  Anm.  24,  S.  35-114,  hier  S.  108;  die 
Sichtseiten  sind  in  der  Tabelle  vorangestellt. 

95  Ulrich  Klages,  „Eckeshus"  in  Ostereistedt.  Zur  haus-  und  heimatkundlichen  Bedeu- 
tung  eines  400  Jahre  alten  Bauernhauses,  in:  Der  Holznagel  Heft  5,  1989,  S.  4-11;  Ders./ 
Wolfgang  DoRFLER/Hans-Joachim  Turner,  „Bauernhaus-Genealogie"  im  Landkreis  Ro- 
tenburg-  Eine  vergleichende  Analyse  der  Innengefiige  alterer  Bauernhauser,  1.  Teil,  in:  Ro- 
tenburger  Schriften  78/79,  1993,  S.  7-74,  hier  S.  18-31. 


Bauholzversorgung  auf  dem  Lande 


165 


Tabelle  2:    Vergleich  der  Holzdimensionen  der  Innengefiige  von  Hdusern  der  Mitte 
des  16.  mit  denen  der  Mitte  des  17.Jahrhunderts 


16.Jahrhundert 

17.  Jahrhundert 

Wehnsen 

Ostereistedt 

Riekenbostel 

Benkel 

Datierung 

1558  (d) 

1560  (d) 

1641  (i) 

1647  (d) 

Dielenstander 

42/28 

40/27 

53/33 

50/23 

Rahm 

28/18 

30/15 

34/20 

28/20 

Balken 

43/46 

36/43 

42/55 

42/33 

Gefachlange 

273 

275 

270 

294 

Flettlange 

490 

565 

550 

680 

Dielenbreite 

810 

840 

870 

830 

Von  Gerhard  Eitzen,  einem  der  erfolgreichsten  Bauernhausforscher  des  20.  Jahr- 
hunderts,  stammt  die  folgende  Wiirdigung  von  Cohrs  Hus  in  Riekenbostel:96  „Es 
gibt  so  leicht  kein  zweites  Haus,  das  es  ihm  gleichtun  konnte.  [.  .  .]  Obwohl  das 
auBere  Fachwerk  schon  ungewohnliche  Holzstarken  enthalt,  sind  sie  doch  gering 
gegen  die  Machtigkeit  und  GroBziigigkeit,  die  sich  im  inneren  Gefiige  zur  Schau 
stellen.  [.  .  .]  Die  Balken  sind  bis  zu  53  mal  40  Zentimeter  dick,  der  quer  iiber  das 
Flett  laufende  Balken  erreicht  am  Wurzelende  sogar  die  Stark  von  42  mal  63  Zen- 
timeter. Dieser  Balken  wird  beiderseits  von  kraftigen  Lucht-Riegeln  (77  mal  26 
Zentimeter)  getragen.  Beide  Lucht-Riegel  sind  aus  einem  Stamm  gespalten,  der 
in  einer  Hohe  von  sechs  Meter  noch  einen  Durchmesser  von  einem  Meter  gehabt 
haben  muB.  [.  .  .]  Wenn  man  bedenkt,  dass  zum  Haus  weiterhin  eine  Menge  an- 
derer  Holzer  [.  .  .]  notwendig  sind,  dann  gewinnt  man  eine  Vorstellung  von  der 
Holzmenge,  die  hier  in  einem  Haus  verzimmert  wurden.  Am  erstaunlichsten  ist 
jedoch,  dass  dieser  Bau  im  Ausgang  des  30  jahrigen  Krieges  von  den  Bauern  ei- 
nes  nicht  gerade  ertragreichen  Geest-Halbhofes  ausgefuhrt  wurde." 

In  der  Wirtschafts-  und  Forstgeschichte  war  dieser  „interne"  Grund  fur  die 
Waldzerstorung  in  Norddeutschland  bisher  gegeniiber  denen  durch  Raub  der 
Kriegsherren  und  dem  Material  fur  Schanzarbeiten  entstandenen  Verlusten 


96  Gerhard  Eitzen,  Aus  Eichen  wuchs  ein  Haus.  DerHolzreichtum  eines  Heidebauern- 
hauses,  in:  Der  Heidebote  28.  Juli  1954  S.  16f;  neu  abgedruckt  in:  Eitzen,  wie  Anm.  92, 
S.  341-343. 


166  Wolfgang  Dorfler 

nicht  fur  wichtig  erachtet  worden.97  Wo  der  hohe  Holzverbrauch  der  eigenen  Be- 
wohner  registriert  wurde,  entschuldigte  man  die  Bauern  damit,  dass  nur  iiber  die- 
sen  Zusatzerwerb  die  hohen  Kontributionslasten  der  Hofe  zu  erbringen  gewesen 
seien,98  wie  es  in  Carl  Hermann  Langerfeldts  Beschreibung  zu  Ausdruck  ge- 
bracht  wurde:99  „Was  der  Krieg  [der  „DreiBigja.hrige"]  verschonte,  nahmen  die 
eigenen  Unterthanen  und  Besitzerder  Waldungen,  um  aus  dem  sparlichen  Erlose 
das  nackte  Leben  zu  fristen  oder  die  durch  Mordbrennerei  der  Soldateska  ver- 
odeten  Dorfer  wieder  aufzubauen."  Langerfeldt  ging,  wie  viele  Historiker,  davon 
aus,  dass  die  Schrecken  das  „Gro6en  Krieges"  iiberall  und  umfassend  gewesen 
seien  und  die  Verwiistung  der  Walder  entweder  als  direkte  Kriegsfolge  oder  sonst 
nur  als  bauerlicher  Uberlebenskampf  zu  deuten  seinen  und  nicht  etwa  als  Aktion 
der  sich  Wohlstand  und  voriibergehender  Freiheit  erfreuender  Landbewohner, 
die  nicht  fiir  die  Abtragung  der  Kontributionslasten  sondern  fur  den  Bau  groBdi- 
mensionierter  Hauser  das  Holz  verbrauchten. 

Im  Jahr  1648  hatte  der  Forstmeister  Adam  von  der  Thann  iiber  den  Anteil  der 
eigenen  Bauern  an  der  Verwiistung  der  Walder  berichtete:  10°  Der  Unterthanen 
Holzungen  im  Amte  Wolfenbuttel[. . .]  sind  in  dieserZeit  durch  die  Chur-Baierschen  [.  .  .] 
fast  ganz  verwustet  worden,  sonderlich  weil  man  zu  Zeiten  sowohl  Feind  als  Freund  gewe- 
sen, und  haben  die  Leute  mit  dazu  geholfen,  weil  sie  gesehen,  dass  Fremde  ihre  Holzungen 
vor  ihren  Augen  verderbet  und  kein  Aufhoren  geschehen.  Das  Zitat  zeigt,  dass  die  Schul- 
digen  mancherorts  nicht  nur  die  Bauern  waren  oder  sie  es  zumindest  verstanden 
haben,  die  Obrigkeit  von  ihrem  selbsttatigen  und  sicher  ungenehmigten  Vorge- 
hen  abzulenken.  Das  erzstift-bremische  Waldinventar  von  1650  spiegelt  diese 
Zeit  bauerlicher  Freiheit  von  der  obrigkeitlichen  Aufsicht,  wenn  dort  iiber  die  01- 
dendorfer  und Briittendorfer Eiche  genannte  Waldung  im  Amt  Zeven  steht:  1st  ein  sehr 
schlechtes  Holtz  und  nichts  zum  Bau  dienlich,  weil solches  vor  20Jahren  von  denen  Untert- 
hanen verhauen  worden. 

Die  landliche  Baukonjunkturim  DreiBigjahrigen  Kriege  beinhaltet  eine  Reihe 
uberraschendermentalitatsgeschichtlicher  Aspekte:  Wer  so  baute,  wie  zumindest 
einige  Bauern  zwischen  1630  und  1650  es  taten,  baute  nicht  nur  fiir  sich,  sondern 
fiir  die  Zukunft  vieler  Generationen,  baute  auf  der  Grundlage  einer  gesicherten 
materiellen  Existenz  und  mit  dem  Stolz  dessen,  der  es  sich  leisten  konnte.  Diese 
Befunde  stehen  in  einem  deutlichen  Widerspruch  zu  den  Beschreibungen  wie  sie 
etwa  Walter  Achilles  gegeben  hat: 101  „  Als  der  groB  e  Krieg  vorbei  war,  lagen  viele 


97  Hinweise  in  diesem  Sinne  bei  Speier/Hoppe,  wie  Anm.   22,  S.   60;   Karl  Hasel, 
Forstgeschichte.  Ein  GrundriB  furStudium  und  Praxis,  Hamburg  und  Berlin  1985,  S.  53-54. 

98  Kremser,  Forstgeschichte,  wie  Anm.  21,  S.  31-33. 

99  Langerfeldt,  wie  Anm.  48,  S.  125. 

100  Zitiert  nach  Langerfeldt,  wie  Anm.  48,  S.  127. 

101  Achilles,  Landwirtschaft,  wie  Anm.  80,  S.  56. 


Bauholzversorgung  auf  dem  Lande  167 

Acker  wiist.  [.  .  .]  Viele  Hauser  waren  abgebrannt.  Die  Bauern  besaBen  kein  Ka- 
pital,  um  sie  wieder  aufzubauen.  Die  Agrarpreise  waren  weit  unter  den  Vor- 
kriegsstand  gesunken,  wahrend  der  Menschenmangel  zu  hohen  Lohnen  gefiihrt 
hatte,  und  dementsprechend  waren  auch  die  Baumaterialien  teuer.  Deshalb  er- 
folgte  der  Wiederauf bau  nur  langsam  und  bereitet  besonders  bei  den  groBen  Ho- 
fen  Schwierigkeiten." 

Der  Krieg  konnte  fiir  wenig  betroffene  Menschen,  hier  die  Bauern  landlicher 
Regionen  in  den  Stifte  Bremen  und  Verden  sowie  der  angrenzenden  Heideregi- 
on,  Vorteile  bergen,  wenn  die  Bauholzaufsicht  daniederlag  und  also  die  Baume 
gefallt  werden  konnten,  die  von  der  Obrigkeit  zuvor  nicht  genehmigt  worden  wa- 
ren. Die  Nahrungsmittelproduzenten  profitierten  von  den  hohen  Getreideprei- 
sen,  wenn  die  Stadte  der  Umgebung  wie  Hamburg  und  Bremen  unzerstort  waren, 
und  wo  sonst  schon  fast  nichts  gebaut  wurde,  waren  die  Handwerker  froh,  auf 
dem  Lande  noch  gegen  Nahrung  und  Entlohnung  arbeiten  zu  konnen  -  eine 
klassische  Nach-  bzw.  in  diesem  Fall  Zwischenkriegskonstellation.102 

Das  hier  beschriebene  ist  ein  regionales  Phanomen,  denn  es  gab  Gegenden,  in 
denen  wahrend  des  Krieges  und  danach  nichts  als  die  groBe  Depression 
herrschte,  die  Walder  vernichtet  und  die  Bewohner  gestorben,  gefliichtet  oder 
verarmt  waren,  in  denen  an  Bauen  also  nicht  zu  denken  war.  Aber  es  gab  nach 
dem  GroBen  Kriege  auch  noch  Gegenden,  in  denen  weder  die  durchziehenden 
Heere  noch  die  eigenen  Bewohner  die  Situation  ausgenutzt  hatten  und  also  die 
Waldungen  noch  vergleichsweise  intakt  waren,  so  dass  in  der  zweiten  Halfte  des 
17.  Jahrhunderts  noch  qualitatsvoll  und  aufwendig  gebaut  werden  konnte. 

Die  schwedische  Regierung  der  Herzogtiimer  Bremen  und  Verden  hatte  nach 
Festigung  ihrer  Verwaltung  den  Bauern  nur  noch  geringe  Mengen  an  Bauholz  zur 


102  Die  Erkenntnis  ist  nicht  neu,  dass  Niedersachsen  -  wie  auch  viele  andere  Territorien 
-  generell  kaum,  allerdings  ortlich  manchmal  kraftig  vom  Kriege  in  Mitleidenschaft  gezogen 
worden  war.  Dazu  noch  immer  unentbehrlich:  Giinther  Franz,  Der  DreiBigjahrige  Krieg 
und  das  deutsche  Volk,  3Stuttgart  1961,  seit  dieser  3.  Auflage  mit  Kartenmaterial  versehen. 
Zur  Kontroverse  um  die  ideologischen  Kontaminierungen  des  Buches :  Wolfgang  Behringer, 
Von  Krieg  zu  Krieg,  Hans  MEDICK/Benigna  von  Krusenstjern,  Einleitung,Johannes  Burk- 
hardt,  Schlusskommentar  und  Ausblick,  und  Bernd  Roeck,  Einige  offene  Fragen  und  Per- 
spektiven  der  Forschung,  alle  in:  Hans  MEDICK/Benigna  von  Krusenstjern  (Hrsg.),  Zwi- 
schen  Alltag  und  Katastrophe.  Der  DreiBigjahrige  Krieg  aus  der  Nahe,  Gottingen  1999, 
S.  543-591,  S.  22-  23,  S.  595  und  S.  610.  In  der  Stadt  Verden  allerdings  war  (entgegen  der  An- 
sicht,  dass  die  Stadte  starker  verschont  worden  seien)  die  Situation  prekar,  wie  die  Tabelle  der 
1630  leer  stehenden,  verwusteten  und  nicht  zur  Kontribution  beitragenden  Hauser  zeigt,  die 
Christoph  Pfannkuche  1834  veroffentlichte  (Neuere  Geschichte  des  vormaligen  Stiftes  und 
jetzigen  Herzogthumes  Verden  S.  108  FuBnote  8) .  Richtig  aber  ist  wohl,  dass  in  verwusteten 
Stadten  die  dort  lebenden  „Nachfrager  die  letzten  Ersparnisse  hergaben,  um  das  lebensnot- 
wendige  Brot  zu  kaufen"  (Achilles,  Landwirtschaft,  wie  Anm.  80,  S.  3). 


168  Wolfgang  Dorfler 

Verfiigung  gestellt.  Das  Holz  wurde  vorwiegend  fur  den  Festungsbau  und  den 
Export  verwendet.  Den  Waldern  in  den  beiden  Herzogtiimern  standen  auch 
noch  die  Kriegsereignisse  der  Reichsexekution  gegen  Schweden  (1675-1680)  be- 
vor  und  als  Folge  davon  in  den  mittleren  und  siidlichen  Landesteilen  die  Beset- 
zung  durch  den  miinsterschen  Bischof  von  Galen,  der  die  Lander  nach  Kraften 
gepliindert  hatte.103  Erhatte  z.  B.  massiv  auf  die  Walderdes  Klosters  Zeven  iiber- 
gegriffen,  die  gar  nicht  zu  seiner  Besatzungszone  gehorten.104  Das  „Jordebuch" 
der  Vogtei  ScheeBel  weiB  iiber  diese  Zeit  zu  berichten:  Bei  diesem  Dorfe  (Sothel, 
Ldkr.  Rotenburg)  soil  ehedefen  ein  gutes  Holtzgewesen  seyn,  so  derKonigl.  Cammeral- 
lein  gehoret,  welches  aber  bey  Miinsterscher  invasion  so  sehr  verhauen,  daft  nun  fast  nichtes 
mehr  iibrig  Und  an  anderer  Stelle:  Holzung hatte  dieDorfschaft  (Bothel,  Ldkr.  Roten- 
burg) nicht  anders,  als  was  etwan  in  einemjeden  Hoffe  verhanden:  Im  Hartwedel,  so  der 
Herrschaft  zukdme,  solches  aber  were  bey  Miinsterscher  Zeit  und  vorher  so  sehr  verhauen, 
dass  nunmehro  fast  wenig  oder  nichts  mehr  verhanden.105 

Nach  1680  waren  die  Walder  der  Herzogtiimer  mehrheitlich  in  einem  trostlo- 
sen  Zustand,  wie  die  Bestandsaufnahme  in  den  Jordebiichern,  der  weiter  unten 
(S.  170)  zitierte  Fall  aus  der  Nahe  Buxtehudes  und  die  langen  gewundenen  Brief- 
wechsel  zeigen,  in  denen  vom  Krieg  betroffenen  Bauern  um  Bauholz  nachsuch- 
ten,  aber  nur  Einzelbaume  bewilligt  wurden,  wo  doch  ganze  Gebaude  zerstort 
waren.  Selbst  fur  den  Bau  von  Wohnhausern  wurde  jeweils  nur  ein  einzelner 
Stamm  bewilligt  und  diese  Genehmigung  von  der  schwedischen  Verwaltung  als 
etwas  zur  Hilfe  tituliert,  was  eine  massive  Einschrankung  der  alten  Berechtigun- 
gen  bedeutete.  Die  kostenlose  oder  im  Preis  stark  unter  dem  Handelswert  ange- 
siedelte  Bauholzanweisung  durch  die  Landesherren  war  nach  der  Riickkehr  der 
Schweden  zu  Ende  gegangen.  Bauholz  konnte  nur  noch  gekauft  werden.  Wir  se- 
hen  den  Mangel  daran,  dass  so  gut  wie  gar  keine  Gebaude  aus  diesenjahrzehnten 
auf  uns  gekommen  sind. 

Nach  der  Schwedenzeit  haben  sich  die  Holzbestande  nur  langsam  erholt.  So 
musste  1732  fur  den  Bau  eines  neuen  Kiisterhauses  und  eines  Backhauses  am 
Pfarrhof  in  Achim  alles  Holz  iiber  einen  Holzhandler  aus  der  Siidheide  beschafft 
werden  und  zwar  interessanterweise  als  fertig  abgezimmerte  ganze  Bausatze.106 


103  Tamss,  wie  Anm.  50,  S.  43. 

104  Dorfler,  Landesgrenze,  wie  Anm.  23,  S.  558;  Quelle:  StA  Stade  Rep  30  Tit.  20. 

105  Miesner,  wie  Anm.  64,  S.  58  und  S.  170. 

106  StA  Stade  Rep  83  Stade  Nr.  519.  Aus  dieser  interessanten  Quelle  ist  nicht  nur  der 
Holzbedarf  und  der  Anteil  der  verschiedenen  Handwerker  an  den  Bauabschnitten  bei  diesem 
importierten  Haus  zu  ersehen,  sondern  es  sind  wegen  eines  Streits  um  die  Kosten  auch  die  fer- 
tigen  Bauten  durch  materialgenaue  Beschreibungen  erfasst.  Uber  den  Handel  mit  Bauholz 
iiber  groBere  Entfernung  ist  in  der  Forschung  bisher  nur  wenig  bekannt.  Solche  Beispiele  sind 
nur  durch  Archivforschung  zu  erschlieBen.  Hausforscher  sind  aber  wenig  im  Archiv  und  Ar- 


Bauholzversorgung  auf  dem  Lande  169 

Diejahre  zwischen  1660  und  1760  sindgenerell  eine  arme  Zeit  auf  dem  Lande107 
und  eben  auch  eine  bauarme  Zeit  zwischen  Elbe  und  Weser. 


Gab  es  bduerliches  Privateigentum  am  Bauholz? 

Auf  vielen  Hofen  finden  sich  heute  Eichenhaine,  die  in  den  heimatkundlichen 
Darstellungen  als  das  nachwachsende  Bauholz  fur  das  neue  Bauernhaus  darge- 
stellt  werden.  Es  ist  aber  nicht  aus  den  Quellen  zu  belegen,  wie  lange  schon  sol- 
che  Baume  gepflanzt  wurden  und  ob  sie  wirklich  als  „Ersatzbauholz-Waldchen" 
gedacht  waren.108  Dass  heute  niedersachsische  Bauemhauser  unter  hohen  Ei- 
chen  gelegen  sind,  resultiert  daraus,  dass  die  Eichen  als  Bauholz  in  den  letzten 
150  Jahren  nicht  mehr  benotigt  wurden  und  also  stehen  blieben.  Die  Eicheln  die- 
ser  Baume  dienten  fruher  der  „privaten"  Schweinemast.109 

Die  Hofedarstellungen  auf  den  detaillierten  Karten,  wie  sie  seit  dem  spaten  16. 
Jahrhundert  vorhanden  sind,  zeigen  in  der  Regel  die  Dorfer  und  Einzelhofe  mit 
Hausern  und  viel  Baumbestand,  mittelalterliche  Dorf-  oder  Hofabbildungen  zei- 
gen eherEinzelbaume.  Einzelne  Baume  in  der  direkten  Umgebung  der  Gebaude 
als  Wind-,  Blitz-  und  Feuerschutz  sind  zu  alien  Zeiten  gut  vorstellbar.  Anderer- 

chivforscher  interessieren  sich  meist  nicht  fiir  Fragen  des  Bauens.  Ein  zufallig  gefundener 
Schriftwechsel  desjahres  15971iefert  ein  weiteres  Beispiel:  Rippe  Wolff  aus  Verden  hatte  mit 
dem  Grafen  von  Oldenburg  einen  Kontrakt  iiber  die  Lieferung  des  Holzes  fiir  ein  GroJ&haus 
oder  Vorwerk  aus  dem  Furstenthumb  Liineburgk  abgeschlossen  und  daraufhin  bereits  142  der  Ge 
samtsumme  von  251  V4  Rhtl.  erhalten.  Die  Holzlieferung  aber  war  nicht  erfolgte,  und  so  er 
suchten  die  Oldenburger  Beamten  den  Verdener  Landesherren  um  Verfolgung  des  dortigen 
Holzhandlers  und  Ruckerstattung  des  Geldes,  in:  StAStade  Rep  8  Nr.  69. 

107  Jiirgen  Bohmbach,  Bremen-Verden  in  der  Schwedenzeit,  in:  Integration  durch 
Recht.  Das  Wismarer  Tribunal  (1653-1806),  Koln  2003,  S.  51-63;  Ernst  Schubert,  Nieder- 
sachsen  um  1700.  Die  verschiedenen  Erscheinungen  von  Armut,  in:  Niedersachsische  Ge- 
schichte,  Gottingen  1997,  S.  288-291;  Walter  Achilles,  Einkommen  der  Landbevblkerung 
im  spaten  18.  Jahrhundert,  in:  Geschichte  Niedersachsens,  Bd.  3,1  Politik,  Wirtschaft  und 
Gesellschaft  von  der  Reformation  bis  zum  Beginn  des  19.  Jahrhunderts,  HannoveiT998, 
S.  723-727. 

108  Timm,  wie  Anm.  17,  S.  67  setzt  ihre  Aufkommen  erst  in  die  Jahrzehnt  zwischen  1560 
und  1610  und  bringt  sie  mit  der  Sicherung  der  Futtergrundlage  fiir  die  Schweinehaltung  in 
Verbindung. 

109  Die  Schweinemast  mit  Eicheln  ist  heute  vollig  aufgegeben.  Eine  reiche  „Eichelern- 
te"  ist  also  langst  kein  Segen  mehr,  sondern  eine  Plage  fiir  den  rasenpflegenden  Hofbesitzer. 
Das  Fallenlassen  eines  Baumes  mit  Entsorgung  der  Aste  und  des  Stubbens  war  aber  lange 
teurer  als  der  erzielbare  Preis  fiir  das  Holz,  was  zusammen  mit  den,  mancherorts  durch  den 
2.  Weltkrieg  bedingten  Granatsplittereinschliissen  in  den  Baumen  sehr  zu  ihrem  Schutz  bei- 
getragen  hat.  Seit  wenigen  Jahren  ist  wegen  des  Anstiegs  der  Ol  und  Gaspreise  die  Nach- 
frage  nach  Feuerholz  auf  dem  Lande  stark  gestiegen,  so  dass  jetzt  vermehrt  Hofeichen  ge- 
fallt  werden. 


170  Wolfgang  Dorfler 

seits  waren  innerhalb  der  verdichteten  Dorfer  die  Flachen  in  der  Hausnahe  fiir 
die  bauerliche  Wirtschaft  wichtig,  etwa  als  Jungvieh-,  Pferde-  und  Gefliigelwei- 
den  und  fiir  die  „Kohlhofe",  so  dass  man  diese  Flachen  nicht  generell  durch  er- 
hebliche  Baumanpflanzungen  eingeschrankt  haben  wird.  Uber  die  Zahl  der  Bau- 
me  in  diesen  „Hauswaldchen"  ist  wenig  bekannt.  In  den  1690er  Jahren  wird  bei 
den  Hofebeschreibungen  ausnahmsweise  einmal  unter  der  Kategorie  „Garten" 
auf  Eichhofe  verwiesen.  Diese  sind  oft  winzig  -  ein  kleiner Eichhoffvon  3 Bdumen  - 
und  erreichen  als  Maximum  20  Eichbdume  grofe  und  klein.110 

Die  Eichen  auf  dem  Hof  spielten  in  den  Holzbewilligungen  erstmals  nachweis- 
bar  im  17.  Jahrhundert  eine  Rolle.  So  unterstiitzte  der  Amtmann  den  Antrag  auf 
Holzbewilligung  fiir  den  Bau  eines  neuen  Hauses  vonjiirgen  Konig  aus  Levensen 
(Ldkr.  Harburg)  imjahre  1663  mit  den  Argumenten:  Hatt  uffdem  Hove  2  Beume. 
Efe  ist  ihm  derDienst  erlasset,  bife  er  wiederbawete.  Es  gab  also  zwei  Griinde,  die  den 
Bau  erleichterten  bzw.  es  auch  fiir  das  Amt  sinnvoll  erscheinen  lieB,  den  Antrag 
zu  unterstiitzen:  das  Vorhandensein  von  „eigenem"  Holz  und  das  Wiedereintre- 
ten  in  die  Steuerpflicht  nach  erfolgtem  Neubau. 

Nur  wenige  Jahre  spater,  namlich  1678,  hat  die  zuriickgekehrte  schwedische 
Regierung  in  Stade  mit  erstaunlicher  Rigiditat  die  Bauholznutzung  der  Hofei- 
chen  verboten.  Zwei  Bauern  aus  Ottensen  und  Altkloster  (Ldkr.  Stade)  wollten 
ihre  bei  der  Belagerung  Buxtehudes  abgebrannten  Nebengebaude  (Schafstall 
und  Scheune)  mit  dem  Holz  von  auf  ihrem  Hof  stehenden  Eichen  neu  errichten. 
Der  ortliche  Untervogt  unterstiitzte  den  Antrag  und  reichte  ihn  an  das  Amt  wei- 
ter.  Er  erhielten  zur  Antwort:  Euch  sollte  bekannt  oder  aufs  wenigste  bewusst  sein,  dafe 
kein  Gerichtsherr  gehalten  ist,  seinem  Meyer  zu  Scheunen,  Stdllen,  geschweige  zu  Schafko- 
ven,ja  nicht  einmal  zu  einem  vollen  Wohnhaus  das  Holz  sondern  nur  etwas  zu  Hiilfe  zu  ge- 
ben.  Ihr  aber  habet  den  Suplicanten  in  der  strafbaren  Meinung  bestdrkt,  ob  konnen  und 
mochten  sie  aus  einem  Hofe  der  erste  6  Beume,  der  andere  4  unterm  Vorwand,  dafe  sie 
pollsohr  [waren],  hawen.111  Hier  erhebt  das  Amt  nicht  nur  den  Anspruch  auf  Ge- 
nehmigung  jedes  einzelnen  Baumes,  egal  wo  er  steht,  sondern  bestreitet  in  unge- 
wohnlich  scharferForm  auchjeden  bauerlichen  Anspruch  auf  Bauholzzuteilung 
fiir  Nebengebaude. 

Diese  Position  scheint  sich  aber  nicht  durchgesetzt  zu  haben,  denn  im  friihen 
18.  Jahrhundert  kommentierte  der  Hittfelder  Vogt  den  Bauantrag  vonjohann  Al- 
dag  aus  Buchholz:  Das  Eichenholz  aber  mufe  er  aus  seinem  Hofe  dazu  nehmen  undweiler 


110  „Jordebuch  der  Vogtei  Sottrum  Zweiter  Teil:  Ottersbergisches  Ampts  Jorde-  oder 
Lagerbuch".  Der  Titel  stammt  von  Miesner,  wie  Anm.  64.  Es  gibt  hier  u.  a.  dorferweise  an- 
gelegte  Befragungslisten  aus  demjahr  1691,  in  denen  die  GroBe  dieser  Eichkampe  quantifi- 
ziert  ist,  hier  S.  463  (Hassendorf)  und  S.  466  (Cliinder). 

111  StA  Stade  Rep  30  Nr.  65,  Bl.  3~3R,  Stader  Regierung  vom  12.  12.  1678. 


Bauholzversorgung  auf  dem  Lande  171 

zwei Baume  in  seinem  Hofe  stehen  [hat],  die  keine  Frucht  mehr  tragen  auch pollsohrig sei- 
en,  sollte  er  dieselben  gerne  nehmen,  weil  er  auch  auf  dem  Klecker  Wald  nichts  bekommen 
konne.112 

Harm  Prior  untersuchte  die  private  Nutzung  von  Hofbaumen;  zunachst  schil- 
derte  er  den  Fall  eines  Bauern,  der  eine  Hofeiche  ohne  Konsens  seines  Gutsherrn 
gefallt  hatte,  weil  sein  Haus  sich  in  einem  desolaten  Zustand  befand.  Der  adelige 
Gerichtsherr  sprach  zwar  eine  Riige  aus,  verzichtete  jedoch  auf  eine  Strafe,  offen- 
bar  weil  er  die  Beweggriinde  akzeptiert  hatte.  Anders  das  Gericht  auf  dem  Delm 
(Ldkr.  Stade),  das  eine  Strafe  von  2  Reichstalern  aussprach,  weil  1726  ein  Bauer 
aus  Ottensen  in  seinem  Hoffe  einen  Baum  ohne  Erlaubnis  gehauen.  1767  forderte  das 
Ministerium  in  Hannover  vom  Koniglichen  Tribunal  ein  Gutachten  in  dieser 
Rechtsfrage.  Das  Urteil  stellte  die  widerspriichliche  Rechtlage  fest,  sprach  sich 
aber  letztlich  fur  eine  uneingeschrankte  bauerliche  Nutzung  dieses  Holzes  aus. 
Dem  wiederum  widersprach  die  bremische  Ritterschaft  in  einer  Stellungnahme 
desjahres  1769.113 

Die  Hofeichen  waren  in  der  Friihen  Neuzeit  wohl  doch  iiberwiegend  freies 
Eigentum  der  Bauern,  ihre  Nutzung  unterlag  im  17.  und  lS.Jahrhundert  nur  aus- 
nahmsweise  derherrschaftlichen  Beaufsichtigung  und  damit  der  Genehmigungs- 
pflicht.  Dies  scheint  sich  aber  mit  zunehmender  Mangelwirtschaft  geandert  zu 
haben  und  beruhte  wie  so  vieles  in  dieser  Zeit  nicht  auf  Gesetz,  sondern  auf  Ge- 
wohnheit  und  Herkommen. 

Es  wird  im  Holtingsprotokoll  von  Tostedt  vom  Jahre  1534  zwar  ein  individuel- 
les  Recht  an  den  Friichten  der  Baume  innerhalb  des  Hofes  festgestellt,  aber  kei- 
nes  an  den  Eicheln  auf  und  an  den  Weideflachen.114  Erneut  1590  ist  die  gemein- 
schaftliche  Nutzungsberechtigung  an  den  Friichten  der  Feldeichen  iiberliefert; 
eine  individuelle  gab  es  nicht,115  und  nach  dem  Bauernrecht  der  Gemeinde  Ma- 
gelsen  (Ldkr.  Verden)  von  1704  sollte  bestraft  werden,  wer  die  Forst  [und]  Weiden 
Stdmme, Hecken, Er oder gespiekte  Wege mit Austragung oder Fahren[.  .  .]  bestiehlet,[.  . .] 

112  Klages,  Bauholzzuweisung,  wie  Anm.  33,  S.  91-92. 

113  Prior,  wie  Anm.  4,  S.  174-175. 

114  Item  de  Holtingslude  finden  nemande  mehr  tho,  sonder  sinen  binnen  hofund  kolhoffrie,  unde 
de  Borne,  de  darinne  sin,  de  Maste  darvan.  Hefft  dar  averst  wol  Wische  im  Tune,  de  sehal  de  Wische 
apen  laten  und  de  Maste  tho  geliker  Dele  eten  laten,  zitiert  nach  Schettler,  wie  Anm.  35,  S.  11. 
Quelle:  Grimm,  Weisthiimer  Band  3,  S.  222. 

115  Klageschrift  der  ottersbergischen  Beamten,  die  im  Rahmen  der  Grenzauseinander- 
setzungen  zwischen  Bremen  und  Verden  verfasst  wurde:  Wie  die  Rotenburger  Meiger,  so  zu 
Reifiem  sefihafftigk,  ohn  allefugk  und  Recht  das  Eckern  von  ihren  Feldtbeiimen,  andern  Holtzgenossen 
zu  mercklichem  Nachtheil,  abschlahen,  schudden,  lesen  und  in  Secken  nach  Hause  tragen,  dessen  man 
ihnen  dan  keines  Wegs  gestendigk,  und  ihnen  derowegen  solchs  zu  unterlafien  bey  TOO  ggl.  gepotten. 
Dorfler,  Landesgrenze,  wie  Anm.  23,  S.  807;  Quelle:  StA  Stade  Rep  8  Fach  3  Nr.  16, 
Bl.  17R. 


172  Wolfgang  Dorfler 

oder  Eicheln  lieset  unter gemeine  oder privat  Bdumen.116  Die  Mastnutzung  ausschlieB- 
lich  in  der  Gemeinschaft  erlaubt  den  Analogieschluss,  dass  fur  die  Nutzung  des 
Holzes  der  Baume  auch  der  Konsens  der  Mitbesitzer  gewonnen  werden  musste. 
An  Feldeichen  gab  es  bis  zur  Gemeinheitsteilung  keine  privaten  Nutzungsrechte; 
sie  wurden  als  Gemeinschaftseigentum  wie  die  iibrige  Allmende  behandelt.  Die 
Jordebiicher  aus  dem  Ende  des  17.  Jahrhunderts  weisen  haufig  angesichts  verwii- 
steter  Walder  auf  die  Bauholznutzung  der  Feldeichen  hin. 

Ungenehmigte  Bauholzbeschaffung 

In  das  16.  Jahrhundert  fallen  die  ersten  Hinweise  auf  eine  alternative  Art  der 
Holzbeschaffung:  die  ungenehmigte  Bauholzentnahme.117  Sie  scheint  im  spaten 
16.  und  den  folgenden  Jahrhunderten  eine  verbreitete  Gewohnheit  gewesen  zu 
sein.  Ob  man  sie  als  systematischen  Diebstahl,  als  Verteidigung  alter,  inzwischen 
aber  strittiger  Rechte,  als  bauerlichen  Hochmut  oder  als  Teil  des  Uberlebens- 
kampfes  bezeichnet,  bleibt  dem  Historiker  und  seiner  Deutung  des  Einzelfalles 
iiberlassen.  Besonders  poetisch  ist  die  Beschreibung,  die  Albrecht  Timm  in  die- 
sem  Zusammenhang  geliefert  hat: 118  „Der  Bauer  sah  im  Holz  der  Walder  um  sei- 
nen  Hof  etwas  Urspriingliches,  ohne  wesentliches  Zutun  des  Menschen  geschaf- 
fenes  und  deshalb  auch  von  alien  nach  den  jeweiligen  Bediirfnissen  zu  Nutzen- 
des."  Die  Landes-  oder  andere  Holzherren  hatten  einer  solchen  Auffassung  aber 
nicht  das  gleiche  Verstandnis  entgegengebracht  wie  die  bauerlichen  Genossen 
und  der  Autor.  Die  herzoglichen  Regierungen  haben  die  bauerliche  Gemeinde 
als  Holzrichter  entmachtet  und  besoldete  Amtmanner,  Vogte  und  Knechte  mit 
der  Verfolgung  ungenehmigter  Holzentnahmen  betraut.  So  erfahren  wir  von 
dem  bauerlichen  Tun  aus  den  daraus  folgenden  Prozessen,  aber  mitunter  auch 
aus  den  Befunden  am  Bau  selbst. 

Ein  Beispiel  fiir  diesen  Fall  ist  Mattens  Hus  in  Otter  (Ldkr.  Harburg),119  das 
von  meinem  Forscherkollegen  und  Freund  Ulrich  Klages  viele  Jahre  lang  als  of- 
fentlich  nicht  zugangliches,  historisch  ausgestattetes  und  besonders  altertiimli- 
ches  Kleinbauernhaus  gepflegte  wurde.  Die  Kotnerstelle  warum  1560  von  der  in 
Harburg  residieren  welfischen  Nebenlinie  gegriindet  worden,  war  aber  noch 
nicht  mit  einem  Haus  bebaut;  dieses  war  aber  in  Vorbereitung.  Die  Dendrochro- 
nologie  ergab  fiir  das  Holz  des  Hausgeriistes  das  Falljahr  1571.  Ein  Dachsparren, 


116  Hans  Wohltmann,  Das  Bauernrecht  der  Dorfschaft  Magelsen,  in:  Stader  Archiv, 
Neue  Folge,  Heft  19,  1929,  S.  118-124,  hier  S.  122. 

117  Jordens,  wie  Anm.  31,  S.  27-40,  S.  111-124  und  S.  130-135. 

118  Timm,  wie  Anm.  17,  S.  39. 

119  Nordheide  Wochenblatt  vom  19.  9.  1992,  S.  14;  Klages,  Kotnerhauser,  wie  Anm.  89, 
S.  41. 


Bauholzversorgung  auf  dem  Lande  173 

der  aus  Reparaturgriinden  entfernt  werden  musste,  aber  ergab  das  abweichende 
Datum  1563,  der  Stamm  war  also  acht  Jahre  friiher  gefallt  worden.  Holzhandel 
oder  Zweitverwendung  schieden  aus.  Ein  Kleinkotner  wie  Marten  Damman  war 
1560  zur  Griindung  seiner  Hofstelle  nicht  mehr  „nach  Bedarf"  in  den  Forsten  be- 
rechtigt,  so  dass  seinem  Bauvorhaben  erhebliche  Hindernisse  im  Weg  standen. 
Er  iiberwand  sie  auf  nahe  liegende  Art:  In  den  Pfandungsregistern  der  Zeit  ist  do- 
kumentiert,  dass  Marten  Damman  sich  zwischen  1552  und  1569  viermal  beim 
„Holzfrevel"  hatte  erwischen  lassen,  so  auch  1563,  als  er  wohl  genau  den  Sparren 
gestohlen  hatte,  der  bei  der  Untersuchung  imjahr  1990  aufgefallen  war.120  Holz- 
diebstahl,  auch  wiederholter,  war  aber  eine  alltagliche  Angelegenheit,  deren 
Aufdeckung  nicht  daran  hinderte,  dass  der  Kotner  1571  dann  -  auf  allerdings  un- 
bekanntem  Wege  -  das  Holz  fiir  das  Hausgeriist  erhalten  hat.  Dass  Marten  Dam- 
man der  Bauherr  war,  dokumentiert  eindrucksvoll  auch  der  Hausnahme  „Mat- 
tens  Hus",  der  sich  nach  fast  440  Jahren  und  bei  haufig  wechselnden  Besitzern 
noch  immer  auf  den  Ersterbauer  bezieht.121 

Die  relative  Akzeptanz  oder  die  strenge  Verfolgung  des  Holzdiebstahls  lassen 
sich  an  den  dafiir  verhangten  Strafen  identifizieren.  Die  Strafen  waren  zu  Beginn 
des  16.  Jahrhunderts  so  niedrig,  dass  sie  noch  nicht  einmal  einerKaufsumme  glie- 
chen.122  Hans  Verhey  zitiert  aus  einem  Holtingsprotokoll  von  1538,  in  dem  die 
ungenehmigte  Holzentnahme  nach  seiner  Analyse  als  gleichsam  gewohnheits- 
maBiges  Tun  hingestellt  und  mit  einer  niedrigen  Geldsumme  gesiihnt  wird,  die 
sich  nur  erhoht,  wenn  die  Entnahme  heimlich  (mit  zugebundenem  Wagen)  er- 
folgte.123  Holz,  das  unbemerkt  auf  den  Hofplatz  gebracht  worden  war,  konnte 
nicht  mehr  gepfandet  werden. 124  Insgesamt  ist  in  der  Frage  der  Holzbeschaffung 
ein  starker  Zusammenhalt  der  Bauern  zu  beobachten.  In  einem  Verzeichnis  der 
Brucheinnahmen  des  Amtes  Rotenburg  von  1587  etwa  heiBt  es:  Die  Hesedoerfer 
haben  im  Gelinde  [einem.  Wald)  etzliche Buechen,  Eichen  und Ellern  Holzgehauwen  und 


120  Die  Diskrepanz  in  den  Dendrodaten  war  der  Grand  gewesen,  nach  den  entspre- 
chenden  Archivalien  zu  suchen. 

121  Diese  an  vielen  anderen  Beispielen  zu  belegende  erstaunlich  Konstanz  der  Hausna- 
men  ist  ein  starkes  Argument  dafiir,  dass  hier  im  lG.Jahrhundert  auf  dem  Lande  etwas  wirk- 
lich  Neues  geschaffen  wurden,  namlich  enorm  solide  gebaute  Hauser,  die  regelhaft  in  der 
Lage  waren,  viele  Generationen  zu  iiberdauern.  Siehe  dazu:  Ulrich  Klages,  „Kours  Hus"  in 
Sprotze,  Landkreis  Harburg.  Bautechnischer  Wandel  in  einem  Geestbauernhaus  des  16. 
Jahrhunderts,  in:  Landlicher  Hausbau,  wie  Anm.  6,  S.  115-132,  hier  S.  129. 

122  Jordens,  wie  Anm.  31,  S.  27-31  und  S.  120-121. 

123  Verhey,  wie  Anm.  13,  S.  106-108.  Der  Veroffentlichung  haftet  generell  die  zeittypi- 
sch-ideologische  Uberzeichnung  der  „alten  bauerlichen  Freiheiten",  der  „hohen  bauerli- 
chen  Gesinnung"  und  der  neuzeitlicher  Einschrankung  bzw.  Verderbungen  derselben  an. 

124  Timm,  wie  Anm.  17,  S.  73;  Quelle:  Grimm,  Weisthiimer  Band  IV,  Nr.  694,  Pos.  7-9. 


174  Wolfgang  Dorfler 

die  Thetter  nicht  verkundisch  machen  wolden,125  woraufhin  das  ganze  Dorf  zu  einer 
Bruchstrafe  von  33  Mark  verurteilt  wurde;  eine  einzelne  Eiche  hatte  seinerzeit 
6  Mark  und  3  Schillinge  „gekostet",  eine  Buche  4  Mark  und  2  Schillinge. 

Die  Strafen  fur  Holzdiebstahl  erhohten  sich  im  17.  Jahrhundert,  so  dass  sich 
die  „Briiche"  dem  Wert  des  Holzes  annaherten,  aber  noch  immer  keinen  ausge- 
pragten  Strafcharakter  besaBen.  In  der  Schwedenzeit  und  besonders  nach  dem 
Ende  der  Besetzung  der  Herzogtiimer  Bremen  und  Verden  durch  Minister  und 
Braunschweig  nach  1670  wurden  die  Strafen  empfindlicher.  1704  verfiigte  der 
schwedische  Generalgouverneur  in  Stade,  dass  jeder  beim  Holzdiebstahl  Betroffene, 
er  sei  Haufimann,  Kdter  oder  Hdusling,  unter hiesige Milice gestecket  undzu  Krieges-Dien- 
sten  gebrauchet  werden  soil.126  Ein  hannoverscher  Amtmann  kam  imjahre  1727  zu 
folgender  resignativen  Einschatzung: 127  Es  wurden,  warm  die  Leute  von  Holtzstehlen 
krank  und  ungesund  werden  sollten,  wenige  gesunde  Leute  im  Lande  sein. 

Wiederverwendung  von  Bauholz 

Es  bleibt  das  Thema  der  Verwendung  von  Altholz  im  landlichen  Hausbau.  Zu- 
nachst  einmal  ist  es  ein  Indiz  fur  die  Ressourcenknappheit.  Die  ersten  Nachrich- 
ten  dieser  Art  weisen  auf  eine  Knappheit  in  der  Marsch  hin;  dort  herrschte  trotz 
landwirtschaftlicher  guter  Ertragssituation  wohl  bereits  im  Spatmittelalter  ein 
groBer  Bauholzmangel.128  Fur  die  an  die  Elbmarschen  angrenzende  Geest  be- 
schreibt  der  Klecker  Holtingsbrief  des  Herzog  Heinrichs  von  1518:  Und  schullen 
de  olden  gebuwe  nicht  in  de  marschlande  verkopen,  wo  wente  het  undertiden  geschen. 129  Es 
fanden  sich  Hauser  und  Nebengebaude  im  Alten  Land,  die  neben  krummwiich- 
sigen  Eschen  und  gefloBten  Weichholzern  auch  aus  eichenen  Altholzern  erbaut 
waren,  die  vermutlich  von  der  Geest  bezogen  wurden.130  Der  Verkauf  des  „Alt- 


125  Dorfler,  Landesgrenze,  wie  Anm.  23,  S.  690;  Quelle:  StA  Stade  Rep  76  Nr.  1365, 
Bl.  105.  Siehe  dazu  auch  Jordens,  wie  Anm.  31,  S.  50. 

126  Tamss,  wie  Anm.  103,  S.  72. 

127  Zitiert  nach  Jordens,  wie  Anm.  31,  S.  119-120;  dazu  auch  Reinhard  Oberschelp, 
Niedersachsen  1760-1820  Band  1,  Hildesheim  1982,  S.  141. 

128  Bereits  1502  wird  im  Vorder  Register  berichtet:  Item  de  van  Volkmerstede  myt  hulpe  der 
Erfeexen  dringen  syck  yn  dat  Kolebrock,  houwen  dar  nicht  alleyne  uth,  to  orer  behoff,  men  se  houwen 
wat  se  wylt  unde  vorkopen  dat  (.  .  .)  yn  de  Merschlande  ut.  Wilhelm  von  Hodenberg,  Bremer  Ge- 
schichtsquellen  II,  Celle  1856,  S.  12;  August  Seidensticker,  Rechts-  und  Wirthschaftsge- 
schichte  der  norddeutschen  Forsten  besonders  im  Lande  Hannover  Erster  Band,  Gottingen 
1896,  S.  152. 

129  Zitiert  bei  Ulrich  Klages,  Zweitverwendete  Holzer  in  landlichen  Gebauden  des 
westlichen  Landkreises  Harburg,  in:  Zur  Bauforschung  iiber  Spatmittelalter  und  friihe  Neu- 
zeit  -  Berichte  zur  Bauforschung  Band  1,  1991,  S.  17-46,  hier  S.  31-32. 

130  Klages,  Flofiholzer,  wie  Anm.  46  ,  S.  187-198;  und  Ders.,  Bauholzzuweisung,  wie 


Bauholzversorgung  auf  dem  Lande  175 

holzes"  stellte  eine  Bereicherung  der  abgebenden  Geestbauern  aus  den  Gemein- 
schaftsforsten  dar,  aus  denen  sie  das  Holz  fiir  ihren  Neubau  bezogen.  Vor  allem 
war  damit  die  Gefahr  verbunden,  dass  ein  Neubau  sozusagen  vorzeitig  (namlich 
vor  dem  wirklichen  VerschleiB  des  Altgebaudes)  stattfand  und  die  Bauern  sich  so 
einen  privaten  Vorteil  verschafften. 

Im  spaten  16.  Jahrhundert  finden  sich  erste  Vorschriften  zur  Holzersparnis 
beim  Hausbau  auch  in  den  Geestgegenden.  Im  Konzept  zu  einer  wolfenbiittel- 
schen  Holzordnung  von  1585  ist  die  folgende  ausfiihrlich  Passage  enthalten:  Die- 
weil  unter  den  Personen,  welchezu  bauen  bedacht,  eine  Ungleichheit  ist,  so  wollen  wir,  dass 
diejenigen,  welche  ihrer  Gelegenheit  nach  einem  neuen  Gebew  aufalte  Stette  aufrichten 
oder  einen  alten  undertziehen  und  bessern  mussen,  solche  ihre  Gelegenheit  und  Notturft  des 
Bawholtzs  eines  jeden  Orts  verordnetem  Landtdrosten,  Grojivogt,  Ober-  und  Unterampt- 
mann,  Waltvogt  und  Forstmeister  zuerkennen  geben,  daraufsie  dann  die  Gelegenheit  be- 
sichtigen  und  bey  ihren  Pflichten  erkennen  sollen,  ob  denjenigen,  so  umb  Bawholtz  ange- 
sucht,  zu  bauwen  vonnoten,  auch  wieviell  und  wasfurHoltz  einjederzu  seinem  furgenom- 
menen  Baw  haben  mussen.131  Auch  in  der  Bremische  Holzordnung  von  1588  wird 
mit  folgenden  Satzen  die  Besichtigung  jedes  abzureiBenden  Hauses  durch  den 
Amtmann  angeordnet:  Da  einem  Holtingesman  zu  seinen  Bauwen  Holtz von  ndten  weh- 
re,  soil  vorerstlich  besichtiget  werden,  was  ihnen  zu  Bauwen  von  noten  ist,  und  dan  uber- 
schlagen  werden,  wir  viell  derselbe  zu  dem  Alten  Holtze,  so  man  noch  brauchen  kann,  nott- 
wendigk  haben  muef.  Hier  wurde  zusatzlich  ein  Abbruch  ohne  Genehmigung  un- 
ter Strafe  gestellt.132 

1590  erbat  der  Adelige  Buchart  zum  Campe  vom  WolfenbiittelerHerzog  Bau- 
holz  fiir  sein  „Wohnhaus  zu  Deensen",  da  dieses  fast  bawfellig  und  schwach  sei.  Ein 
gemeinsames  Schreiben  von  Oberamtmann  und  Oberforster  an  den  Herzog  be- 
richtet  von  eigenem  Waldbesitz  der  Adelsfamilie,  in  dem  ziemlich Bawholzvorhan- 
den  sei.  Dieses  sollten  sie  nehmen  und  des  alten  Bawholtzes  [vom]  Wonhause  mit  ge- 
brauchen  und  also  nach  ihrer  Gelegenheit  ihraltes  Wohnhaus  ernewern  und  auf  bauwen}33 


Anm.  33,  S.  29-31.  Trotz  seiner  Vielzahl  von  interessanten  Befunden  stellt  er  fest,  dass  eine 
systematische  Untersuchung  des  dortigen  alten  Baubestandes  (nach  den  Kriterien  dergefii- 
gekundlichen  Bauuntersuchung)  noch  ausstehe. 

131  Zitiert  nach  Graefe,  wie  Anm.  60,  S.  230;  Herzog  August  Bibliothek  Wolfenbiittel 
Cod.  Guelf.  48.6  Aug.  4°  Bl.  200-201. 

132  Bremische  Holzordnung  von  1588  als  Intus  in  der  Akte  HStA  Hannover  Celle  Br.  60 
Nr.  25  Bl.  129R-132;  Werner  Voss,  Die  Erzstift-Bremische  Holzordnung,  in:  Heimatspiegel 
Beilage  zu  den  Harburger  Anzeigen  und  Nachrichten  vom  23.  4.  1983;  zitiert  bei  Klages, 
Bauholzzuweisung,  wie  Anm.  33,  S.  84.  Berg,  wie  Anm.  13,  S.  213-214,  datiert  die  allgemei- 
ne  Einfiihrung  der  (Alt)baubesichtigung  erst  in  die  zweite  Halfte  17.  Jahrhunderts  und  stellt 
sie  in  einen  Zusammenhang  mit  der  generellen  regelmaBigen  Besichtigung  von  privaten 
und  offentlichen  Bauten  zum  schnellen  Erkennen  von  noch  leicht  behebbaren  Schaden. 

133  Graefe,  wie  Anm.  60,  S.  103;  StA  Wolfenbiittel  1  Alt  6100,  Bl.  2R-8. 


176  Wolfgang  Dorfler 

Die  welfische  Holzordnung  von  1618  ordnete  Besichtigung  des  Altbaus  und  Wie- 
derverwendung  der  Altholzer  an,134  wie  auch  eine  solche  von  1665,  in  der  es 
heiBt:  Wenn  jemand Bauholzforderte,  so  sollseyn  Gebdude  mit  Fleis  von  Unseren  Beam- 
ten  und Fdrstern  besichtigt,  die  Notdurft  ermessen  werden,  auch  daraufdie  Anweisung  und 
fleifiiges  Einsehen  geschehen,  dafe  er  das  alte  darzu  noch  dienliche  Holz  mit  verbaue,  mit 
dem  neuen  sparsam  umgehe,  und  also  aller  UberfluJS  ungebiihrender  Vorteil  und  Unter- 
schleif  vermeidet  und  verhindert  bleibe.135  20  Jahre  spater  wurde  noch  erganzt,  dass 
die  Hbfe  nicht  grojier  gemachet  und  angeschlagen  werden,  als  jeden  Hofes  Beschaffenheit 
nach  nothwendig.136  Die  obrigkeitliche  Position  ist  also  klar:  Besichtigung  zurFest- 
stellung  der  Notwendigkeit  und  Anordnung  der  Wiederverwendung  von  Teilen 
des  alten  Bauholzes.  Die  Bauern  scheinen  diese  Anordnungen  eher  widerwillig 
befolgt  zu  haben.  Manchmal  finden  wir  wiederverwendete  Balken  nur  in  Form 
von  „Alibibalken",  also  einem  oderzwei  einzelnen  alten  Stiicken,  die  so  versteckt 
eingebaut  waren,137  dass  sie  dem  Auge  des  Besuchers  nach  Moglichkeit  entzogen 
waren,  bei  Bedarf  aber  dem  Amtmann  als  Beweis  fiir  die  Befolgung  der  Vorschrift 
demonstriert  werden  konnten 

Die  Wiederverwendung  relevanter  Teile  des  Altbaus  bedeutet,  dass  der  Bau- 
willige  sein  altes  Haus  -  zumindest  in  Teilen  -  zerlegen  musste,  ehe  der  Neubau 
erstellt  werden  konnte  -  eine  Erschwernis  des  Bauvorganges,  die  vergleichbar 
dem  Neubau  nach  Brandschaden  ist.  Wiederverwendung  bedeutete  also  eine 
Einschrankung  der  bauerlichen  Wirtschaft;  dass  man  sie  akzeptierte,  zeigt  den 
deutlichen  Willen  zum  groBtmoglichen  Bauen  und  zum  Vermeiden  von  Konflik- 
ten  mit  der  Obrigkeit.  Es  ermoglicht  diese  Beobachtung  aber  auch  die  Annahme 
der  Ortskonstanz  der  Hauser,138  denn  nur  so  konnte  der  Neubau  am  Platz  des 
alten  Hauses  entstehen.  Wenn  wir  heute  hoffen,  unter  den  Hausern  des  16.  und 
17.  Jahrhunderts  archaologisch  die  Reste  der  Vorgangerbauten  finden  zu  konnen, 


134  Im  §  31,  siehe  Jordens,  wie  Anm.  31,  S.  103,  FN  669. 

135  Holzordnung  von  1665  Artikel  49,  zitiert  nach  Jordens,  wie  Anm.  31,  S.  95  und 
S.  101.  Ahnlich  fiir  das  18.  Jahrhundert:  Lutz  Volmer,  Das  „Bau-Reglement  fiir  das  platte 
Land"  in  Minden-Ravensberg  von  1769,  in:  Bauen  nach  Vorschrift?,  wie  Anm.  33,  S.  157- 
177,  hierS.  163-164. 

136  Allgemeines  Ausschreiben  vom  29.12.1685  §1,  zitiert  nach  Jordens  wie  Anm.  31, 
S.  101. 

137  Rolf-Jiirgen  Grote,  Der  landliche  Hausbau  in  den  Vierlanden  unter  der  beiderstad- 
tischen  Herrschaft  Hamburgs  und  Liibecks  bis  1867,  Hamburg  1982,  S.  64;  Klages,  zweit- 
verwendete  Holzer,  wie  Anm.  129,  S.  24;  Klages,  Bauholzzuweisung,  wie  Anm.  33,  S.  84. 

138  Dazu  passt  auch  die  eben  genannte  Notiz  in  dem  Entwurf  zur  wolfenbiittelschen 
Forstordnung,  die  besagt,  dass  die  Bauern  einen  neuen  Gebew  auf  alter  Stette  aufrichten.  Der 
Nachsatz:  oder  einen  alten  [Gebew]  undertziehen  und  bessern,  konnte  auf  die  von  uns  bisher  nur 
vermutete  Praxis  verweisen,  von  alten  Gebauden  die  Balkenlage  mit  dem  Dachstuhl  zu  er- 
halten  und  neue  Stander  „unterzuziehen". 


Bauholzversorgung  auf  dem  Lande  177 

griindet  sich  das  auch  auf  die  Beobachtung  der  Wiederverwendung  wesentlicher 
Teile  (besonders  der  Balken)  der  alten  Gefiige. 

In  den  Landkreisen  Harburg,  Rotenburg  und  dem  Kreis  Grafschaft  Hoya  sind 
durch  die  dort  intensiv  gefiihrten  Untersuchungen  in  zahlreichen  Gebauden  wie- 
der  verwendete  Balken  nachgewiesen,  wobei  interessanterweise  nur  die  Balken, 
aber  nicht  die  Stander  der  alten  Hauser  weiterbenutzt  wurden.  Neu  gegriindete 
Kleinbauernstellen  und  besonders  deren  Nebengebauden  sind  sehr  haufig  mit 
Altholzern  errichtet  worden,  weil  deren  Besitzer  am  starksten  unter  einem  Man- 
gel an  Bauholz  zu  leiden  hatten.139 

Die  akribische  Untersuchung  der  wieder  verwendeten  Balken  und  Rahme  mit 
den  Methoden  einerhoch  entwickelten  Gefiigeforschung  ermoglichte  es,  Baufor- 
men  zu  identifizieren,  die  im  rezenten  Bestand  nicht  mehr  vorhanden  sind.  Unter 
giinstigen  Umstanden  gelingt  es  durch  Deutung  der  „Holznarben"  und  die  Be- 
stimmung  der  Fallzeiten  der  Holzer  die  seinerzeitige  Verbreitung  bestimmter 
charakteristischer  Konstruktionen  zu  erkennen,  wie  die  folgenden  Beispiele  zei- 
gen.  Eines  der  altesten  weitgehend  vollstandig  erhaltenen  Bauernhausgeriiste 
Niedersachsens  im  Dorf  Schwinde  der  Harburger  Elbmarschen  von  1494  (d) 
zeigt  eine  von  alien  spateren  stark  abweichende  Konstruktion:  Der  Langsver- 
band  des  komplett  aus  Eichenholz  erbauten  Hauses  ist  nur  durch  einige  wenige 
lang  ausgreifende  Streben  hergestellt.  Alle  Verbindungen  sind  noch  angeblattet 
und  die  Kopfbander  zwischen  Standern  und  Balken  sind  aus  krummwiichsigen 
Holzern  herausgearbeitet  worden.140  DreiBigJahre  spater  wurde  ein  Haus  glei- 
cher  Bauweise  noch  einmal  im  Siiden  des  Elbe-Weser-Dreiecks  (in  Brockel,  Ldkr. 
Rotenburg)  errichtet,  wie  wiraus  der  Analyse  wieder  verwendeter  Teile  ermitteln 
konnten.  Das  Brockeler  Haus  wurde  bereits  1610  komplett  umgezimmert  und  in 
einen  zeitgemaBen  Bau  verwandelt.141  Das  moderne  Gefiige  ist  u.  a.  durch  die 
symmetrisch  gereihten,  eingezapften  Kopfbander  des  Langsverbandes  gekenn- 
zeichnet.  Diese  Bauweise  hat  sich  dann  bis  zum  Ende  des  Innengeriistbaus  gehal- 
ten.  Bereits  1522  konnen  wir  das  erste  dieser  „modernen"  Hauser  im  Elbe-Weser- 
Dreieck  nachweisen,  das  in  Wellen  bei  Beverstedt  (Ldkr.  Cuxhaven)  steht.142 


139  Klages,  Zweitverwendete  Holzer,  wie  Anm.  129  ,  S.  28;  Klages,  Bauholzzuweisung, 
wie  Anm.  33,  S.  91-93. 

140  Ulrich  Klages,  Friihe  Varianten  des  Dielen-Flett-Gefiiges  in  Bauernhausern  der 
Nordheide,  in:  Liineburger  Blatter  27/28,  1987,  S.  49-76,  hier  S.  51-53;  Wolfgang  Dorfler, 
Ein  Bauernhaus  aus  dem  15.  Jahrhundert,  in:  Der  Holznagel  Heft  2,  1992,  S.  23-29;  Hein- 
rich  Stiewe,  Ein  Hallenhaus  des  ausgehenden  15.  Jahrhunderts  in  der  Winsener  Elbmarsch 
(Niedersachsen),  in:  AHF-Mitteilungen  Heft  39,  1992,  S.  3-5;  Ders.,  Fachwerkhauser  in 
Deutschland,  Darmstadt  2007,  S.  73. 

141  Klages  u.  a.    1993,  wie  Anm.  95,  S.  48  und  S.  51-56. 

142  WolfgangDoRFLER,  Das  sparrentragende  Unterrahm  und  der  verkammte  Ankerbal- 


178  Wolfgang  Dorfler 

In  Ostereistedt  und  Briittendorf  fanden  wir  in  zwei  der  altesten  Hallenhauser 
des  Landkreises  Rotenburg  wieder  verwendete  Balken  mit  gleichartigen  unge- 
wohnlichen  Gefiigenarben,  von  denen  wir  dendrochronologisch  einen  auf  das 
Jahr  1499  datieren  konnten.  Sie  waren  kiirzer  als  die  in  den  Bauten  von  etwa  1560 
und  konnten  deshalb  nur  an  zusatzlich  unterstiitzter  Stelle,  namlich  als  Herd- 
wand-  bzw.  Vorschauerbalken,  eingebaut  worden.143  Wir  erkennen  daran,  dass 
die  Vorgangerbauten  dieser  Hauser  (wie  auch  das  erste  Haus  in  Brockel)  nur  etwa 
70  Jahre  alt  wurden,  wahrend  ihre  „modernen"  Nachfolger  dann  450  Jahre  stan- 
den  und  z.  T.  heute  noch  stehen.  Diese  kurze  Lebensspanne  der  spatmittelalterli- 
chen  Bauernhauser  lieB  sich  in  benachbarten  Regionen  bestatigen.  Im  Landkreis 
Harburg  und  ganz  besonders  in  der  Grafschaft  Hoya  fanden  Ulrich  Klages  und 
Heinz  Riepshoff  bereits  30  Hauser  mit  wieder  verwendeten  Balken,  die  alle  nur 
zwischen  30  und  120  Jahre  alter  waren  als  die  friihneuzeitlichen  und  bis  in  die 
Gegenwart  erhaltenen  Bauten.144  Sie  treten  auf  neben  den  eingangs  genannten 
vielen  Neubauten;  beide  Formen  deuten  auf  einen  grundsatzlichen  Bauwandel  in 
dieser  Periode  hin.  Die  Wiederverwendung  erstreckt  sich  allerdings  iiberra- 
schend  auch  nur  auf  eine  „Hausgeneration",  da  wieder  verwendete  Balken  aus 
der  Zeit  vor  1480  bisher  nicht  gefunden  wurden.  Die  Vermutung  liegt  nahe,  dass 
die  Hauser  dieser  Zeitstufe  eine  noch  andere  Konstruktion  gehabt  haben  miissen. 

Schon  lange  ist  bekannt,  dass  alte  Bauernhauser  als  Pfostenbauten  errichtet 
waren,145  also  Hauser,  deren  senkrechte  Holzer  in  den  Erdboden  eingegraben 
wurden.  Man  glaubte  allerdings,  dass  diese  Bauweise  so  lange  zuriickliegen  wiir- 
de,  dass  dies  fiirunseren  rezenten  Baubestand  keine  Bedeutung  mehrhabe.  Haio 
Zimmermanns  vom  Institut  fur  historische  Kiistenforschung  in  Wilhelmshaven 

ken.  Befunde  zu  der  postulierten  altesten  Gefiigevariante  des  Niederdeutschen  Hallenhau- 
ses,  in:  LandlicherHausbau,  wie  Anm.  6,  S.  33-56  hier  S.  52;  Ders.,  Die  altesten  Bauernhaus- 
gefiige  des  Elbe-Weser  Dreiecks,  in:  The  rural  house,  wie  Anm.  12,  S.  53-57.  Es  handelt  sich 
urn  zwei  verschiedene  Bautraditionen,  so  dass  wohl  keine  organische  Entwicklung  der  einen 
aus  der  anderen  angenommen  werden  kann.  Als  Vorlaufer  der  Hauser  mit  gereihten  Kopf- 
bandern ist  jiingst  das  Haus  der  Wehlburg  in  Badbergen  (Ldkr.  Osnabriick)  von  1480  (d)  ge- 
funden worden  (Glantzer,  Hallenhaus,  wie  Anm.  10).  Hier  sind  in  regelmaBiger  Folge  Ga- 
belstander  (mit  natiirlichen  Astgabeln)  verwendet  worden.  Das  entspricht  funktionell  und  as- 
thetisch  den  gereihten  Kopfbandern.  Bei  den  jiingeren  Gebauden  des  Typs  mit  den 
sparlichen,  angeblatteteten  Schragstreben  hat  sich  deren  Zahl  vermehrt,  aber  keine  Regelma- 
Bigkeit  erreicht.  Auch  die  Hauser  dieser  Regionen  sind  schlieBlich  mit  regelmaBigen  ange- 
ordneten  und  eingezapften  Kopfbandern  verzimmert  worden,  es  hat  sich  dieser  Bautyp  also 
durchgesetzt. 

143  Klages  u.  a.  1993,  wie  Anm.  95,  S.  23  und  S.  34-41. 

144  Zusammenfassend  veroffentlicht  von  Heinrich  Stiewe,  Fundamentaler  Wandel? 
Landlicher  Hausbau  des  16.  Jahrhunderts  in  Ostwestfalen  und  an  der  mittleren  Weser,  in: 
The  rural  house,  wie  Anm.  12,  S.  76-89,  hier  S.  84. 

145  Werner  Roseler,  Bauern  im  Mittelalter,  Munchen  3 1 9 8 7,  S.  77. 


Bauholzversorgung  auf  dem  Lande  179 

hat  diese  Bauweise  umfassend  untersucht.146  Er  ermittelte,  dass  die  Bestandsdau- 
er  eines  Eichenpfostens  bei  Einwirkung  von  Viehexkrementen  10-100  Jahre  be- 
tragt.  Neu  an  seiner  Untersuchung  war  vor  allem  der  Nachweis  der  Fortdauer  die- 
ser  Bauweise  in  Norddeutschland  bis  in  die  Friihe  Neuzeit  hinein.  Zimmermann 
ist  es  auch  erstmals  gelungen,  unter  den  Standern  eines  Bauernhauses  im  Dorf 
Kohlen  (Ldkr.  Cuxhaven)  Pfosten  eines  Vorgangerhauses  zu  finden.  Die  Pfosten- 
reste  wurden  dendrochronologisch  auf  1502  datiert.147  Wir  fanden  ein  Scheu- 
nengebaude  in  Liidingen  (Ldkr.  Rotenburg),  dessen  Stander  noch  im  unteren 
Bereich  ihre  alte  Pfostenform  erkennen  lassen.  Die  Stander  wurden  spater  (wahr- 
scheinlich  bei  einer  Umsetzung)  abgesagt  und  stehen  jetzt  auf  Findlingsstei- 
nen.148  Das  Gebaude  wurde  dendrochronologisch  auf  „um  1571"  datiert.  Auch 
archivalische  Quellen  stiitzen  inzwischen  die  Annahme  des  langen  Fortdauerns 
der  Pfostenbauweise.  Das  folgende  aussagekraftige  Zitat  stammt  aus  dem  Jahr 
1625  und  wurde  von  Pastor  Antonius  Nothold  in  der  Pfarrchronik  von  Lindhorst 
niedergeschriebenen: 149  Die  Hiitte  aber,  mit  der  sich  die  Vizeplebani  und  Kaplane  in 
friiherer  Zeit  beholfen  haben,  ist  aufgrojien  Pfdhlen,  welche  in  die  Erde  gegraben  waren, 
gebaut gewesen,  wie  ich  solche  Hduser  im  Anfang  meines  Predigtamtes  (1597)  noch  vielge- 
sehen  habe,  welche  seit  der  Zeit  neu  gebaut  worden  sind.  Vor  Sachsenhagen  sindalle  Scheu- 
nen  nach  der  Art  auf  Pfdhle  gebaut  gewesen,  wie  das  noch  an  einigen  heutigen  Pages  zu 
finden  ist. 

Es  liegt  also  nahe,  die  durch  die  Pfostenbauweise  bedingte  geringe  Bestands- 
dauer  fur  das  Verschwinden  nahezu  aller  spatmittelalterlichen  Bauernhauser  ver- 
antwortlich  zu  machen.  Dies  reicht  aber  als  alleinige  Erklarung  fur  das  Phano- 
men  der  ausschlieBlichen  Wiederverwendung  der  Deckenbalken  und  Rahme  in 
den  neuen  Hausern  des  16.  Jahrhunderts  nicht  aus.  Einen  abgefaulten  Stander- 
fuB  hatte  man  absagen  und  durch  Unterfangen  mit  einer  Schwelle  oder  einem 
Steinfundament  im  Verband  weiterverwenden  konnen  (wie  es  bei  dem  Scheu- 
nengebaude  aus  Liidingen  geschah) .  Da  dies  nicht  gemacht  wurde,  bietet  sich  die 
These  an,  dass  diese  alten  Hauser  eine  grundsatzlich  andere,  namlich  geringere 
Standerlange  und  niedrigere  Dielenhohe  hatten.  Die  Stander  waren  nicht  wieder 


146  Haio  Zimmermann,  Pfosten,  Stander  und  Schwelle  und  der  Ubergang  vom  Pfosten- 
zum  Standerbau  -  Eine  Studie  zur  Innovation  und  Beharrung  im  Hausbau,  in:  Probleme  der 
Kiistenforschung  25,  1998,  S.  9-242  hier  S.  180. 

147  Zimmermann,  Pfosten,  wie  Anm.  146  ,  S.  50-55  bzw.  S.  136-137. 

148  Ulrich  KLAGEs/Tassilo  Turner,  Eine  rezente  Scheune  in  Pfostenbauweise  in  Liidin- 
gen, Ldkr.  Rotenburg".  Unveroffentlichter  Vortrag  auf  der  Tagung  „Neue  Wege  zu  alten  Bau- 
ten"  am  1.  November  2002  in  Wilhelmshaven;  Befunddokumentation  veroffentlicht  bei 
Stiewe,  Landliches  Bauen,  wie  Anm.  10,  S.  21-23. 

149  H.  Rusch,  Antonius  Nothold.  Historia  Lindhorstana,  in:  Unsere  schaumburg-lippi- 
sche  Heimat  Heft  12,  Biickeburg  1957;  zitiert  nach  Stiewe,  Fundamentaler  Wandel?,  wie 
Anm.  144,  S.  82-83. 


180  Wolfgang  Dorfler 

zu  verwenden,  nachdem  eine  Nutzungsanderung  eingetreten  war,  die  eine  hohe- 
re  Diele  erforderte.150 

Nach  dieser  neuen  Hypothese  hatte  sich  als  ersten  Schritt  die  Dielenhaltung 
der  Schweine  (Stichwort:  „Deelzucht")  als  auch  die  Aufstallung  der  Kiihe  gean- 
dert.  Die  Kiibbungen  der  altesten  Hauser  waren  so  schmal,  dass  hier  die  Kiihe 
noch  nicht  fixiert  in  Tiefstallen  gestanden  haben  konnen;  das  war  erst  in  den  neu- 
en Hausern  mit  den  breiteren  Kiibbungen  moglich.  Das  Vieh  hatte  in  den  alten 
Hausern  noch  auf  der  Diele  selbst  gestanden  und  auf  den  Balken  hatten  -  ahnlich 
wie  spaterin  den  Schafstallen  -  nurdas  geringe  Winterfutter  und  das  Einstreuma- 
terial  gelagert.  Die  Hauser  waren  vergleichsweise  schmal,  die  Deckenbalken  also 
kiirzer  und  auch  wegen  des  geringen  Gewichts  der  eingelagerten  Giiter  auch 
schmachtiger  gewesen.  Die  Annahme  einer  schwachen  Bauweise  wird  unter- 
stiitzt  durch  den  aus  „Schadenslisten"  iiberlieferten  erstaunlich  geringen  Wert 
der  alten  Bauernhauser. lsl  Sehr  selten  nur  sind  Balken  dieser  Zeitstufe  in  Wieder- 
verwendung  gefunden  worden,  und  dann  wurden  sie  nicht  als  Dielenbalken  son- 
dern  in  anderer  Funktion  eingesetzt.  In  einem  Haus  aus  Otter  (Ldkr.  Harburg) 
wurden  die  Deckenbalken  des  Vorgangerbaus  nur  als  Sparren  weitergenutzt,  da 
sie  fur  die  neue  Diele  zu  kurz  und  diinn  gewesen  waren.152  Auch  die  alten  Balken 
in  Briittendorf  und  Ostereistedt  waren  fur  die  Dielen  der  neu  erbauten  Hauser 
nicht  geeignet,  sie  wurden  an  zusatzlich  unterstiitzter  Stelle  eingebaut. 

Im  15.Jahrhunderts  lassen  sich  mehrere  gravierende  Anderungen  derbauerli- 
chen  Wirtschaftsweise  registrieren:  Ein  bedeutsamer  Riickgang  des  Viehstapels, 
sowohl  die  Schweinehaltung  als  auch  die  Hornviehzahlen  betreffend.  Diese 
Riickgange  waren  Folgen  okologischer  Veranderung  wie  Waldverwiistung  und 
Abnahme  der  Bodenfruchtbarkeit.  Die  steigenden  Bevolkerungszahlen  und  da- 
mit  steigende  Getreidepreise  fiihrten  zur  Ausdehnung  der  Getreideproduktion. 
Die  Getreidemengen  konnten  auf  den  verbesserten  und  vor  allem  sicher  gewor- 
denen  StraBen  iiber  groBere  Entfernungen  transportiert  und  verkauft  werden. 
Der  kleiner  gewordene  Viehstapel  konnte  von  den  Bauernhausdielen  entfernt 
und  in  den  „Zukiibbungen",153  also  den  Abseiten  der  Diele,  gehalten  werden. 

Die  Diele  wurde  verbreitert  und  die  Balkenlage  verstarkt,  um  den  groBeren 
Stapel  an  ungedroschenem  Getreide  im  Haus  selbst  zu  lagern.  Zuvor  hatte  man 


150  Diese  und  die  folgenden  Uberlegungen  wurden  maBgeblich  von  Ulrich  Klages 
entwickelt,  der  sie  aber  aus  gesundheitlichen  Grunden  nicht  mehr  publizieren  konnte. 

151  Klages,  Kours  Hus,  wie  Anm.  121,  S.  128;  J.  F.  Heinrich  Muller,  Bremisch-Liine- 
burgische  Fehden  des  15.Jahrhunderts  und  ihre  Auswirkungen  auf  die  bauerliche  Bevo Ike- 
rung.  Veroffentlichungen  des  Helms-Museums  34,  Harburg  1980. 

152  Klages,  Zweitverwendete  Holzer,  wie  Anm.  129,  S.  35-37. 

153  Ernst  Grohne,  Das  Bauernhaus  im  Bremer  Gebiet.  Ein  Beitrag  zur  Geschichte  der 
niedersachsischen  Bauweise.  Jahresschrift  des  Focke-Museums  Bremen  1941,  S.  74-87. 


Bauholzversorgung  auf  dem  Lande  181 

das  ungedroschene  Getreide  in  separaten  Gebauden  gelagert  und  dort  auch  ge- 
droschen.  Mit  den  nasser  werden  Sommern  der  Friihen  Neuzeit  war  immer  ofter 
unzureichend  getrocknetes  Getreide  eingebracht  worden,  so  dass  von  der  Seite 
her  der  Gedanke  derNachtrocknung  im  beheizten  Bauerhaus  aufgekommen  sein 
mag.154  Die  Lagerung  des  ungedroschenen  Getreides  auf  den  Dachboden  erfor- 
derte  kraftigere  Balken  und  groBere  Dachraume,  denen  die  von  uns  in  Wieder- 
verwendung  gefundenen  Balken  aus  der  Zeit  nach  1520  entsprechen.  Das  Ein- 
bringen  groBer  Getreidemengen  wird  auch  auf  der  Transportseite  zum  Ubergang 
von  einachsigen  relativ  niedrigen  zum  zweiachsigen  hoheren  Wagen  gefiihrt  ha- 
ben.  Dazu  wiederum  passt,  dass  wir  seit  der  spatmittelalterlichen  Zeit  eine  Ver- 
breiterung  der  Einfahrtstore  der  Bauernhauser  registrieren  konnen.155  Die  Diele 
als  zentraler  Raum  des  Hauses  wurde  nun  fur  die  wichtigste  Winterarbeit  auf  den 
Hofen,  das  Dreschen  genutzt.  Dazu  musste  allerdings  die  Hohe  dieses  Raumes 
gegeniiber  den  angenommenen  mittelalterlichen  Verhaltnissen  angehoben  wer- 
den, um  auch  hier  den  Dreschflegel  benutzen  zu  konnen. 

Wie  aber  ist  zu  erklaren,  dass  die  wirklich  erhaltenen  alten  Bauernhauser  des 

15.  Jahrhunderts  wie  das  Haus  in  Wehlburg  bei  Badbergen  von  1480  (d)  bereits 
hohe  Dielen  aufweisen?  Es  konnte  sich  um  die  ersten  diesermodernen  „hochdie- 
ligen"  Bauten  gehandelt  haben,  die  wegen  ihrer  bereits  vollzogenen  Nutzungsan- 
passung  stehen  geblieben  sind.  Die  unpraktisch  gewordenen  „niederdieligen" 
Bauten  wurden  entweder  ganz  ersetzt  oder  ihre  Balkenlage  angehoben  und 
durch  neue,  langere  Stander  unterfangen. 

Zusammenfassung 

Der  Frage  nach  der  Versorgung  der  Bauernhofe  mit  Bauholz  wurde  vorwiegend 
an  Hand  des  erhaltenen  und  in  den  letzten  Jahrzehnten  intensiv  untersuchten 
Baubestandes  nachgegangen.  Die  durch  die  Dendrochronologie  ermoglichte  ge- 
naue  Festlegung  der  Baudaten  erlaubt  es  Konjunktur-  und  Depressionsphasen  im 
landlichen  Hausbau  zu  beschreiben,  welche  wiederum  den  Holzverbrauch  bzw. 
die  Verfiigbarkeit  derRessource  Bauholz  spiegeln.  Dabei  erweist  es  sich,  dass  im 

16.  Jahrhundert  eine  enorme  Baukonjunktur  zu  verzeichnen  ist,  die  bis  in  die  er- 
sten Jahrzehnte  des  17.  Jahrhunderts  reicht.  Im  DreiBigjahrigen  Kriege  wurden 


154  Roseler,  wie  Anm.  146,  S.  83. 

155  Das  Dielentor  des  oben  genannten  Hauses  aus  Otter,  von  dem  die  Balken  als  Spar- 
ren  weiterverwendet  wurden  war  2,10  m  breit  gewesen,  das  Tor  eines  Hauses  von  1535  aus 
Immenbeck  bereits  2,35  m  (Klages,  Zweitverwendete  Holzer,  wie  Anm.  129,  S.  36);  seit 
dem  17.  Jahrhundert  hatten  selbst  Kleinbauernhauser  und  spater  auch  die  Hauslingshauser 
eine  Torbreite  von  mindesten  2,65  m. 


182  Wolfgang  Dorfler 

in  bestimmten  Regionen  zahlreiche  neue  Bauernhauser  errichtet,  wobei  der 
Holzverbrauch  und  die  Prachtentfaltung  ein  bislang  unbekanntes  AusmaB  er- 
reichten.  Hier  scheinen  die  unsicheren  obrigkeidichen  Verhaltnisse  und  die  giin- 
stige  Situation  als  Nahrungsmittelproduzenten  von  den  Bauern  zum  eigenen 
Vorteil  ausgenutzt  worden  zu  sein.  In  der  Schwedenzeit  war  der  landliche  Be- 
reich  von  einer  Depression  betroffen,  die  sich  am  weitgehenden  Fehlen  von  Hau- 
sern  dieser  Zeitstufe  festmachen  lasst. 

Die  Moglichkeiten  der  Bauherren  sich  mit  Holz  zu  versorgen  wird  diskutiert 
und  dabei  sowohl  die  Nutzung  des  Holzes  aus  der  Allmende,  die  zunachst  kosten- 
lose,  spater  kostenpflichtige  Zuweisung  aus  den  Waldern,  der  Handel  mit  FloB- 
holz,  die  Verfiigbarkeit  derHofeichen,  derHolzdiebstahl  und  die  Bestechung  der 
Holzaufseher  in  ihren  Wirkungen  verfolgt.  Als  neu  fiir  die  historische  Diskussion 
wird  die  verbreitete  Wiederverwendung  von  Altholz  in  ihren  wirtschaftlichen, 
rechtlichen  und  hauskundlichen  Aspekten  dargestellt  und  abschlieBend  an  Hand 
von  Bauforschungsbefunden  eine  These  zu  spatmittelalterlichen  Wandlungen 
der  bauerlichen  Wirtschaftsweise  vorgestellt. 


6. 
Vom  Umgang  mit  einer  begrenzten  Ressource 

Wasser  und  Abwasser  in  nordwestdeutschen  Stadten 
des  17.  und  18.  Jahrhunderts 

Von  Olaf  Grohmann 


Wasserversorgung  und  Abwasserentsorgung 

Wasser  ist  die  entscheidende  Lebensgrundlage  fiir  Pflanzen,  Tiere  und  Men- 
schen.  Wasser  ermoglicht  Leben,  absolute  Trockenheit  schlieBt  organische  Pro- 
zesse  aus. 1  Neben  seiner  Bedeutung  als  Lebensmittel  hat  Wasser  wesentliche  wei- 
tere  Funktionen,  von  denen  einige  im  Verlauf  der  historischen  Entwicklung  ei- 
nen  Bedeutungswandel  erfahren  haben.  Auch  die  Technik  der  Wasserbeschaf- 
fung  und  die  damit  verbundenen  Probleme  anderten  sich.  Die  Oberflache  der 
Erde  ist  zu  zwei  Dritteln  von  Wasser  bedecktjedoch  nur2,6  Prozent  derGesamt- 
menge  sind  SuB wasser.  Mit  2,062  Prozent  ist  der  groBte  Teil  des  SiiBwassers  im 
Polar-  und  Gletschereis  gebunden,  0,58  Prozent  entfallen  auf  Grundwasser  und 
Bodenfeuchte.  Das  Wasser  in  Fliissen  und  Seen  macht  nur  0,009  Prozent  aus, 
dasjenige  in  Biomasse  und  Atmosphare  0,001  Prozent.2  Nutzbar  fiir  den  Men- 
schen  ist  nur  der  Teil  des  Wassers,  der  sich  langfristig  im  hydrologischen  Kreis- 
lauf  immer  wieder  erneuert.  Dieser  so  genannte  jahrliche  Gesamtabfluss  belauft 
sich  auf  40.000  Kubikkilometer  und  bildet  zusammen  mit  dem  Grundwasser  das 
zur  Verfiigung  stehende  Volumen.3  Rein  rechnerisch  wiirde  dieser  Vorrat  fiir  ei- 
ne  globale  Gesamtbevolkerung  von  zehn  Milliarden  Menschen  mit  einem  jahrli- 
chen  Pro-Kopf-Verbrauch  von  4.000  Kubikmetern  ausreichen.4  Problematisch 
sind  dabei  jedoch  die  Bereitstellung  und  Verteilung  des  Wassers  sowie  die  Was- 
serqualitat.  Wahrend  es  seit  dem  Bestehen  stadtischer  Ansiedlungen  stets  darum 


1  Hartmut  Bossel  u.  a.,  Wasser,  Frankfurt  1982,  S.  5  u.  Giinther  Garbrecht,  Wasser. 
Vorrat,  Bedarf,  Nutzung  in  Geschichte  und  Gegenwart,  Reinbek  bei  Hamburg  1985,  S.  31. 

2  Werner  Katzmann/ Sebastian  Kux/Elfriede  Kasperowski,  Wasser,  o.  O.  1988,  S.  22. 

3  Bruno  Fritsch,  Mensch-Umwelt-Wissen.  Evolutionsgeschichtliche  Aspekte  des  Um- 
weltproblems,  Zurich / Stuttgart  1990,  S.  24. 

4  Ebd.,  S.  24-25. 


184  Olaf  Grohmann 

ging,  trinkbares  Wasser  in  ausreichender  Menge  zu  beschaffen,  ist  es  heute  in  den 
Industrielandern  problematisch,  Trinkwasser  von  Schadstoffen  aller  Art  zu  be- 
freien,  die  durch  Privathaushalte,  industrielle  Produktion  und  Landwirtschaft 
hineingelangen.5  In  vielen  Entwicklungs-  und  Schwellenlandern  hingegen  ist 
mangels  technischer  Moglichkeiten  oder  fehlender  Ressourcen  nur  schwerlich 
sauberes  Trinkwasser  zu  beschaffen,  sodass  ein  groBer  Teil  der  Weltbevolkerung 
keinen  Zugang  dazu  hat. 

In  der  Bundesrepublik  Deutschland  liegt  der  personliche  Wasserverbrauch  im 
Durchschnitt  bei  etwa  130  Litem  pro  Tag  und  Person.  Davon  werden  nur  drei  Li- 
ter zum  Trinken  und  Kochen  genutzt,  der  groBte  Teil  hingegen  fiir  Toilettenspii- 
lung,  Baden,  Duschen,  Waschen,  Gartenbewasserung  und  Autopflege.  Den  groB- 
ten  Anteil  am  gesamten  Wasserverbrauch  haben  die  Kraftwerke,  gefolgt  von  Ge- 
werbe,  Industrie,  Bergbau  und  Landwirtschaft,  die  zusammen  auf  rund  86 
Prozent  kommen.  Die  offentliche  Wasserversorgung,  worunter  auch  der  Bedarf 
der  Privathaushalte  fallt,  schlagt  mit  knapp  14  Prozent  zu  Buche.6  Das  genutzte 
Wasseraufkommen  besteht  zu  75  Prozent  aus  Grundwasser,  zu  10  Prozent  aus 
Quellen.  Der  Rest  stammt  aus  Talsperren,  Seen  und  Fliissen  und  wird  zum  Teil 
aus  Uferfiltrat  gewonnen.7 

Die  Beschaffung  von  Wasser  stellt  seit  Beginn  urbaner  Zivilisation  einen  Pro- 
blemfaktor  dar,  sei  es  in  qualitativer  oder  quantitativer  Hinsicht.  Die  Beseitigung 
von  Schmutz  und  die  diesbeziiglichen  Probleme  sind  untrennbar  damit  verbun- 
den.  Eine  wesentliche  Zasur  im  Kontext  stadtischer  Wasserversorgung  und  Ab- 
wasserentsorgung  bildet  das  19.  Jahrhundert.  Unter  dem  Eindruck  immenser  hy- 
gienischer  Probleme  erfolgte  die  Zentralisierung  der  Ver-  und  Entsorgungs- 
einrichtungen.  Damit  verschwand  das  seit  dem  Mittelalter  nahezu  unverandert 
bestehende  System  einer  dezentralen  Versorgung  aus  Grundwasserbrunnen  und 
erganzenden  Zuleitungen  von  Quell-  oder  Flusswasser.8  In  diesem  Zusammen- 
hang  reduzierte  sich  auch  die  Funktionalitat  von  Wasser  weitgehend  auf  Beschaf- 
fung und  Entsorgung  unter  hygienischen  Aspekten.  Abgesehen  davon,  dass  in 
der  friihen  Neuzeit  noch  keine  bakteriologischen  Kenntnisse  vorhanden  waren, 
war  die  Funktion  von  Wasser  als  Mittel  der  Entsorgung  nur  eine  unter  vielen.  Es 
diente  als  wichtigste  Energiequelle,  es  war  Mittel  der  Gestaltung,  Representation, 
Unterhaltung  und  erfiillte  erhebliche  Aufgaben  auf  dem  Sektor  der  Verteidigung. 

Rommelspacher  hat  dargelegt,  dass  in  den  mitteleuropaischen  Stadten  vom 


5  Norman  Smith,  Man  and  Water.  A  History  of  Hydro-Technology,  o.  O.  1975,  S.  209  f. 

6  Tom  Koenigs  (Hrsg.),  Das  Wasserspar-Buch,  Niedernhausen  Ts.  1998,  S.  13-16. 

7  Ebd.,  S.  16-18. 

8  Thomas  Rommelspacher,  Das  naturliche  Recht  auf  Wasserverschmutzung,  in:  Franz- 
Josef  Bruggemeieru.  a.  (Hrsg.),  Besiegte  Natur.  Geschichte  derUmwelt  im  19.  und  20.  Jahr- 
hundert, Miinchen  1987,  S.  43. 


Vom  Umgang  mit  einer  begrenzten  Ressource  185 

Mittelalter  bis  in  das  19.  Jahrhundert  hinein  eine  kombinierte  Wasserversorgung 
aus  innerstadtischen  Grundwasserbrunnen  und  erganzenden  Zuleitungen  von 
Quell-  und  Flusswasser  durch  Holzrohrensysteme  iiblich  war.9  Die  Grundwasser- 
brunnen reichten  zur  Deckung  des  Grundbedarfs  aus,  zusatzlich  bestand  die 
Moglichkeit  des  Schopfens  aus  Wasserlaufen.  Diese  Form  der  Wasserbeschaffung 
ist  stadtgeschichdich  die  alteste  Versorgungsart.  Vereinzelt  schon  seit  dem  14. 
Jahrhundert,  hauptsachlich  aberim  16.  Jahrhundert  kamen  Versorgungssysteme 
auf  der  Basis  von  Quell-  oder  Flusswasser  hinzu.  Sie  dienten  gewohnlich  gewerb li- 
chen Zwecken,  wie  dem  Brauen,  und  waren  Mittel  der  Stadtgestaltung,  oft  in 
Form  von  Laufbrunnen.  Das  Quellwasser  gelangte  von  auBerhalb  durch  Gra- 
vitationsleitungen  in  die  Stadte,  das  Flusswasser  mithilfe  von  Pumpwerken,  so 
genannter  Wasserkiinste.  Die  Art  und  Weise  der  Wasserbeschaffung  hing  wesent- 
lich  von  den  geographischen  und  geologischen  Gegebenheiten  ab.  Im  norddeut- 
schen  Flachland  waren  Flusswasserpumpwerke  meist  effektiver  als  Quellwasser- 
leitungen,  die  nur  mit  Hilfe  groBerer  Gefallstrecken  hinreichend  funktionierten, 
wenn  eine  ausreichende  Quellschiittung  vorhanden  war.  Einige  Beispiele  ver- 
deutlichen  diesen  Sachverhalt. 

Die  Stadt  Braunschweig  verfiigte  iiber  Schopf-  und  Ziehbrunnen  sowie  Was- 
serentnahmestellen  an  der  Oker  bzw.  den  Okerkanalen.  Ferner  existierten  zehn 
so  genannte  Wassergange.  Dabei  handelte  es  sich  um  Schopfstellen,  die  baulich 
be-  festigt  waren  und  als  gemeinschaftliches  Eigentum  von  einer  groBeren  Zahl 
von  Einwohnern  genutzt  wurden.10  Bereits  seit  dem  Mittelalter  versorgten  drei 
Quellwasserleitungen,  aus  Holzrohren  bestehend,  die  Stadt.  Zwischen  1525  und 
1565  entstanden  insgesamt  sieben  Wasserkiinste,  von  denen  sechs  jeweils  am  Un- 
terwasser  der  Mahlmiihlen  angelegt  waren.  Die  siebte,  erbaut  1565,  erhielt  ein  ei- 
genes  Stauwehr.  Die  Finanzierung  und  Verwaltung  der  Wasserkiinste  erfolgte 
durch  private  Interessengemeinschaften,  „Piepenbruderschaften"  genannt.11  Je- 
des  Mitglied  der  sieben  Piepenbruderschaften  zahlte  einen  genau  festgelegten 
Anteil  fur  die  Bau-  und  Betriebskosten  des  Pumpwerks  und  erhielt  einen  entspre- 
chenden  Anteil  an  der  zur  Verfiigung  stehenden  Wassermenge.  Die  Piepenbru- 
derschaften, die  im  Wesentlichen  dem  Kreis  derBrauer  entstammten,  gaben  sich 
eigene  Satzungen,  die  vom  Rat  bestatigt  werden  mussten.  Als  Gegenleistung  fur 
ihre  Sonderrechte  hatten  sie  in  der  Stadt  50  Notbrunnen  zu  unterhalten.12  Dabei 
handelte  es  sich  um  Entnahmestellen  fur  den  Brandfall. 


9  Ebd. 

10  Wilhelm  Appelt  /  Theodor  Muller,  Wasserkiinste  und  Wasserwerke  der  Stadt  Braun- 
schweig, Braunschweig  1964,  S.  32. 

11  Ebd.,  S.  7-78. 

12  Ebd. 


186  Olaf  Grohmann 

Auch  in  Hildesheim  erfolgte  die  Versorgung  durch  Grand-,  Quell-  und  Fluss- 
wasser,  auch  hier  bestand  eine  nachbarschaftliche  Organisation.  Der  Auf- 
schwung  des  Braugewerbes  machte  Anfang  des  15.  Jahrhunderts  den  Bau  einer 
Holzrohrenleitung  notwendig,  die  von  der  Wasserkunst  am  Ostertor  gespeist 
wurde  und  die  42  offentliche  sowie  38  private  Zapfstellen  versorgte.  Hinzu  ka- 
men  17  Notbrunnen.  Im  Laufe  des  16.  und  17.  Jahrhunderts  erfolgte  der  Ausbau 
der  Hildesheimer  Wasserversorgung  durch  weitere  Rohrleitungen.  Ahnlich  wie 
in  Hannover,  erfolgte  die  Wasserverteilung  iiber  einen  Brunnen  auf  dem  Markt- 
platz,  Pfeifenborn  genannt.13 

Um  1530  entstand  in  Celle  eine  erste  Flusswasserkunst,  die  hauptsachlich  dem 
Zweck  des  Bierbrauens  diente  und  das  Wasser  durch  eine  Holzrohrenleitung  ver- 
teilte.14  Parallel  dazu  existierte  eine  groBere  Anzahl  von  Brunnen,  die  mit  Pum- 
pen,  sogenannten  Zucken,  versehen  waren.  Die  Celler  Wasserkunst  wurde  1668 
grundlegend  erneuert  und  blieb  bis  1898  in  Betrieb.15 

Die  Stadt  Goslar  verfiigte  aufgrund  der  geologischen  Gegebenheiten  kaum 
iiber  Grundwasserbrunnen.  Hier  erfolgte  die  Versorgung  durch  Quellen  und  Ge- 
birgsbache.  Das  Wasser  wurde  anfangs  in  offenen  Rinnen,  spaterin  Holzrohrlei- 
tungen  in  die  Stadt  geleitet  und  verteilt.16  Bedingt  durch  die  geographische  Lage, 
konnte  eine  ausreichende  Versorgung  hier  durch  Quellwasserleitungen  gesichert 
werden,  ein  Pumpwerk  war  nicht  erforderlich. 

Die  Wasserversorgung  der  Stadt  Hannover  basierte  ebenfalls  auf  einer  Kombi- 
nation  verschiedener  Versorgungsanlagen,  auf  die  an  anderer  Stelle  noch  naher 
einzugehen  sein  wird.  Die  nur  kurz  skizzierten  Beispiele  verdeutlichen,  dass  die 
stadtische  Grundversorgung  abgesehen  von  der  direkten  Entnahme  aus  Gewas- 
sern,  mittels  Brunnen  erfolgte.  Der  dariiber  hinausgehende  Bedarf  konnte  nur,  je 
nach  geographischer  Lage,  mithilfe  von  Quellwasserzuleitungen  oder  Flusswas- 
serpumpwerken  gedeckt  werden.  In  einigen  Fallen  gab  es  auch  eine  Kombinati- 
on  von  beidem. 

Zum  Beleg  seien  einige  Beispiele  genannt,  die  nicht  dem  Bereich  des  heutigen 
Niedersachsen  entstammen.  Liibeck  verfiigte  schon  ab  1294  iiber  eine  Wasser- 
kunst, die  ebenfalls  auf  Initiative  der  ortlichen  Brauer  entstand.17  Im  Jahr  1394 
lieB  eine  so  genannte  Wasserrad-Gesellschaft  in  Bremen  an  der  Weser  eine  Was- 


13  Annette  Flos,  Wasserkunst  und  Wasserwerk.  Hildesheimer  Wasserversorgung  im 
Wandel  der  Zeit,  Hildesheim  1992,  S.  27-40. 

14  Klaus  Altmann,  Die  Celler  Wasserversorgung.  Von  der  Wasserkunst  zum  modernen 
Wasserwerk,  Celle  1981,  S.  27-55. 

15  Ebd. 

16  Otto  Flachsbart,  Geschichte  der  Goslarer  Wasserwirtschaft,  Goslar  1928,  S.  11-20. 

17  Torsten  Ludecke,  Vom  Brunnenwasser  zum  „Kunstwasser"  -  die  Wasserversorgung 
im  mittelalterlichen  und  friihneuzeitlichen  Liibeck,  Liibeck  1980,  S.  99. 


Vom  Umgang  mit  einer  begrenzten  Ressource  187 

serkunst  anlegen.18  Neben  vielen  Grundwasserbrunnen  verfiigte  die  Stadt  iiber 
Pumpereien,  Handpumpen  an  der  Weser,  zur  Deckung  des  Grundbedarfs.19  In 
Hamburg  gab  es  zusatzlich  zu  den  Grundwasserbrunnen  die  Moglichkeit  der 
Wasserentnahme  aus  den  Fleeten.  Seit  dem  15. Jahrhundert  existierten  genossen- 
schaftlich  betriebene  Quellwasserleitungen,  die  allerdings  nicht  ausreichten,  um 
den  Bedarf  zu  decken.  Im  16.  Jahrhundert  entstanden  daher  drei  Wasserkiinste, 
die  ebenfalls  von  Interessentengemeinschaften  unterhalten  wurden.20  Abschlie- 
Bend  sollen  noch  zwei  Beispiele  aus  dem  siiddeutschen  Raum  angefiihrt  werden. 
Stuttgart  erhielt  das  benotigte  Wasser,  neben  der  Versorgung  aus  Schopf-  und 
Ziehbrunnen,  iiber  Quellwasserleitungen.21  Zur  Versorgung  Miinchens  wurden 
nach  1400  verschiedene  Quellen  auBerhalb  der  Stadt  erschlossen.  Ab  1511  ent- 
standen so  genannte  Brunnenhauser,  Pumpwerke,  die  Grund-  und  Quellwasser 
in  die  Stadt  forderten.  Die  damit  gespeisten  Laufbrunnen  in  den  Hofen  der  ange- 
schlossenen  Hauser  waren  standig  in  Betrieb.22 

In  den  Stadten  der  vorindustriellen  Zeit  war  die  Beschaffung  von  Wasser  weit- 
gehend  Privatsache,  stand  aber  unter  stadtischer  Aufsicht.  Erst  im  Verlauf  des  19. 
Jahrhunderts  wurde  die  Versorgung  zur  rein  kommunalen  Aufgabe.  In  diesem 
Kontext  erfolgte  die  Zentralisierung  der  Versorgungseinrichtungen  unter  indu- 
striellen  Gesichtspunkten.  Wasser  war  nun  in  groBerMenge  verfiigbar,  es  wandel- 
te  sich  zu  einem  Produkt,  das  verkauft  wurde  und  dessen  Preis  umso  geringer 
wurde,  je  groBerdie  bezogene  Menge  war.23  Im  Verlauf  der  Entwicklung  hat  sich 
beziiglich  der  Wassernutzung  ein  erheblicher  Wandel  vollzogen.  Neben  seiner 
wichtigsten  Funktion  als  Lebensmittel  ist  es  heute  hauptsachlich  auf  dem  Pro- 
duktionssektor  und  als  Mittel  der  Hygiene  sowie  Entsorgung  von  Bedeutung.  Bis 
zum  Ende  der  friihen  Neuzeit  spielten  die  letztgenannten  Bereiche  eine  eher 
untergeordnete  Rolle. 

Dennoch  stellten  Fragen  der  Entsorgung  schon  immer  einen  wesentlichen  Pro- 
blemfaktor  urbaner  Umwelt  dar.  Die  Versorgung  mit  Wasser  ist  eine  Lebensnot- 
wendigkeit  fur  jede  Ansiedlung,  die  Abwasserableitung  ist  ein  notwendiges  Ubel. 


18  Herbert  Schwarzwalder,  Das  Wasserrad  an  der  Bremer  Weserbriicke,  in:  Alfred 
Loehr,  Wasser.  Zur  Geschichte  der  Trinkwasserversorgung  in  Bremen,  Bremen  1989,  S.  16. 

19  Ebd.,  S.  65. 

20  Cornelia  Moeck-Schlomer,  Wasser  zu  FuB,  in:  Herbert  Hotte,  Wasser  fur  Hamburg. 
Zur  Geschichte  der  Hamburger  Wasserversorgung  und  -entsorgung,  Hamburg  1992,  S.  14-21 
u.  Alfred  Meng,  Die  Geschichte  der  Hamburger  Wasserversorgung,  Hamburg  1993,  S.  31. 

21  Jiirgen  Hagel,  Mensch  und  Wasser  in  der  alten  Stadt.  Stuttgart  als  Beispiel  und  Mo- 
dell,  in:  Die  alte  Stadt  Jg.  14,  1987,  S.  127-128. 

22  Michael  Schattenhofer,  Die  offentlichen  Brunnen  Miinchens,  in:  Otto  Josef  Bi- 
strizki,  Brunnen  in  Miinchen,  Miinchen  1980,  S.  10-14. 

23  Vgl.  dazu  Olaf  Grohmann,  Geschichte  der  Wasser-  und  Energieversorgung  der  Stadt 
Hannover,  Hannover  1991,  S.  52-81  u.  173-174. 


188  Olaf  Grohmann 

Beide  Bereiche  sind  seit  jeher  miteinander  verbunden.24  Die  Abwasserableitung 
ist  nur  ein  Teil  des  Entsorgungsaufkommens,  das  aus  Regen-  und  Schmutzwasser, 
Fakalien  und  sonstigen  Abfallen  aller  Art  besteht.  Grundsatzlich  hat  sich  seit 
dem  Bestehen  stadtischer  Ansiedlungen  daran  nichts  geandert,  im  Lauf  der  Ent- 
wicklung  traten  aber  Veranderungen  beziiglich  der  Menge  und  Zusammenset- 
zung  des  Entsorgungsaufkommens  auf,  die  Verfahrensweisen  wurden  geandert. 
Ein  Wandel  vollzog  sich  seit  Ende  des  19.  Jahrhunderts  im  Zusammenhang  mit 
Industrialisierung  und  Stadtewachstum.  Durch  die  Einfiihrung  zentraler  Wasser- 
versorgungseinrichtungen  stand  mehr  Wasser  zur  Verfugung,  dadurch  nahm 
zwangslaufig  das  Schmutzwasseraufkommen  zu,  die  Einrichtung  effektiver  Kana- 
lisationsanlagen  wurde  notwendig. 

Seit  Beginn  des  20.  Jahrhunderts  ist  die  stadtische  Entsorgung  gepragt  durch 
unterirdische  Ableitung  von  Schmutz-  und  Regenwasser  sowie  Fakalien  auf  dem 
Wege  der  Misch-  oder  Trennkanalisation,  Reinigung  der  Abwasser,  kommunal 
organisierte  StraBenreinigung,  Miillabfuhr  und  Deponierung.  Vor  Beginn  der  In- 
dustrialisierung war  das  Entsorgungsaufkommen  naturgema.6  wesentlich  gerin- 
ger.  Die  zur  Verfugung  stehende  Wassermenge  war  nicht  sehr  groB,  Fakalien 
wurden  nicht  weggeschwemmt,  sondern  dienten  als  Diinger  und  auch  das  Miill- 
aufkommen  war  nicht  erheblich,  da  viele  Materialien  wieder  verwendet  wur- 
den.25 Der  groBte  Problemfaktor  der  Abwasserableitung  war  die  Tatsache,  dass 
es  bis  weit  in  das  19.  Jahrhundert  hinein  kaum  unterirdische  Rohrsysteme  gab, 
sondern  die  Ableitung  oberirdisch  durch  Abziige  in  den  StraBen  erfolgte.  Somit 
war  die  Funktionsfahigkeit  dieses  Verfahrens  vom  jeweiligen  Zustand  der  Stra- 
Ben abhangig. 

Die  meisten  europaischen  Stadte  des  Mittelalters  waren  landwirtschaftlich  ge- 
pragt und  verfiigten  anfangs  nicht  iiber  gepflasterte  StraBen.26  Im  Gebiet  nord- 
lich  der  Alpen  begann  die  StraBenpflasterung  im  spaten  13.  Jahrhundert.27  Ein- 
fachste  Entsorgungsmoglichkeiten  dermittelalterlichen  Stadte  waren  Fliisse  oder 
Seen.  Abtritte  wurden  oft  iiber  Wasserlaufen  oder  Abtrittgruben  angelegt.28  Die 
Regenwasserableitung  erfolgte  durch  einfache  Graben  in  den  StraBen,  ab  Mitte 
des  13.  Jahrhunderts  dienten  dazu  auch  gemauerte  Rinnen,  die  teilweise  iiber- 


24  Vgl.  dazu  Leopold  u.  Roma  Schua,  Wasser  -  Lebenselement  und  Umwelt.  Die  Ge 
schichte  des  Gewasserschutzes,  Freiburg  i.  Br.  1981,  S.  80-81. 

25  Wolfgang  Schwarz,  Die  Bedeutung  des  Wassers  in  Mittelalter  und  Neuzeit,  Leer 
1996,  S.  163  u.  Peter  Munch,  Stadthygiene  im  19.  u.  20.  Jahrhundert,  Gottingen  1993,  S.  24. 

26  Schua,  wie  Anm.  24,  S.  94. 

27  Gottfried  Hosel,  Unser  Abfall  aller  Zeiten.  Eine  Kulturgeschichte  der  Stadtereini- 
gung,  Miinchen  1987,  S.  49  u.  53-62. 

28  Martin  Illi,  Wasserentsorgung  in  spatmittelalterlichen  Stadten,  in:  Die  alte  Stadt, 
Jg.  20,  1993,  S.  222. 


Vom  Umgang  mit  einer  begrenzten  Ressource  189 

deckt  waren.  Probleme  bereiteten  das  ungeniigende  Gefalle  und  die  geringe  Tie- 
fe  der  Rinnen,  die  bei  Frost  einfroren.29  Die  Entsorgung  von  Hausabfallen  und 
Fakalien  war  Privatsache  und  erfolgte  mittels  Abort-  und  Abfallgruben  auf  den 
Grundstiicken.30  Unrat  wurde  seit  dem  13.Jahrhundert  auch  auf  Deponieplatzen 
gesammelt  und,  soweit  moglich,  wieder  verwendet,  aber  auch  in  Fliisse  entsorgt. 
Letzteres  gait  ebenfalls  fiir  Exkremente,  soweit  sie  nicht  als  Diinger  verwendet 
wurden,  sowie  fiir  Tierkadaver.31 

Durch  die  raumliche  Enge,  die  wirtschaftlich  notwendige  Viehhaltung  und  die 
storungsanfalligen  Entsorgungseinrichtungen  diirften  die  hygienischen  Verhalt- 
nisse  in  den  mittelalterlichen  Stadten  nach  heutigen  MaBstaben  schlecht  gewe- 
sen  sein.  Doch  wurde  versucht,  die  Verhaltnisse  durch  entsprechende  Verord- 
nungen  zu  verbessern.  Im  14.  Jahrhundert  kam  allmahlich  eine  Art  Miillabfuhr  in 
Gang,  verbunden  mit  MaBnahmen  zur  StraBenreinigung.32  Das  beschriebene 
Entsorgungssystem  mit  oberirdischer  Regen-  und  Schmutzwasserableitung,  Ab- 
fuhr  von  Unrat  und  Sammlung  von  Fakalien  in  Gruben  bestand  auch  in  den  Stad- 
ten der  friihen  Neuzeit  fort. 

Die  Entsorgung  von  Fakalien,  Abfallen  und  Abwasser  war  strikt  nach  dem  Ver- 
ursacherprinzip  geregelt.33  Idealtypisch  gait  dabei  eine  Trennung  des  Entsor- 
gungsaufkommens.  Schmutzwasser  konnte  zusammen  mit  Regen-  und  Schmelz- 
wasser  iiber  die  Gossen  der  StraBen  oberirdisch  abgeleitet  werden,  unterirdische 
Kanale  waren  die  Ausnahme.  Menschliche  und  tierische  Exkremente  mussten  in 
Gruben  respektive  Misthaufen  gesammelt  und  von  Zeit  zu  Zeit  aus  der  Stadt  ge- 
bracht  werden.  Gleiches  gait  fiir  Abfalle  aller  Art.  Eine  wichtige  Rolle  spielte  im 
Kontext  der  Abwasserableitung  die  StraBenreinigung,  da  sie  fiir  die  Funktions- 
fahigkeit  der  Entwasserung  von  groBer  Bedeutung  war.  Mit  einer  gewissen  Va- 
riationsbreite  war  dieses  System  der  Entsorgung  in  alien  mittelalterlichen  und 
fruhneuzeitlichen  Stadten  iiblich.  In  der  Praxis  bereitete  die  Einhaltung  jedoch 
haufig  Probleme.  Insbesondere  Wasserlaufe  waren  beliebte  Deponien  fiir  Ex- 
kremente und  Abfalle.  Seit  dem  17.  Jahrhundert  existierte  im  Bereich  der  Ent- 
sorgung eine  zunehmende  offentliche  Kontrolle.  Im  Lauf  des  18.  Jahrhunderts 
wurden  die  Bemiihungen  um  die  Sauberkeit  der  Stadte  jedoch  intensiviert, 
Entsorgung  zunehmend  als  kommunale  Aufgabe  begriffen.34  Das  Prinzip  des 
Wegschwemmens  von  Abfall  und  auch  Fakalien  fand  verstarkt  Verwendung,  ver- 


29  Munch,  wie  Anm.  25,  S.  24. 

30  Schwarz,  wie  Anm.  25,  S.  164. 

31  Schua,  wie  Anm.  24,  S.  103  u.  Schwarz,  wie  Anm.  25,  S.  165-166. 

32  Hosel,  wie  Anm.  27,  S.  49  u.  53-62. 

33  Ulf  Dirlmeier,  Zu  den  Lebensbedingungen  in  der  mittelalterlichen  Stadt,  in:  Bernd 
Herrmann  (Hrsg.),  Mensch  und  Umwelt  im  Mittelalter,  Stuttgart  1986,  S.  154. 

34  Schua,  wie  Anm.  24,  S.  186. 


190  Olaf  Grohmann 

bunden  allerdings  mit  steigender  Gewasserbelastung.35  Die  im  Lauf  des  19.  Jahr- 
hunderts  erheblich  wachsenden  Stadte  mit  ihrer  zunehmenden  Bevolkerung 
machten  weitergehende  MaBnahmen  auf  dem  Sektor  der  Entsorgung  fliissiger 
und  fester  Abfalle  notwendig.  Unter  dem  Eindruck  groBer  hygienischer  Proble- 
me,  aber  auch  auf  der  Basis  neuer  wissenschaftlicher  Erkenntnisse  setzte  sich 
nach  1870  die  Schwemmkanalisation  durch,  seit  Beginn  des  20.  Jahrhunderts  all- 
gemein  verbunden  mit  MaBnahmen  der  Abwasserbehandlung.36 

Die  Modalitaten  der  Abwasserentsorgung  sind  fur  die  friihneuzeitlichen  Stadte 
Nordwestdeutschlands  nursparlich  dokumentiert.  Zwarfinden  sich  Hinweise  auf 
den  Umgang  mit  Abwasser  und  Abfall  in  den  stadtischen  Verordnungen,  auch 
die  im  Fall  von  VerstoBen  gegen  die  Vorschriften  verhangten  Strafen  sind  iiber- 
liefert.  Hinsichtlich  der  baulichen  Einrichtungen  liegen  jedoch  nur  in  wenigen 
Fallen  umfangreiche  Auswertungen  vor.  Es  ist  davon  auszugehen,  dass  Schmutz- 
wasser  als  so  genanntes  Oberflachenwasser  dem  Gefalle  der  StraBen  folgend  in 
die  Stadt-  und  Verteidigungsgraben  sowie  in  die  Fliisse  gelangte.  Fiir  Celle  findet 
sich  der  Hinweis,  eine  geregelte  Abwasserableitung  und  Abfallentsorgung  sei 
nicht  vorhanden  gewesen.37  Auch  in  Goslar  scheint  es  keine  systematische  Ent- 
wasserung  gegeben  zu  haben.  Sofern  es  nicht  in  den  vorhandenen  Sickergruben 
aufgefangen  wurde,  lief  das  Abwasser  iiber  die  StraBen  ab  und  fand  so  seinen 
Weg  in  die  Vorfluter.  Eine  umfangreichere  Uberlieferung  existiert  fiir  die  bauli- 
chen Einrichtungen  der  Abwasserentsorgung  der  Stadt  Hannover.  Im  folgenden 
Abschnitt  soil  darauf  sowie  auf  die  Wasserversorgungseinrichtungen  anhand  ei- 
niger  Beispiele  naher  eingegangen  werden. 

Das  Beispiel  Hannover 

Die  Versorgung  mit  Flusswasser 

In  erster  Linie  zur  Beschaffung  von  Brauwasser  entstand  in  der  hannoverschen 
Altstadt  im Jahr  1535  eine  relativ  leistungsfahige  Wasserkunst,38  deren  Inbetrieb- 
nahme  aber  nicht  den  Anfangspunkt  der  hannoverschen  Flusswasserversorgung 
darstellt,  sondern  eher  eine  quantitative  Verbesserung  der  Versorgungssituation 
herbeifiihrte.  Schon  langere  Zeit  davor  gab  es  Anlagen  zur  Flusswasserversor- 
gung, iiber  die  allerdings  aus  der  Uberlieferung  keine  vollstandige  Klarheit  zu  er- 
langen  ist. 


35  Ebd.,  S.  186  u.  188. 

36  Hosel,  wie  Anm.  27,  S.  111. 

37  Altmann,  wie  Anm.  14,  S.  54-55. 

38  HStAH   (Niedersachsisches  Landesarchiv  Hauptstaatsarchiv  Hannover)   Hann.  51 
Nr.  247  I. 


Vom  Umgang  mit  einer  begrenzten  Ressource  191 

Grupen  erwahnt  in  seinen  Aufzeichnungen  einen  stadtischen  Wasserhof  mit 
Wasserpforte  und  Wasserzucht,39  wobei  es  sich  um  einen  umzaunten  Platz  ge- 
handelt  haben  diirfte,  an  dem  Wasser  aus  der  Leine  entnommen,  und  von  dem 
aus  es  in  die  Stadt  geschafft  wurde.  Noldeke  nennt  neben  der  stadtischen  „Water- 
tucht",  die  er  auf  dem  Werder  zwischen  den  Leinearmen  lokalisiert,  noch  „den  II- 
tenschen  Wasserhof  beim  Minoritenkloster"  und  eine  „Watertucht  am  Himmel- 
reiche",  nach  deren  Anlage  1487  die  stadtische  „Watertucht"  eingegangen  sei.40 
Ebenfalls  nach  Noldeke  entstand  im  Jahr  1468  hinter  dem  Iltenschen  Wasserhof 
in  der  Verlangerung  der  DammstraBe  ein  Schopfrad,  das  Wasser  in  einen  Behal- 
ter  forderte,  von  wo  aus  es  durch  eine  Holzrohre  in  den  Brunnen  auf  dem  Markt 
gelangte.  Von  dort  verteilte  es  sich  durch  Nebenrohren  in  die  Stadt  und  konnte 
gegen  Zahlung  eines  Bornzinses  genutzt  werden.41  Miiller  geht  von  der  Existenz 
eines  Schopfrades  bereits  seit  1352  aus,  wobei  das  geforderte  Wasser  in  Fasser  ab- 
gefiillt  und  mittels  Fuhrwerken  zu  den  Abnehmern  gebracht  worden  sein  soil.42 
Dariiber  hinaus  erwahnt  er  eine  Winde  mit  eisernen  Ketten  zur  Wasserforderung 
als  technische  Weiterentwicklung.43  Das  im  Jahr  1468  errichtete  Wasserrad  be- 
schreibt  Mithoff  als  Straubrad  mit  SchopfgefaBen  an  einer  Seite  der  Felgen,  die 
das  Wasser  in  einen  „Kump"  neben  dem  Rad  gossen  und  so  ein  Leitungsrohren- 
system  speisten.44  In  seiner  Darstellung  des  Finanzwesens  der  Stadt  Hannover  im 
Mittelalter  erwahnt  VoB  den  fur  diese  Art  der  Wasserversorgung  zu  zahlenden 
Bornzins.45 

Aus  dem  kurzen  geschichtlichen  Abriss,  der  den  Wasserkunst-Administra- 
tionsregistern  der  Altstadt  aus  dem  spaten  18.  Jahrhundert  vorausgeht,  ist  zu  ent- 
nehmen,  dass  noch  zu  Beginn  des  16.  Jahrhunderts  Wasser  in  Fassern  zu  den 
Abnehmern  gefahren  wurde.46  Offensichtlich  gab  es  vor  1535  mehrere  Einrich- 
tungen  zur  Flusswasserversorgung  in  Hannover,  die  parallel  genutzt  wurden.  Ei- 
ne Erklarung  dafiir  bietet  die  Vermutung,  dass  keine  der  erwahnten  Vorrichtun- 
gen  allein  den  Wasserbedarf  decken  konnte.  Die  GroBe  der  zum  Wassertransport 
benutzten  Fasser  war  logischerweise  begrenzt,  und  auch  die  Forderkapazitat  des 

39  Christian  Ulrich  Grupen,  Origines  et  antiquitates  Hanoverenses,  Gottingen  1740, 
S.  394. 

40  Arnold  Noldeke,  Die  Kunstdenkmaler  der  Stadt  Hannover,  1.  Teil.  Denkmaler  des 
„Alten"  Stadtgebietes  Hannover,  Neudruck  Osnabriick  1979,  S.  727. 

41  Ebd.,  S.  728-729. 

42  Siegfried  Muller,  Leben  im  alten  Hannover,  Hannover  1986,  S.  68-69. 

43  Ebd.,  S.  69. 

44  H.  Mithoff,  Ergebnisse  aus  mittelalterlichen  Lohnregistern  der  Stadt  Hannover,  in: 
Zeitschrift  des  Historischen  Vereins  fur  Niedersachsen  Jg.  1871,  S.  161-162. 

45  Fritz  Voss,  Das  Finanzwesen  der  Stadt  Hannover  im  Mittelalter,  in:  Hannoversche 
Geschichtsblatter  24,  1921,  S.  190. 

46  HStAH  Hann.  51  Nr.  247  I-IV. 


192  Olaf  Grohmann 

Schopfrades  diirfte  nicht  erheblich  gewesen  sein.  Abgesehen  von  Betriebsunsi- 
cherheiten  durch  wechselnde  Wasserstande  schrieb  die  maximale  GroBe  des  Ra- 
des  die  Forderhohe  und  damit  auch  die  Hohe  des  Wasserbehalters  vor.  Da  so 
kein  groBer  Wasserdruckin  den  Verteilungsrohren  erreicht  werden  konnte,  muss 
die  verteilte  Wassermenge  verhaltnismaBig  klein  gewesen  sein.  Fur  die  Existenz 
dieser  Versorgungsanlage  gibt  es  zwei  Belege.  Aus  dem  Jahr  1534  stammt  ein 
Verbot,  Wasser  unnotig  aus  den  Brunnen  laufen  zu  lassen,47  es  handelte  sich  also 
um  Laufbrunnen,  die  von  einer  permanent  arbeitenden  Forderanlage  gespeist 
werden  mussten.  1541  wurde  zur  Versorgung  der  SchmiedestraBe  mit  Flusswas- 
ser  eine  Rohrleitung  vom  Brunnen  auf  dem  Markt  gelegt.48  Zwar  existierte  zu  je- 
nem  Zeitpunkt  schon  das  bereits  erwahnte  neue  Pumpwerk,  der  als  Piepenborn 
bekannte  Verteilerbrunnen  entstandjedoch  erst  1551. 49  Hierliegt  derSchluss  na- 
he,  dass  ein  bereits  vorhandenes  Leitungsnetz  nach  dem  Bau  eines  neuen  Pump- 
werkes  weiter  genutzt  wurde.  In  Redeckers  Chronikfindet  sich  dazu  folgende  Be- 
merkung:  1535  ist  das  Bornkunst-Haus  in  derLeine  vor  dem  Miihlenthor gebauet, ...  Die 
Wasserkunst  an  sich  aber  ist  schon  einige  Jahre  zuvor  angeleget.50  Das  Zitat  darf  aber 
nicht  dahingehend  missverstanden  werden,  als  sei  lediglich  ein  neues  Gebaude 
errichtet  worden,  auch  das  Pumpwerk  war  eine  leistungsfahigere  Neukonstrukti- 
on.  Anlass  fur  den  Neubau,  dessen  Grundstein  300  Brau-Interessenten  unterFiih- 
rung  des  Rates  im  Jahr  1527  legten,51  war  der  steigende  Wasserbedarf  der  hanno- 
verschen  Brauhauser.52  1535  ging  das  80.000  Gulden  teuere  Pumpwerk  in  Be- 
trieb.53  In  mehrfach  modifizierter  Form  bestand  es  bis  zum  Jahr  1896  und  wurde 
dann  durch  einen  Neubau  ersetzt.54 

Die  Quellenlage  beziiglich  des  Flusswasserpumpwerkes  der  Altstadt  ist  recht 
sparlich.  Unterlagen  existieren  weder  fur  die  Konstruktion  aus  dem  Jahr  1535 
noch  fur  die  folgenden  rund  200  Jahre,  von  einigen  wenigen  Ausnahmen  abgese- 
hen. Noldeke  und  Miiller  zitieren  eine  Beschreibung  der  Anlage  aus  Merians  To- 
pographie,55  aus  dem  Jahre  1696  existiert  ein  Antwortschreiben  des  Rates  an  den 
Celler  Brunnen-  und  Wassermeister  Benedict  de  Miinter,  in  dem  dieser  einige  Er- 


47  StAH  (Stadtarchiv  Hannover)  B  8254. 

48  StAH  B  8266. 

49  Noldeke,  wie  Anm.  40,  S.  731. 

50  Aus  Redeckers  Aufzeichnungen,  in:  Hannoversche  Geschichtsblatter  9,  S.  175,  vgl. 
StAH  B  8078. 

51  HStAH  Hann.  51  Nr.  247  I. 

52  Vgl.  August  Lohdefink,  Die  Entwicklung  der  Brauergilde  der  Stadt  Hannover  zur 
heutigen  Erwerbsgesellschaft,  in:  Hannoversche  Geschichtsblatter  28,  1925  S.  18-21. 

53  HStAH  Cal.  Br.  8  Nr.  673. 

54  Grohmann,  wie  Anm.  23,  S.  22  u.  63 f. 

55  Vgl.  Muller,  wie  Anm.  42,  S.  69  u.  Noldeke,  wie  Anm.  40,  S.  730. 


Vom  Umgang  mit  einer  begrenzten  Ressource  193 

lauterungen  zum  hannoverschen  Flusswasserversorgungssystem  erhielt.56  Hin- 
weise  auf  den  laufenden  Betrieb  der  Anlage  bieten  auch  die  Borngiildenregister, 
in  denen  unter  anderem  die  Kosten  fur  kleinere  Reparaturen,  Ersatzteile  und  Be- 
triebsmittel  verzeichnet  sind.57  Eine  genaue  Beschreibung  der  Anlage  enthalt 
erst  der  Bericht  iiber  die  im  Jahr  1794  vorgenommene  Hauptreparatur  des  Pump- 
werks,  wobei  neben  einer  weiteren  Hauptreparatur  im  Jahr  1751  auch  einige  Ein- 
zelheiten  der  urspriinglichen  Konstruktion  von  1535  Erwahnung  finden.58 

Die  vorhandenen  Hinweise  erlauben  nur,  ein  ungefahres  Bild  der  Ver- 
sorgungsanlage  zu  zeichnen.  Die  von  Noldeke  zitierte  Beschreibung  in  Merians 
Topographie  lautet:  Da  treibet  ein  grofees  Rad  am  Leinestrom  1 6 Stampfen  wodurch  das 
Wasser  etliche Ellen  in  die Hohe gezucket  und gefiihret  wird,  darnach  durch  kupferne  Cand- 
le herunterfallt  und  unter  derErde  bis  auf  den  Markt  geleitet  wird, .  .  .  59  Diese  Darstel- 
lung  bedarf  sowohl  der  Erganzung,  als  auch  der  Korrektur  anhand  der  wenigen 
vorhandenen  Quellen.  Die  Wasserkunst  befand  sich  unmittelbar  an  der  so  ge- 
nannten  Klickmiihle,  einem  der  stadtischen  Miihlensysteme,  das  aus  mehreren 
einzelnen  Miihlen  bestand.60  Die  Klickmiihle  lag  in  der  siidwestlichen  Ecke  der 
Stadt,  in  unmittelbarerNahe  des  spater  erbauten  Schlosses.61  Das  Fundament  des 
Kunsthauses  bestand  aus  dicht  an  dicht  eingerammten  Holzpfahlen,  teils  im 
Uferbereich,  teils  im  Fluss  selbst.62  Das  Kunsthaus  war  ein  quadratischer  Ziegel- 
turm,  auf  dessen  drittem  Boden  ein  Wasserbehalter  untergebracht  war.63 

Die  Anzahl  der  Pumpen  ist  von  Merian  falsch  angegeben  worden,  die 
urspriingliche  Anlage  von  1535  verfiigte  iiber  sechs  Pumpen,64  gegen  Ende  des 
18.  Jahrhunderts  waren  nur  noch  vier  Pumpen  in  Betrieb,  zwei  davon  mit  einem 
Durchmesser  von  zwolf  Zoll,  zwei  mit  einem  Durchmesser  von  acht  Zoll.6S  Im 
Zuge  der  Instandsetzungsarbeiten  von  1794  erneuerte  man  zwar  die  Pumpen,  ih- 
re  GroBe  blieb  jedoch  unverandert,  die  Anlage  wurde  allerdings  fur  den  Betrieb 
zweier  weiterer  Pumpen  vorgerichtet,  um  etwaigen  groBeren  Wasserbedarf 
befriedigen  zu  konnen,  die  Pumpen  bestanden  aus  Metall.  Fur  den  Antrieb  der 
Pumpen  sorgte  ein  Wasserrad  mit  einem  Durchmesser  von  21  FuB  10  Zoll  und  ei- 
ner Breite  von  4  Va  FuB.  Die  Welle  fur  Wasserrad  und  Pumpenantrieb  war  32  FuB 

56  StAC  (Stadtarchiv  Celle)  8  A  Nr.  46. 

57  Vgl.  StAH  B  6943-B  6947  u.  B  2128-B  2137. 

58  Vgl.  StAH  B  8165m. 

59  Noldeke,  wie  Anm.  40,  S.  730. 

60  Vgl.  Wilhelm  Kleeberg,  Niedersachsische  Miihlengeschichte,  Hannover  1978,  S.  112 
u.  StAH  B  8165  Anlagen  4  u.  6. 

61  Vgl.  StAH  B  8165  Anlage  14. 

62  StAH  B  8165. 

63  Noldeke,  wie  Anm.  40,  S.  730. 

64  HStAH  Hann.  51  Nr.  247  I. 

65  HStAH  Cal.  Br.  8  Nr.  673. 


194  Olaf  Grohmann 

3  Zoll  lang  und  hatte  einen  Durchmesser  von  25  Zoll.  Die  Pumpen  wurden  von 
Scheiben  angetrieben,  die  auf  der  Welle  befestigt  waren.66  Die  Leistungsfahigkeit 
der  ersten  Anlage  von  1535  wird  in  den  Quellen  mit  8.000  Tonnen  Wasser  in  24 
Stunden  angegeben.67  Nach  den  Instandsetzungsarbeiten  von  1794  betrug  die 
Leistungsfahigkeit  14.322  Tonnen  in  24  Stunden  bei  einer  Geschwindigkeit  des 
Antriebsrades  von  3  Va  U/min,68  war  also  fast  verdoppelt  worden.69  Aus  dem  Be- 
richt  iiber  die  Hauptreparaturen  geht  hervor,  dass  vor  1794  die  Leistungsfahigkeit 
der  Anlage  iiber  derjenigen  des  ersten  Pumpwerks  von  1535  lag,70  somit  miissen 
schon  vor  1794  groBere  Veranderungen  an  derMaschine  vorgenommen  worden 
sein,  iiber  die  keine  Uberlieferung  vorliegt. 

Die  Angaben  iiber  die  Leistungsfahigkeit  des  Pumpwerks  stellen  aus  mehreren 
Griinden  nur  einen  theoretischen  Wert  dar.  Die  Fordermenge  hing  ab  vom  Was- 
serstand  des  Flusses,  der  allerdings  durch  den  Aufstau,  der  zum  Betrieb  der  Miih- 
len  und  der  Wasserkunst  eingerichtet  worden  war,  einen  gewissen  Ausgleich  er- 
fuhr.  Die  Menge  des  tatsachlich  zu  erhaltenden  Wassers  bestimmte  dagegen  ne- 
ben  der  Bohrung  der  Leitungsrohren  wesentlich  deren  Zustand.  Gewohnlich  war 
die  Anlage  nur  wahrend  des  Tages  in  Betrieb,  da  die  Benutzung  von  offenem 
Licht  fur  die  in  groBen  Teilen  aus  Holz  bestehende  Maschine  eine  groBe  Brand- 
gefahr  darstellte.  Im  Sommer  endete  der  Betrieb  gegen  22.00  Uhr,  im  Winter  hin- 
gegen  um  20.00  Uhr.71  Nachtlicher  Betrieb  fand  nur  in  Ausnahmefallen  nach 
Weisung  des  Biirgermeisters  statt,  in  jedem  Fall  dann,  wenn  ein  Feuer  ausgebro- 
chen  war.72  Problematisch  gestaltete  sich  derKunstbetrieb  auch  im  Winter.  Zwar 
versuchte  man,  die  Hauptrohren  vom  Pumpwerk  zum  Marktplatz  betriebsfahig 
zu  halten,  um  Loschwasser  zur  Verfiigung  zu  haben,  und  auch  die  anderen  Roh- 
ren  sollten  nach  Moglichkeit  offen  gehalten  werden,73  was  in  der  Praxis  jedoch 
nicht  immer  leicht  zu  bewerkstelligen  war.74  Um  das  Pumpwerk  vor  dem  Ein- 
frieren  zu  schiitzen,  hatte  man  bis  1794  in  dafiir  vorgesehenen  Maueroffnungen 
Feuer  entfacht,  erst  im  Zuge  der  Reparaturen  von  1794  wurden  Ofen  und  Schorn- 
steine  eingebaut,  um  dem  Risiko  eines  Brandes  zu  entgehen.75  In  den  mehreren 
Jahrhunderten  seines  Bestehens  war  das  Pumpwerk  dem  im  normalen  Betrieb 


66 

StAH  B  8165. 

67 

HStAH  Hann 

.  51  Nr. 

274  I  u. 

StAH  B  8165. 

68 

StAH  B  8165. 

69 

HStAH  Hann 

.  51  Nr. 

2741. 

70 

StAH  B  8165, 

vgl.  Cal.  Br.  8  Nr.  673. 

71 

Vgl.  HStAH  Cal.  Br. 

23b  Nr. 

475  u.  StAC  8  A  Nr. 

46 

72 

Ebd. 

73 

Ebd. 

74 

Ebd. 

75 

StAH  B  8165. 

Vom  Umgang  mit  einer  begrenzten  Ressource  195 

auftretenden  VerschleiB  ausgesetzt,  neben  den  iiberlieferten  groBen  Reparaturen 
von  1751  und  1794,  bei  denen  die  Anlage  komplett  auBer  Betrieb  gesetzt  und  die 
Leine  abgedammt  wurde,76  fanden  laufend  kleinere  Instandsetzungsarbeiten 
statt,  dariiber  geben  die  Verzeichnisse  der  Borngiildenregister  ebenso  Auskunft 
wie  iiber  die  laufend  benotigten  Betrieb smittel  wie  Fett,  Dichtmittel,  Holz,  Nagel 
und  Schrauben.77  Wahrend  der  AuBerbetriebnahme  von  1751  mussten  Tageloh- 
ner  mit  Hilfe  einer  Spritze  das  Wasserbecken  im  Kunsthaus  sowie  Fasser  auf  of- 
fentlichen  Platzen  fiillen,  auBerdem  hatte  jeder  Burger  in  seinem  Haus  einen 
Wasservorrat  anzulegen.  1794  dagegen  errichtete  man  ein  Interrims-Kunstwerk, 
das  die  Wasserversorgung  aufrecht  erhielt.78 

Die  Wasserkunst  von  1535  verfiigte  iiber  einen  auf  dem  dritten  Boden  des 
Kunsthauses  angebrachten  Behalter  von  341 'A  KubikfuB  Fassungsvermogen.79 
Der  Behalter  bestand  aus  Holz  und  war  mit  Kupferblech  ausgekleidet.  Nach  den 
Hauptreparaturen  der  Anlage  bestand  die  Moglichkeit,  das  Reservoir  mittels  ei- 
ner Klappe  im  Schornstein  des  Kunsthauses  zu  warmen  und  gegen  Einfrieren  zu 
schiitzen.80  Aus  dem  Behalter  gelangte  das  Wasser  durch  ein  Fallrohr  in  das  Ver- 
teilersystem.81  Das  44  FuB  iiber  dem  Boden  angebrachte  Reservoir  war  als  Vor- 
ratsbehalter  zu  klein,  somit  liegt  der  Schluss  nahe,  dass  seine  Funktion  in  erster 
Linie  darin  bestand,  einen  konstanten  und  gleichmaBigen  Wasserdruckzu  garan- 
tieren.  Aus  dem  Bericht  iiber  die  Hauptreparaturen  der  Wasserkunst  imjahr  1794 
geht  hervor,  dass  der  Behalter  bereits  nach  20  Minuten  Pumpenbetrieb  vollstan- 
dig  gefiillt  war  und  dass  die  Maschinen  eine  groBere  Wassermenge  forderten,  als 
in  die  Stadt  geleitet  werden  konnte.  Der  Uberschuss  floss  durch  ein  Abzugsrohr 
zuriick  in  den  Fluss.82 

Reprasentationsobjekt  des  Altstadter  Flusswasserversorgungssy stems  und  zu- 
gleich  Zierde  der  Stadt  war  der  als  Verteiler  fungierende  Piepenborn.83  Der  1551 
angelegte  Brunnen  bestand  aus  einem  achtseitigen  Steinbecken  und  ahnelte  da- 
mit  dem  auf  dem  Hildesheimer  Marktplatz  befindlichen  Rolandbrunnen.84  Aus 
der  Mitte  des  Beckens  erhob  sich  eine  Saule  mit  vierRohren,  die  mit  ebenso  vie- 
len  Lowenkopfen  als  Wasserspeier  versehen  waren.  Auf  der  Saule  befand  sich  ein 


76  Ebd. 

77  Vgl.  StAH  B  6943-B  6947. 

78  StAH  B  8165. 

79  HStAH  Hariri.  51  Nr.  247  I  u.  StAH  B  8165. 

80  StAH  B  8165  u.  HStAH  Cal.  Br.  8  Nr.  673. 

81  StAH  B  8165. 

82  Ebd. 

83  Ebd. 

84  Ulrich  Stille,  Der  Piepenborn  von  1551,  in:  Hannoversche  GeschichtsblatterN.  F.  10, 
1955,  S.  129. 


196  Olaf  Grohmann 

zweites  Becken,  iiberragt  von  einer  steinernen  Figur,  dem  so  genannten  Hans- 
chen  auf  dem  Piepenborn.85  Der  Brunnen  war  mit  Steintafeln  geschmiickt,  die 
biblische  Szenen  zeigten,  deren  gemeinsames  Grundmotiv  das  Wasser  bildete.86 
Dabei  ging  es  um  die  Segen  spendende  und  bindende  Kraft  des  Wassers,  um  sei- 
ne Funktion  als  lebenserhaltendes  und  Leben  erweckendes  Element,  um  seine 
reinigende  und  heilende  Kraft.  Die  Kantenstiicke  des  Beckens  trugen  allegori- 
sche  Darstellungen  der  Planeten.87  Nach  Stille  entsprach  die  kiinstlerische  Ge- 
staltung  des  Brunnens  dem  Stil  des  Mittelalters,  die  abgebildeten  Personen  tru- 
gen, mit  Ausnahme  des  Christus  und  des  Moses,  Kleidung,  Haar-  und  Barttracht 
des  16.  Jahrhunderts.88  Darin  sieht  Stille  den  Grund  fur  den  Abbruch  und  Neu- 
bau  des  im  17.  Jahrhundert  als  nicht  mehr  zeitgemaB  empfundenen  Brunnens, 
wahrend  Noldeke  den  Neubau  als  MaBnahme  zur  Verbesserung  der  Wasser- 
versorgung  ansieht,  seine  Annahme  allerdings  nicht  begriindet.89  Der  neue  Brun- 
nen entstand  von  1618  bis  1620,  iiber  eine  Veranderung  der  Wasserverteilungs- 
einrichtungen  in  diesem  Zusammenhang  ist  nichts  bekannt.90  Im  Jahr  1719  er- 
folgten  erneut  Veranderungen  am  Piepenborn,  dabei  handelte  es  sich  um  den 
letzten  Umbau  der  Anlage  vor  ihrem  Abbruch  Ende  des  18.  Jahrhunderts.91  Der 
mit  barocken  Verzierungen  versehene  Brunnen  trug  den  Namen  Aktaonbrun- 
nen  nach  der  Figur,  die  seinen  oberen  Abschluss  bildete.92  Die  verschiedenen 
Umbauten  des  Piepenborns,  der  als  Reprasentationsmittel  stadtische  Wohlha- 
benheit  und  Geltung  verkorperte,  belegen,  dass  er  in  dieser  Funktion  den  Wand- 
lungen  des  Zeitgeschmacks  unterworfen  war. 

Wie  erlautert,  fiihrte  der  gestiegene  Bedarf  an  Brauwasser  im  16.  Jahrhundert 
in  Hannover  zur  Errichtung  eines  Pumpwerks  auf  Initiative  der  Brauinteressen- 
ten.  Es  ist  nicht  mit  Bestimmtheit  zu  sagen,  ob  die  Brauer  die  Kosten  fiir  die  Anla- 
ge vollstandig  iibernahmen.  Eine  Aktennotiz  in  diesem  Zusammenhang  besagt, 
die  Kunst  sei  nach  ihrer  Fertigstellung  Kammereigut  geworden.93  Moglicherwei- 
se  lieBen  die  Brauer  die  Anlage  nach  ihrer  Fertigstellung  in  das  Eigentum  der 
Stadt  iibergehen  und  diese  iibernahm  die  Wartung  und  Instandhaltung.  Die 
Brauer  als  Gemeinschaft  trugen  dennoch  weiterhin  zur  Erhaltung  der  Anlage,  be- 


85  Ebd. 

86  Ebd.,  S.  130. 

87  Ebd.,  S.  132. 

88  Ebd.,  S.  135. 

89  Ebd.  u.  Noldeke,  wie  Anm.  40,  S.  733. 

90  Friedrich  Tewes,  Errichtung  eines  Brunnens  auf  dem  Markte  zu  Hannover,  in:  Han 
noversche  Geschichtsblatter  2,  1899,  S.  278-279. 

91  Noldeke,  wie  Anm.  40,  S.  735-736  u.  StAH  B  8165. 

92  Noldeke,  wie  Anm.  40,  S.  735-736. 

93  HStAH  Cal.  Br.  8  Nr.  673. 


Vom  Umgang  mit  einer  begrenzten  Ressource  197 

sonders  der  Hauptrohren  zwischen  Pumpwerk  und  Piepenborn,  bei,  indem  sie 
den  Borngulden  entrichteten.94  Innerhalb  der  Gruppe  der  Brauhausbesitzer  exi- 
stierten  insgesamt  16  Untergruppen,  die  als  Nachbarschaften  Eigentiimer  je  eines 
der  16  vom  Piepenborn  ausgehenden  Verteilerrohre  waren.  Sie  hielten  diese  in- 
stand  und  regelten  die  Nutzung  intern.  Fiir  die  Brunnenpfosten  und  die  dafiir  not- 
wendigen  Abrohre  war  jeder  Hauseigentumer  selbst  verantwortlich,  diese  Teile 
der  Anlage  gehorten  dementsprechend  nicht  zum  Eigentum  der  Nachbar- 
schaft.95  Die  Nachbarschaften  wahlten  aus  dem  Kreis  ihrer  Mitglieder  einen 
oder  zwei  Brunnenherren,  die  die  Rechnung  fiihrten,  notwendige  Reparaturen 
an  der  Rohrleitung  veranlassten  und  den  Kunstmeister  fiir  die  betreffenden 
Arbeiten  bezahlten.96  Genauso  wie  im  Fall  der  Grundwasserbrunnen,  wurden 
die  Nachbarschaften  verwaltungstechnisch  den  HauptstraBen  der  Stadt  zuge- 
rechnet.  In  der  OsterstraBe  existierten  drei  Nachbarschaften,  in  der  MarktstraBe 
sechs,  in  der  KobelingerstraBe  vierund  in  derLeinstraBe  drei.97  Zu  Brunnenher- 
ren wurden  gewohnlich  diejenigen  Hausbesitzer  gewahlt,  die  dieses  Amt  die 
langste  Zeit  nicht  ausgeiibt  hatten.98  Trat  ein  neuer  Hauseigentumer  in  die  Nach- 
barschaft  ein,  musste  er  als  Einstand  einen  Geldbetrag  entrichten."  War  ein 
Nachbar  zahlungsunfahig,  hatten  die  iibrigen  Mitglieder  der  Nachbarschaft  fiir 
ihn  einzustehen.100  Uberden  Turnus  der  Abrechnungen  gibt  es  unterschiedliche 
Angaben,  die  von  einerjahrlichenFrequenzbis  zu  einer  variablen  Abfolge  nach  den 
Umstdnden  alle  zwei  bis  dreijahre  reichen. 101 

Es  ist  keine  genaue  Angabe  dariiber  moglich,  seit  wann  die  auch  als  Brunnen- 
rohrgesellschaftenW2  bezeichneten  Nachbarschaften  existierten,  doch  finden  in  ei- 
ner Brunnenordnung  von  1567  die  BornherrenErwahming,  die  die  Einhaltung  der 
Vorschriften  beziiglich  der  Wasserversorgung  zu  kontrollieren  hatten.103  Imjahr 
1535  erhielten  einige  Burger  der  Stadt  die  Erlaubnis  des  Rates,  ein  Rohr  vom 
Marktbrunnen  zur  SchmiedestraBe  zu  verlegen,  woraus  abzuleiten  ist,  dass  die 
nachbarschaftliche  Organisation  zumindest  seit  Inbetriebnahme  des  Pumpwerks 
vorhanden  war.104 


94  Vgl.  StAH  B  6943-6947,  B  2128-2137  (Bornguldenregister). 

95  StACSANr.  46. 

96  Ebd. 

97  Ernst  Anton  Heiliger,  Rathauslicher  Schematismus  der  Residenzstadt  Hannover  auf 
dasjahr  1771,  in:  Hannoversche  Geschichtsblatter  8,  1905,  S.  63-64. 

98  Ebd. 

99  Ebd. 

100  HStAH  Cal.  Br.  23b  Nr.  475. 

101  Vgl.  HStAH  Cal.  Br.  23b  Nr.  475,  StAC  8  ANr.  46  u.  Heiliger,  wie  Anm.  97,  S.  65. 

102  StAH  A  4379. 

103  StAH  B  8117. 

104  StAH  B  8266. 


198  Olaf  Grohmann 

Neben  der  Regelung  der  Instandhaltungs-  und  Finanzierungsfragen  oblag  den 
Nachbarschaften  auch  die  Uberwachung  der  korrekten  Nutzung  der  Versor- 
gungseinrichtungen  und  der  Verteilung  des  gelieferten  Wassers.  Die  Flusswasser- 
versorgung  der  hannoverschen  Altstadt  funktionierte  nicht  als  System  der  perma- 
nenten  Versorgung,  sondern  lieferte  Wasser  zu  bestimmten  Zeiten  und  zu 
bestimmten  Zwecken.  Grundlage  fur  die  Selbstkontrolle  der  Nachbarschaften 
bildeten  die  jeweils  giiltigen  stadtischen  Brunnenordnungen.  Danach  sollte  jede 
unniitze  Wasserentnahme  vermieden  werden,  die  Anlage  von  so  genannten  Un- 
terzapfen,  die  nicht  der  Schrodung  entsprachen,  war  ebenfalls  untersagt.105 

Zur  Regelung  dergemeinschaftlichen  Nutzung  derRohre  und  auch  als  Reakti- 
on  auf  Funktionsstorungen  innerhalb  der  Nachbarschaften,  schlossen  die  Mit- 
glieder  Vertrage  ab.  Ein  solcher  von  den  Nachbarn  der  SchmiedestraBe  imjahr 
1602  geschlossener  Vertragliegt  in  einerBeschreibung  von  1809  vor.  Der  Vertrag 
regelte  in  insgesamt  29  Artikeln  die  Modalitaten  der  Instandhaltung  der  Rohrlei- 
tung.  Der  Grund  fur  den  Abschluss  des  Vertrages  lag  darin,  dass  es  Mangel  an 
dem  Borne  der  Nachbarschaft  gab,  die  Beitrage  und  Rechnungen  nicht  rechtzeitig 
bezahlt  wurden.  Fur  die  Instandhaltung  entrichtete  jeder  Hausbesitzer  jahrlich 
zwei  Gulden  und  acht  Groschen,  Inquilinen  zahlten  die  Halfte.106 

Welche  Probleme  bei  der  gemeinschaftlichen  Nutzung  der  Versorgungsanla- 
gen  auftreten  konnten,  zeigt  ein  Auszug  aus  dem  Rezess  der  Brunneninteressen- 
ten  der  MarktstraBe  von  1690:  .  .  .  bleibet  es  auch  bey  voriger  Verordnung  in  diesen 
Puncten,  und  dam.it  auf  den  Piepenborn  und  die  Schrodung,  umb  dieselbe  im  Richtigen  Un- 
verriickten  Stande  jederzeit  zu  erhalten,fleifeige  acht  gegeben  werde,  sollen  die  vorhin  schon 
verbotenen  Unterzapfen  hiermit  gantzlich  abgeschaffet  und  nochmals  verbothen  seyn,  und 
da  inskiinftige  sichjemanddes  Unterbohrens  wieder  unterfangen  sollte,  gegen  denselben  soil 
das  alte  hergebrachte  Nachbahrn  Recht  zur  Hand  genommen,  und  der  Slender  gleich  wie 
vorhin  verordnet,  sambt  dem  Brunnen Bohrer abgehaven  werden}07  Die  Verschaffung  ei- 
nes  unerlaubten  Vorteils  beim  Wasserbezug  hatte  den  Verlust  der  Nutzungsbe- 
rechtigung  und  den  Ausschluss  aus  der  Gemeinschaft  zur  Folge.  Die  Nachbar- 
schaften waren  auch  der  Kontrolle  der  stadtischen  Administration  unterworfen. 
1794  setzte  der  Magistrat  fiir  die  Nachbarschaft  der  SchmiedestraBe  einen  Rech- 
nungsfiihrer  ein,  weil  UnregelmaBigkeiten  bei  der  Abrechnung  vorgekommen 
waren.108  Ein  interessantes  Beispiel  fiir  die  Gemeinschaft  stiftende  Funktion  der 
nachbarschaftlichen  Organisation  der  Wasserversorgung  ist  die  so  genannte 
Brunnenzehrung.  Es  wariiblich,  dass  bei  der  turnusmaBigen  Abrechnung  derje- 


105  Vgl.  StAH  B  8117  u.  HStAH  Cal.  Br.  23b  Nr.  475. 

106  StAH  A  4379. 

107  HStAH  Harm.  72  Hannover  Nr.  116. 

108  StAH  A  4379. 


Vom  Umgang  mit  einer  begrenzten  Ressource  199 

weilige  Rechnungsfiihrer  ein  Festessen  veranstaltete.109  Dieses  dauerte  anfangs 
einen,  spater  zwei  Tage  und  scheint  zu  Ausschweifungen  gefiihrt  zu  haben.110  Im 
Jahr  1718  beklagte  sich  ein  Burger  der  hannoverschen  Altstadt  dariiber,  dass  die 
Mitglieder  seiner  Nachbarschaft  versucht  hatten,  seinen  Brunnenstander  gewalt- 
sam  niederzureiBen.  In  der  darauf  folgenden  Untersuchung  durch  die  landes- 
herrliche  Behorde  wurde  vermutet,  der  betreffende  Burger  sei  dem  Brunnen- 
rohrregister  der  Nachbarschaft  etwas  schuldig  geblieben  und  habe  so  den  Streit 
ausgelost.  Als  eigentliche  Ursache  sah  die  Behorde  aber  die  Brunnenzehrung  an, 
weil  durch  Schmausen  und  Zechen  grofee  Unordnung,  Trunkenheit  und  Exzesse  entstiin- 
den.  AuBerdem  iiberfordere  die  Ausrichtung  der  Brunnenzehrung  manchen  Bur- 
ger in  finanzieller  Hinsicht.  Weil  sie  vdllig  nutzlos  sei,  wurde  die  Brunnenzehrung 
auf  koniglichen  Befehl  verboten,  fand  jedoch  kurz  darauf  erneut  statt.111  In  der 
Brunnenordnung  von  1731  wurde  das  Verbot  der  Brunnenzehrung  bestatigt,  es 
war  jedoch  erlaubt,  bei  der  jahrlichen  Abrechnung  ungendtigt  und  ohne  Zwang  drei 
geringe  Essen  und  ein  Glas  Broihan  zu  geben.112 

Im  Verlauf  des  lS.Jahrhunderts  diente  das  Flusswasserversorgungssystem  ver- 
starkt  kommunalen  Zwecken,  in  erster  Linie  der  Reinigung  der  StraBen.  Die 
Nachbarschaften  mussten  die  dazu  benotigten  Notbrunnen  auf  ihre  Kosten  ein- 
richten  und  unterhalten.  Lediglich  einige  abgelegene  Notbrunnen  wurden  aus 
der gemeinen Biirger-Cassebezahlt.113  Durch  den  Niedergang  des  Brauwesens  und 
die  Tatsache,  dass  viele  Brauhauserim  Besitz  von  Personen  waren,  die  nichtbrau- 
ten,  verlor  das  System  seinen  urspriinglichen  Charakter.  Dennoch  blieben  die 
Nachbarschaften  bis  zumjahr  1847bestehen,  seit  1810  waren  jedoch  auch  die  Bo- 
denerhauser  an  den  Kosten  des  Leitungssystems  beteiligt.114  Im  Zusammenhang 
mit  dem  wachsenden  Interesse  an  Hygienefragen  diente  die  Flusswasserversor- 
gung  im  Laufe  des  lS.Jahrhunderts  zunehmend  offentlichen  Zwecken,  ging  1847 
vollstandig  in  den  Besitz  der  Stadt  iiber  und  war  somit  fur  alle  Einwohner  der  Alt- 
stadt, einige  Jahre  spater  auch  fur  diejenigen  der  Neustadt,  nutzbar.115 

Beger  und  Walter  behaupten  in  ihren  aus  den  40er  und  50er  Jahren  des  20. 
Jahrhunderts  stammenden  Darstellungen  der  Geschichte  der  hannoverschen 
Wasserversorgung,  Konflikte  aufgrund  von  Wassermangel  hatten  dazu  gefiihrt, 
dass  nur  drei  oder  vier  der  16  vom  Piepenborn  abgehenden  Hauptrohren  gleich- 
zeitig  Wasser  liefern  konnten,  die  Ubrigen  aber  in  regelmaBigem  Wechsel  ver- 


109 

StAC  8  A  Nr.  46. 

110 

StAH  B  8134. 

111 

StAH  B  8134. 

112 

HStAH  Cal.  Br.  23b  Nr.  475. 

113 

Ebd.  u.  Heiliger,  wie  Anm.  97,  S.  64. 

114 

HStAH  Hann.  80  Hannover  I  Cd.  Nr.  620  u.  Cal.  Br.  8  Nr.  673 

115 

StAH  B  1794. 

200  Olaf  Grohmann 

schlossen  wurden.  Weiterhin  sei  an  den  angeschlossenen  Rohrleitungen  keine 
gleichzeitige  Wasserentnahme  an  mehreren  Zapfstellen  moglich  gewesen.116 
Miiller  und  Hauptmeyer  iibernehmen  diese  Sichtweise,117  die  aber  durch  die 
Uberlieferung  nicht  eindeutig  belegt  ist.  Der  Piepenborn  war  in  der  Tat  mit  Venti- 
len  ausgestattet,  die  das  Absperren  der  einzelnen  Rohre  ermoglichten,  doch  ist 
hier  zu  beachten,  dass  die  Flusswasserversorgung  der  Altstadt  kein  System  der 
permanenten  und  konstanten  Versorgung  bildete,  sondern  dass  das  Wasser  bei 
Bedarf  und  nach  vorheriger  Anmeldung  abgegeben  wurde,  schon  aus  Griinden 
der  Bezahlung.  Zwar  verfugte  jeder  Inhaber  eines  Brunnenpfostens  iiber  einen 
Stellschliissel  fur  das  zugehorige  Ventil,  doch  durfte  taglich  nur  eine  geringe  Was- 
sermenge  fur  den  Haushaltsbedarf  unangemeldet  entnommen  werden.118  Wurde 
jedoch  aus  einem  der  16  Rohre  Wasser  zum  Brauen  entnommen,  mussten  alle  an- 
deren  Zapfstellen  an  dem  betreffenden  Rohrgeschlossen  bleiben.119  Diese  Rege- 
lung  durfte  mit  dem  groBen  Wasserbedarf  beim  Brauen  zusammenhangen,  ist 
aber  dennoch  nicht  unmittelbar  als  Beleg  fiir  Wasserknappheit  und  Ressourcen- 
konflikte  zu  werten.  Erst  aus  dem  19.  Jahrhundert  datieren  Hinweise  auf  eine  un- 
zureichende  Flusswasserversorgung,  die  fiir  Bediirfnisse  der  Burger  und  zu 
Loschzwecken  nicht  ausreichte.120 

Wassermangel  kann  jedoch  fiir  die  Zeit  vor  1800  nicht  kategorisch  ausge- 
schlossen  werden,  selbst  wenn  man  technische  Probleme  mit  dem  Pumpwerk 
und  durch  ungiinstige  Wasserstande  oder  Frost  bedingte  Stillstande  der  Anlage 
auBer  Acht  lasst,  doch  ist  eine  auch  nur  annahernd  realistische  Einschatzung  der 
zur  Verfiigung  stehenden  Wassermenge  und  des  tatsachlichen  Verbrauchs  nahe- 
zu  unmoglich.  Die  Leistungsfahigkeit  der  Anlage  von  1535  belief  sich  auf  8.000 
Tonnen  in  24  Stunden,  entsprechend  50.000  Liter  pro  Stunde.121  Rein  rechne- 
risch  entfielen  damit  mehr  als  155  Liter  pro  Stunde  auf  jedes  der  317  Brauhauser 
oder  3.125  Liter  auf  jedes  der  16  Rohre.  Da  aber  in  derReihe,  also  nicht  gleichzei- 
tig  gebraut  wurde,  stand  theoretisch  jedem  Brauer  die  erstgenannte  Menge  zur 
Verfiigung.  Nach  Lohdefink  ergab  ein  Brau  zwischen  30  und  50  Tonnen  Bier  zu 


116  Hans  Beger,  Die  Wasserversorgung  der  Stadt  Hannover  im  Mittelalter,  in:  Kleine 
Mitteilungen  fiir  die  Mitglieder  des  Vereins  fiir  Boden-,  Wasser-  und  Lufthygiene  Jg.  18, 
1942,  S.  179-180  u.  Theo  Walter,  Wasserversorgung  im  alten  Hannover,  in:  Hannoversche 
Geschichtsblatter  N.  F.  10,  1957,  S.  159. 

117  Muller,  wie  Anm.  42,  S.  69  u.  Carl-Hans  Hauptmeyer,  Die  Residenzstadt,  in:  Klaus 
Mlynek  u.  Waldemar  Rohrbein  (Hrsg.),  Geschichte  der  Stadt  Hannover  Bd.  1,  Hannover 
1992,  S.  204. 

118  StAC8ANr.  46. 

119  HStAH  Cal.  Br.  23b  Nr.  475  u.  StAC  8  A  Nr.  46. 

120  HStAH  Hann.  80  Hannover  I  Cd.  Nr.  620. 

121  HStAH  Hann.  51  Nr.  247  I. 


Vom  Umgang  mit  einer  begrenzten  Ressource  201 

166  Litem,122  maximal  also  8.300  Liter.  Selbst  wenn  fur  einen  Brau  ein  Mehrfa- 
ches  dieser  Menge  an  Wasser  benotigt  wurde,  war  der  Bezug  in  einer  relativ  kur- 
zen  Zeitspanne  moglich.  Nach  umfangreichen  Reparaturarbeiten  lieferte  das 
Pumpwerkab  1794  pro  Stunde  90.700  Liter  Wasser.123 Von  der  Leistungsfahigkeit 
des  Pumpwerks,  die  zumindest  1794  durch  Messungen  festgestellt  wurde,  kann 
allerdings  nicht  unmittelbar  auf  die  Menge  des  tatsachlich  zur  Verfiigung  stehen- 
den  Wassers  geschlossen  werden,  da  keinerlei  Riickschliisse  auf  den  Zustand  des 
Rohrleitungsnetzes  moglich  sind.  Erkenntnisse  iiberden  Grad  der  Undichtigkeit 
sind  ebenso  wenig  vorhanden  wie  iiber  den  der  Verschlammung  oder  Verstop- 
fung  der  Rohren  durch  Moos  oder  Algen.  Die  Pumpen  der  Anlage  forderten 
mehr  Wasser,  als  durch  die  Rohrleitungen  verteilt  werden  konnte,  wie  die  Exi- 
stenz  eines  Uberlaufes  aus  dem  Wasserbassin  im  Kunsthaus  belegt,  iiber  das  auch 
im  normalen  Betrieb  standig  Wasser  zuriick  in  die  Leine  floss.124 

Aufgrund  der  Nutzung  des  Piepenborns  als  Verteiler  entstand  der  Druck  in 
den  Rohrleitungen  nicht  durch  das  etwa  13  Meter  iiber  der  Pumpenkammer  im 
Kunsthaus  angebrachte  Bassin,  sondern  nur  durch  das  Gefalle  der  vom  Piepen- 
born  ausgehenden  Rohrleitungen  und  das  in  dessen  Becken  befindliche  Wasser. 
Daher  diirfte  der  vorhandene  Wasserdruck  relativ  gering  gewesen  sein.  In  diesem 
Zusammenhang  sind  die  unerlaubterweise  angelegten  niedrigeren  Bohrungen 
der  Brunnenstander  zu  sehen,  die  der  Beschaffung  einer  groBeren  Wassermenge 
dienten.  Auch  die  Notbrunnen  waren  als  Unterflurzapfstellen  angelegt,  um  die 
groBtmogliche  Menge  an  Loschwasser  nutzen  zu  konnen.  Somit  wird  erklarlich, 
weshalb  trotz  der  relativ  groBen  Wassermenge,  die  mittels  der  Pumpen  beschafft 
werden  konnte,  Versorgungsprobleme  in  der  Altstadt  bestanden  haben  konnen. 
Offenbar  wurden  diese  nicht  fur  derartig  wichtig  erachtet,  dass  sie  technisch 
durchaus  mogliche  Veranderungen  an  den  Rohrleitungen  und  dem  Verteiler 
nach  sich  gezogen  hatten.  Der  Bericht  iiber  die  Reparaturarbeiten  am  Pumpwerk 
aus  demjahr  1794  entha.lt  verschiedene  Vorschlage  zur  VergroBerung  der  in  die 
Stadt  zu  leitenden  Wassermenge  durch  Nutzung  groBerer  Rohren  und  die  direk- 
te  Zufiihrung  des  Wassers  in  die  16  Rohrleitungen.125  Von  gravierendem  Wasser- 
mangel  und  tatsachlichen  Ressourcenkonflikten  ist  beziiglich  der  Altstadt  also 
nicht  auszugehen. 


122  Lohdefink,  wie  Anm.  52,  S.  61. 

123  HStAH  Hann.  51  Nr.  247  I. 

124  StAH  B  8165. 

125  Ebd. 


202  Olaf  Grohmann 

Die  Versorgung  mit  Quellwasser 

Ein  Quellwasservorkommen  befand  sich  in  derNahe  des  wesdich  von  Hannover 
gelegenen  Dorfes  Linden,  am  nordostlichen  Hang  des  Lindener  Berges.  Die 
Quelle  wird  schon  friih  in  der  Uberlieferung  erwahnt,  in  einem  Privileg  aus  dem 
Jahre  1423  gestanden  die  Herzoge  zu  Braunschweig  und  Liineburg  den  Biirgern 
der  Stadt  Hannover  zu,  der  Dieckborn  zu  Linden  moge  in  die  Stadt  gefuhrt  werden. 126 
Es  gibt  keinen  sicheren  Beleg  dafiir,  dass  bereits  im  15.  Jahrhundert  eine  Wasser- 
leitung  existierte.  Walter  vertritt  die  Ansicht,  die  Leitung  sei  mittels  Graben  und 
Deichungen  geplant  gewesen  und  wegen  der  zu  schwierigen  Uberquerung  der 
Ihme  nicht  verwirklicht  worden.127  Zwar  ist  dieser  Meinung  insofern  zuzustim- 
men,  als  die  Durchquerung  der  damals  sumpfigen  Leineniederung  und  die 
Uberbriickung  mehrerer  Flussarme  extrem  kompliziert  gewesen  sein  diirfte, 
doch  erscheint  Walters  Annahme,  die  Leitung  sei  mittels  offener  Graben  konzi- 
piert  worden,  vor  diesem  Hintergrund  geradezu  als  abwegig.  Miiller  hingegen  be- 
schreibt  den  Dieckborn  als  einen  Bach,  der  durch  eine  Hauptrohre  in  die  Stadt 
geleitet  und  dessen  Wasser  dann  iiber  ein  System  von  Holzrohren  verteilt  worden 
sei.128  Die  Bezeichnung  Dieckborn  unterstiitzt  zwar  nicht  die  Annahme,  es  habe 
sich  um  einen  Bach  gehandelt,  plausibel  erscheint  aber  die  Aussage,  die  Zulei- 
tung  sei  mittels  Rohren  erfolgt.  Nur  auf  diese  Art  konnte  das  Gelande  zwischen 
dem  Quellgebiet  und  der  Stadt  iiberwunden  werden.  Biittner  zitiert  einen 
Ratsentscheid  vom  9.  Oktober  1426  wonach  31  Burger  der  Altstadt  die  Erlaubnis 
erhielten,  den  Dieckborne  to  Linden  uptofangende,  datse  den  mogen  inleyden  to  Honovere 
unde  den  borne  sick  maken,  als  se  nutsamighest  mogen}29  Somit  erhalt  die  Vermutung, 
dass  schon  im  15.  Jahrhundert  eine  Quellwasserleitung  fur  Hannover  existierte, 
eine  gewisse  Berechtigung,  obwohl  eine  solche  Anlage  fur  spatere  Zeiten  nicht 
mehr  nachweisbar  ist  und  die  Stadt  auf  andere  Mittel  der  Wasserversorgung  zu- 
riickgriff.  Moglicherweise  war  diese  Leitung  aus  den  genannten  Griinden  zu  un- 
sicher  oder  die  zu  erhaltende  Wassermenge  war  zu  gering,  um  die  Anlage  bei  stei- 
gendem  Bedarf  in  Betrieb  zu  erhalten. 

Das  Wasservorkommen  am  Lindener  Berg  wurde  seit  der  zweiten  Halfte  des 
17.  Jahrhunderts  mittels  Rohrleitungen  genutzt;  es  versorgte  neben  den  Teichen 
des  Platenschen  Gartens  die  Hofe  des  Dorfes  Linden130  und  den  im  Jahre  1652 
angelegten  herzoglichen  Lust-  und  Kiichengarten.  Die  erste  nachweisbare  Quell- 


126  StAH  B  8051. 

127  Walter,  wie  Anm.  116,  S.  157. 

128  Muller,  wie  Anm.  42,  S.  69. 

129  Ernst  Buttner,  Kulturbilder  aus  dem  mittelalterlichen  Hannover,  Hannover  1926, 
119. 

130  HStAH  Cal.  Br.  8  Nr.  1117  u.  Cal.  Br.  8  Nr.  673. 


Vom  Umgang  mit  einer  begrenzten  Ressource  203 

wasserleitung  entstand,  nachdem  der  Unternehmer  Johann  Duve  sich  in  einem 
vom  16.  Mai  1668  datierenden  Vertrag  mit  Herzogjohann  Friedrich  verpflichtet 
hatte,  die  in  Folge  der  Residenznahme  von  1636  entstandene  Calenberger  Neu- 
stadt  mit  Wasser  zu  versorgen.  Als  Gegenleistung  dafiir  erhielt  Duve  eine  zeitlich 
befristete  Abgabenfreiheit  fur  seine  Hauser  in  der  Neustadt.131  Die  etwa  300  Ca- 
lenberger Ruten132  lange  Wasserleitung  sollte  einen  Hauptbrunnen  auf  dem 
Marktplatz  und  sieben  Notbrunnen  in  verschiedenen  StraBen  versorgen.  Die 
Notbrunnen  waren  in  erster  Linie  zur  Versorgung  mit  Loschwasser  angelegt, 
doch  sollte  es  laut  Vertrag  jedem  Einwohner  erlaubt  sein,  Wasser  zu  entnehmen. 
Hausanschliisse  konnten  gegen  eine  Wassersteuer  ebenfalls  angelegt  werden.133 
Durch  diesen  Vertrag,  den  Duve  nur  sehr  unzureichend  erfiillte,  entstand  eine 
Vielzahl  von  Streitigkeiten  und  rechtlichen  Auseinandersetzungen,  die  sich  bis  in 
die  Mitte  des  19.  Jahrhunderts  hinzogen.  Dennoch  bestand  die  Wasserleitung, 
freilich  mit  vielen  Modifikationen  und  im  spaten  19.  Jahrhundert  mit  stark  ab- 
nehmender  Bedeutung,  bis  zum  Jahr  1895. 134 

Der  um  das  Jahr  1670  entstandene  Marktbrunnen  der  Calenberger  Neustadt 
wurde  auf  Veranlassung  des  Herzogs  gebaut  und  war  somit  ein  landesherrliches 
Reprasentationsmittel  in  der  nach  1636  planmaBig  ausgebauten  Neustadt.  Der 
Brunnen  bildete  das  Kernstiick  der  von  Johann  Duve  angelegten  Wasserleitung. 
Der  diesbeziigliche  Vertrag  mit  dem  Herzog  sah  explizit  die  Errichtung  eines 
standig  laufenden  Springbrunnens  auf  dem  Neustadter  Markt  vor.135  Zwar  hatte 
das  Becken  auch  die  Funktion  des  Loschwasserspeichers,136  in  erster  Linie  aber 
war  es  Reprasentationsmittel.  Es  bestand  aus  einer  erhohten  Plattform,  umgeben 
mit  Balustraden,  auf  deren  Pfeilern  20  Standbilder  die  Tugenden  und  Laster  ver- 
korperten.137  In  der  Mitte  befand  sich  ein  Brunnenbecken,  aus  dem  der  Felsen- 
berg  des  Parnass  aufragte.  Dieser  hatte  vierrundbogige  Grottennischen,  in  denen 
vier  lebensgroBe  Allegorien  der  Erdteile  Europa,  Afrika,  Asien  und  Amerika 
standen.  Auf  dem  Parnass  befanden  sich  Apoll  und  die  neun  Musen,  den  oberen 
Abschluss  der  Anlage  bildete  ein  Pegasus,  der  das  herzogliche  Wappen  hielt. 
Wasser  stromte  aus  dem  Berg,  aus  den  Instrumenten  der  Musen  und  aus  den  Oh- 
ren  des  Pferdes.138 


131  HStAH  Harm.  88  A  Nr.  3172. 

132  HStAH  Cal.  Br.  8  Nr.  1117. 

133  Ebd. 

134  Grohmann,  wie  Anm.  23,  S.  22. 

135  HStAH  Harm.  88  A  Nr.  3172. 

136  Eduard  Schuster,  Kunst  und  Kiinstler  in  den  Fiirsthentumern  Calenberg  und  Lii- 
neburg  in  der  Zeit  von  1636  bis  1727,  Hannover  und  Leipzig  1905,  S.  24. 

137  Noldeke,  wie  Anm.  40,  S.  736. 

138  Ebd.,  S.  738-739. 


204  Olaf  Grohmann 

AuBer  der  Gestaltung  scheint  auch  das  Rohrenwerk  des  Parnassbrunnens 
recht  filigran  und  anfallig  gewesen  zu  sein.  Nach  Schuster  funktionierte  die  An- 
lage  niemals  richtig.  Eine  groBere  Reparatur  erfolgte  1737  und  im  Jahr  1802  wur- 
de  der  Brunnen  abgebrochen.139  Einen  Beleg  fiir  die  mangelhafte  Funktionsfa- 
higkeit  des  Brunnens  bietet  eine  Aktennotiz  aus  dem  Jahr  1739,  wonach  die  An- 
lage  schon  langere  Zeit  auBer  Betrieb  war.  Sie  fror  im  Winter  oft  ein,  generell 
waren  die  Bleirohren  zu  klein.140  Im  Jahr  1802  ersetzte  man  den  Parnassbrun- 
nen  schlieBlich  durch  eine  Brunnensaule  und  einen  Kump  aus  Sandstein,141  auch 
diese  Anlage  lieferte  selten  ausreichend  Wasser,  was  aber  auf  die  geringe  Ergie- 
bigkeit  der  Lindener  Quelle  zuruckzufiihren  ist.142 

Uber  die  Ergiebigkeit  des  Wasservorkommens  liegen  keine  gesicherten  Er- 
kenntnisse  vor.  Innerhalb  des  Quellgebietes  trat  an  verschiedenen  Stellen  Wasser 
hervor,  aus  damaliger  Sicht  ging  man  jedoch  von  mehreren  Quellen  aus  und  war 
iiberrascht,  wenn  die  an  einer  Stelle  vorgenommenen  Veranderungen  an  anderer 
Stelle  Auswirkungen  zeigten,  wie  eine  Beschwerde  von  Lindener  Einwohnern 
aus  dem  Jahr  1792  verdeutlicht.  Anlass  dafiir  war  eine  seitens  des  Brunnenmei- 
sters  der  Neustadt  vorgenommene  Modifizierung  an  der  fiir  die  Neustadt  genutz- 
ten  Wasserfassung,  die  ein  Absinken  des  Wasserspiegels  in  den  Teichen  des  Kii- 
chengartens  und  des  von  Platenschen  Gartens  hervorrief.  Die  Brunnen  auf  etli- 
chen  Hofen  fielen  ebenfalls  trocken.143  Auseinandersetzungen  iiber  die  Nutzung 
des  Wasservorkommens  vollzogen  sich  in  erster  Linie  zwischen  dem  Magistrat 
der  Calenberger  Neustadt  und  dem  Hofbauamt  als  landesherrlicher  Behorde. 
Die  Klagen  des  Neustadter  Magistrats  iiber  Wassermangel,  in  erster  Linie  bezo- 
gen  auf  Losch-  und  Spiilwasser,  zogen  sich  nahezu  iiber  das  gesamte  18.  und  das 
friihe  19.  Jahrhundert  hin.144  Die  zur  Abhilfe  oft  erwogene  Anlage  eines  Fluss- 
wasserpumpwerks  fiir  die  Neustadt  kam  einerseits  aus  finanziellen  Griinden 
nicht  zustande,  andererseits  wurde  sie  abgelehnt,  weil  von  der  Einrichtung  eines 
weiteren  Stauwehres  in  der  Leine  Beeintrachtigungen  der  schon  vorhandenen 
Wasserkraftanlagen  erwartet  wurden.145  Auch  der  langere  Zeit  diskutierte  An- 
schluss an  das  Pumpwerk  der  Altstadt  erfolgte  erst  Mitte  des  19.Jahrhunderts,  als 
die  stadtischen  Wasserversorgungsanlagen  generell  modernisiert  wurden. 

Zwecks  Beschaffung  einer  groBeren  Wassermenge  kam  es  wiederholt  zu  Ver- 
anderungen der  Quellfassungen,  zur  VergroBerung  derTeiche  und  zu  Versuchen 


139  Schuster,  wie  Anm.  136,  S.  26  u.  140. 

140  HStAH  Dep.  103  XXIV  Nr.  5477. 

141  HStAH  Dep.  103  XXIV  Nr.  4930. 

142  Vgl.  HStAH  Cal.  Br.  8  Nr.  673. 

143  HStAH  Harm.  69  Hannover  B  Nr.  339. 

144  HStAH  Cal.  Br.  8  Nr.  673. 

145  Ebd.  u.  HStAH  Dep.  103  XXIV  Nr.  4079. 


Vom  Umgang  mit  einer  begrenzten  Ressource  205 

der  ErschlieBung  weiterer  Wasservorkommen,  teils  durch  das  Hofbauamt,  teils 
durch  die  Neustadt,  wobei  nahezu  jede  Veranderung  erfolglos  blieb  und  ledig- 
lich  den  Vorwurf  der  Wasserentziehung  derjeweils  anderen  Seite  mit  sich  brach- 
te.146  Alle  diese  Verbesserungsversuche  konnten  offensichtlich  nicht  von  Erfolg 
sein,  weil  das  im  Quellgebiet  hervortretende  Wasser  niederschlags-  und  somit 
jahreszeitabhangig  war.  Das  vergebliche  Unterfangen,  eine  ergiebige  Quelle 
durch  das  DurchstoBen  der  wasserundurchlassigen  Kalksteinschicht  zu  errei- 
chen,  zeigt  aber,  dass  die  genannte  Tatsache  damals  nicht  erkannt  wurde.147  In- 
teressant  ist  die  Tatsache,  dass  die  als  Reservoirs  genutzten  Teiche  mit  einem  zu- 
satzlichen  Abfluss  in  einen  Bach  und  letztlich  in  die  Ihme  versehen  waren,  also 
nicht  das  gesamte  verfiigbare  Wasser  in  die  Neustadt  geleitet  oder  anderweitig  ge- 
nutzt  wurde.148  Damit  liegt  der  Schluss  nahe,  dass,  ahnlich  wie  fur  die  Flusswas- 
serversorgung  der  Altstadt  gezeigt  wurde,  die  vorhandenen  Rohrleitungen  nicht 
ausreichten,  um  das  vorhandene  Wasser  in  die  Stadt  zu  schaffen.  Dennoch  erfolg- 
te  nicht  der  Versuch,  diesem  Mangel  abzuhelfen,  wie  es  moglicherweise  durch 
die  Anlage  einer  zweiten  Leitung  hatte  geschehen  konnen.  Ab  1754  verlief  die 
vorhandene  Leitung  in  der  Allee  vom  Kiichengarten  zur  Neustadt,  sodass  Kon- 
flikte  durch  Grundstiicksquerungen  nicht  mehr  zu  befiirchten  waren.  Im  Jahr 
1752  erhielt  der  Neustadter  Magistrat  finanzielle  Hilfen  der  Landesregierung  zur 
Anlage  der  betreffenden  Rohrenleitung,  sodass  hier  die  Moglichkeit  bestanden 
hatte,  eine  leistungsfahigere  Leitung  anzulegen.149  Durch  den  oftmals  schlechten 
Zustand  der  Holzrohre  wird  auch  der  Wasserdruck  nicht  besonders  hoch  gewe- 
sen  sein.  Auch  derUmstand,  dass  die  Nutzung  der  vorhandenen  Hausanschliisse 
auf  Kosten  der  offentlichen  Zapfstellen  ging  und  diese  nahezu  trockenlegte,  zog 
auBer  erneuten  Modifikationen  der  Anlage  keine  weit  reichenden  Konsequenzen 
nach  sich.  Hier  zeigt  sich  allenfalls,  dass  eine  relativ  kleine  Gruppe  von  Inhabern 
derartiger  Hausanschliisse  privilegiert  war,  ohne  dass  sich  Protest  dagegen  reg- 
te.150  Somit  diirfte  das  Problem  des  Wassermangels  zumindest  fur  das  All- 
tagsleben  ohne  allzu  groBe  Bedeutung  gewesen  sein. 

Zu  erwahnen  ist  noch,  dass  die  Lindener  Quelle  ab  1676  auch  die  Herrenhau- 
ser  Garten  versorgte.  Da  die  zur  Verfiigung  stehende  Wassermenge  fur  die  Gar- 
tenanlagen  und  die  Wasserspiele  bei  Weitem  nicht  ausreichte,  kam  1694  eine 
doppelte  Rohrenleitung  vom  Benther  Berg,  siidwestlich  der  Stadt  gelegen,  hinzu. 
Doch  erst  derBau  eines  Flusswasserpumpwerks  zwischen  1718  und  1720  konnte 


146  HStAH  Cal.  Br.  8  Nr.  673  u.  Hann.  88  A  Nr.  3172. 

147  HStAH  Cal.  Br.  8  Nr.  673. 

148  HStAH  Dep.  103  XXIV  Nr.  5107. 

149  HStAH  Cal.  Br.  8  Nr.  673. 

150  Vgl.  HStAH  Hann.  88  A  Nr.  3233. 


206  Olaf  Grohmann 

die  Versorgung  sicherstellen;  die  beiden  Rohrenleitungen  wurden  einige  Jahre 
spater  auBer  Betrieb  genommen.  Eine  ausfiihrliche  Beschreibung  der  Wasserver- 
sorgungsanlagen  der  Herrenhauser  Garten  wiirde  den  Rahmen  dieses  Beitrages 
sprengen  und  muss  daher  unterbleiben. 

Die  Abwasserentsorgung 

Die  Abwasserableitung  im  friihneuzeitiichen  Hannover  erfolgte  weitestgehend 
oberirdisch  durch  Gossen  und  Rinnen.151  Zwischen  der  Alt-  und  Neustadt  be- 
standen  beziiglich  der  Abwasserableitungseinrichtungen  keine  grundsatzlichen 
Unterschiede,  lediglich  die  Menge  des  zur  Verfiigung  stehenden  und  somit  abzu- 
fiihrenden  Leitungswassers  war  in  der  Neustadt  geringer.  Im  Unterschied  zu  den 
mittelalterlichen  Zustanden  waren  die  StraBen  in  Hannover  im  17.  und  18.  Jahr- 
hundert  weitgehend  befestigt  und  mit  Steinpflaster  versehen.  Generell  muss  be- 
ziiglich des  friihneuzeitiichen  Abwasseraufkommens  beriicksichtigt  werden,  dass 
in  den  Hausern  relativ  wenig  Wasser  zur  Verfiigung  stand  und  verbraucht  wurde, 
abgesehen  von  der  Wassernutzung  zu  gewerblichen  Zwecken.  Daher  nahm  die 
Ableitung  von  Regenwasser  neben  derjenigen  von  Brauch-  und  Spiilwasser  den 
groBten  Raum  ein. 

In  der  hannoverschen  Altstadt  des  18.  Jahrhunderts  verlief  das  Gossengefalle 
der  kleinen  StraBen  hin  zu  den  groBen  StraBen  OsterstraBe,  MarktstraBe, 
LeinstraBe,  KobelingerstraBe  und  SchmiedestraBe,  diese  wiederum  wurden  weit- 
gehend in  den  u-formig  um  die  Stadt  herumfuhrenden  so  genannten  Kotgraben 
entwassert,  der  am  Steintor  begann  und  an  der  Klickmiihle  in  die  Leine  miinde- 
te.152  Nur  aus  wenigen  StraBen  und  Platzen  in  der  Nahe  der  Leine  liefen  die  Ab- 
wasser  direkt  in  den  Fluss.153  Aus  den  StraBen  der  Calenberger  Neustadt  wurde 
das  Wasser  in  die  Leine  und  in  die  Stadtgraben  abgefiihrt.  Das  Siedlungsgebiet 
Auf  dem  Brande  wurde  in  die  Leine  entwassert,154  die  nordlichen  Bereiche  der 
Siedlung  mittels  Abzug  durch  das  Clevertor  gleichermaBen.155  Der  Abzug  in  die 
Stadtgraben  erfolgte  in  westlicher  Richtung.156  Die  Funktionsfahigkeit  der  ober- 
irdischen  Abwasserableitung  hing  von  verschiedenen  Faktoren  ab.  Nach  Bauar- 
beiten,  wie  sie  beispielsweise  zur  Reparatur  der  Wasserleitungsrohre  haufig  vor- 
kamen,  musste  darauf  geachtet  werden,  das  StraBenpflaster  und  die  Gossen  mit 


151  Vgl.  u.a.  HStAH  Harm.  72  Hannover  Nrr.  225,  227,  230. 

152  StAH  B  6005. 

153  Ebd.  u.  Hann.  69  Hannover  B  Nr.  184. 

154  HStAH  Hann.  88  A  Nr.  3165  u.  Dep.  103  XXIV  Nr.  5543. 

155  HStAH  Hann.  47  Nr.  207  I  u.  II. 

156  HStAH  Hann.  80  Hannover  I  Cd.  Nr.  591. 


Vom  Umgang  mit  einer  begrenzten  Ressource  207 

dem  richtigen  Gefalle  wiederherzustellen.157  Die  Gossen  durften  nicht  durch  ab- 
gestellte  Gegenstande  blockiert  sein,  sie  mussten  mehrmals  wochentlich  gerei- 
nigt  und  im  Winter  vom  Eis  befreit  werden.  Jeder  Hausbesitzer  war  verpflichtet, 
die  Gosse  bei  der  regularen  Reinigung  des  Pflasters  vor  seinem  Haus  zu  saubern, 
er  war  auch  fur  den  Zustand  des  FuBweges  und  der  Gosse  verantwortlich  und 
musste  beides  notigenfalls  instand  setzen  lassen.  Auf  offentlichen  Platzen  erfolgte 
dies  durch  den  Magistrat.  Vor  den  Hauseingangen  durften  die  Gossen  nur  mit  be- 
sonderer  Genehmigung  mit  Bohlen  iiberdeckt  werden.158 

Idealerweise  sollten  nur  Abwasser  ohne  feste  Bestandteile  und  Beimengungen 
von  Exkrementen  oder  Unrat  durch  die  Gossen  abflieBen,159  doch  wardiese  Vor- 
gabe  unmoglich  zu  erfiillen,  weil  schon  die  dazu  notwendige,  absolute  Reinhal- 
tung  der  StraBen  nicht  zu  erreichen  war.  So  stand  stinkendes  und  unreines  Was- 
ser  in  den  Gossen,  weil  Jauche  und  Unflatereyen  auf  die  StraBen  geschiittet  wur- 
den.160  Dem  Anspruch,  nur  Wasser  durch  die  Gossen  abzuleiten,  stand  das 
Vorhandensein  von  so  genannten  Gossensteinen  diametral  entgegen.  Gossen- 
steine  waren  kurze  Abzugsrinnen,  die  an  Mauerdurchbriichen  der  Hauserwande 
angebracht  waren  und  durch  die  Spill-  und  Waschwasser  aus  den  Hausern  in  die 
Gossen  abgleitet  wurden.161  Es  ist  wahrscheinlich,  dass  durch  die  Gossensteine 
auch  feste  Abfalle  hinausgespiilt  wurden.  Aus  derzweiten  Halfte  des  17.Jahrhun- 
derts  sind  etliche  Auseinandersetzungen  zwischen  Hauseigentiimern  iiber  die 
Gossensteine  uberliefert.  Dabei  wurde  bemangelt,  dass  das  aus  der  Hohe  herab 
fallende  Wasser  verweht  wurde,  beim  Aufprall  aufspritzte  und  dabei  die  Hauser- 
wande verschmutzte  und  langfristig  zu  Schaden  an  der  Bausubstanz  fiihrte.162 
Ein  Problempunkt  dabei  war  auch  die  Ableitung  der  Abwasser  durch  fremde 
Grundstiicke.163  Eine  landesherrliche  Verordnung  aus  demjahr  1731  untersagte 
schlieBlich  die  Neuanlage  von  Gossensteinen,  in  jiingster  Vergangenheit  Ange- 
legte  mussten  abgebrochen  werden,  nur  die  seit  langerer  Zeit  Vorhandenen  durf- 
ten weiter  benutzt  werden.  Allerdings  waren  diese  mit  einer  kupfernen  Trommel,  ei- 
nem  Fallrohr  bis  zum  Boden  zu  versehen.  Die  Verordnung  zielte  darauf  ab,  die 
Beschmutzung  derSteinwege  und  die  itesw<Mw?zgderPassantenzu  vermeiden.164 

Problematisch  gestaltete  sich  auch  die  Entwasserung  der  Privatgrundstiicke, 
die  wichtigsten  Begriffe  dabei  waren  Tropfenfall  und  Wassergang.  Mit  beiden 


157  StAH  B  8091  I. 

158  Ebd. 

159  Ebd.  u.  HStAH  Hann.  72  Hannover  Nr.  230. 

160  Vgl.  Hannoversche  Anzeigen,  22.  August  1763  u.  14.  Juni  1771. 

161  StAH  B  8091 1. 

162  Vgl.  HStAH  Hann.  72  Hannover  Nrr.  68,  202,  225  u.  Dep.  103  XXIV  Nr.  5207. 

163  Vgl.  HStAH  Dep.  103  XXIV  Nr.  5207. 

164  StAH  B  8091 1. 


208  Olaf  Grohmann 

wurden  einerseits  konkrete  Einrichtungen  zur  Abwasserableitung  bezeichnet, 
andererseits  belegte  man  auch  das  Recht  der  Abwasserableitung  iiber  nachbarli- 
che  Grundstiicke  mit  diesen  Bezeichnungen.  Der  Tropfenfall  bezog  sich  auf  die 
Abfiihrung  des  Regenwassers  von  den  Dachern.  Die  giebelstandige  Ausfiihrung 
der  meisten  Hauser  und  die  geringe  GroBe  der  Grundstiicke  fiihrten  dazu,  dass 
Regenwasser  von  den  Dachern  auf  Nachbargrundstiicke  tropfte,  die  Berechti- 
gung,  Regenwasser  so  abzuleiten,  beziehungsweise  die  Ableitung  dulden  zu  miis- 
sen,  lag  auf  den  jeweiligen  Grundstiicken  und  wirkte  sich  auf  die  Bebauung  aus. 
Eine  Vorschrift  aus  dem  Jahr  1523  besagte,  dass  Aborte,  Privete  genannt,  erst  in 
einer  Entfernung  von  5  Va  FuB  zum  Tropfenfall  eingerichtet  werden  durften,  war 
kein  Tropfenfall  vorhanden,  betrug  der  Abstand  nur  3  FuB.165  1572  bestimmte 
der  Rat  der  Stadt,  dass  der  Bereich  des  Tropfenfalls  nur  mit  Einwilligung  des  In- 
habers  bebaut  werden  durfte.  Die  recht  komplizierte  Verordnung  besagte,  dass 
derjenige,  der  seinen  Tropfenfall  gegen  des  Nachbarn  Hof  gehen  lieB,  zur  Auf- 
nahme  des  Wassers  mit  seinen  Gebauden  1  Va  FuB  zuriickweichen  musste.  Hatte 
jemand  einen  Tropfenfall  in  des  Nachbarn  Hof  und  war  gleichzeitig  Eigentiimer 
des  Grundstiicks,  durfte  der  Tropfenfall  auch  von  dem  Nachbarn  nicht  bebaut 
werden.  War  das  Recht  des  Tropfenfalls  jedoch  nicht  auf  Eigentum,  sondern  auf 
Berechtigung  gegriindet,  durfte  der  Eigentiimer  sein  Grundstiick  in  diesem  Be- 
reich nicht  meuerlich  bebauen.  Befanden  sich  dort  bereits  Gebaude,  durfte  er  die- 
se  mit  Aufnahme  des  Tropfenfalls  aber  erhohen.166  Diese  Vorschriften  hatten 
auch  im  18.  Jahrhundert  noch  Giiltigkeit.167  Die  Anbringung  von  Dachrinnen 
verlagerte  bestehende  Probleme  in  diesem  Zusammenhang  allenfalls.  Abgese- 
hen  davon,  dass  es  darum  auch  zu  nachbarschaftlichen  Auseinandersetzungen 
kam,168  verfiigten  die  meisten  Hauser  nicht  iiber  Fallrohre  an  den  aus  Holz  oder 
Blech  hergestellten  Dachrinnen.  Das  Wasser  floss  iiber  hervorstehende  Ausgiisse 
ab  und  verursachte  ahnliche  Probleme  wie  die  Gossensteine.169 

Aus  den  Grundstiicken  erfolgte  die  Abwasserableitung  durch  Rinnen,  die 
Wassergange  hieBen.  Ahnlich  wie  beim  Tropfenfall  regelte  hier  das  Recht  des 
Wasserganges  die  Art  der  Ableitung  und  die  Instandhaltung  der  Rinnen.  Verlie- 
fen  diese  zwischen  den  Hausern,  war  der  Inhaber  des  Tropfenfalls  fiir  die  Rinne 
zustandig.170  Schwierigkeiten  entstanden,  wenn  die  Wassergange  nicht  regelma- 
Big  gereinigt  wurden  oder  durch  BaumaBnahmen  ein  anderes  Gefalle  erhielten. 


165  Ebd. 

166  Ebd. 

167  Ebd.  u.  HStAH  Hann.  76a  Nr.  1641. 

168  Vgl.  HStAH  Hann.  72  Hannover  Nr.  183. 

169  Vgl.  Hannoversches  Magazin,  30.  Juni  1802. 

170  HStAH  Hann.  72  Hannover  Nr.  52. 


Vom  Umgang  mit  einer  begrenzten  Ressource  209 

Auseinandersetzungen  iiber  beschadigte  Fundamente  und  nasse  Keller  waren 
dann  die  Folge.171  Das  Recht  des  Wasserganges  iiber  benachbarte  Grundstiicke 
bezog  sich  idealtypisch  auch  nur  auf  Abwasser  ohne  feste  Bestandteile  oder 
Exkremente,  in  der  Realitat  lieB  sich  diese  Vorschrift  kaum  einhalten,  wie  ver- 
schiedene  nachbarliche  Auseinandersetzungen  dariiber  belegen.172  Noch  pro- 
blematischer  war  diese  Art  der  Abwasserableitung,  wenn  die  Wassergange  durch 
benachbarte  Hauser  hindurchfiihrten,  was  fiir  einige  Grundstiicke  in  der  hanno- 
verschen  Alt-  und  Neustadt  belegt  ist.173  Die  Unterlagen  geben  keinen  Hinweis 
auf  die  bauliche  Ausfiihrung  dieser  Durchleitungen,  vermutlich  bestanden  sie 
aus  iiberdeckten  Rinnen,  bei  Rohren  hatte  eher  die  Gefahr  der  Verstopfung  be- 
standen. 

Welchen  Schwierigkeiten  die  Bestrebungen  des  Rates,  den  StraBen  ein  ange- 
messenes  Gefalle  zu  geben  und  so  eine  funktionierende  Abwasserableitung  zu 
garantieren,  unterworfen  waren,  zeigte  sich  beispielhaft  bei  der  ab  1747  errichte- 
ten  Aegidienneustadt.  Diese  wurde  mit  einem  hervorragenden  Gossenwerk  ausge- 
stattet,  1764  traten  jedoch  Probleme  mit  dem  Gefalle  auf,  offenbar  hervorgerufen 
durch  bauliche  Veranderungen  seitens  einiger  Hauseigentiimer.174 

Wie  bereits  erwahnt,  wurden  kleinere  Bereiche  derhannoverschen  Altstadt  in 
die  Leine  entwassert;  aus  den  StraBen  der  Calenberger  Neustadt  liefen  die  Ab- 
wasser entweder  in  den  Stadtgraben  oder  in  die  Leine.  Fiir  die  Entwasserung  wa- 
ren Durchlasse  in  den  Stadtbefestigungen  notwendig,  in  zwei  Fallen  dienten  auch 
kurze  unterirdische  Kanale  als  Vorfluter.  Einer  dieser  Kanale  leitete  das  Wasser 
von  den  StraBen  des  Brandes  in  der  Neustadt  in  die  Leine  ab.  Der  Kanal  entstand 
1684,  als  der  existierende  offene  Wasserabzug,  der  von  einer  Briicke  iiberspannt 
war,  iiberwdlbt  und  somit  in  einen  unterirdischen  Kanal  umgewandelt  wurde.175 
Er  verlief  unter  zwei  herrschaftlichen  Hausern,  dem  Wagenhaus  am  Archivplatz 
und  miindete  in  den  Miihlenkolk  der  Briickmiihle.176  Im  Jahr  1720  fanden  In- 
standsetzungsarbeiten  statt,  1735  musste  die  Anlage  erneuert  werden,  ein  massi- 
ver,  gemauerter  Kanal  entstand.177  1748  erfolgte  der  Beschluss,  den  Kanal  an  der 
Miindung  mit  Klappen  zu  versehen,  um  zu  verhindern,  dass  bei  hohen  Wasser- 
standen  der  Leine  Wasser  durch  den  Kanal  in  die  Stadt  hinein  gedriickt  wurde 
und  die  StraBen  des  Brandes  iiberflutete.178  Klagen  iiber  den  Kanal  wurden  im 


171  HStAH  Harm.  72  Hannover  Nrr.  129,  177,  184  u.  StAH  A  650. 

172  Ebd. 

173  HStAH  Hann.  72  Hannover  Nr.  230,  Cal.  Br.  8  Nr.  1132  u.  Dep.  103  XXIV Nr.  5082. 

174  StAH  A  2803. 

175  HStAH  Dep.  103  XXIV  Nr.  5543. 

176  HStAH  Dep.  103  XXIV  Nrr.  5102  u.  5499. 

177  HStAH  Dep.  103  XXIV  Nr.  5102. 

178  HStAH  Dep.  103  XXIV  Nr.  5499. 


210  Olaf  Grohmann 

Jahr  1789  laut,  als  die  Anlage  verschlammt  war  und  sich  zugesetzt  hatte.  Das  Ab- 
wasser  lief  nicht  mehr  ab,  Regen-  und  Tauwasser  setzte  die  StraBen  unter  Was- 
ser.179  Ein  ahnlicher  Kanal  existierte  seit  1714  in  der  Altstadt.  Er  entstand  im  Zuge 
der  Erbauung  des  Marstalls  und  des  Reithauses  zur  Entwasserung  des  betreffen- 
den  Areals.180 

Der  hannoverschen  Altstadt  diente  der  so  genannte  Kotgraben  als  Vorfluter. 
Er  zog  sich  vom  Stein  tor  u-formig  um  die  Stadt  herum  und  miindete  oberhalb  der 
Klickmiihle  in  die  Leine.  In  einer  Aktennotiz  aus  dem  Jahr  1787  findet  sich  der 
Hinweis,  derGraben  sei  schon  seitjahrhunderten  vorhanden,181  die  genauen  Ur- 
spriinge  dieses  Grabens  gehen  aus  den  Unterlagen  jedoch  nicht  hervor.  Seine  La- 
ge  unmittelbar  auBerhalb  der  mittelalterlichen  Stadtmauer  der  Altstadt  fiihrt  zu 
dem  Schluss,  dass  es  sich  dabei  um  den  ehemaligen  Befestigungsgraben  der  Stadt 
handelte.  Dafiir  spricht  auch  der  Verlauf  des  Grabens.  In  einer  Darstellung  der 
mittelalterlichen  Befestigung  der  Stadt  findet  sich  der  Hinweis,  der  Graben  sei 
nur  durch  Abwasser  aus  der  Stadt,  die  durch  Durchlasse  in  der  Mauer  hineinge- 
langten,  gefiillt  worden  und  sei  zwischen  Leine  und  Steintor  standig  trocken  ge- 
wesen.  Im  17.  Jahrhundert  erfolgte  dann  die  Bebauung  dieses  Abschnittes.  Schon 
durch  die  Anlage  eines  zweiten  Grabens  im  15.  Jahrhundert  verlor  der  innere 
Graben  an  Bedeutung  fur  die  Befestigung,  seinen  Zweck  in  dieser  Beziehung  ver- 
lor er  jedoch  vollig  nach  Fertigstellung  der  ab  Mitte  des  16.  Jahrhunderts  erstell- 
ten  Bastionarsbefestigung.  So  scheint  es  naheliegend,  dass  bei  Anlage  der  neuen 
Befestigung  der  auBere  Graben  den  Bastionen  weichen  musste,  der  innere  aber 
als  Vorfluter  weiter  genutzt  wurde.  Das  Gefalle  dieses  Grabens  fiihrte  vom  Stein- 
tor um  die  Stadt  herum  zur  Leine  oberhalb  der  Klickmiihle 182  und  belief  sich  auf 
neun  FuB  und  drei  Zoll.  Bei  einer  Gesamtlange  des  Grabens  von  323  lh  Calenber- 
gischen  Ruten  ergibt  sich  daraus  ein  durchschnittliches  Gefalle  von  1,7  Promille, 
das  allerdings  nicht  gradlinig  verlief.  Hatte  der  steilste  Abschnitt  des  Grabens  ein 
Gefalle  von  3,5  Prozent,  so  wies  der  flachste  Bereich  mit  0,2  Promille  fast  keinen 
Fall  auf.183  Die  Abwasserableitungen  aus  den  StraBen  erfolgten  im  kleinen  und 
groBen  Wolfshorn,  nahe  des  Brauhauses  an  der  OsterstraBe,  im  Bereich  der 
Aegidienneustadt,  wo  auch  die  Abwasser  aus  der  iibrigen  OsterstraBe,  Kobe- 
linger-  und  MarktstraBe  abliefen.  Die  Abwasser  aus  der  Knochenhauer-  und 
SchmiedestraBe  sowie  der  StraBe  hinter  der  Mauer  gelangten  am  Steintor  in  den 


179  HStAH  Dep.  103  XXIV  Nr.  5543. 

180  HStAH  Dep.  103  XXIV  Nr.  5505. 

181  HStAH  Hann.  92  XXXI.  II.  Nr.  la. 

182  Ebd. 

183  Umgerechnet  hatte  der  Graben  ein  Gefalle  von  2,7  m  bei  einer  Lange  von  etwa 
1,5  km. 


Vom  Umgang  mit  einer  begrenzten  Ressource  211 

Dort  existierte  ein  kleiner  mit  Bohlen  bedeckter  Abzugskanal,  der 
1742  ausgebaut  wurde.185 

Zum  Gegenstand  des  offentlichen  und  behordlichen  Interesses  wurde  der  Gra- 
ben  aufgrund  der  von  ihm  ausgehenden  Ausdiinstungen.186  Idealtypisch  sollte  er 
nur  Abwasser  abfiihren,  aus  den  StraBen  gelangten  jedoch  auch  Dreck,  Unrat 
und  Exkremente  hinein,  hemmten  den  Abfluss  und  fiihrten  zur  Faulnis  des  Was- 
sers.  Dariiber  hinaus  verstarkte  mangelnde  Wasserzufiihrung  die  Probleme 
noch.187  Die  Bemiihungen  um  bauliche  und  sonstige  Verbesserungen  des  Vorflu- 
ters  sind  fur  das  18.  Jahrhundert  gut  dokumentiert.  Um  groBere  Stauungen  zu  be- 
seitigen,  wurde  der  Graben  einmal  jahrlich  griindlich  gesaubert  und  wochentlich 
oberflachlich  gereinigt.188  Verschlimmert  wurde  die  Situation  dadurch,  dass  etli- 
che  Hausbesitzer,  deren  Grundstiicke  unmittelbar  an  die  alte  Stadtmauer  grenz- 
ten,  iiber  dem  Graben  Aborte  angelegt  hatten. 189  Zur  Verbesserung  des  Abf lusses 
wurde  der  Graben  von  einem  am  Steintor  befindlichen  Notbrunnen  aus  regelma- 
Big  gespiilt,  durch  das  wechselnde  Gefalle  und  die  unebene  Sohle  des  Grabens 
wirkte  sich  diese  MaBnahme  allerdings  kaum  positiv  aus.190  Verbesserungsvor- 
schlage  sahen  die  Auskleidung  und  Bedeckung  des  Grabens  mit  Bohlen  vor,  bei- 
des  wurde  nicht  ausgefiihrt.  Viel  versprechend  schien  auch  der  Vorschlag  zu  sein, 
das  Gefalle  des  Grabens  etwa  nach  der  halben  Strecke  zu  unterbrechen,  um  mit- 
tels  Wasserzufuhr  aus  dem  Schiff graben,  der  auch  die  Stadtbefestigung  speiste,  ei- 
nen  Abfluss  des  ersten  Grabenabschnitts  in  die  Leine  unterhalb  der  Stadt  zu  er- 
reichen.  Dazu  ware  eine  durch  den  Reitwall  gehende  unterirdische  Verbindung 
mit  dem  erwahnten  Kanal  am  Marstall  notwendig  gewesen.191  Auch  dieser  Vor- 
schlag gelangte  ebenso  wenig  zur  Ausfiihrung  wie  derjenige,  an  verschiedenen 
Stellen  des  Grabens  Schiitze  anzubringen,  um  so  genannte  Schwallspulungen 
vornehmen  zu  konnen.192 

Im  Jahr  1770  kam  der  Plan  auf,  die  Abwasser  durch  den  Wall  der  Stadtbefesti- 
gung in  die  Stadtgraben  zu  leiten,  um  so  den  Kotgraben  vollig  abschaffen  zu  kon- 
nen. Das  Vorhaben  scheiterte  am  Widerstand  der  Anlieger,  die  von  ihren  Grund- 
stiicken  direkte  Abwasserabziige  in  den  Graben  eingerichtet  hatten.193  Angelegt 


184  HStAH  Harm.  93  Nr.  2095  I  u.  II. 

185  HStAH  Harm.  93  Nr.  2099. 

186  HStAH  Harm.  92  XXXI.  II.  Nr.  la  u.  Harm.  93  Nr.  2095  I  u.  II. 

187  HStAH  Harm.  93  Nr.  2095  I  u.  II. 

188  Ebd. 

189  Ebd.  u.  StAH  A  6011. 

190  HStAH  Harm.  93  Nr.  2095  I  u.  II 

191  Ebd.  u.  Dep.  103  XXIV  Nr.  5505. 

192  HStAH  Harm.  93  Nr.  2095  I  u.  II. 

193  Ebd.  u.  StAH  A  6005. 


212  Olaf  Grohmann 

wurden  zwei  Ableitungen  in  den  Stadtgraben,  eine  beim  Steintor,  die  andere  siid- 
westlich  der  Aegidienneustadt  in  den  Nothelfergraben,  allerdings  mit  dem  Er- 
folg,  dass  nun  der  ganze  Stadtgraben  in  Fdulnis  versetzt  wurde.194  In  diesem  Zu- 
sammenhang  erfolgte  die  Umwandlung  des  Grabenabschnitts  zwischen  dem  Ae- 
gidienanbau  und  der  Leine  in  eine  verdeckte  Abzugsrinne,  einen  so  genannten 
Plattenkanal,  zur  Abfiihrung  der  Abwasser  aus  den  Hofen  der  Hauser  an  der 
LeinstraBe  in  die  Leine  bei  der  Klickmiihle.195  Bedingt  durch  die  Stadterweite- 
rung  mit  Anlage  der  Aegidienneustadt  war  schon  ein  kurzes  Stuck  unterirdischen 
gemauerten  Grabens  entstanden.196  Damit  war  auf  einem  kleinen  Teilstiick  er- 
folgt,  was  schon  seit  1733  als  einzig  Erfolg  versprechende  MaBnahme  wiederholt 
vorgeschlagen,  aber  aus  Kostengriinden  nie  ausgefuhrt  worden  war,  die  vollstan- 
dige  Substitution  des  Grabens  durch  einen  unterirdischen  Kanal.197  Die  Ge- 
legenheit  dazu  bot  sich,  als  der  Landesherr  sich  1775  entschloss,  den  Abbau  der 
Befestigungen  zu  beschleunigen  und  den  Altstadter  Wall  zugunsten  des  Stadtaus- 
baus  komplett  abtragen  zu  lassen,198  die  Arbeiten  begannen  1779.  Der  anzule- 
gende  Kanal  sollte  vom  Steintor  her  dem  Verlauf  der  neuen  GeorgstraBe  folgen, 
die  Aegidienneustadt  iiber  den  schon  vorhandenen  Teil  anschlieBen  und  in  der 
seit  1781  angelegten  FriedrichstraBe  entlang  bis  zur  Leine  verlaufen,  um  dann 
oberhalb  der  Klickmiihle  in  den  Fluss  zu  miinden,  sein  Verlauf  war  also  mit  dem 
des  Grabens  nicht  vollstandig  identisch.199 

Fiir  die  stadtebaulichen  Veranderungen  gewahrte  der  Landesherr  der  Altstadt 
1787  einen  Zuschuss  von  insgesamt  15.000  Reichstalern,  die  in  vier  jahrlichen  Ra- 
ten  von  3.500  Reichstalern  ausgezahlt  wurden.200  Derneue  Kanal  allein  kostete 
fast  14.000  Reichstaler;201  er  wurde  1788  fertig  gestellt  und  hatte  eine  Lange  von 
5.385  FuB,  eine  Breite  von  3Va  FuB  und  war  zwischen  fiinf  und  sieben  FuB 
hoch.202  Im  selbenjahr  entstanden  auch  fiinf  so  genannte  Plattenkanale  aus  Qua- 
dern  und  Rauhsteinen  fiir  Abwassereinleitung  in  den  Vorfluter.  Diese  lagen  im 
kleinen  und  groBen  Wolfshorn,  hinter  dem  Landschaftlichen  Haus,  dem  Brauer- 
gildehaus  und  in  der  Aegidienneustadt.203  Sie  hatten  einen  Durchmesser  von  2 


194  StAH  A  6006  u.  HStAH  Harm.  92  XXXI.  II.  Nr.  la. 

195  HStAH  Harm.  93  Nr.  2095  I,  12  c  Hannover  4  22pm,  Cal.  Br.  8  Nr.  971. 

196  HStAH  Hann.  92  XXXI.  II.  Nr.  la  u.  Hann.  76a  Nr.  2801. 

197  HStAH  Hann.  92  XXXI.  II.  Nr.  la. 

198  HStAH  Hann.  93  Nr.  2095  I  u.  II. 

199  Ebd. 

200  StAH  A  6006. 

201  StAH  B  4188. 

202  Burckhard  Christian  von  Spilcker,  Historisch-topographisch-statistische  Beschrei- 
bung  der  koniglichen  Residenzstadt  Hannover,  Hannover  1819,  S.  360. 

203  HStAH  Hann.  93  Nr.  2096  I  u.  II. 


Vom  Umgang  mit  einer  begrenzten  Ressource  213 

bis  2Va  FuB  und  zusammen  eine  Lange  von  1.615  FuB.204  Dazu  kamen  noch  zwolf 
weitere  Abziige  in  den  Kanal,  teils  offen,  teils  bedeckt.205  Auch  der  noch  vorhan- 
dene  Plattenkanal  zur  Entwasserung  der  LeinstraBe  miindete  nun  in  den  Kanal, 
hatte  aber  nach  wie  vor  eine  Verbindung  zur  Leine.206  Bei  Inbetriebnahme  des 
Vorfluters  am  30.  August  1788  wurde  ein  eigens  dafiir  hergestelltes  kleines  Boot 
am  Steintorin  den  Kanal  eingebracht.  Es  legte  die  Strecke  bis  zum  Auslass  an  der 
Klickmiihle  in  42  Minuten  zuriick,  woraus  man  eine  FlieBgeschwindigkeit  des 
Wassers  im  Kanal  von  128  FuB,  entsprechend  etwa  37  Metern,  in  der  Minute  er- 
rechnete.207 

Der  neue  Kotkanal  sollte  nur  Gassen-,  Regen-  und  Spiilwasser  aufnehmen,  nicht 
jedoch  Jauche  und  Unrat.208  Diese  Vorschrift  war  praktisch  nicht  einzuhalten, 
was  sich  in  den  folgenden Jahren  an  der  Verschlammung  des  Kanals  und  der  zu- 
nehmenden  Geruchsentwicklung  zeigte.  Beides  fiihrte  man  auf  mangelndes 
Gefalle  und  fehlende  Wasserzufuhr  zuriick.209  Im  Jahr  1798  wurden  die  Kanal- 
einlasse  in  der  Breite  StraBe  geandert  und  zwei  neue  Notbrunnen  zum  Spiilen  an- 
gelegt.210  Die  vorhandenen  Probleme  setzten  sich  jedoch  im  19.  Jahrhundert 
nicht  nur  fort,  sondern  verschlimmerten  sich  mit  dem  weiteren  Ausbau  derKana- 
lisation.  Im  Zusammenhang  mit  der  zunehmenden  Ausdehnung  der  Stadt  kam  es 
ab  1845  zur  Durchfiihrung  mehrerer  Kanalisationsprojekte,  in  deren  Verlauf 
auch  der  Kotkanal  umgebaut  wurde.  Die  Inbetriebnahme  einer  zentralen  Was- 
serversorgungsanlage  imjahr  1878  verschlimmerte  durch  das  wachsende  Abwas- 
seraufkommen  die  Entsorgungsprobleme  der  Stadt  erheblich.  Erst  der  vollstan- 
dige  Neubau  einer  einheitlichen  Kanalisation  ab  1890  brachte  Abhilfe.211 


204  StAH  B  4189. 

205  StAH  B  8168  u.  Hannoversches  Magazin,  12.  September  1800. 

206  Ebd. 

207  HStAH  Harm.  93  Nr.  2096  I  u.  II. 

208  Ebd. 

209  Vgl.  StAH  A  6012,  A  6013,  A  6014. 

210  StAH  A  6012. 

211  Olaf  Grohmann,  Stadtentwasserung  Hannover  -  Die  Geschichte,  Hannover  2005, 
S.  107ff. 


7. 

Knappe  Ressourcen  als  Barriere  und  Triebkraft 
innovativer  Entwicklung 

Zur  Bedeutung  von  Lumpen,  Holz  und  Wasser  in  der  nieder- 
sachsischen  Papierindustrie  (19./20.  Jahrhundert) 

Von  Johannes  Laufer 


Die  rasante  Industrialisierung  des  Papiergewerbes  legte  im  19.  Jahrhundert  die 
Grundlagen  fiir  einen  bis  heute  standig  und  in  immerneuen  Dimensionen  gestei- 
gerten  Massenkonsum  von  Papier  und  Pappe.  Die  urspriinglich  hohe  Wertschat- 
zung  des  Papiers  als  Schreibstoff  oderkostbares  Verpackungsmaterial,  die  bis  ins 
friihe  20.  Jahrhundert  nachwirkte  und  in  der  Kriegs-  und  Nachkriegszeit  wieder 
auflebte,  ist  der  alltaglichen  Gewohnheit  eines  in  jiingster  Zeit  ungeziigelten  Ver- 
brauchs  selbst  hochwertiger  Papiere  gewichen.  Hohe  Produktivitatsschiibe  und 
sinkende  Papierpreise,  Fortschritte  derPapiertechnologie  und  Produktinnovatio- 
nen  kurbelten  insbesondere  den  Massenkonsum  von  Verpackungsmaterial  sowie 
Druck-  und  Presseerzeugnissen  weltweit  an.  Zurzeit  verbraucht  jeder  deutsche 
Einwohner  rechnerisch  knapp  240  kg  Papier  im  Jahr.  Deutschland  liegt  damit  an 
sechster  Stelle  der  internationalen  Verbrauchsstatistik.  Der  Papierkonsum  bietet 
gleichsam  einen  Indikator  des  Wohlstandsgefalles  zwischen  fiihrenden  Industrie- 
staaten  und  den  neuen  industriellen  Aufsteigern  oder  Schwellenlandern.  Die 
USA  verbrauchten  2003  Pro  Kopf  305  kg  Papier,  aber  China,  Russland  oder  auch 
Brasilien  nur  gut  ein  Zehntel  dessen.1 

Mit  dem  gigantischen  Wachstum  der  Papierindustrie  und  des  Papierkonsums 
ging  im  Allgemeinen  das  Bewusstsein  verloren,  dass  Papier  primar  ein  Naturpro- 


1  Verbrauch  errechnet  aus  Produktion  +  Einfuhr  -  Ausfuhr.  Statistische  Angaben  hier 
und  im  Folgenden  nach  Verband  Deutscher  Papierfabriken  e.V.  Bonn  (VDP),  Papier  2004. 
Ein  Leistungsbericht  sowie  VDP,  Papier  Kompass  2005  und  2006.  1965  lag  der  Papierver- 
brauch  je  Kopf  derBevolkerungin  den  USAbei  229  kg,  in  Schweden  (2.  Rang)  bei  164  kg,  in 
der  BRD  (9.  Rang)  bei  102  kg,  in  Japan  (12.  Rang)  bei  72  kg  und  in  der  DDR  (16.  Rang)  bei 
57  kg. 


216  Johannes  Laufer 

dukt  aus  Wasser  und  Holz  ist.2  Die  deutsche  Papierindustrie  ist  gegenwartig  der 
drittgroBte  gewerbliche  Wasserverbraucher.  Sie  verarbeitet  jahrlich  die  kaum 
vorstellbare  Menge  von  rund  4  Mio.  Raummetern  Holz  und  benotigt  dariiber 
hinaus  zusatzliche  Importe  von  Zellstoff,  Holzstoff  und  Altpapier.  Technische  In- 
novationen  und  der  Zugriff  auf  Holz  als  global  verfiigbaren  Rohstoff  schufen  die 
Voraussetzungen  fur  diese  Entwicklung,  die  urn  die  Mitte  des  19.  Jahrhunderts 
mit  der  Uberwindung  der  notorischen  und  akuten  Ressourcenknappheit  des  vo- 
rindustriellen  Papiergewerbes  einsetzte  und  um  1900  in  die  Abhangigkeit  vom 
Holz  als  Grundstoff  der  Papierindustrie  miindete. 

Die  historische  Entwicklung  des  Papiergewerbes  bietet  zur  Frage  des  Umgangs 
mit  begrenzten  Ressourcen  fur  die  niedersachsische  Landesgeschichte  ein  loh- 
nendes  Beispiel  fur  regionale  Knappheit  naturaler  Ressourcen  und  okonomische 
Anpassungsprozesse.  An  einzelnen  Standorten  Niedersachsens  existieren  bis 
heute  Papierunternehmen  mit  einer  langen,  teilweise  bis  ins  17.  Jahrhundert  rei- 
chenden  Tradition.  Die  Standortbindungen  erklaren  sich  wesentlich  durch  giin- 
stige  Vorkommen  von  Wasser  und  Holz.  Um  1830  existierte  in  den  unterschiedli- 
chen  geographischen  Raumen  und  Territorien  Niedersachsens  die  recht  beacht- 
liche  Zahl  von  74  Papiermiihlen.3  Sie  konzentrierten  sich  vor  allem  an 
Standorten  im  siidlichen  Berg-  und  Hiigelland,  die  sich  durch  natiirlichen  Reich- 
turn  an  Frischwasser  auszeichneten.  Im  weiteren  Verlauf  des  19.  Jahrhunderts 
iiberlebten  freilich  nur  wenige  der  zumeist  sehr  kleinen  Handpapiermuhlen  den 
industriellen  Umbruch  zur  Maschinenproduktion  und  die  anschlieBenden  Kon- 
zentrationsprozesse  in  der  Papierindustrie.4  1930  wurden  auf  dem  Gebiet  des 


2  Kurze  und  pragnante  Darstellung  des  Zusammenhangs  von  Papierkonsum,  Ressour- 
cen- und  Umweltproblemen  bei  Mathias  Mutz,  Die  holzerne  Revolution.  Produktion  und 
Konsum  von  Papier  im  19.  und  20.  Jahrhundert,  in:  Landesmuseum  fur  Natur  und  Technik 
(Hrsg.),  Holz-Kultur.  Von  der  Urzeit  bis  in  die  Zukunft,  Oldenburg  2007,  S.  59-64.  Der  Verf. 
dankt  Mathias  Mutz,  Gottingen,  zudem  fur  wertvolle  Hinweise  zum  Forschungsstand.  Ausge- 
zeichneter  Uberblick  iiber  die  technische  und  wirtschaftliche  Entwicklung  des  Papiergewer- 
bes sowie  die  Rohstoffsituation  von  der  Friihneuzeit  bis  zur  Gegenwart  in:  J.  Georg  Oligmul- 
LER/Sabine  Schachtner,  Papier.  Vom  Handwerk  zur  Massenproduktion,  Koln  2001. 

3  Eberhard  Tacke,  Standorte  der  Papiererzeugung  in  Niedersachsen  und  angrenzenden 
Gebieten,  in:  Neues  Archivfiir  Niedersachsen  13  (1964),  S.  251-263,  hier  S.  255,  257  und  die 
Karte  der  „Papiermiihlen  bis  zur  Aufstellung  der  ersten  Papiermaschine  in  Niedersachsen 
1834  in  Wertheim  bei  Hameln". 

4  Vgl.  Die  Wirtschaftsstruktur  im  Bezirk  des  Landesarbeitsamtes  Niedersachsen,  Wirt- 
schaftswissenschaftliche  Gesellschaft  zum  Studium  Niedersachsens  e.V,  Beitrage,  Heft  14, 
Hannover  1930,  S.  29  und  Karte  7  sowie  Kurt  Bruning,  Niedersachsen.  Land,  Volk,  Wirt- 
schaft,  Bremen-Horn  1956,  S.  228.  Aktuelle  Angaben  nach  VDP;  Giinter  Bayerl,  Die  Pa 
piermuhle.  Vorindustrielle  Papiermacherei  auf  dem  Gebiet  des  alten  deutschen  Reiches. 
Technologie,  Arbeitsverhaltnisse,  Umwelt,  Frankfurt/ Main  1987,  S.  600:  Grafik  „Papier- 
miihlenbestand  in  Niedersachsen  1450  bis  1900".  Danach  nahm  die  Zahl  der  Papiermiihlen 


Knappe  Ressourcen  als  Barriere  und  Triebkraft  217 

heutigen  Niedersachsens  etwa  20  Unternehmen  der  Papier-  und  Zellstoffin- 
dustrie  gezahlt.  Und  in  jiingster  Zeit  (1994)  gab  es  noch  18  Unternehmen  mit  fast 
6.000  Beschaftigten,  von  denen  mindestens  vier  in  der  Nachfolge  friihneuzeitli- 
cher  Papiermiihlen  stehen.  Niedersachsen  gehort  derzeit  nach  Nordrhein-West- 
falen  und  Bayern,  gleichauf  mit  Baden- Wiirttemberg,  zu  den  wichtigsten  Stand- 
orten  der  deutschen  Papierindustrie. 

Eine  umfassende  Darstellung  zum  niedersachsischen  Papiergewerbe  liegt  ab- 
gesehen  von  bedeutenden  Vorarbeiten  und  Untersuchungen  iiber  die  vorindu- 
striellen  Papiermiihlen,  die  vor  allem  Eberhard  Tacke  und  Giinter  Bayerl  leiste- 
ten,  bislang  nicht  vor.5  Recht  unterschiedlich  ist  auch  der  Informationsstand  iiber 
die  wechselhafte  historische  Entwicklung  einzelner  Standorte  oder  Unterneh- 
men. Die  folgenden  Uberlegungen  zur  Ressourcenproblematik  versuchen  den 
Bogen  von  der  vor-  und  fruhindustriellen  Zeit  bis  zur  jiingsten  Vergangenheit  zu 
schlagen.  Sie  konnen  lediglich  eine  Skizze  bieten,  die  zu  weiteren  Forschungen 
und  besonders  auch  unternehmenshistorischen  Fallstudien  anregen  mochte. 

Traditionelles  Papiergewerbe  zwischen  Lumpennot  und  friihindustrieller 
Entwicklung  (1820  bis  1860) 

Lumpen  oder  sogenannte  Hadern  aus  Leinen  und  zum  Teil  auch  aus  Baumwolle 
bildeten  die  Rohstoffbasis  des  vor-  und  fruhindustriellen  Papiergewerbes.  Pa- 
piermiihlen waren  gleichsam  Recycling-Betriebe.  Die  Haderlumpen  wurden  - 
stark  verkiirzt  formuliert  -  sortiert,  gereinigt,  in  Wasser  eingeweicht,  gekocht, 
zum  Teil  gebleicht  und  in  Schneide-,  Stampf-  und  Mahlwerken  (sogenannten 
Hollandern)  zerfasert.  In  der  Butte  entstand  ein  fliissiger  Brei,  aus  dem  der  Pa- 
piermacher  mithilfe  eines  Siebs  Papierbogen  von  Hand  schopfte,  die  anschlie- 
Bend  aufwendig  gepresst  und  getrocknet,  fur  einige  Sorten  auch  mit  Leim  be- 
schichtet  wurden.6  Art  und  Aufbereitung  der  Lumpen  bestimmten  maBgeblich 
die  Qualitat  des  Papiers.  Farbige  Lumpen  und  vor  allem  Wolllumpen  waren  we- 
niger  begehrt.  Sie  eigneten  sich  lediglich  zu  Losch-  und  Packpapieren  wie  etwa 
die  blauen  Zuckerhutverpackungen. 

Die  erhohte  Nachfrage  nach  Papier  offenbarte  in  der  zweiten  Halfte  des  18. 

bis  um  1850  noch  auf  82  zu  und  schrumpfte  bis  um  1900  auf  47. 

5  Tacke,  Standorte,  wie  Anm.  3.  Verschiedene  Aufsatze  von  Eberhard  Tacke  befinden 
sich  in  einer  Sammelmappe  in  der  Dienstbibliothek  des  Nieders.  Hauptstaatsarchivs  in 
Hannover.  Tackes  Nachlass,  der  im  Nieders.  Staatsarchiv  Wolfenbuttel  liegt,  wurde  fur  die- 
se  Studie  nicht  berucksichtigt.  Zur  Analyse  der  Standortverhaltnisse  einer  Papiermiihle  vgl. 
auch  Olaf  Mussmann,  Selbstorganisation  und  Chaostheorie  in  der  Geschichtswissenschaft. 
Das  Beispiel  des  Gewerbe-  und  Riistungsdorfes  Bomlitz  1680-1930,  Leipzig  1998. 

6  Kurze  Darstellung  bei  Oligmuller/Schachtner,  wie  Anm.  2,  S.  79-82. 


218  Johannes  Laufer 

Jahrhunderts  die  Grenzen  des  Wachstums  im  vorindustriellen  Papiergewerbe. 
Nahezu  zeitgleich  mit  der  allgemeinen  Debatte  iiber  die  Holznot  kam  um  1770  in 
Kurhannover,  Braunschweig  und  Hildesheim  die  Rede  von  einer  Lumpennot 
auf.  Vielerorts  klagten  Papiermiiller  im  friihen  19.Jahrhundert  iiber  zunehmende 
Schwierigkeiten  bei  der  Lumpenbeschaffung.7  Die  steigenden  Lumpenpreise 
nahmen  sie  zu  Recht  als  Indiz  der  Verknappung  oderdes  erhohten  Bedarfs  wahr. 
Zur  Sicherung  der  Lumpenversorgung  besaBen  die  Papiermiihlen  zwar  seit  lan- 
gem  Privilegien,  die  ihnen  besondere  Bezirke  zum  Sammeln  der  Lumpen  reser- 
vierten.8  Doch  fremde  Sammlerkauften  einen  zunehmenden  Teil  der  Lumpen  zu 
hoheren  Preisen  auf.  GemaB  derkameralistischen  Wirtschaftsdoktrin  versuchten 
die  Landesherren  schon  im  18.  Jahrhundert,  durch  MaBnahmen  wie  die  Konzes- 
sionierung  der  umherziehenden  Lumpensammler  und  Ausfuhrverbote  oder  Zol- 
le  den  Zugriff  der  inlandischen  Papiermacher  auf  den  Papierrohstoff  zu  sichern.9 
Lumpensammler  mussten  sich  durch  amtliche  Passe  fur  ihre  Bezirke  legiti- 
mieren.10  Die  staadichen  Interventionen  verhinderten  aber  nicht,  dass  sich  der 
Lumpenmangel  in  der  ersten  Halfte  des  19.  Jahrhunderts  offenbar  dramatisch 
verscharfte  und  bei  steigender  Nachfrage  den  Ausbau  der  Papierproduktion  im 
Konigreich  Hannover  zeitweise  hemmte.  Imjahre  1824  veroffentlichte  die  Ko- 
nigliche  Societat  der  Wissenschaften  zu  Gottingen  im  Interesse  derHebungder  Vater- 
landischen  Industrie  eine  okonomische  Preisaufgabe  zur  griindlichen  Erorterung  der  Man- 
gel, welche  bei  der  Papierfabrikation  in  Norddeutschland  im  Allgemeinen  angetroffen  wer- 
den  und  der  Hindernisse,  welche  ihre  Vervollkommnung  bisher  zuriickgehalten  haben  . .  .u 
Der  1826  zum  Preistragergekiirte  Papiermacher  Keferstein  aus  Crollwitz  bei  Hal- 
le setzte  sich  in  neun  Punkten  mit  den  Griinden  fur  die  Riickstandigkeit  des  nord- 
deutschen  Papiergewerbes  auseinander.12  Er  sprach  jedoch  nicht  explizit  von 


7  NHStA  Hann.  80  Hildesheim,  Nr.  5936  und  5937.  Vgl.  bes.  Viktor-L.  Siemers,  Braun- 
schweigische  Papiergewerbe  und  die  Obrigkeit.  Merkantilistische  Wirtschaftspolitik  im  18. 
Jahrhundert,  Braunschweig  2002  und  Lore  Sporhan-Krempel,  Einhundertfunfzigjahre  Pa 
piermacherei  an  der  Hase  zu  Osnabriick,  Osnabriick  1959,  S.  18;  Eberhard  Tacke,  Von  den 
Papiermachern  in  Klein  Lengden.  Ein  Beitrag  zur  Geschichte  siidhannoverscher  Papier- 
miihlen und  ihrer  Wasserzeichen,  in:  Gottinger  Jahrbuch  1955/56,  S.  3-22,  hier  S.  17  sowie 
Mussmann,  wie  Anm.  5,  S.  137. 

8  Vgl.  Bayerl,  wie  Anm.  4,  S.  370f. 

9  Zu  den  Mitteln  insbesondere  der  vorindustriellen  Interventionspolitik  und  zur  Ein- 
richtung  der  Sammelbezirke  bes.  Siemers,  wie  Anm.  7. 

10  NHStA  Hann.  80  Hildesheim,  Nr.  5937  sowie  Bayerl,  wie  Anm.  4,  S.  374. 

11  Vgl.  Archiv  der  Akademie  der  Wissenschaften  zu  Gottingen  Scient  195/9.  Blatt  96 f. 
sowie  Catherine  Herges,  Aufklarung  durch  Preisausschreiben?  Die  okonomischen  Preisfra- 
gen  der  Koniglichen  Societat  der  Wissenschaften  zu  Gottingen  1752-1852,  Bielefeld  2007, 
S.  259f. 

12  Lebrecht  Orlando  Keferstein,  Gekronte  Preisschrift  .  .  .  Eine  griindliche  Erorte- 
rung der  Mangel,  welche  bei  der  Papierfabrikation  in  Norddeutschland  im  Allgemeinen  an- 


Knappe  Ressourcen  als  Barriere  und  Triebkraft  219 

Lumpenmangel,  sondern  von  Schwierigkeiten  bei  der  Beschaffung  geeigneter 
Lumpen  und  den  Nachteilen  derLumpenprivilegien.  Vorallem  aberkritisierte  er 
die  unvollkommenen  Methoden  der  Papiermiihlen,  die  der  Aufbereitung  des 
schlechteren  Materials  zu  wenig  Beachtung  schenkten.  Die  Qualitatsminderung 
des  Papierrohstoffs  war  demnach  ein  Effekt  der  Lumpenknappheit. 

Lumpenmangel  hatte  verschiedene  Ursachen,  die  in  der  ersten  Halfte  des  19. 
Jahrhunderts  kumulierten.  Er  beruhte  seit  jeher  auf  Defiziten  der  Beschaffung 
oder  Logistik,  aber  auch  einer  absolut  begrenzten  Menge  von  Lumpen.13  Dabei 
muss  man  sich  vergegenwartigen,  dass  der  Verbrauch  an  Bekleidungs-  und  Haus- 
haltstextilien,  insbesondere  unter  der  vorwiegend  landlichen  Bevolkerung  noch 
gering  und  das  Sammeln  in  diinner  besiedelten  Regionen  mit  geringer  Stadtdich- 
te  sehr  aufwendig  war.  Zur  Versorgung  der  52  hannoverschen  „Papierfabriken" 
waren  1838  etwa  1.200  Lumpensammler  tatig.14  Im  friihen  19.  Jahrhundert  kam 
vor  allem  die  relative  Verknappung  der  Lumpen  als  Folge  der  Papierkonjunktur 
und  des  Wachstums  derPapierproduktion  im  In-  und  Ausland  hinzu.  Seit  derEr- 
findung  der  Papiermaschine  (1799),  die  erstmals  die  Produktion  „endloser"  Pa- 
pierbahnen  ermoglichte  und  um  1820  von  England  aus  ihren  Siegeszug  auf  dem 
Kontinent  antrat,  legte  die  Nachfrage  nach  Lumpen  auch  in  Hannover  und 
Braunschweig  kraftig  zu.  Ein  wachsender  Teil  der  hannoverschen  Lumpen  ge- 
langte  jedoch  als  begehrter  Rohstoff  zumeist  auch  auf  dem  Wege  illegalen 
Schleichhandels  ins  Ausland,  nach  Hessen  und  PreuBen,  aber  vor  allem  iiber 
Hamburg  und  Bremen  nach  GroBbritannien  und  Holland.15  Die  Lumpenhand- 
ler  versuchten  durch  Lieferungen  ins  Ausland  vom  Preisgefalle  zu  profitieren. 
Der  traditionelle  Lumpenhandel,  dessen  Organisationsgrad  unter  den  gegebe- 
nen  Bedingungen  m.E.  nicht  zu  unterschatzen  ist,  stieB  dabei  an  Grenzen. 

Die  zunftahnlich  organisierten  Papiermiiller  nahmen  den  Lumpenmangel 
gern  zum  Anlass,  staatliche  Hilfe  gegen  neue  Konkurrenten  einzufordern.16  Bei- 


getroffen  werden,  und  der  Hindernisse,  welche  ihre  Vervollkommnung  bisher  zuriickgehal- 
ten  haben,  in:  Hannoversches  Magazin  1826,  S.  505-534. 

13  Bayerl,  wie  Anm.  4,  S.  370 ff.  Zur  Organisation  des  Lumpenhandels  am  Beispiel  des 
Herzogtums  Braunschweig  Siemers,  Braunschweigische  Papiergewerbe,  wie  Anm.  7,  hier 
bes.  S.  35  ff.  Siemers  vertritt  wie  andere  die  Auffassung,  dass  der  Lumpenmangel  in  erster 
Linie  ein  Defizit  der  Logistik  war. 

14  Friedrich  v.  Reden,  Das  Konigreich  Hannover  statistisch  beschrieben,  zunachst  in 
Beziehung  auf  Landwirtschaft,  Gewerbe  und  Handel,  Bd.  1,  Hannover  1839,  S.  394. 

15  Vgl.  Gustav  v.  Gulich,  Uber  den  Handel  und  die  ubrigen  Zweige  der  Industrie  im 
Konigreiche  Hannover  seit  1826,  Hannover  1831,  S.  33;  TACKE,Standorte,  wie  Anm.  3,S.  259 
sowie  Bayerl  wie  Anm.  4,  S.  377f.,  380.  Bayerl  sieht  im  umfangreichen  Lumpenexport  nach 
England  einen  hinreichenden  Beleg  dafiir,  dass  kein  „echter"  oder  absoluter,  sondern  ein  re- 
lativer  Lumpenmangel  herrschte. 

16  Vgl.  die  verschiedenen  Beispiele  bei  Eberhard  Tacke,  Beitrage  zur  Geschichte  des 


220  Johannes  Laufer 

spielsweise  verweigerte  die  Landdrostei  Hildesheim  1825  die  Genehmigung 
zur  Errichtung  einer  neuen  Papiermiihle  in  Pohlde  im  Amt  Herzberg,  weil  der 
Betreiber  der  nahe  gelegenen  Herzberger  Papiermiihle  dagegen  Beschwerde  er- 
hob  und  vortrug,  dass  ihn  der  Lumpenmangel  schon  jetzt  daran  hindere,  mehr 
Schreib-  und  Druckpapier  herstellen  zu  konnen.17  Staatliche  Regulierungen  des 
Lumpenhandels  und  das  Festhalten  deralten  Papiermacherdynastien  an  den  Pri- 
vilegien  verstarkten  die  Probleme  zumeist  noch  und  erschwerten  nicht  nur  Neu- 
griindungen,  sondern  verhinderten  oder  verzogerten  auch  den  Ausbau  und  die 
Modernisierung  der  Papiermacherei.18 

War  die  Rede  vom  Lumpenmangel  am  Ende  doch  nur  ein  vorgeschobenes  Ar- 
gument der  Interessensicherung?  Diesen  Eindruck  erwecken  zumindest  Falle  wie 
die  amdiche  Genehmigung  zur  Einrichtung  einer  zweiten  Butte  in  der  Uslarer  Pa- 
piermiihle 1828. 19  Der  Papierfabrikant  der  benachbarten  Papiermiihle  in  Rellie- 
hausen  bei  Dassel  erhob  gegen  das  Vorhaben  seines  Konkurrenten  Einspruch.  Er 
fiirchtete  einen  Verdrangungswettbewerb,  weil  kaum  ein  Land  so  mit  Papiermiih- 
len  iiberhauft  sei  wie  Hannover.  Er  trug  vor,  dass  die  Ausdehnung  der  Papierpro- 
duktion  seines  Nachbarn  den  Lumpenmangel  und  den  Preisauftrieb  bei  Lumpen 
weiter  anheizen  wiirde.  Die  Landdrostei  Hildesheim  entschied  jedoch  diesmal 
zugunsten  des  Uslarer  Papierfabrikanten,  der  sich  bereits  um  zweckmafeige  Verbes- 
serungen  der  Papierqualitat  und  Sortenvielfalt  bemiiht  und  dadurch  seinen  Absatz 
vor  allem  nach  Braunschweig  und  Berlin  gesteigert  habe.  Die  Rede  von  der  Lum- 
pennot  sei  „hochst  iibertrieben",  denn  die  Uslarer  Papiermiihle  verarbeite  jetzt 
bereits  mit  800  bis  900  Zentnern  mehr  Lumpen  im  Jahr  als  andere  vergleichbare 
Unternehmen  (dafiir  legte  man  etwa  600  Zentner  je  Jahr  zugrunde).  Tatsachlich 
reprasentierte  die  Uslarer  Papiermiihle  mit  25  bis  30  Beschaftigten  schon  einen 
relativ  groBen  Betrieb.  Der  weitere  Ausbau  wurde  nach  den  zeitspezifischen 
Grundsatzen  kameralistischer  Gewerbeforderung  genehmigt,  um  zusatzliche 
Arbeitsplatze  zu  schaffen  und  die  Binnenwirtschaft  durch  Senkung  der  Papier- 
importe  zu  starken.  Aus  gleichen  Motiven  wurde  1845  auch  die  Aufstellung  einer 
Papiermaschine  zum  Ausbau  der  Lachendorfer  Papiermiihle  bei  Celle  zurPapier- 
fabrik  genehmigt.20  Die  Lachendorfer  Papiermiihle  gait  jedoch  wegen  ihres 
Rechts,  einen  Faktorzum  Lumpenaufkauf  im  Raum  Hannover  zu  engagieren,  als 

Papiers  in  Niedersachsen  und  angrenzenden  Gebieten,  in:  Papier  Geschichte  4  (1954),  Heft 
3,  S.  35-44. 

17  NHStAHann.  74  Herzberg,  Nr.  1145. 

18  Vgl.  auch  die  Einwande  der  Behorden  gegen  die  Anlage  einer  Papierfabrik  in  Uelzen 
1845,  die  mit  der  Besetzung  aller  Lumpenprivilegien  im  Landdrosteibezirk  Liineburg  be- 
grundet  werden.  NHStA  Hann.  74  Celle,  Nr.  1010. 

19  NHStA  Hann.  80  Hildesheim,  Nr.  6889. 

20  NHStA  Hann.  74  Celle,  Nr.  1010. 


Knappe  Ressourcen  als  Barriere  und  Triebkraft  221 

besonders  begiinstigt.21  Die  wachsende  Papiernachfrage  und  steigende  Papier- 
preise  boten  nicht  nur  fur  einzelne  Papiermiiller  wie  in  Uslar  oder  Lachendorf, 
sondern  auch  fur  friihindustrielle  Unternehmer  Anreize  zum  Ausbau  alter  oder 
zur  Griindung  neuer  maschineller  Papierfabriken,  die  allerdings  einen  erhohten 
Kapitaleinsatz  und  die  Uberwindung  diverser  Hemmnisse  verlangten. 

In  Wendhausen  bei  Braunschweig  errichtete  1838/39  die  renommierte  braun- 
schweigische  Verlegerfamilie  Vieweg  auf  einer  staatlichen  Domane  eine  Papier- 
fabrik,  die  sie  mit  einer  Papiermaschine  und  Satinierkalander  ausstatteten.22  Es 
war  die  zweite  oder  dritte  Papiermaschine  fiir  sogenanntes  Endlospapier  in  Nord- 
deutschland.23  Das  Ziel  war  die  Produktion  feiner  Druckpapiere  in  „gro6erem 
MaBstab".  Auch  hier  versuchten  die  etablierten  Papiermiiller  unter  Verweis  auf 
den  vorherrschenden  Lumpenmangel  und  die  Bedrohung  ihrer  Existenz  die  ge- 
plante  Fabrik  zu  verhindern.  Die  Vieweg-Briider  erklarten  dem  Staatsministeri- 
um  gegeniiber,  dass  die  im  Konigreich  Hannover  und  Herzogtum  Braunschweig 
vorhandenen  Papiermiihlen  die  Herstellung  der  besonders  gefragten  Druckpa- 
piere nicht  leisten  konnten,  die  benotigten  Lumpen  im  Steuerverein  der  beiden 
Lander  jedoch  mehr  als  ausreichend  zur  Verfiigung  stiinden.  Die  tagliche  Pro- 
duktionskapazitat  der  in  Wendhausen  aufgestellten  Maschine  betrug  maximal  et- 
wa  600  kg  Papier,  wofiir  knapp  800  kg  Lumpen  eingesetzt  werden  mussten.  Es  ist 
jedoch  hochst  fraglich,  ob  diese  Leistung  annahernd  erreicht  wurde.24 

Welch  gravierende  Probleme  neue  Papierfabriken  besonders  beim  Lumpen- 
bezug  zu  bewaltigen  hatten,  veranschaulicht  der  Fall  des  friihen  Griinders  aus  ei- 
ner Osnabriicker  Kaufmannsfamilie,  Gustav  von  Giilich  (1791  -  1847).  Giilich, 
der  vor  allem  durch  seine  zahlreichen  gewerblichen  und  wirtschaftsliberalen 
Schriften,  aber  auch  sein  vielseitiges  unternehmerisches  Engagement  bekannt 
wurde,  erwarb  1828  eine  alte  Papiermiihle  bei  Polle  an  der  Weser,  um  eine  Pa- 
pierfabrik  nach  englischem  Muster  zu  errichten.25  Dem  Projekt  lag  die  zutreffen- 
de  Beobachtung  zugrunde,  dass  das  relativ  ausgedehnte  hannoversche  Papierge- 


21  NHStA  Harm.  80  Hannover,  Nr.  2100. 

22  Vgl.  Victor-L.  Siemers,  Die  Papierfabrik  Gebr.  Vieweg  in  Wendhausen  bei  Braun- 
schweig" (1838-1895),  in:  Braunschweigisches  Jahrbuch  fiir  Landesgeschichte  84  (2003), 
S.  133-159,  hier  S.  136f.,  140.  Der  Kalander  diente  zur  Glattung  und  Leimbeschichtung  des 
Papiers.  In  der  Startphase  der  Fabrik  gab  der  mit  den  Viewegs  befreundete  Chemiker  Justus 
v.  Liebig  wertvolle  Erfahrungen  weiter,  die  er  auf  Auslandsreisen  gewonnen  hatte. 

23  Vgl.  v.  Reden,  wie  Anm.  14,  S.  397.  Die  erste  Maschine  kam  1834  in  Wertheim  bei 
Hameln,  die  zweite  1838  in  Osnabriick-Gretesch,  wohl  fast  zeitgleich  mit  der  im  braun- 
schweigischen  Wendhausen,  zum  Einsatz.  Alle  Maschinen  wurden  in  neuen  friihindustriel- 
len  Fabriken  von  Unternehmern  aufgestellt,  die  noch  aus  dem  Papiergewerbe  stammten. 

24  Skeptisch  auBert  sich  auch  Siemers,  Papierfabrik,  wie  Anm.  22,  S.  14 If. 

25  Vgl.  Gustav  v.  Gulich,  Uber  meine  industriellen  Unternehmungen  im  Konigreiche 
Hannover,  Hameln  1835,  S.  32 f.  und  NHStA  Hannover,  Hann.  74  Hameln,  Nr.  3250. 


222  Johannes  Laufer 

werbe  zwar  eine  groBe  Menge  Papier  produzierte  und  zum  Teil  auch  exportierte, 
aber  langst  nicht  in  der  Lage  war,  den  Inlandsbedarf  an  feinerem  Druck-, 
Schreib-  und  Zeichenpapier  zu  decken.26  Diese  Sorten  wurden  aus  England,  Hol- 
land, Frankreich,  der  Schweiz  und  Siiddeutschland  eingefiihrt.  Giilich  entschloss 
sich  nach  Schwierigkeiten  am  Standort  Polle,  den  Neubau  seiner  Papierfabrik  im 
giinstiger  gelegenen  Wertheim  bei  Hameln  auszufiihren,  wo  er  1833/  34  die  erste 
Papiermaschine  Norddeutschlands  in  Betrieb  nahm.27 

Von  Anfang  an  bereitete  die  Lumpenversorgung  Giilichs  Vorhaben  ernste 
Schwierigkeiten.28  Giilich  strebte  beharrlich  danach,  die  Rohstoffbasis  seines 
Unternehmens  auszudehnen.  Teils  erwarb  erLumpenprivilegien  stillgelegterPa- 
piermiihlen,  teils  verpflichtete  er  Lumpenhandler  von  Gottingen  iiber  Osterode 
bis  nach  Hannover  und  auch  jenseits  der  hannoverschen  Grenzen.29  Damit 
brachte  er  die  Papiermiiller  der  betreffenden  Regionen  gegen  sich  auf,  die  sich 
gegen  die  Konkurrenz  der  aufkommenden  Maschinenproduktion  abzuschotten 
suchten.  Vergeblich  bemiihte  sich  Giilich  um  zusatzliche  Lumpenprivilegien 
und  1839  um  die  amtliche  Genehmigung  fur  eine  eigene  Lumpenfaktorei  in  Han- 
nover. Eine  Gruppe  siidniedersachsischer  Papiermiiller,  die  seit  1770  in  Hanno- 
ver ein  Lumpenmagazin  unterhielten,  setzte  alles  daran,  ihn  aus  dem  wichtigen 
hannoverschen  Lumpen-  oder  Rohstoffmarkt  herauszudrangen.  Mit  Hilfe  des 
hannoverschen  Finanzministeriums,  dem  an  einer  Verbesserung  der  Papierver- 
sorgung  des  Landes  auBerordentlich  viel  gelegen  war,  gelang  es  Giilich  letztlich 
doch,  sich  gegen  die  Zunftgenossen  zu  behaupten  und  alte  Prinzipien  des  Lum- 
pensammelns  zu  durchbrechen.30 

Erst  relativ  spat  hob  die  hannoversche  Gewerbeordnung  von  1852  die  Lum- 
penprivilegien der  Papiermiihlen  auf.  Die  Liberalisierung  des  Lumpenhandels 
kam  zunachst  nur  schleppend  in  Gang.31  Unternehmer  wie  von  Giilich,  die  unter 
den  Vorzeichen  der  giinstigen  Papierkonjunktur  in  moderne  Technik  investier- 
ten,  hatten  jedoch  schon  vor  den  politischen  Reaktionen  Auswege  gesucht  und 
gefunden.  Sie  pachteten  stadtische  Lumpenrechte  oder  engagierten  Lumpen- 


26  Vgl.  v.  Gulioh,  Uber  den  Handel,  wie  Anm.  15,  S.  33 f.  sowie  v.  Reden,  wie  Anm.  14, 
S.  397f. 

27  Erste  Nachrichten  iiber  die  Papierfabriken  Giilichs  u.a.  in:  Mitteilungen  des  Gewer- 
be-Vereins  fur  das  Konigreich  Hannover,  1835,  Sp.  79 f.  sowie  dies.  1843,  Sp.  359 ff. 

28  Uber  die  Probleme  seiner  Papierfabrikation  auBert  sich  v.  Gulich,  Unternehmun- 
gen,  wie  Anm.  25. 

29  NHStA  Hann.  80  Hildesheim,  Nr.  5937. 

30  NHStA  Hann.  80  Hannover,  Nr.  2100  sowie  Hann.  80  Hildesheim,  Nr.  5937. 

31  NHStA  Hann.  80  Hildesheim,  Nr.  5937.  Noch  bis  1856  verweigerten  die  Behorden 
Giilich  wiederholt  die  Genehmigung  zur  Einrichtung  von  Lumpenfaktoreien  in  verschiede- 
nen  Regionen  Hannovers. 


Knappe  Ressourcen  als  Barriere  und  Triebkraft  223 

sammler  in  Nachbarstaaten.  Einige  schlossen  Liefervertrage  mit  Berliner  und 
Magdeburger  Lumpenhandlungen  ab.32  Der  Osnabriicker  Papierfabrikant 
Quirll  hatte  um  1850  fiir  seine  beidenMiihlen  in  Osnabriickund  Oesede  70  Lum- 
pensammler  unter  Vertrag,  die  insbesondere  im  preuBisch-westfalischen  Gebiet 
unterwegs  waren.33  Dariiber  hinaus  setzten  sich  dynamische  Papierunternehmer 
fiir  innovative  Losungen  beim  Ausbau  der  Produktionskapazitaten  und  bei  der 
Suche  nach  neuen  Rohstoffen  ein.  Seit  den  1830erjahren  wurde  unter  anderem 
in  Wertheim,  Lachendorf  bei  Celle  oder  auch  in  Essen  bei  Oldenburg  die  Chlor- 
bleiche  eingefiihrt,  wie  sie  Keferstein  1828  als  wesentlichen  Schritt  zur  Verbesse- 
rung  der  Rohstoffzubereitung  und  der  Papierqualitat  anmahnte.34  Dieses  Verfah- 
ren  bot  den  Schliissel  zur  leichteren  Verwertung  von  farbigen  und  geringwerti- 
gen  Lumpen  und  zur  Nutzung  neuer  pflanzlicher  Faserstoffe.35  Doch  langst  nicht 
alle  Versuche  zur  Erweiterung  der  Rohstoffbasis  waren  erfolgreich.  Giilich  ver- 
suchte  vermehrt  Wolle-  und  Baumwolllumpen,  Hanf  und  Stroh  fiir  grobe  Papier- 
sorten  zu  verwerten  und  schaffte  dazu  eine  besondere  Aufbereitungsmaschine 
aus  England  an.36  Das  Experiment  mit  Lumpen  aus  Tierfasern  scheiterte  und 
drohte  Giilichs  Unternehmen  fast  zu  ruinieren,  zumal  das  schlechte  Papier 
schwer  abzusetzen  war.  Dagegen  entwickelte  sich  die  Herstellung  von  Strohpa- 
pieren  oder  Strohpappe  voriibergehend  zum  Erfolgsfaktor  seiner  Unternehmun- 
gen.37  Unabhangig  von  der  Frage,  ob  der  Lumpenmangel  lediglich  ein  Vertei- 
lungsproblem  und  kein  Indiz  echterKnappheit  war,38  brachte  er  den  Papierpro- 
duzenten  ein  reales  Problem,  das  sie  vordringlich  zu  bewaltigen  hatten. 

In  der  hannoverschen  Gewerbestatistik  von  1861  findet  sowohl  die  Verdran- 
gung  der  traditionellen  Handpapiermiihlen  als  auch  die  Anpassung  der  Maschi- 
nenpapierfabriken  Niederschlag.  Unter  den  insgesamt  39  Betrieben  zur  Papier- 


32  Vgl.  Zur  Statistik  des  Konigreichs  Hannover,  Bd.  10:  Gewerbe-Statistik  1861,  Hanno- 
ver 1864,  S.  XV. 

33  Vgl.  Sporhan-Krempel,  wie  Anm.  7,  S.  20. 

34  Keferstein,  wie  Anm.  12,  S.  506,  5 1 5 f f .  Friedrich  Drewsen,  Geschichte  der  Familie 
Drewsen  sowie  der  Papierfabrik  und  des  Ritterguts  zu  Lachendorf,  Celle  1895,  S.  23;  vgl.  au- 
Berdem  Eberhard  Tacke,  Uber  eine  oldenburgische  Windpapiermiihle  der  1830erjahre  bei 
Essen,  in:  Neues  Archiv  fiir  Niedersachsen  16  (1967),  S.  178-184,  hier  S.  184. 

35  Vgl.  allgemein  zur  Bleichtechnologie  im  Papiergewerbe  Oligmuller/Schachtner, 
wie  Anm.  2,  S.  83.  Bereits  1798  hatten  in  Lachendorf  in  Analogie  zum  Textilgewerbe  Versu- 
che zur  Chlorbleiche  von  Lumpen  stattgefunden,  die  wie  bei  anderen  Papiermiihlen  nicht 
zum  Ziel  fuhrten. 

36  NHStA  Hannover,  Hann.  74  Hameln,  Nr.  3250. 

37  Vgl.  Zusammenstellung  der  Nachrichten  uber  die  seit  1838  im  Konigreiche  Hanno- 
ver neu  entstandenen  oder  wesentlich  vergroBerten  Fabriken,  in:  Mitteilungen  des  Gewer- 
be-Vereins  fiir  das  Konigreich  Hannover  32  (1843),  Sp.  359-362. 

38  Vgl.  Bayerl,  wie  Anm.  4,  S.  377,  380. 


224  Johannes  Laufer 

und  Pappeerzeugung  dominierten  rein  numerisch  noch  die  kleinen  Papiermiih- 
len  mit  durchschnittlich  kaum  10  Beschaftigten,  die  etwa  zurHalfte  im  Siiden  des 
Konigreichs  Hannovers,  zwischen  Weser,  Leine  und  Harz  angesiedelt  waren.39 
Von  ihnen  hoben  sich  jedoch  einige  mittlere  und  insbesondere  drei  groBe  indu- 
strielle  Unternehmen  in  Lachendorf  bei  Celle,  Wertheim  bei  Hameln  und  Altklo- 
ster  bei  Buxtehude  mit  jeweils  125,  210  und  280  Arbeitern  ab,  die  erfolgreiche 
Wege  zur  Uberwindung  der  Lumpennot  eingeschlagen  hatten.40 

Holz  -  der  neue  Rohstoff  der  Papierindustrie 

Lumpenknappheit  oder  Stockungen  der  Lumpenversorgung  gaben  bereits  im 
ausgehenden  18.  Jahrhundert  AnstoBe  zur  Suche  nach  Rohstoffsurrogaten.41  Un- 
terschiedliche,  nahezu  synchrone  Ansatze  und  Versuche  zur  Gewinnung  von 
pflanzlichen  Faserstoffen  aus  Grasern,  Stroh  und  Holz  wiesen  den  Weg  zur  Lo- 
sung  des  Papierrohstoffproblems  um  die  Mitte  des  19.  Jahrhunderts.  In  diesen 
Zusammenhang  gehort  auch  die  Entwicklung  eines  Verfahrens  zum  Recycling 
von  bedrucktem  Altpapier,  das  der  Gottingerjurist  und  Professorjustus  Claproth 
1774  in  Zusammenarbeit  mit  der  Papiermiihle  Klein  Lengden  im  Gartetal  bei 
Gottingen  entwickelte.42  Das  grundsatzlich  erfolgreiche  Projekt  scheiterte  sei- 
nerzeit  an  der  mangelnden  Wirtschaftlichkeit  und  Organisation  des  Altpapier- 
sammelns.  Obwohl  derGedanke  die  Zeitgenossen  zu  weiteren  Experimenten  an- 
regte,  kam  die  kommerzielle  Altpapierverwertung  erst  Ende  des  19. Jahrhunderts 
unter  den  Vorzeichen  konjunktureller  und  handelspolitischer  Rohstoffverknap- 
pung  zum  Durchbruch. 

Ab  der  Mitte  des  19.  Jahrhunderts  setzte  sich  insbesondere  Holz  als  neuer  in- 
dustrieller  Papiergrundstoff  durch.  Der  entscheidende  Impuls  kam  1845  von  der 
Erfindung  des  Holzschliffs  oder  Holzstoffs  aus  Fichtenholz  durch  den  sachsi- 


39  Zur  Statistik,  wie  Anm.  30,  S.  XV  und  Fabrikentabelle,  S.  62. 

40  Die  Papierfabriken  in  Osnabriickund  Osnabriick-Gretesch,  in  Winsen  und  Stade  be- 
schaftigten jeweils  70  bis  95  Arbeitskrafte.  Charakteristisch  fur  die  neuen  Papierfabriken 
war  auch  der  Produktionsapparat  der  zum  Beispiel  in  Lachendorf  1856  auBer  der  Papierma- 
schine  10  Hollander,  also  Mahl-  und  Schneidwerke,  und  eine  Dampfmaschine  sowie  3  Tur- 
binen  umfasste.  Zur  Statistik,  wie  oben. 

41  Dazu  ausfuhrlich  Bayerl,  wie  Anm.  4,  S.  383-397. 

42  Claproth  hatte  als  Manufakturrichter  vom  Lumpenproblem  erfahren.  Vgl.  Bayerl, 
wie  Anm.  4,  S.  391  f.  und  Gerhard  Strohlein,  Papierherstellung  im  17.  und  18.  Jahrhundert 
am  Beispiel  der  Papiermiihle  bei  Klein  Lengden,  in:  Birgit  Schlegel  (Hrsg.),  Altes  Hand- 
werk  und  Gewerbe  in  Siidniedersachsen,  Duderstadt  1998,  S.  59-73  sowie  Mathias  Mutz, 
Klein  Lengden,  das  Papierrecycling  und  die  Nutzung  natiirlicher  Rohstoffe,  in:  Gottinger 
Graduiertenkolleg  Interdisziplinare  Umweltgeschichte,  Werkstattbericht.  Schauplatze  der 
Umweltgeschichte,  S.  188-194. 


Knappe  Ressourcen  als  Barriere  und  Triebkraft  225 

schen  Weber  Friedrich  Gottlob  Keller  (1816-1895)  ,43  Keller  verfolgte  seit  1841  die 
Idee,  einen  Stoff  ausfindig  zu  machen,  der  wenigstens  teilweise  die  immer  mehr  mangeln- 
den  Hadern  ersetzen  kdnne.44,  Und  er  gewann  um  1850  die  siidwestdeutschen  Tech- 
niker  und  Mechaniker  Voelter  und  Voith  dafiir,  geeignete  Schleifapparate  zu 
entwickeln.  Dank  der  neuen  kostengiinstigen  Maschinentechnik  breitete  sich  der 
Holzschliff  als  neuer  Papierfaserstoff  seit  den  1860er  Jahren  sprunghaft  aus. 
Wenn  insbesondere  die  verkehrsgunstig,  im  waldreichen  siidlichen  Niedersach- 
sen  gelegenen  Unternehmen  friihzeitig  und  konsequent  die  neue  Ressource  nutz- 
ten,  dann  bestatigt  dies,  wie  sehr  ihnen  am  Ersatz  der  knappen,  im  Preis  steigen- 
den  Lumpen  gelegen  war.45  Die  nachhaltige  Verbesserung  der  Rohstoffbasis  gab 
vielerorts  unmittelbar  den  AnstoB  zur  Investition  in  weitere  oder  neue,  weitaus 
leistungsstarkere  Papiermaschinen. 

Die  Eigentiimer  der  1706  gegriindeten  Alfelder  Papiermiihle  wechselten  1851 
mit  dem  Erwerb  der  stillgelegten  Alfelder  Lohmiihle  an  einen  giinstigeren  Stand- 
ort  nahe  zur  Leine  und  errichteten  dort  eine  Papierfabrik  mit  einer  neuartigen 
Langsieb-Papiermaschine.46  1859  iibernahmen  sie  im  weiter  nordlich  gelegenen 
Gronau  an  der  Leine  eine  ehemalige  Olmiihle,  die  sie  zunachst  zu  einer  Stroh- 
pappenfabrik  und  bereits  1869  zu  einer  Holzschleiferei  umbauten.  Die  Technik 
der  Holzstoffgewinnung  hatten  sie  1867  auf  der  Pariser  Weltausstellung  kennen 
gelernt.  1873  wurden  die  Kapazitaten  der  Gronauer  Holzschleiferei  bereits  ver- 
doppelt.  Das  inzwischen  zur  Aktiengesellschaft  Hannoversche  Papierfabriken 
Alfeld-Gronau  umgewandelte  Unternehmen  erweiterte  damit  die  Basis  der  eige- 
nen  Grundstoffversorgung  fur  die  Inbetriebnahme  einer  zweiten  Papiermaschine 
in  Alfeld.  Neben  Holzschliff  wurden  (wie  in  zahlreichen  anderen  Fabriken)  fur 
bestimmte  Papiersorten  noch  Hadern  und  vor  allem  der  preiswerte,  leicht  zu  ver- 
arbeitende  Strohstoff  verwendet. 

Als  Nachteil  des  kurzfaserigen  Holzschliffs  galten  von  Anfang  an  die  braun- 
gelbliche  Farbung  und  die  Briichigkeit  des  Papiers.  Fiir  hochwertige  Papiersorten 
eignete  er  sich  kaum.  Doch  schon  in  den  1870erjahren  gelang  es,  auf  den  Grund- 
lagen  der  Zellulosechemie  einen  hochwertigen  Zellstoff  aus  Holz  zu  gewinnen 


43  Auch  zum  Folgenden  Jiirgen  BLECHSCHMIDT/Alf-Mathias  Strunz,  Der  Beginn  eines 
neuen  Zeitalters  derPapierfaserstoff-Erzeugung  -  die  Erfindung  des  Holzschliff- Verfahrens 
durch  Friedrich  Gottlob  Keller,  in:  Frieder  Schmidt  (Hrsg.),  Papiergeschichte(n).  Papier 
historische  Beitrage,  Wiesbaden  1996,  S.  137-150. 

44  Autobiografische  Aufzeichnungen  Kellers  (1885)  zitiertnach  Blechschmidt/ Strunz, 
S.  138. 

45  Zur  braunschweigischen  Papierfabrik  von  Vieweg  vgl.  Siemers,  Papierfabrik,  wie 
Anm.  22,  S.  145-147. 

46  Auch  zum  Folgenden:  Hannoversche  Papierfabriken  Alfeld-Gronau  vormals  Gebr. 
Woge  (Hrsg.),  Endlose  Bahn.  Zum  250  jiihrigen  Bestehen,  Alfeld  1956,  S.  102-120. 


226  Johannes  Laufer 

und  industriell  herzustellen,  der  hinsichdich  der  Maschinengangigkeit  und  Pa- 
pierqualitat  erhebliche  Vorziige  aufwies.47  Im  Zuge  der  schnellen  Fortschritte  der 
Papiertechnologie  fiihrte  die  Alfelder  Papierfabrik  bereits  im  Jahre  1875  erste 
Versuche  mit  schwedischem  Zellstoff  durch.  Zur  Herstellung  feiner,  sogenannter 
,holzfreier' Papiere  (ohne  Holzschliff)  erwarb  die  Aktiengesellschaft  1880  als  ei- 
ne  dervierersten  deutschen  Fabriken  die  Lizenz  zurErzeugung  von  Sulfitzellstoff 
nach  dem  Mitscherlich-Patent.48  1882  wurde  die  neue  Zellstoff-Kocherei  auf 
dem  Gelande  der  friiheren  Alfelder  Papiermiihle  fertiggestellt. 

Der  Chemiker  Alexander  Mitscherlich  (1836-1918)  war  ein  Pionier  der  Zell- 
stoffchemie  und  unternehmerisch  ambitioniert.  Erwurde  1868  iiberdie  Stationen 
Gottingen  und  Berlin  als  Professor  fur  anorganische  Chemie  an  die  neu  gegriin- 
dete  Forstakademie  in  Hannoversch-Miinden  berufen.49  In  seiner  Versuchsanla- 
ge  entwickelte  Mitscherlich  ein  Verfahren  zur  Herstellung  von  Kalziumbisulfit- 
saure  und  damit  des  Sulfitzellstoffs,  der  gegeniiber  dem  soeben  eingefiihrten 
schwedischen  und  amerikanischen  Natron-Zellstoff  sowohl  produktionstech- 
nisch  als  auch  qualitativ  eine  Verbesserung  brachte.  Mitscherlich  verwertete  sei- 
ne Erfindung  durch  den  Verkauf  von  Lizenzen  an  deutsche  Papierfabriken  und 
errichtete  1877  eine  eigene  Zellstofffabrik.  Auf  Druck  seines  Dienstherrn  verkauf- 
te  Mitscherlich  1883  sein  Unternehmen  und  verlieB  Hannoversch-Miinden.50 
1884  wurden  ihm  die  Patente  fur  die  Sulfitzellstoffgewinnung  allerdings  aber- 
kannt.51  Gleichwohl  dokumentiert  der  ,Fall  Mitscherlich'  die  besondere  Wechsel- 
beziehung  zwischen  dermodernen,  betriebswirtschaftlich  orientierten  Forstwirt- 
schaft  und  der  expandierenden  Papierindustrie.  Zellstoff  etablierte  sich  rasch  als 
wichtigster  Papierrohstoff  und  verdrangte  seit  dem  friihen  20.  Jahrhundert  weit- 
gehend  Lumpen,  andere  pflanzliche  Faserstoffe  und  zum  Teil  auch  Holzstoff.52 


47  Vgl.  Mutz,  wie  Anm.  2,  S.  60. 

48  Hannoversche  Papierfabriken,  Endlose  Bahn,  wie  Anm.  46,  S.  125,  134-137  sowie 
Sappi  Alfeld  (Hrsg.),  Das  Papier- Stammbuch  1706-2006,  Alfeld  o.  J.  (2007),  S.  67. 

49  Vgl.  Frank  KROPp/Zoltan  Rozsnay,  Niedersachsische  Forstliche  Biographie.  Ein 
Quellenband,  Hannover  1998,  S.  337f.  sowie  Walter  Kremser,  Niedersachsische  Forstge- 
schichte.  Eine  integrierte  Kulturgeschichte  des  nordwestdeutschen  Forstwesens,  Roten- 
burg/Wiimme  1990,  S.  843  f. 

50  Mitscherlich  sah  sich  aufgrund  seiner  nebenberuflichen  Aktivitaten  erheblichen  An- 
feindungen  seiner  Kollegen  ausgesetzt.  Insofern  bleibt  ungewiss,  inwieweit  der  Vorwurf  zu- 
traf,  dass  die  Emissionen  seiner  Zellstofffabrik  Schaden  in  den  benachbarten  Forsten  verur- 
sacht  hatten. 

51  1891  erhielt  Mitscherlich  jedoch  das  Patent  zur  Gewinnung  von  Spiritus  aus  Sulfit- 
ablauge. 

52  1891  gab  es  in  Deutschland  42  Sulfitzellstoff-  und  7  Natronzellstofffabriken.  Hanno- 
versche Papierfabriken,  Endlose  Bahn,  wie  Anm.  46,  S.  133 f.,  138  sowie  Bayerl,  wie 
Anm.  4,  S.  393. 


Knappe  Ressourcen  als  Barriere  und  Triebkraft  227 

Die  Hannoverschen  Papierfabriken  stellten  bereits  1896  den  Betrieb  der  Holz- 
schleiferein  in  Gronau  voriibergehend  ein  und  gaben  1905  die  Strohstoffgewin- 
nung  endgiiltig  auf.  Stattdessen  verwendete  Alfeld  seit  1895  auch  Altpapier  als 
Zellstoff-Beimischung. 

Die  Substitution  der  Lumpen  verlief  seit  1860  in  mehreren  Etappen.  DerPro- 
zess  schloss  neben  dem  Zugriff  auf  Holz  die  Verwertung  anderer  natiirlicher  Fa- 
serstoffe  wie  Stroh,  Flachs  und  Juteabfalle  ein.  Etwa  zwei  Jahrzehnte  vor  dem 
Holzschliff  kamen  verschiedene  Methoden  zur  Gewinnung  von  Strohstoff  aus 
Getreidestroh  auf.53  Friihe  Papierfabriken  wie  Osnabriick,  Wertheim/Hameln, 
Wendhausen/Braunschweig  und  vor  allem  auch  Altkloster  bei  Buxtehude  nutz- 
ten  seit  den  1840er  Jahren  das  verbesserte  Angebot  an  Getreidestroh  und  die 
Moglichkeiten,  den  Strohzellstoff  in  eigenen  Kochereien  aufzuschlieBen  und 
Pappe  oder  Karton  herzustellen.54  Die  Winterschen  Papierfabriken  in  Altkloster, 
die  nach  zahlreichen  Ubernahmen  -  darunter  auch  die  Wertheimer  Papierfabrik 
-  bis  um  1900  zum  groBten  Papierunternehmen  auf  niedersachsischem  Gebiet 
aufstiegen,  verarbeiteten  auBer  Holz-  vorwiegend  Strohzellstoff.55  Die  spezifi- 
sche  Ressourcenbindung  pragte  sich  in  der  regionalen  Struktur  der  niedersachsi- 
schen  Papierstandorte  aus.  Im  Norden  entstanden  in  den  1870er  Jahren,  vor 
allem  in  Ostfriesland  bei  Emden,  Leer  und  Papenburg,  groBe  Strohpappefabri- 
ken,  wahrend  die  Papierfabriken  im  siidlichen  Berg-  und  Hiigelland  zwischen 
Harz  und  Soiling  vorwiegend  auf  der  Grundlage  von  Holzschliff  und  Zellstoff  ex- 
pandierten.56  Allerdings  kamen  um  1850  auch  hier  und  besonders  in  den  mittle- 
ren  Landesteilen  Hannovers  kleinere  Strohpappenfabriken  auf.57  An  einzelnen 
Standorten  besaBen  zudem  Lumpen  bis  ins  20.  Jahrhundert  noch  recht  groBe  Be- 
deutung  als  Grundlage  hochwertiger  Schreibpapiere  wie  etwa  bei  der  Drewsen- 
schen  Feinpapierfabrik  in  Lachendorf  bei  Celle  und  der  Papierfabrik  Hahne- 
miihle  bei  Relliehausen  im  Soiling.58 

Die  rasche  Ausdehnung  von  Strohstoff  und  Holzstoff  korrespondierte  mit  dem 

53  Vgl.  Bayerl,  wie  Anm.  4,  S.  377,  393  sowie  Oligmuller/Schachtner,  wie  Anm.  2, 
S.  75. 

54  Vgl.  Zusammenstellung  der  Nachrichten  iiber  die  seit  1838  im  Konigreiche  Hanno- 
ver neu  entstandenen  oder  wesentlich  vergroBerten  und  verbesserten  Fabriken,  in:  Mittei- 
lungen  des  Gewerbe-Vereins  fur  das  Konigreich  Hannover  1843,  Sp.  359-362.  Die  Vieweg- 
sche  Fabrik  in  Wendhausen  errichtete  noch  1892  eine  neue  Anlage  zur  Strohstoffgewin- 
nung;  moglicherweise  ein  Indiz  fur  Kapitalmangel,  denn  1895  wurde  die  Fabrik  stillgelegt. 
Siemers,  Papierfabrik,  wie  Anm.  22,  S.  148. 

55  Vgl.  Paul  Hirschfeld,  Hannovers  GroBindustrie  und  GroBhandel,  Berlin  1891, 
S.  268f. 

56  Ebd.,  S.  264 ff.,  274. 

57  Ebd.,  S.  267;  zu  Alfeld  vgl.  Sappi  Alfeld,  Papier-Stammbuch,  wie  Anm.  48,  S  67. 

58  Ebd.,  S.  270  sowie  Drewsen,  Geschichte,  wie  Anm.  34,  S.  36f. 


228  Johannes  Laufer 

Aufschwung  des  Uberseehandels  und  den  Anfangen  des  urbanen  Massenkon- 
sums  in  den  1870erjahren.  Die  wachsende  Nachfrage  nach  Packpapieren  und 
Kartonagen  sowie  Zeitungen  und  Presseerzeugnissen  oder  auch  Tapeten  eroffne- 
te  neue  Markte  und  giinstigen  Absatz  fiir  einfache,  billige  Massenpapiere.  Die 
rechtzeitige  Anpassung  an  die  Papiermarktentwicklung  trug  unter  Beriicksichti- 
gung  der  regional  verfiigbaren  Ressourcen  wesentlich  dazu  bei,  dass  einige  der 
alten  kleinen  Handpapiermiihlen  um  1850  prosperierten  und  teilweise  noch  bis 
um  1910  iiberlebten.59  Der  Ubergang  zum  hochwertigem,  im  Preis  sinkenden 
Holzzellstoff  beschleunigte  allgemein  den  kapitalintensiven  Ausbau  derProduk- 
tionskapazitaten.  Die  Standorte  im  Norden  profitierten  dabei  zunehmend  von 
ihrer  verkehrsgiinstigen  Lage  und  wechselten  zum  Einsatz  von  Holz  oder  Zell- 
stoff,  die  auf  dem  Seeweg  importiert  wurden.  Lumpen,  Strohzellstoff,  Holzstoff 
und  zunehmend  auch  Altpapier  wurden  dem  Papierzellstoff  je  nach  Sorte  und 
Rohstofflage  weiterhin  beigemischt.  Ein  Ende  der  1950erjahre  in  Weener  an  der 
Ems  unternommener  Versuch  zur  Wiederbelebung  der  Pappeerzeugung  aus  hei- 
mischem  Strohzellstoff  erwies  sich  indes  als  ,Strohfeuer'.60 

Um  1900  war  Holz  der  dominierende  Papierrohstoff.  Mit  fast  560  Holzschlei- 
fereien  (1910:  610;  1921:  542)  stieg  Deutschland  in  dieser  Zeit  zum  weltweit  fiih- 
renden  Produzenten  fiir  Holzschliff  auf.  Einer  der  Produktionsschwerpunkte  lag 
am  oderum  den  Westharz,  wo  sich  1883  bereits  46  Holzschleifereien  niederge- 
lassen  hatten.61  Sie  belieferten  Papierfabriken  im  Inland  und  in  Frankreich,  Hol- 
land und  Belgien.  Diese  Exportmarkte  gingen  aber  schon  in  den  1890erjahren 
an  skandinavische  Produzenten  verloren,  die  massiv  auf  den  deutschen  Markt 
drangten.  Der  rasch  wachsende  Holzbedarf  der  Papierfabriken  und  Holzschleife- 
reien, die  bedeutende  Abnehmer  vor  allem  geringwertiger  Rundholzer  wurden, 
hatte  erhebliche  Riickwirkungen  auf  die  Walder  und  die  staatliche  Forstwirt- 
schaft  in  Hannover  und  Braunschweig,  die  sich  seit  den  1860er  Jahren  verstarkt 
auf  die  gewerbliche  Holznachfrage  ausrichtete.  Im  Harz  traf  diese  Entwicklung 
mit  der  Herauslosung  der  Forsten  aus  der  jahrhundertealten  Bindung  an  das 
Berg-  und  Hiittenwesen  und  dessen  enormen  Holzbedarf  zusammen.62  Um  die 

59  Nachrichten  iiber  die  im  Konigreiche  Hannover  bestehenden  Fabriken  und  fabri- 
kahnlichen  Anlagen,  in:  Mitteilungen  des  GewerbeVereins  fiir  das  Konigreich  Hannover 
(1852),  Sp.  320-323.  Nach  Tacke,  Beitrage,  wie  Anm.  16,  S.  42  wurde  1909  bei  Verden  eine 
der  letzten  Handpapiermiihlen  des  nordlichen  Niedersachsens  stillgelegt. 

60  Bis  heute  existiert  die  Firma  durch  die  Verarbeitung  von  Altpapier.  Vgl.  Hans  Hein- 
rich  SEEDORF/Hans-Heinrich  Meyer,  Niedersachsen  als  Wirtschafts-  und  Kulturraum:  Be 
volkerung,  Siedlungen,  Wirtschaft,  Verkehr  und  kulturelles  Leben,  Neumiinster  1996,  S.  470. 

61  Vgl.  Blechschmidt/Strunz,  wie  Anm.  43,  S.  142  f.  sowie  NHStAHann.  180  Hildes- 
heim,  Nr.  17028. 

62  Vgl.  Gerhard  Riehl,  Die  Forstwirtschaft  im  Oberharzer  Bergbaugebiet  von  der  Mit- 
te  des  17.  bis  zum  Ausgang  des  19.  Jahrhunderts,  Gottingen  1968,  S.  94,  96. 


Knappe  Ressourcen  als  Barriere  und  Triebkraft  229 

Forstamter  in  den  Moglichkeiten  derfreien  Holzvermarktung  zu  starken,  wurden 
auch  die  traditionellen  Waldweide-  und  Holzberechtigungen  der  Harzgemein- 
den  und  ihrer  Bewohner  sukzessive  abgelost.  Gegen  Ende  des  19.  Jahrhunderts 
versorgten  die  Harzer  Forsten  nicht  nur  Betriebe  des  naheren,  sondern  auch 
weiteren  Umlands,  darunter  auch  die  Hannoverschen  Papierfabriken  in  Alfeld/ 
Leine. 

Dank  der  hoch  entwickelten  Nadelholz-  und  vor  allem  der  Fichtenkulturen  ge- 
lang  es  den  staatlichen  Forstverwaltungen  im  Harz  und  in  derHeide  recht  ziigig, 
auf  die  explodierende  Nachfrage  der  Holzschleifereien  und  Papierfabriken  zu 
reagieren,  indem  sie  die  Monokulturen  von  Fichten  und  Kiefern  vorantrieben. 
Das  reiche  Holzangebot  begiinstigte  wiederum  die  Niederlassung  zahlreicher 
kleiner  Holzschleifereien  am  Harzrand,  unmittelbar  an  Oker,  Oder,  Innerste,  Sie- 
ber,  Sose  usw.,  wo  sie  zudem  giinstige  Verhaltnisse  der  Wasserkraftnutzung  vor- 
fanden.  Bei  der  Genehmigung  neuer  Holzschleifeien,  die  das  Betriebsgelande 
und  die  Wasserrechte  in  der  Regel  von  den  Berg-  oder  Forstverwaltungen  pachte- 
ten,  waren  betriebswirtschaftliche  und  fiskalische  Interessen  an  einer  langfristi- 
gen  Abnahme  von  Fichtenholz  ausschlaggebend.63  Zu  Beginn  des  20.  Jahrhun- 
derts versuchten  die  Forstverwaltungen,  neue  Griinder  vertraglich  darauf  zu  ver- 
pflichten,  ausschlieBlich  Holz  aus  Staatsforsten  zu  verarbeiten.64 

Holzschliff  und  Zellstoff  revolutionierten  die  Papiererzeugung  und  erweiter- 
ten  durch  Diversifizierung  oder  Sortenvielfalt  deren  Verwendungsmoglichkei- 
ten.  Innerhalb  von  fast  25Jahren,  1871  bis  1895,  stieg  die  Tagesproduktion  der  Al- 
felder  Papierfabrik  von  4  auf  22  Tonnen.65  Zum  Vergleich:  Gegenwartig  (2005) 
erreicht  die  Tagesproduktion  in  Alfeld  (Sappi)  mehr  als  950  t  Papier,  das  heiBt  die 
238fache  Menge  von  1871  (1981  lag  der  Wert  bei  466  t).66  Das  exponentielle 
Wachstum  der  Zellstoff-  und  Papierproduktion  kam  seit  dem  spaten  19.  Jahrhun- 
dert  in  einem  enormen  Holz-  und  Zellstoffhunger  zum  Ausdruck.  1895  verarbei- 
tete  die  Alfelder  Papierfabrik  mehr  als  18.000  Raummeter  Fichten-  und  Kiefern- 
holz.67  DieserBedarf  war  nicht  allein  im  Umland  zu  stillen.  Die  Holzer  stammten 
iiberwiegend  aus  dem  Harz,  zum  kleineren  Teil  aus  den  nahen  Hils-  oder  Solling- 
forsten,  aber  auch  aus  der  Liineburger  Heide.  Zusatzlich  bezog  das  Unternehmen 
Holzschliff  von  Schleifereien  aus  dem  Westharz  und  aus  Skandinavien. 


63  NHStA  Hann.  180  Hildesheim,  Nr.  18220  zur  Anlage  einer  Holzstofffabrik  im  Inner- 
stetal  1901. 

64  Die  Anlage  neuer  Schleifereien  scheiterte  auch  an  erhohten  Pachtforderungen  fur 
Wassergefalle  und  am  aufkommenden  Talsperrenbau. 

65  Hannoversche  Papierfabriken,  Endlose  Bahn,  wie  Anm.  46,  S.  124,  138. 

66  Sappi  Alfeld,  Papier-Stammbuch,  wie  Anm.  48,  S.  171. 

67  NHStA  Hann.  180  Hildesheim,  Nr.  17028. 


230  Johannes  Laufer 

Auch  generell  hingen  das  Wachstum  und  der  Aufstieg  der  deutschen  Papierin- 
dustrie  zu  einer  weltweiten  Spitzenstellung  entscheidend  vom  erweiterten  Zugriff 
auf  iiberregionale  und  internationale  Holzressourcen  ab.  Zwischen  1880  und 
1901  stiegen  die  deutschen  Holzstoffeinfuhren,  vor  allem  aus  Skandinavien  und 
Russland,  um  das  Vierfache.68  1913  importierte  Deutschland  bereits  2,6  Mio. 
Raummeter  oder43  %  des  Papierholzes  aus  Nord-  und  Osteuropa.69  Das  wieder- 
um  setzte  die  Konvergenz  internationaler  Rohstoffmarkte  voraus,  die  dank  der 
Transportrevolution  von  Eisenbahn  und  Dampfschiff  seit  den  1870er  Jahren 
auch  im  Uberseehandel  verstarkt  vernetzt  wurden.  Der  Ausbruch  des  Ersten 
Weltkriegs  offenbarte  die  Grenzen  des  Wachstums,  als  die  Holzimporte  aus 
Skandinavien,  Russland  und  teilweise  auch  aus  Amerika  ausblieben.  Im  Interes- 
se  der  Papierindustrie  ordnete  das  Reichswirtschaftsministerium  einen  erhohten 
Holzeinschlag  an,  der  jedoch  weniger  der  regionalen  Papierindustrie  zugute  kam. 
Vielmehr  mussten  die  Forstverwaltungen  der  waldreichen  Provinz  Hannover  im 
Zuge  der  staatlichen  Grundstoffbewirtschaftung  zu  Beginn  der  1920erjahre  mo- 
natlich  90.000  Raummeter  Papierholz  (Fichte)  vor  allem  fur  „notleidende  Betrie- 
be  der  Druckpapierindustrie",  das  hieB  fur  groBe  Papierkonzerne  wie  die  Feld- 
miihle  AG,  deren  Werke  zum  Teil  in  Kiistennahe  lagen  und  von  Holzimporten 
abhingen,  bereitstellen.70  So  versuchten  die  Hannoverschen  Papierfabriken  ihre 
Rohstoffbasis  zu  erweitern,  indem  sie  zum  Holzschliff  zuriickkehrten  und  noch 
im  vorletzten  Kriegsjahr  eine  Holzschleiferei  im  Okertal  am  Harz  erwarben.71 
Die  HerzbergerPapierfabrik  Osthushenrich  schloss  1930  mit  den  Forstbehorden 
langerfristige  Vertrage  iiber  die  Abnahme  groBer  Mengen  Fichtenholz  (bis  zu 
32.000  m3  im  Jahr)  aus  hannoverschen  Staatsforsten,  vor  allem  dem  Harz.72  Als 
das  Unternehmen  auf  dem  Gipfel  der  Weltwirtschaftskrise  in  Zahlungsschwierig- 
keiten  geriet  und  das  PreuBische  Finanzministerium  eine  nachtragliche  Erma.- 
Bigung  des  Holzpreises  entschieden  ablehnte,  bezog  die  Firma  einen  Teil  des 
Papierholzes  aus  Polen.  Die  Nationalsozialisten  nahmen  sich  bereitwillig  des  An- 


68  NHStA  Hann.  180  Hildesheim,  Nr.  17028;  vgl.  auBerdem  Druckschrift  der  Handels- 
kammer  Goslar  zur  Lage  der  deutschen  Holzstoffindustrie  und  Stellungnahme  zum  neuen 
Zolltarif-Entwurf  an  den  preuBischen  Handelsminister  1901,  in:  NHStA  Hann.  180  Hildes- 
heim, Nr.  18220.  Die  Schrift  betont  die  Vorteile  des  Wald-  und  Holzreichtums  von  Kanada, 
Russland  und  Skandinavien  als  den  Holzstoffmarkt  kiinftig  beherrschende  Lander  und 
warnt,  dass  ein  Riickgang  der  deutschen  Holzstoffindustrie  auch  die  Rentabilitat  der  Forst- 
wirtschaft  gefahrde. 

69  Mutz,  wie  Anm.  2,  S.  62. 

70  NHStA  Hann.  180  Hildesheim,  Nr.  17029. 

71  Hannoversche  Papierfabriken,  Endlose  Bahn,  wie  Anm.  46,  S.  139  sowie  Hannover- 
sche  Papierfabriken  (Hrsg.),  Das  Papier-Stammbuch.  275  Jahre  Hannover  Papier,  Koln 
1981,  S.  81. 

72  NHStA  Hann.  180  Hildesheim,  Nr.  183212. 


Knappe  Ressourcen  als  Barriere  und  Triebkraft 


231 


Holzplatz  der  Hannover schen  Papierfabriken  aufdem  Werksgeldnde  in  Alfeld/Leine  1956. 

Aufdem  Platz  lagert  der  Holzvorrat  der  Zellstofffabrik  fur  vier  Wochen  -  bei  einer  Monats- 

produktion  von  etwa  1.800  t  Sulfitzellstoff.  Foto  Hannover  Papier,  Alfeld. 


liegens  der  Herzberger  Papierfabrik  an  und  wiesen  die  Forstverwaltung  1934  an, 
dem  Rohstoffmangel  [der  Papierfabrik,  J. L.]  angemessen  entgegen  zu  wirken. 

Unter  den  Vorzeichen  knapper  Energie  und  Rohstoffe  setzte  in  der  Zwischen- 
kriegszeit  und  unter  den  Vorgaben  der  Autarkie-  und  Kriegswirtschaft  des  NS- 
Regimes  eine  neue  Phase  intensiver  Uberlegungen  iiber  die  Papierressourcen 
ein.  Zur  Sicherung  der  deutschen  Papierproduktion  wurden  drei  Wege  anvisiert, 
die  heute  auf  globalen  Rohstoffmarkten  gleichsam  Realitat  sind  und  die  Papier- 
rohstofflage  beherrschen:  zum  einen  die  Ausbeutung  groBer  Waldgebiete  (heute 
globaler  Zugriff  auf  tropische  Regenwalder)  und  die  Kultivierung  schnell  wach- 
sender  Baumarten  (gegenwartig  der  verstarkte  Trend  zum  Plantagenholz  in  den 
Tropen  und  in  Afrika),  zum  anderen  eine  erhohte  Altpapierverwertung  (derzeit 
erreicht  die  deutsche  Altpapierquote  iiber  65%). 73 

Mit  der  Spezialisierung  auf  das  Marktsegment  hochwertiger  grafischer  Papiere 


73    Vgl.  Oligmuller/Schachtner,  wie  Anm.  2,  S.  77,  95  und  Mutz,  Papierrecycling, 
wie  Anm.  42,  S.  191  sowie  Bayerl,  wie  Anm.  4,  S.  393-396. 


232  Johannes  Laufer 

und  Spezialpapiere  verzichtete  die  Alfelder  Papierfabrik  seit  Mitte  der  1960er 
Jahre  auf  den  Einsatz  von  Altpapier,  dessen  Anteil  in  der  Kriegs-  und  Nachkriegs- 
zeit  deutlich  erhoht  worden  war,  und  verwendete  seither  ausschlieBlich  eigenen 
und  fremden  Zellstoff.  Hohere  okologische  Kosten  wurden  in  Erwartung  guter 
Marktchancen  in  Kauf  genommen.  Denn  zur  Erzeugung  von  einem  Kilogramm 
Zellstoff  werden  auch  gegenwartig  noch  etwa  zwei  Kilogramm  Holz  benotigt.74 
Es  bleiben  also  50%  derHolzsubstanz  (Rinde  und  Lignin)  als  Riickstand.  Bis  An- 
fang  der  1970er  Jahre  wurde  davon  lediglich  ein  Bruchteil  zur  Gewinnung  von 
Sulfitspiritus  und  Dampf-Energie  verwertet.75  Fur  die  eigene  Zellstoffgewinnung 
verbrauchte  Alfeld  in  den  1980erjahren  etwa  460.000  Raummeter  Fichtenholz 
im  Jahresdurchschnitt.  Zusatzlich  bezog  die  Firma  noch  85.000  t  schwedischen 
Sulfat-Zellstoff.  Angeheizt  durch  technische  Fortschritte  und  explodierende  Pro- 
duktionsleistungen  erreichte  der  Ressourcenverbrauch  verglichen  mit  dem  spa- 
ten  19.  und  friihen  20.  Jahrhunderts  vollig  neue  Dimensionen.  Der  riesige  Holz- 
bedarf  und  die  Kapitalintensitat  der  Papier-  und  Zellstoffproduktion  eroffneten 
der  internationalen  Holzwirtschaft  schlieBlich  auch  im  Alfelder  Unternehmen 
den  Zugang  zur  Aktienmehrheit.  Sie  wechselte  zuletzt  1992  vom  schwedischen 
Zellstoff-  und  Papierkonzern  N.C.B.  (Norrlands  Skogsagares  Cellulosa  AB)  zum 
siidafrikanischen  Sappi-Konzern  (South  African  Pulp  and  Paper  Industries).76 
Der  Aufstieg  von  Sappi  zum  neuen  Global  Player  der  Papierindustrie  basierte  wie 
schon  bei  den  Skandinaviern  wesentlich  auf  riesigem  Waldbesitz  und  einer  eige- 
nen Forst-  und  Holzwirtschaft.  Gleichwohl  ging  das  Alfelder  Werk  Ende  der 
1990er  Jahre  aus  Qualitats-  und  Kostengriinden  dazu  iiber,  statt  Import-  oder 
Plantagenholz  vorwiegend  Durchforstungsholz  aus  Waldern  der  Region  bei  er- 
hohtem  Buchenholzanteil  zu  verarbeiten.  Das  Unternehmen  nutzt  diese  Ent- 
wicklung  unter  Hinweis  auf  das  Nachhaltigkeitsprinzip  der  Forstwirtschaft  im 
Rahmen  seiner  okologischen  Marketing-Strategie. 

Wasser  -  elementares  Produktionsmittel  und  Standortfaktor 

Die  traditionell  hohe  Verdichtung  derPapiermiihlen  und  Papierfabriken  im  siid- 
niedersachsischen  Berg-  und  Hiigelland  verweist  bereits  auf  die  standortbilden- 
de  Bedeutung  des  Wassers.77  Ohne  ausreichendes  und  vor  allem  auch  reines, 


74  Sappi  Alfeld,  Papier-Stammbuch,  wie  Anm.  48,  S.  180f. 

75  Die  Gewinnung  von  Alkohol  aus  Ablaugen  der  Zellstoffkocherei,  die  dem  Unterneh- 
men 1936  im  Rahmen  der  nationalsozialistischen  Rohstoffbewirtschaftung  des  Vierjahres- 
plans  auferlegt  worden  war,  erwies  sich  als  lohnende  Nebenproduktion.  Hannoversche  Pa- 
pierfabriken, Papier-Stammbuch,  wie  Anm.  46,  S.  92  f. 

76  Vgl.  Sappi  Alfeld,  Papier-Stammbuch,  wie  Anm.  48,  S.  116,  155f. 

77  Vgl.  Tacke,  Standorte,  wie  Anm.  3.  Zur  Bedeutung  des  Wassers  am  Beispiel  einer 


Knappe  Ressourcen  als  Barriere  und  Triebkraft  233 

moglichst  weiches  Wasser  ist  keine  Papierproduktion  denkbar.  Die  Wasserquali- 
tat  entscheidet  iiber  die  Art  und  Giite  des  Papiers.  Papierfabriken  verbrauchen 
riesige  Mengen  an  Frischwasser.  Wasser  ist  das  tragende  Element  der  Suspension, 
also  des  Faservlieses  oder  Papierbreis  aus  Zellulose  und  Zuschlagen  wie  Leim 
usw.  Wasser  diente  und  dient  dariiber  hinaus  zur  Aufbereitung  der  Rohstoffe, 
zum  Antrieb  der  Maschinen  sowie  zur  Entsorgung  von  Riickstanden  aus  der  Zell- 
stoff-  und  Papierproduktion.  Wahrend  die  deutsche  Papierindustrie  um  1900  fur 
ein  Kilogramm  Papier  noch  etwa  600  bis  800  Liter  Wasser  benotigte,  waren  es  um 
1950  durchschnittlich  167  Liter  Wasser,  zur  Produktion  hochwertiger  Papiere 
aber  auch  weitaus  mehr.78  Zurzeit  liegt  der  Verbrauch  in  Alfeld  mit  etwa  20  Li- 
tern  je  Kilogramm  Papier  knapp  iiber  dem  Durchschnitt  der  deutschen  Papier- 
industrie.79 

Das  fruhneuzeitliche  Papiergewerbe  benotigte  nicht  nur  gutes  Fabrikations- 
wasser,  sondern  auch  kraftiges  Antriebswasser  als  Primarenergie  fur  die  Stampf-, 
Schneid-  und  Mahlwerke.  Ein  Grundproblem  vieler  Papiermiihlen  (vor  allem  im 
Flachland)  bestand  darin,  dass  selten  beides  in  ausreichendem  MaBe  vor  Ort  ver- 
fiigbar  war.  Extreme  Schwankungen  des  Wasserhaushalts  oder  Wassermangel 
waren  eine  der  wesentlichen  Ursachen  fur  den  Niedergang  der  Handpapiermiih- 
len.80  Um  die  Wasserkraft  der  Lachte  fur  die  Papiermiihle  Lachendorf  zu  reser- 
vieren,  errichtete  die  Fabrikantenfamilie  Drewsen  1830  anstelle  einer  Getreide- 
Wassermiihle  eine  Hollanderwindmiihle,  die  bis  1863  zugleich  als  Energiereser- 
ve  der  Papiermiihle  genutzt  wurde.81  Fiir  die  Papiermiihlen  bot  Windkraft  ledig- 
lich  im  Flachland  und  in  Kiistennahe  eine  echte  Alternative  wie  im  Fall  der  er- 
sten  Papiermiihle  Ostfrieslands,  die  1807  nach  hollandischem  Vorbild  bei  Aurich 
errichtet  wurde.82 

Da  die  Wasserleistung  kleinerer  Fliisse  zur  Kapazitatserweiterung  und  Maschi- 
nisierung  der  Papierproduktion  nicht  ausreichte,  hielt  die  Dampfmaschine  in 
Papierfabriken  schon  friihzeitig,  spatestens  aber  mit  der  Aufstellung  der  ersten 
Papiermaschinen  um  1840  Einzug.83  In  der  hannoverschen  Dampfmaschinensta- 


sachsischen  Papierfabrik  bes.  instruktiv:  Mathias  Mutz,  Naturale  Infrastrukturen  im  Un- 
ternehmen.  Die  Papierfabrik  Kiibler  &  Niethammer  zwischen  Umweltabhangigkeit  und 
Umweltgestaltung,  in:  Saeculum  58  (2007),  S.  59-87. 

78  Vgl.  Oligmuller/Schachtner,  wie  Anm.  2,  S.  141;  Bayerl,  wie  Anm.  4,  S.  475  so- 
wie VDP,  Leistungsbericht,  Grafik  ,Wassergebrauch  1950-2001'. 

79  Sappi  Alfeld,  Papier-Stammbuch,  wie  Anm.  48,  S.  184  sowie  Oligmuller/Schacht- 
ner, wie  Anm.  2,  S.  142. 

80  Vgl.  Tacke,  Klein  Lengden,  wie  Anm.  7,  S.  20  f.  am  Beispiel  der  1847  aufgegebenen 
Papiermiihle  Klein  Lengden  bei  Gottingen. 

81  Vgl.  NHStA  Hann.  74  Celle,  Nr.  194  und  Drewsen,  Geschichte,  wie  Anm.  34,  S.  23. 

82  Vgl.  Tacke,  Windpapiermiihle,  wie  Anm.  34,  S.  178. 

83  Die  ersten  Dampfmaschinen  im  niedersachsischen  Papiergewerbe  wurden  1806  von 


234  Johannes  Laufer 

tistik  von  1875  lagen  die  Papierfabriken  an  zweiter  Stelle  hinter  den  Kornbrenne- 
reien  und  Getreidemiihlen,  aber  noch  vor  der  Textilindustrie.84  Der  Einsatz  der 
Dampfmaschine  setzte  jedoch  eine  verkehrsgiinstige  Lage  zur  Versorgung  mit 
Steinkohle  oder  Koks  voraus  und  erforderte  vor  allem  in  der  Friihzeit  ausreichen- 
den  Zufluss  an  Kondensationswasser.  Deshalb  nutzten  die  fruhindustriellen  Pa- 
pierfabrikanten  beim  auBerordentlich  hohen  Energiebedarf  ihrer  zunehmend 
mechanisierten  Betriebe  soweit  wie  moglich  die  Vorziige  der  Wasserkraft.85  Weil 
sich  die  Leistung  der  zumeist  kleineren  Gewasser,  zumal  im  Flachland,  kaum  stei- 
gern  lieB,  suchten  die  Papierfabrikanten  entwederneue  Standorte  auf,  erwarben 
zusatzliche  Wassergefalle  oder  setzten  Kraftmaschinen  ein.  In  Lachendorf  wur- 
den  zusammen  mit  der  Aufstellung  der  ersten  Papiermaschine  1845  drei  Turbi- 
nen  anstelle  der  Wasserrader  installiert;  eine  zweite  Dampfmaschine  kam  1848 
dazu.86  Seit  den  1850erjahren  ersetzten  vor  allem  leistungsstarke  moderne  Tur- 
binen  die  alten  Wasserrader.87  Dampfmaschinen  mit  kleiner  oder  mittlerer  Lei- 
stung dienten  dagegen  zumeist  zur  Uberbriickung  der  natiirlichen  Schwankun- 
gen  des  Wasserhaushalts  und  als  erganzende  Energiereserve.88  Die  Technik  der 
Endlos-Papiermaschinen  verlangte  einen  moglichst  ungestorten,  kontinuierli- 
chen  Prozess,  sie  duldete  keinen  Stillstand. 

Ein  friihes  Beispiel  fiir  die  Kombination  verschiedener  Antriebsarten  bietet 
die  friihindustrielle  Papierherstellung  in  Osnabriick.  DerKaufmann  und  Papier- 
fabrikant  Quirll  errichtete  1798  fiir  seine  neue  Papiermiihle  in  Osnabriick  „in  der 
Wiiste"  eine  Windmiihle  und  erweiterte  die  Anlage  bereits  ein  Jahr  spater  um  ei- 
ne zweite  Windmiihle,  die  er  von  einer  alten  Papiermiihle  in  Ankum  im  Amt  Ber- 
senbriick  dorthin  versetzte.89  1806  versuchte  Quirll,  von  der  Windkraft  unabhan- 
gig  zu  werden  und  erganzte  die  Anlage  durch  eine  Dampfmaschine.90  Zusatzlich 


Quirll  in  Osnabriick,  um  1837  von  v.  Giilich  in  Wertheim  und  1840  von  Vieweg  in  Wend- 
hausen  aufgestellt.  Vgl.  Sporhan-Krempel,  wie  Anm.  7,  S.  13;  Siemers,  Papierfabrik,  wie 
Anm.  22,  S.  138  f. 

84  Vgl.  Michael  Mende,  Anfange  der  Industrialisierung  in  Hannover.  Wasserkraft-  oder 
Dampfmaschine?,  in:  Giinter  Bayerl  (Hrsg.),  Wind-  und  Wasserkraft.  Die  Nutzung  regene- 
rierbarer  Energiequellen  in  der  Geschichte,  Diisseldorf  1989,  S.  308-329,  hier  S.  316f. 

85  Vgl.  Mende,  wie  oben,  S.  317. 

86  NHStA  Hann.  74  Celle,  Nr.  1010. 

87  Wasserturbinen  setzten  sich  vor  allem  auch  mit  den  neuen  Holzschleifereien  durch. 
Vgl.  Mende,  wie  Anm.  84,  S.  319  u.  Anm.  23. 

88  Angaben  zu  einzelnen  Papierfabriken  vgl.  Nachrichten  iiber  die  im  Konigreiche 
Hannover  bestehenden  Fabriken  und  fabrikahnlichen  Anlagen,  in:  Mitteilungen  des  Ge- 
werbe-Vereins  fiir  das  Konigreich  Hannover  (1843),  Sp.  359f.;  (1852),  Sp.  320-323;  auBer- 
dem  Mende  wie  Anm.  84. 

89  Vgl.  Sporhan-Krempel,  wie  Anm.  7,  S.  11  f.  sowie  Tacke,  Windpapiermiihle,  wie 
Anm.  34. 

90  Vgl.  auch  zum  Folgenden  Sporhan-Krempel,  wie  Anm.  7,  S.  13,  17,  21. 


Knappe  Ressourcen  als  Barriere  und  Triebkraft  235 

erwarb  erimjahre  1808  die  ehemalige  OsnabriickerLoh-  und  Walkmiihle  an  der 
Hase,  um  das  Gelande  und  insbesondere  die  Wasserrechte  fur  die  Errichtung  ei- 
ner  weiteren  Papierfabrik  zu  nutzen.  1850  erfolgte  hier  zusammen  mit  der  Auf- 
stellung  einer  Papiermaschine  der  Einbau  einer  ersten  und  1853/55  einer  zweiten 
Wasserturbine.  Wie  in  diesem  Fall  so  kennzeichnete  auch  in  Polle/  Wertheim, 
Lachendorf/Celle  oder  Alfeld/Gronau  das  Ausweichen  an  einen  neuen  oder 
zweiten  Standort  die  Entwicklung  von  der  Papiermiihle  zur  Fabrik.91 

Im  allgemeinen  hatten  die  Papiermacher  standig  mit  Verunreinigungen  des 
Wassers  durchjauche,  Schlamm  und  Sand,  besonders  bei  Hochwasser,  zu  kamp- 
fen.  Vor  grundsatzlichen  Problemen  standen  jedoch  die  Papiermiihlen  in  der 
norddeutschen  Tiefebene.  Gewohnlich  mangelte  es  diesen  Standorten  weniger 
an  der  Menge  als  vielmehr  an  der  Reinheit  des  Wassers.  Hartes,  unreines  oder 
auch  eisenhaltiges  Wasserbeeintrachtigte  maBgeblich  die  Qualitat  und  den  Wert 
der  Papierproduktion.  Sie  lieBen  lediglich  die  Herstellung  geringwertiger  Pack- 
papiere  oder  Pappen  zu.  Zum  Betrieb  der  1804/07  mit  massiver  staatlicher  Unter- 
stiitzung  gegriindeten  einzigen  ostfriesischen  Papiermiihle  Stallingslust  bei  Au- 
rich  war  es  daher  notwendig,  das  moorastige  und  durch  Jauche  verunreinigte 
Wassernach  hollandischem  Vorbild  zu  filtrieren  und  zusatzlich  Regenwasserbas- 
sins  anzulegen.92  Ahnliche  Probleme  hatte  der  Osnabriicker  Fabrikant  Quirll  bei 
seiner  neuen  Papierfabrik  an  der  Hase  zu  bewaltigen.  Zum  Ausbau  der  Produkti- 
onskapazitaten  musste  er  neue  Brauch-  oder  Frischwasservorrate  erschlieBen. 
Nach  fehlgeschlagener  Suche  gelang  es  erst  durch  aufwendige  Zuleitung  von  ge- 
eignetem  Quellwasser,  in  groBerem  Umfang  auch  bessere  Papiersorten  zu  erzeu- 
gen.93  In  Lachendorf  bei  Celle  schuf  die  ErschlieBung  neuer  Wasserreservoire 
durch  den  Bau  von  Brunnen,  Kanalen  oder  Rohrleitungen  die  entscheidende 
Voraussetzung  fur  die  weitere  Existenz  und  Expansion  des  Unternehmens  in  der 
zweiten  Halfte  des  19.  Jahrhunderts.  1885  wurde  eine  Anlage  zur  Aufbereitung 
des  stark  eisenhaltigen  Wassers  errichtet.94 

Im  Verlauf  der  Industrialisierung  verscharften  sich  die  Konflikte  um  das  Was- 
ser.  Das  betraf  vor  allem  Standorte,  an  denen  Papiermiihlen  mit  Brauereien,  Tex- 
tilfabriken  oder  Kalibergwerken  um  die  Wassernutzung  konkurrierten.  Papier- 
miihlen unterlagen  seit  jeher  allgemeinen  Regeln  der  Stauhohe,  Wasserentnah- 

91  Zu  Lachendorf  bes.  Elgar  Drewsen,  300  Jahre  Papiermacher  -  die  Drewsens  in 
Deutschland  und  Danemark,  in:  Frieder  Schmidt  (Hrsg.),  Papiergeschichte(n).  Papierhisto- 
rische  Beitrage,  Wiesbaden  1996,  S.  17-25. 

92  Vgl.  Bayerl,  wie  Anm.  4,  S.  423-425. 

93  Vgl.  Sporhan-Krempel,  wie  Anm.  7,  S.  20f.  sowie  Bayerl,  wie  Anm.  4,  S.  437f. 

94  Drewsen,  Geschichte,  wie  Anm.  34,  S.  23 f.  Die  Anlage  von  Teichen  als  Wasserreser- 
voir  wie  1820  bei  der  Papiermiihle  Bilderlahe  bei  Hildesheim  erwies  sich  zumindest  im 
Sommer  als  ungeeignet;  dazu  Bayerl,  wie  Anm.  4,  S.  426. 


236  Johannes  Laufer 

me  oder  Einleitung,  die  den  Interessenausgleich  aller  Wassernutzer  anstrebten. 
Konkurrierende  Nutzer  achteten  sehr  genau  auf  Veranderungen  des  Status  quo. 
Papiermiihlen  waren  groBe  Wasserverbraucher,  aber  auch  Wasserverschmutzer. 
In  einer  Interessenkoalition  mit  dem  Stadtmagistrat  verhinderte  der  Alfelder  Pa- 
piermiiller  Woge  1833  die  Niederlassung  eines  Konkurrenten  an  dem  Fliisschen 
Warne,  indem  er  gegeniiber  der  Behorde  deutlich  machte,  dass  von  der  geplanten 
Pappenfabrik  trotz  dergegenteiligen  Beteuerungen  des  Antragstellers  eine  starke 
Wasserverunreinigung  zu  erwarten  sei,  die  den  Anrainern  und  nicht  zuletzt  sei- 
ner eigenen  Papierfabrikation  erheblichen  Schaden  zufiigen  wiirde.95  Die  Stadt 
Alfeld  befiirchtete  vor  allem  negative  Folgen  fur  die  Entnahme  von  Brauerei-  und 
Trinkwasser  unterhalb  des  vorgesehenen  Miihlengelandes.  Paradoxerweise  ge- 
horte  gerade  die  Papierindustrie,  die  selbst  in  hochstem  MaBe  auf  reines  Wasser 
angewiesen  war,  zu  den  schlimmsten  Gewasserverschmutzern;  konnte  also  Ver- 
ursacher  und  Geschadigte  zugleich  sein. 

Das  AusmaB  und  die  Art  der  Wasserverunreinigung  nahmen  mit  dem  Vor- 
dringen  von  Chemikalien  beim  Reinigen  und  Bleichen  der  Faserstoffe  um  1840 
und  insbesondere  seit  den  1870er  Jahren  durch  die  Zellstoffgewinnung  drama- 
tisch  zu.96  Papier-  und  Zellstofffabriken  entsorgten  hochgradig  mit  Chlor-, 
Schwefel-,  Natronverbindungen  oder  auch  Kalk  belastete  Ablaugen,  aber  auch 
organische  Riickstande  der  Zellstoffgewinnung  sowie  Leim  und  Farbreste  bis  um 
1900  nahezu  ungeklart  in  natiirliche  Gewasser,  die  in  Kloaken  verwandelt  wur- 
den.  Die  okologischen  Folgen  und  Gefahren  fiir  Menschen  und  Tiere  waren  seit 
der  zweiten  Halfte  des  19.  Jahrhunderts  uniibersehbar.  Sie  riefen  vor  allem  un- 
mittelbar  betroffene  Anwohner  oder  Gemeinden,  Unternehmen  und  die  Land- 
wirtschaft  auf  den  Plan.  In  Lachendorf  beispielsweise  entziindete  sich  gegen  En- 
de  des  19.  Jahrhunderts  ein  Konflikt,  weil  betroffene  Landwirte  nicht  mehr  dul- 
deten,  dass  die  Papierfabrik  weiterhin  die  zunehmend  chemisch  verseuchten 
Ablaugen  iiberihre  angrenzenden  Wiesen  in  die  Lachte  ableiteten.97  Solange  die 
kalkhaltigen  Abwasser  aus  der  Lumpenreinigung  und  Kocherei  als  Diinger  will- 
kommen  waren,  verfiigten  Papierfabriken  wie  Lachendorf  iiber  unkomplizierte, 
doch  okologisch  bedenkliche  Entsorgungsmethoden.98  Die  Probleme  um  das 
Anschwellen  der  Abwasserflut  und  deren  chemische  Anreicherung  hatten  die 
LachendorferPapierfabrikanten  schon  1868  zum  Bau  mehrerer  Klarbassins  ver- 
anlasst,  in  denen  das  Waschwasser  der  Hollander  vorgeklart  und  anschlieBend 


95  Vgl.  NHStAHann.  80  Hildesheim,  Nr.  1172  sowie  Eberhard  Tacke,  Uber  Abwasser- 
probleme  in  der  alten  Handpapierindustrie,  in:  Neues  Archiv  fiir  Niedersachsen  16  (1967), 
S.  356-361,  hierS.  359  f. 

96  Vgl.  Oligmuller/Schachtner,  wie  Anm.  2,S.  142  sowie  Bayerl, wie  Anm.  4,S.  445 f. 

97  NHStAHann.  174  Celle,  Nr.  58. 

98  Vgl.  Drewsen,  Geschichte,  wie  Anm.  34,  S.  24. 


Knappe  Ressourcen  als  Barriere  und  Triebkraft  237 

zur  Berieselung  von  Wiesen  und  Ackern  genutzt  wurde.  Das  Klarverfahren  wur- 
de  um  1890  optimiert  und  ermoglichte  zugleich  die  Riickfiihrung  von  gereinig- 
tem  Wasser  in  den  Produktionskreislauf. 

Schon  vor  dem  ersten  Wasserschutzgesetz  fur  PreuBen,  das  1913  in  Kraft  trat, 
gab  es  behordliche  Regulierungen  der  Abwasserentsorgung.  Die  vorallem  in  den 
Stadten  aufkommende  offentliche  Sensibilisierung  fur  Hygiene  und  Gesund- 
heitsschutz  leistete  dabei  wesentlichen  Antrieb.  Das  Wasserschutzgesetz,  das  die 
Untemehmen  vor  allem  fur  Folgeschaden  ihrer  Produktion  haftbar  machte,  zielte 
wie  schon  friihere  obrigkeitliche  oder  gewerbepolizeiliche  MaBnahmen  auf  ei- 
nen  Ausgleich  zwischen  offentlichen  Sicherheitsbediirfnissen  und  okonomi- 
schen  Interessen.  Papier-  und  Zellstofffabriken  oder  auch  Holzschleifereien 
mussten  ihre  Abwasser  nach  Vorgaben  und  Kontrollen  der  Gewerbeaufsicht  so 
ableiten  oder  vorklaren,  dass  Gefahren  fiir  Fische  und  Vieh,  vor  allem  aber  Beein- 
trachtigungen  anderer  gewerblicher  Wassernutzer  vermieden  wurden.  In  der 
Praxis  belieBen  die  Behorden  aber  nach  wie  vor  viel  Freiraum  zugunsten  der  in- 
dustriellen  Wassernutzer  und  reagierten  in  der  Regel  erst  bei  Klagen  oder  Ein- 
wanden  betroffener  oder  potentiell  gefahrdeter  Personen  oder  Korperschaften." 

Als  die  Herzberger  Papierfabrik  1928/29  die  Verleihung  von  Wasserrechten 
an  der  Sieber  zur  Wasserentnahme  und  Abwasserentsorgung  beantragte,  mach- 
ten  zwei  Textilfabriken,  die  Reichsbahn,  die  aus  dem  Fluss  Speisewasser  fiir  Lo- 
komotiven  entnahm,  und  die  Stadt  Herzberg  ihre  Interessen  am  Wasser  mit 
Nachdruck  geltend.100  Die  Papierfabrik  unterlag  zwar  seit  den  1890erjahren  der 
Verpflichtung,  Vorkehrungen  gegen  Verunreinigungen  des  Wassers  zum  Schutz 
der  anderen  Wassernutzer  zu  treffen  und  ihre  unterschiedlichen  Abwasser  aus 
der  Holzschleiferei  und  der  Papierfabrikation  in  Klar-  oder  Setzbecken  vorzukla.- 
ren.101  Infolge  derstarken  Ausdehnung  derPapierproduktion  kam  esjedoch  wie- 
derholt  zu  Verunreinigungen  (besonders  durch  organisches  Material  und 
Schlamm),  die  Anlass  zu  Beschwerden  gaben.  Die  Auseinandersetzungen  zogen 
sich  im  Ganzen  iiber  zehnjahre  hin.102  Unter  Einschaltung  des  Flusswasser-Un- 
tersuchungsamtes  Hildesheim  machten  die  Behorden  verschiedene  Auflagen  zur 
Verbesserung  der  Abwasserreinigung,  welche  die  Papierfabrik  schrittweise  um- 
setzte.  Bis  1938  wurden  die  Kapazitaten  der  Klaranlage  deutlich  vergroBert  und 
ein  Teil  der  Abwasser  unter  Zusatz  von  Chlor  gereinigt.  Den  wohl  wichtigsten 


99  Vgl.  Jiirgen  Buschenfeld,  Fliisse  und  Kloaken.  Umweltfragen  im  Zeitalter  der  Indu- 
strialisierung  (1870-1918),  Stuttgart  1997. 

100  NHStA  Harm.  180  Hildesheim,  Nr.  20243  und  20246. 

101  NHStA  Hann.  180  Hildesheim,  Nr.  18319. 

102  NHStA  Hann.  180  Hildesheim,  Nr.  20243  und  20246.  Ein  ahnlicher  Fall  war  die 
Verunreinigung  der  Sose  durch  eine  Papierfabrik  bei  Osterode  1899.  Dazu  Hann.  174  Zel- 
lerfeld,  Nr.  557. 


238  Johannes  Laufer 

Fortschritt  bedeutete  die  Einrichtung  einer  Stofffang-  und  Filtrationsanlage,  mit 
der  groBe  Mengen  von  organischem  Material  zuriickgehalten  und  eingedampft 
wurden.  Die  gelosten  chemischen  Schadstoffe  im  Fabrikationswasser  blieben 
von  den  MaBnahmen  noch  wenig  beriihrt. 

In  den  1970erjahren  begann  eine  neue  Phase  offentlicher  und  politischer  Aus- 
einandersetzungen  mit  Umwelt-  und  Ressourcenproblemen.  Unter  den  Vorzei- 
chen  gesellschaftlicher  Kritik  wurden  die  Unternehmen  zunehmend  fur  die  Re- 
gulierung  und  Vermeidung  von  Umweltschaden  in  die  Pflicht  genommen.  Be- 
sonders  wegen  der  Gewasserverschmutzung  geriet  die  Papierindustrie  in  den 
Fokus  der  Umwelt-  und  Naturschutzbewegung.  Die  Kritik  richtete  sich  vor  allem 
gegen  die  extremen  Belastungen  der  Chlorbleiche  und  der  Sulfitablaugen  aus  der 
Zellstoffproduktion.  Fiir  die  Alfelder  Papierfabrik,  die  sich  auf  holzfreie  Quali- 
tatspapiere  aus  Zellstoff  spezialisiert  hatte,  beanspruchte  die  Verringerung  der 
schadlichen  Riickstande  und  Ablaugen  aus  der  Zellstoffkocherei  hochste  Priori- 
tat.  Bis  1974  entsorgte  die  Fabrik  Abwasser  in  der  GroBenordnung  einer  GroB- 
stadt  mit  1,6  Mill.  Einwohnern  in  die  Leine.103 

In  Verbindung  mit  strengeren  gesetzlichen  Auflagen  verhalfen  steigende 
Energie-  und  Rohstoffpreise  seit  Beginn  der  1970erjahre  derbetriebswirtschaftli- 
chen  Beriicksichtigung  des  Umweltschutzes  und  einer  Ressourcen  schonenden 
Produktionstechnik  zum  Durchbruch.  Ein  besonderer  Impuls  ging  1981  von  der 
Einfuhrung  einer  gesetzlichen  Abwasserabgabe  aus.  Sie  stellte  Industrieunter- 
nehmen,  die  schadliche  Abwasser  in  offentliche  Gewasser  entsorgten,  vor  die  Al- 
ternative, hohe  Gebiihren  zu  zahlen  oder  sich  davon  durch  Investitionen  in  effizi- 
ente  MaBnahmen  zum  Gewasserschutz  zu  befreien.  Das  Alfelder  Unternehmen 
entwickelte  daraufhin  in  Zusammenarbeit  mit  den  zustandigen  Landesbehorden 
ein  Langzeitprogramm  fiir  eine  okologische  Modernisierung  seiner  Papier-  und 
Zellstoffproduktion.  Mit  Hilfe  umfangreicher  Investitionen  gelang  es  bis  2006  in 
mehreren  Stufen,  den  AusstoB  von  Schadstoffen  oderRiickstanden  entscheidend 
zu  reduzieren  und  zugleich  die  Effizienz  der  eingesetzten  Roh-,  Hilfs-  und  Be- 
triebsstoffe  im  Wege  einer  nahezu  vollstandigen  Riickgewinnung  und  Verwer- 
tung  fester  und  fliissiger  Abfalle  oder  Nebenprodukte  aus  dem  Stoffkreislauf  zu 
erhohen.104  So  konnten  jahrlich  bis  zu  200.000  Tonnen  organischen  Materials, 
die  zuvor  als  Abwasserfracht  die  Leine  verschmutzten,  energetisch  genutzt  wer- 
den.  Aus  der  Verbrennung  von  Baumrinde,  Biogas  der  Klaranlage  und  geloster 
Holzsubstanz  der  Zellstoffkocherei  deckt  die  Alfelder  Papierfabrik  seither  einen 


103  Vgl.  zum  Folgenden  Hannoversche  Papierfabriken,  Papier-Stammbuch,  wie  Anm. 
48,  S.  156f. 

104  Sappi  Alfeld,  Papier-Stammbuch,  wie  Anm.  48,  S.  180 ff. 


Knappe  Ressourcen  als  Barriere  und  Triebkraft  239 

wachsenden  Anteil  ihres  Energiebedarfs.  Zugleich  iibernahm  Alfeld  eine  inter- 
nationale  Pionierrolle  bei  der  Entwicklung  einer  chlorfreien  Bleichtechnologie. 
Durch  umfangreiche  Investitionen  in  grundlegende  Verbesserungen  der  Ener- 
gie-  und  Stoffkreislaufe  sicherten  die  Hannoverschen  Papierfabriken  in  Alfeld 
letztlich  das  Uberleben  der  eigenen  Zellstofffabrik  als  eine  von  nur  noch  sechs 
Anlagen  in  Deutschland.  Ein  wichtiges  Resultat  derneuen  Umwelttechnik  ist  die 
Reduzierung  des  Wasserverbrauchs.  Er  sank  in  Alfeld  1992  auf  20  Liter  je  Kilo- 
gramm  Papier,  was  gegeniiber  1960  eine  Ersparnis  von  fast  90  Prozent  je  Pa- 
piereinheit  brachte.  Wegen  der  erheblichen  Ausdehnung  der  Produktion  blieb 
der  absolute  Verbrauch  an  Frischwasser  jedoch  weiterhin  auf  hohem  Niveau. 
Doch  Dank  hoher  finanzieller  Einsparungen  beim  Energie-  und  Grundstoffver- 
brauch  setzte  sich  generell  in  der  deutschen  Papierindustrie  die  Erkenntnis 
durch,  dass  sich  Investitionen  in  den  Umwelt-  und  Ressourcenschutz  rechneten. 

Resiimee 

Knappe  Ressourcen  und  Grenzen  des  Wachstums  sind  als  historische  Phanome- 
ne  und  Erfahrungen  aus  unterschiedlichen  Zusammenhangen,  vor  allem  aber  aus 
der  elementaren  Frage  der  Ernahrung  bekannt.  Am  Beispiel  der  Papierherstel- 
lung  lasst  sich  zeigen,  dass  der  Aufbruch  in  die  industrielle  Massenproduktion 
mit  der  Ablosung  traditioneller  durch  neue  Papierrohstoffe  einherging.  Ressour- 
cenknappheit  forderte  die  Bemiihungen  um  Alternativen  und  fiihrte  zu  grundle- 
genden  wissenschaftlich-technischen  Fortschritten  in  der  Papiertechnologie. 
Doch  nicht  nur  Unternehmergeist  und  ,Not  machten  erfinderisch',  vielmehr  nah- 
men  auch  Staat  und  Gesellschaft  durch  Wirtschaftsforderung  oder  Vorgaben  der 
wirtschaftlichen  Rahmenbedingungen  direkten  oder  indirekten  Einfluss  auf  den 
Umgang  mit  naturalen  Ressourcen. 

Begiinstigt  durch  seinen  Wasserreichtum  wies  insbesondere  der  siidnieder- 
sachsische  Raum  in  vorindustrieller  Zeit  eine  recht  hohe  Konzentration  an  Pa- 
piermiihlen  auf.  Deren  Ausbau  zur  industriellen  Maschinenproduktion  stieB  vie- 
lerorts  zu  Beginn  des  19.  Jahrhunderts  bei  stockender  Lumpenversorgung  an 
Grenzen.  Mit  Holz,  Stroh  oder  auch  Flachs  und  Hanf  bestand  jedoch  in  den  ver- 
schiedenen  Regionen  und  Landschaften  Niedersachsens  eine  giinstige,  breite 
Rohstoffgrundlage,  um  die  Anpassung  an  die  Modernisierung  derPapierproduk- 
tion  an  mehreren  alten  Standorten  erfolgreich  zu  bewaltigen.  Vor  allem  in  den 
kiistennahen,  wasserreichen  und  stark  agrarisch  gepragten  Gebieten  entstanden 
im  letzten  Drittel  des  19.  Jahrhunderts  neue  Papier-  oder  Pappe-  und  Zellstoff- 
fabriken.  Hier  wie  an  den  iibrigen  niedersachsischen  Standorten  besaB  die  Nut- 
zung  von  Stroh  wahrend  der  Ubergangsphase  zwischen  1830  und  1910  offenbar 
eine  Schliisselfunktion. 


240  Johannes  Laufer 

Wie  schon  unter  den  Vorzeichen  der  ,Liimpennot'  forderten  die  Verteuerung 
knapper  Ressourcen,  aber  auch  umweltpolitische  Interventionen  die  Bereitschaft 
der  Untemehmen  zu  Ressourcen  schonenden,  Kosten  sparenden  Investitionen. 
Das  in  den  1970erjahren  gerade  auch  in  Niedersachsen  aufkommende  Umwelt- 
bewusstsein  hat  wesentlich  zu  einer  erhohten  Effizienz  derRessourcennutzung  in 
der  Papierindustrie  etwa  durch  die  Erhohung  des  Riicklaufs  und  Einsatzes  von 
Altpapier  als  zweite  Saule  der  Papiergrundstoffe  neben  Holz  beigetragen.  Gleich- 
wohl  hat  dies  nicht  zur  Reduzierung  des  Papierholzverbrauchs  gefiihrt,  sondern 
vielmehr  den  weiteren  Anstieg  des  Papierkonsums  befliigelt.  Hand  in  Hand  mit 
der  globalen  Ausdehnung  der  Ressourcengrenzen,  die  den  Holzhunger  der  Pa- 
pierindustrie noch  antrieben,  verfestigte  sich  die  Illusion  unbegrenzter  oder  er- 
neuerbarer  Papierressourcen.  Der  gegenwartige  Stand  der  Papiererzeugung  und 
der  alltagliche,  verschwenderische  Papierkonsum  lassen  vergessen,  dass  Holz 
und  Wasser  weltweit  begrenzte,  relativ  knappe  Ressourcen  sind,  deren  allgemei- 
ne  lokale  oderregionale  Verfiigbarkeit  auch  an  den  Standorten  derniedersachsi- 
schen  Papierindustrie  grundsatzliche  Bedeutung  hat. 


Illuminierte  Herrscher 

Bildliche  Erinnerungen  an  die  friihen  Welfen 
in  ihren  suddeutschen  Klostern* 


Von  Nathalie  Kruppa 


Mit  den  Welfen  beschaftigten  sich  in  den  letzten  beiden  Jahrzehnten  zahlreiche 
Historiker;  eine  Konzentration  erfolgte  um  1995  im  Zusammenhang  mit  der 
Braunschweiger  Landesausstellung  „Heinrich  der  Lowe  und  seine  Zeit.  Herr- 
schaft und  Reprasentation  der  Welfen  1 125-1235". 1  Besonders  Heinrich  der  Lowe 
und  seine  unmittelbaren  Verwandten,  Welf  IV.  und  Welf  VI.,  aber  auch  Otto  IV,2 


*  Uberarbeitete  und  mit  Anmerkungen  versehene  Textfassung  des  Vortrags,  gehalten 
am  29.  November  2007  vor  dem  Historischen  Verein  fiir  Niedersachsen  in  Hannover.  Ge- 
zeigt  werden  hier  nur  einige  wenige  der  Abbildungen  des  Vortrages,  auf  weitere  wird  im  An- 
merkungsapparat  verwiesen. 

1  Wichtigste  jiingere  Literatur:Jochen  Luckhardt/ Franz  Niehoff  (Hrsg.),  Heinrich  der 
Lowe  und  seine  Zeit.  Herrschaft  und  Reprasentation  der  Welfen  1125-1235.  Katalog  der 
Ausstellung  Braunschweig  1995,  3  Bde.,  Miinchen  1995;  Bernd  Schneidmuller  (Hrsg.),  Die 
Welfen  und  ihr  Braunschweiger  Hof  im  hohen  Mittelalter,  Wiesbaden  1995;  Werner 
Hechberger,  Staufer  und  Welfen  1125-1190.  Zur  Verwendung  von  Theorien  in  der  Ge 
schichtswissenschaft,  Koln/Weimar/Wien  1996;  Joachim  Ehlers,  Heinrich  der  Lowe.  Eu- 
ropaisches  Fiirstentum  im  Hochmittelalter,  Gottingen/Ziirich  1997;  Karl-Ludwig  Ay/Lo- 
renz  MAIER/Joachim  Jahn,  Die  Welfen.  Landesgeschichtliche  Aspekte  ihrer  Herrschaft, 
Konstanz  1998;  Joachim  EHLERs/Dietrich  Kotzsche  (Hrsg.),  Der  Welfenschatz  und  sein 
Umfeld,  Mainz  1998;  Johannes  Fried /Otto  Gerhard  Oexle  (Hrsg.),  Heinrich  der  Lowe. 
Herrschaft  und  Reprasentation,  Sigmaringen  2003.  Eine  Zusammenfassung  der  bisherigen 
Forschung  bietet  Bernd  Schneidmuller,  Die  Welfen.  Herrschaft  und  Erinnerung  (819- 
1252),  Stuttgart/Berlin/Koln  2000.  Siehe  auch  neuerdings  zu  den  „Welfenquellen":  Matthi- 
as Becher  (Hrsg.),  Quellen  zur  Geschichte  der  Welfen  und  die  Chronik  Burchards  von  Urs- 
berg,  Darmstadt  2007,  Genealogia  Welforum  S.  24-27,  Anhang  IV  der  Sachsischen  Welt- 
chronik  S.  28-33,  Historia  Welforum  S.  34-87,  Continuatio  Staingademsis  S.  86-91,  Annales 
Welfici  Weingartenses  S.  92-97,  E  Continuatione  Chronici  Hugonis  a  S.  Victore  Weingarten- 
si  S.  98f.;  Buchardi  Praepositi  Urspergensis  Chronicon  S.  100-311. 

2  Bernd  Ulrich  Hucker,  Kaiser  Otto  IV.,  Hannover  1990;  Rainer  Jehl  (Hrsg.),  Welf  VI. 
Wissenschaftliches  Kolloquium  zum  800.  Todesjahr  vom  5.  bis  8.  Oktober  1991,  Sigmaringen 
1995;  Dieter  R.  Bauer /Matthias  Becher  (Hrsg.),  Welf  IV  Schlusselfigur  einer  Wendezeit. 


242  Nathalie  Kruppa 

bilden  Schwerpunkte  derjiingeren  Forschung.  Die  Memoria  der  Welfen  wird  hin- 
gegen  seit  den  GOerJahren  des  20.  Jahrhunderts,  beginnend  mit  den  ersten  Unter- 
suchungen  von  Karl  Schmid  und  Otto  Gerhard  Oexle,  erforscht.3  Dennoch  wur- 
den  die  im  Spatmittelalter  und  der  friihen  Neuzeit  in  den  siiddeutschen  Welfen- 
klostern  geschaffenen  und  iiberlieferten  Bilder  welfischer  Herrscher  kaum  in 
Blickpunkt  genommen.  Der  folgende  Beitrag  will  einen  ersten  Schritt  auf  diesem 
Weg  gehen.  Zunachst  soil  ein  der  Orientierung  dienender  „Schnelldurchlauf" 
durch  die  genealogischen  Zusammenhange  der  friihen  Welfen  vom  9.  bis  ins 
12.  Jahrhundert  gegeben  werden,  soweit  sie  fur  die  weiteren  Betrachtungen  von 
Bedeutung  sind.  Im  AnschluB  erfolgt  eine  kurze  Skizze  iiber  einige  der  Kloster, 
die  diese  Welfen  gegriindet  haben.  Danach  werden  die  dortigen  bildlichen  Dar- 
stellungen  im  Mittelpunkt  stehen,  und  abschlieBend  wird  kurz  der  Traditions- 
bruch  der  welfischen  Geschichte  im  12.  Jahrhundert  angerissen. 

Die  Familie  der  „Welfen"4  laBt  sich  im  friihen  Mittelalter  bis  in  das  8.  Jahrhun- 
dert zuriickverfolgen  (vgl.  Stammtafel).  Zu  ihren  Vorfahren  zahlten  unter  ande- 
rem  ein  Graf  Ruthard  (f  31.  August  vor  790),  der  zur  Zeit  Konig  Pippins  (751-768) 
an  der  Einbindung  Alemanniens  in  das  Frankenreich  beteiligt  war,5  auch  wenn 
dieser  nicht  mit  letzter  Klarheit  in  den  genealogischen  Verband  der  karolinger- 


Regionale  und  europaische  Perspektiven,  Miinchen  2004. 

3  Karl  Schmid,  Welfisches  Selbstverstandnis,  in:  Gebetsgedenken  und  adliges  Selbstver- 
standnis im  Mittelalter.  Ausgewahlte  Beitrage.  Festgabe  zum  sechzigsten  Geburtstag.  Sigma- 
ringen  1983,  S.  424-453;  Otto  Gerhard  Oexle,  Die  „sachsische  Welfenquelle"  als  Zeugnis 
der  welfischen  Hausiiberlieferung,  in:  Deutsches  Archiv24,  1968,  S.  435-497;  Ders.,  Memo- 
ria und  Memorialbild,  in:  Karl  Schmid /Joachim  Wollasch  (Hrsg.),  Memoria.  Der  ge- 
schichtliche  Zeugniswert  des  liturgischen  Gedenkens  im  Mittelalter,  Miinchen  1984, 
S.  384-440;  Ders.,  Adliges  Selbstverstandnis  und  seine  Verkniipfung  mit  dem  liturgischen 
Gedenken  -  das  Beispiel  der  Welfen,  in:  Zeitschrift  fur  die  Geschichte  des  Oberrheins  134, 
1986,  S.  47-75;  Ders.,  Die  Memoria  Heinrichs  des  Lowen,  in:  Dieter  Geuenich/OUo  Ger- 
hard Oexle  (Hrsg.),  Memoria  in  der  Gesellschaft  des  Mittelalters,  Gottingen  1994, 
S.  128-177;  Ders.,  Welfische  Memoria.  Zugleich  ein  Beitrag"  iiber  adlige  Hausiiberlieferung 
und  die  Kriterien  ihrer  Erforschung,  in:  Schneidmuller,  Braunschweiger  Hof,  wie 
Anm.  1,  S.  61-94;  Ders.,  Fama  und  Memoria.  Legitimationen  fiirstlicher  Herrschaft  im  12. 
Jahrhundert,  in:  Heinrich  der  Lowe  und  seine  Zeit  2,  wie  Anm.  1,  S.  62-68;  Ders.,  Fama  und 
Memoria  Heinrichs  des  Lowen:  Kunst  im  Kontext  der  Sozialgeschichte.  Mit  einem  Ausblick 
auf  die  Gegenwart,  in:  Der  Welfenschatz,  wie  Anm.  1,  S.  1-25. 

4  Zum  Begriff  „Welfen"  siehe  Hechberger,  Stauferund  Welfen,  wie  Anm.  1,  S.  105-183, 
hier  bes.  S.  113-115;  Thomas  Zotz,  Art.  Welfen,  in:  Lexikon  des  Mittelalters  8,  1997, 
Sp.  2147ff.;  Schneidmuller,  Welfen,  wie  Anm.  1,  S.  740;  Matthias  Becher,  Der  Name  ,Welf 
zwischen  Akzeptanz  und  Apologie.  Uberlegungen  zur  friihen  welfischen  Hausiiberliefe- 
rung, in:  Bauer/Becher,  wie  Anm.  2,  S.  156-198. 

5  Schneidmuller,  Welfen,  wie  Anm.  1,  S.  47-50;  Michael  Borgolte,  Die  Grafen  Ale- 
manniens in  merowingischer  und  karolingischer  Zeit.  Eine  Prosopographie,  Sigmaringen 
1986,  S.  229-236. 


Illuminierte  Herrscher 
Stammbaum  der  jriihen  Welfen  (Auszug) 

Ruthard  Gf.  in  Alemannien  t  vor  790 

Welf  Gf.  in  Alemannien  (?)  turn  825 
(j)  Heilwig  von  Sachsen  inach  833  als  Abt.  von  Chelles 


243 


Judith  1 843  Hemma  *  um  SOS  1 876 

co  Ks .  Lud wig  d .  Fr.  1 840      CDKg.Ludwigd.Dt.t876 


Konrad  d.  A.  Gf.  im  Schussengau  t  nach  862 
a>  Adelheid  v. Tours  tnach  866 


r 

Welf  I  Gf.  in  Alemannien  (?)  +  87K 


Etieho  turn  910 

I 

Heinrich  „mit  dem  goldenen  Wagen"  tnach  934 
<B  Atha  v.  Hohenwarth 


I 

Rudolf  [.tnach  940 


Eticho/Welf 


HI.  Konrad  Bf  v.  Konstanz  +975 


Rudolf  II.  turn  992  a>  Ita  v,  Ohningen  tnach  1000 


Welf  11.  Gf.  in  Schwaben  1 1030 
co  Imiza  v.  Luxemburg  tnach  1057 

I 


Heinrich 


Richlind  1 1045 


r 

Welf  III.  Hzg.  v.  Karnten  1 1055 


1 

Cuniza  t  vor  1055 
d>  Albert  Azzo  II.  Mgf.  v,  Este  *um  1000  1 1097 

I 


Welf  IV.  Hzg.  v.  Bayern  *  1030/40  f  1101 

cd2  Ethelinde  v.  Northeim  co3  Judith  v.  Klandern  1 1094 


Welf  V.  Hzg.  v.  Bayern  *  1073  1 1 120 
cd  Mathilde  v.Tuszien  s  1046 1 1 1 15 


Heinrich  d.  Schwarze  Hzg.  v.  Bayern  *  1074  1 1 126 
aiWulfhildBillungtll26 


Heinrich  d.  Stolze 
Hzg.  v.  Bayern  u.  v.  Sachsen 

*um  1 108t  1139 

do  Getrud  v,  Siipplingenburg 

MI15  t!143 


Heinrich  d.  Lowe 

Hzg.  v.  Sachsen  u.  v.  Bayern 

*  1 129/30  1 1195 

or'  Mathilde  von  England 

*ca. 1157  i 1189 


lith'um  1100  1 1130/31 

Welf  VI. 

co  Hzg.  Friedrich  11. 

Hzg.  v.  Spoleto 

v.  Schwaben 

*  11 15/16  1 1191 

*  1090 t 1147 

go  Uta  v,  Calw 

1 

t  nach  1 196 
i 

1 
Ks.  Friedrich  1. 

1 
Welf  VII. 

(Barbarossa) 

1 1167 

•wohl  1122 

1 10.6.1 190 

Stammbaum:  nach  Schneidmuller,  Welfen,  wie  Anm.  1,  S.  lOff. 


244  Nathalie  Kruppa 

zeitlichen  Generationen  der  Welfen  zu  bringen  ist.  Zu  seinen  mutmaBlichen 
Nachkommen  gehorte  wohl  auch  jener  Welf,  der  in  den  Quellen  zu  Beginn  des  9. 
Jahrhunderts  auftrat.  Von  seinen  Kindern  heiratete  Judith  (f  843)  819  Ludwig 
den  Frommen  (f  840)  ,6  eine  weitere  Tochter,  Hemma  (f  876),  wurde  mit  Konig 
Ludwig  dem  Deutschen  (f  876)  vermahlt.  Seine  weiteren  Kinder  und  Nachkom- 
men sind  ebenfalls  bekannt.  Dagegen  liegt  die  Herkunft  der  Welfen  im  Dunkeln, 
die  Quellen  des  9. Jahrhunderts  sprechen  von  Bayern,jiingere  deuten  eine  franki- 
sche  oder  alemannisch-schwabische  Abstammung  an.  Die  friihen  Welfen  sind 
nicht  nur  in  Alemannien,  sondern  auch  im  westlichen  Teil  des  karolingischen 
Reiches  belegt  und  in  Paris  und  in  Auxerre  nachweisbar.  Die  genaue  Anbindung 
dieser  friihen  Vorfahren  an  die  jiingeren,  historisch  belegten  Welfen,  die  mit 
Welf  I.  (t  876)  und  Heinrich  „mit  dem  goldenen  Wagen"  (f  nach  934)  ihren  An- 
fang  in  Schwaben  und  Bayern,  dem  Inntal,  dem  Vinschgau  und  Churratien  nah- 
men,  kann  nur  vermutet  werden.7 

Zu  den  Hauptquellen  der  welfischen  Geschichte  zwischen  Welf  I.  (f  876)  sowie 
Welf  VI.  (t  1191)  und  Heinrich  dem  Lowen  (f  1195)  zahlen  neben  den  Urkunden 
die  Genealogia  Welforum,  die  sogenannte  „sa.chsische  Welfenquelle"  und  die 
Historia  Welforum.8  In  diesen  Quellen  werden  auch  die  im  Folgenden  relevanten 
Personen  genannt. 

Welf  I.  und  sein  Sohn  oder  Enkel  Heinrich  „mit  dem  goldenen  Wagen"  -  hier 
sind  sich  die  Quellen  nicht  einig9  -  sind  im  Ammergau  belegt,  wobei  Welf  ein 
freier  Fiirst  war.  Von  daher  war  er  enttauscht,  als  Heinrich  ein  Lehen  des  Kaisers 
annahm.  Er  zog  sich  mit  zwolf  Getreuen  in  einen  Wald  zuriick,  wo  er  ein  Kloster 
errichtete  und  vermutlich  mit  seinem  Anhang  eintrat,  sich  zumindest  aber  dort 


6  Thegan,  Die  Taten  Kaiser  Ludwigs,  in:  MGH  SS  rer.  Germ.  64,  Hannover  1995, 
cap.  26,  S.  214;  Astronomus,  Das  Leben  Kaiser  Ludwigs,  in:  ebd.,  cap.  32,  S.  392. 

7  Vgl.  die  in  Anm.  1  genannte  Literatur;  siehe  auch  Josef  Fleckenstein,  Uber  die  Her- 
kunft der  Welfen  und  ihre  Anfange  in  Siiddeutschland,  in:  Gerd  Tellenbach  (Hrsg.),  Studi- 
en  und  Vorarbeiten  zur  Geschichte  des  groBfrankischen  und  friihdeutschen  Adels,  Frei- 
burg/Br.  1957,  S.  71-136  und  Wolfgang  Hartung,  Die  Herkunft  der  Welfen  aus  Alamannien, 
in:  Ay/Maier/Jahn,  wie  Anm.  1,  S.  23-55. 

8  Becher,  Quellen,  wie  Anm.  1.  Zu  Beachten  ist,  daB  alle  drei  Quellen  fur  die  friihen 
Welfen  problematisch  sind,  d.h.,  daB  auch  die  Autoren  dieser  Quellen  nicht  allzuviel  uber 
die  ersten  „Welfen"  herausbekommen  konnten.  So  kann  Welf  I.  beispielsweise  auch  Eticho 
genannt  werden,  wobei  zudem  Verwechslungen  mit  Eticho-Welf  hinzukommen,  dem  Vater 
Judiths  und  Hemmas,  siehe  z.B.  Genealogia  Welforum,  wie  Anm.  1,  S.  24,  vgl.  auch  Anhang 
IV,  wie  Anm.  1,  S.  28,  Historia  Welforum,  wie  Anm.  1,  S.  34  und  Burchard  von  Ursberg,  wie 
Anm.  1,  S.  112  mit  Anm.  76. 

9  Genealogia  Welforum,  wie  Anm.  1,  S.  25,  Anhang  IV,  wie  Anm.  1,  S.  28,  Historia  Welfo- 
rum, wie  Anm.  l,cap.  3f.,S.  38;  Klaus  Nass  (Hrsg.),  Die  Reichschronikdes  AnnalistaSaxo,in: 
MGH  SS  37,  Hannover  2006,  S.  587.  Zu  beachten  ist  allerdings,  daB  die  Generationsfolgen  in 
den  Quellen  nicht  stimmen  und  zwei  und  mehr  Generationen  nicht  genannt  werden. 


Illuminierte  Herrscher  245 

niederlieB  und  bestattet  wurde.10  Es  ist  unklar,  wo  dieses  Kloster,  das  nach  Welfs 
Tod  von  Heinrich  weiter  ausgebaut  wurde,  lag;  haufig  wird  es  -  der  Historia  Welfo- 
rum folgend  -  mit  dem  Kloster  Altomiinster  gleichgesetzt.11 

Heinrich  „mit  dem  goldenen  Wagen"  wiederum  wird  in  den  Quellen  erstmals 
mit  dem  Raum  Ravensburg/Altdorf  (Weingarten)  in  Verbindung  gebracht.12  Zu 
seinen  Sohnen  gehorten  Rudolf  I.,  der  die  Welfenlinie  fortsetzte,  und  der  HI. 
Bischof  von  Konstanz,  Konrad.13  Mit  Rudolfs  mutmaBlichen  Urenkel  Welf  III.  er- 
reichten  die  Welfen  erstmalig  die  reichsfiirstliche  Stellung:  Welf  wurde  von  Kai- 
ser Heinrich  III.  1047  zum  Herzog  von  Karnten  ernannt.14  Als  dieser  ohne  Nach- 
kommen  starb,  drohte  das  Haus  der  Welfen  1055  zu  erloschen.  Seine  Mutter  Imi- 
za/Irmengard  von  Luxemburg  holte  jedoch  ihren  Enkel,  den  Sohn  ihrer  Tochter 
Kuniza  und  des  oberitalienischen  Adligen  Albert  Azzo,  Welf  IV.,  nach  Schwaben 
und  iibertrug  ihm  das  welfische  Erbe.15 

Welf  IV.  hatte  zusammen  mit  seiner  Frau  Judith  von  Flandern  die  Sonne 
Welf  V.  und  Heinrich  des  Schwarzen.  Alle  drei  wurden  -  unter  anderem  -  Herzo- 
ge  von  Bayern. 

Wahrend  Welf  V.  ohne  Nachkommen  starb,  hatte  Heinrich  der  Schwarze  zwei 
Sonne,  Welf  VI.  und  Heinrich  den  Stolzen,  unter  denen  die  Trennung  der  Wel- 
fen-Familie  in  einen  siiddeutschen  und  einen  norddeutschen  Zweig  einsetzte. 
Wahrend  Welf  VI.  in  Ravensburg  und  Memmingen  seine  herrschaftlichen  Zen- 
tren  besaB  und  zudem  Herzog  von  Spoleto  wurde,16  heiratete  Heinrich  der  Stolze 


10  Historia  Welforum,  wie  Anm.  1,  cap.  4,  S.  38/40;  die  Geschichte  der  List  Heinrichs, 
der  mit  einem  goldenen  Pflug  in  der  Tasche  ein  groBes  Gebiet  umritt,  das  er  dann  vom  Kai- 
ser zu  Lehen  bekam,  ist  am  ausfuhrlichsten  in  der  „sachsischen  Welfenquelle"  iiberliefert, 
Anhang  IV,  wie  Anm.  1,  S.  28/30. 

11  Erich  Konig,  Die  siiddeutschen  Welfen  als  Klostergriinder:  Vorgeschichte  und  An- 
fange  der  Abtei  Weingarten,  Stuttgart  1934,  S.  8ff.,  halt  eher  Rottenbuch  fur  dieses  Kloster; 
vgl.  hierzu  auch  Otto  Gerhard  Oexle,  Bischof  Konrad  von  Konstanz  in  der  Erinnerung  der 
Welfen  und  der  welfischen  Hausiiberlieferung  wahrend  des  12.  Jahrhunderts,  in:  Helmut 
Maurer/ Wolfgang  Mt)LLER/Hugo  Ott  (Hrsg.),  Derheilige  Konrad  -  Bischof  von  Konstanz. 
Studien  aus  AnlaB  der  tausendsten  Wiederkehr  seines  Todesjahres  =  Freiburger  Diozesan- 
Archiv  95,  1975,  S.  7-40,  hier  S.  19f.;  Historia  Welforum,  wie  Anm.  1,  S.  40  Anm.  15. 

12  Anhang  IV,  wie  Anm.  1,  S.  28/30,  Annalista  Saxo,  wie  Anm.  9,  S.  587f. 

13  Zu  ihm  siehe  Oexle,  wie  Anm.  11,  und  Helmut  Maurer,  Germania  Sacra  NF  42,1: 
Konstanzer  Bischofe  6.  Jahrhundert  bis  1206,  Berlin/New  York  2003,  S.  125-145. 

14  Beispielsweise  nach  Historia  Welforum,  wie  Anm.  1,  cap.  10,  S.  46;  Heinz  Dopsch, 
Welf  III.  und  Karnten,  in:  Bauer/Becher,  wie  Anm.  2,  S.  84-128. 

15  Historia  Welforum,  wie  Anm.  1,  cap.  12,  S.  46;  Katrin  Baaken,  Welf  IV,  der  „gebore- 
ne  Italiener"  als  Erbe  des  Welfenhauses,  in:  Bauer/Becher,  wie  Anm.  2,  S.  199-225;  Matthi- 
as Becher,  Erbe  von  Kaisers  Gnaden.  Welf  IV  und  das  siiddeutsche  Erbe  der  Welfen,  in: 
Zeitschrift  fur  Wurttembergische  Landesgeschichte  66,  2007,  S.  17-35. 

16  Katrin  Baaken,  Herzog  Welf  VI.  und  seine  Zeit,  in:jEHL,  wie  Anm.  2,  S.  9-28  mit  wei- 


246  Nathalie  Kruppa 

Gertrud  von  Siipplingenburg,  die  Tochter  Kaiser  Lothars  III.,  folgte  seinem  Vater 
im  Herzogtum  Bayern  und  wurde  Nachfolger  seines  Schwiegervaters  als  Herzog 
von  Sachsen.17  Beide  Herzoge  hatten  jeweils  einen  Sohn.  Welf  VII.,  Sohn  des 
Welfs,  starb  jedoch  bereits  vor  seinem  Vater  1167  in  Rom,  wahrend  mit  Heinrich 
dem  Lowen,  dem  Sohn  Heinrichs  des  Stolzen,  die  Welfen  in  Sachsen  weiterbliih- 
ten.  Das  siiddeutsche  Erbe  der  Welfen,  zu  dem  auch  groBe  Besitzungen  in  Italien 
gehorten,  sollte  nach  dem  Willen  Welfs  VI.  urspriinglich  an  seinen  Neffen  Hein- 
rich den  Lowen  fallen.  Da  sich  beide  jedoch  nicht  iiber  die  Modalitaten  einigen 
konnten,  iibertrug  Welf  VI.  schlieBlich  seine  Giiter  einem  anderen  Neffen,  dem 
Sohn  seiner  Schwester  Judith,  Kaiser  Friedrich  Barbarossa.18 

Das  wichtigste  Kloster  fur  die  siiddeutschen  Welfen  war  das  spatestens  um 
1000  von  Rudolf  II.  und  seinen  Sohnen  Welf  II.  und  Heinrich  in  Altdorf  an  der 
Scherzach  gegriindete  Kloster  oderKanonikerstift.  Den  Quellen  zufolge,  wie  z.  B. 
der  Historia  Welforum,  hatte  bereits  Heinrich  „mit  dem  goldenen  Wagen"  hier  vor 
934  ein  Frauenkloster  gestiftet,  das  um  1000  in  ein  Mannerkloster  umgewandelt 
wurde.  Imiza  von  Luxemburg,  die  Witwe  Welfs  II.,  siedelte  1036  an  diesem  Klo- 
ster Benediktinerinnen  an,  denen  ihr  Sohn  Welf  III.  vor  seinem  erbenlosen  Tod 
1055  sein  gesamtes  Vermogen  vermachte.  Imiza  griff  hier  abermals  in  die 
Geschicke  des  Klosters  ein,  verhinderte  diese  Ubertragung  und  setzte  ihren  Enkel 
Welf  IV.  als  Erben  ein.19  Um  Erbstreitigkeiten  zu  vermeiden,  ersetzte  sie  1056  die 
Nonnen  durch  Benediktinermonche  aus  dem  bayerischen  Kloster  Altomiinster. 
Etwa  zur  gleichen  Zeit  wechselte  der  Konvent  auch  die  Raumlichkeiten  in  Alt- 
dorf. Bisher  im  Tal  angesiedelt,  zogen  die  Monche  auf  den  Martinsberg  um,  das 
Klostergelande  im  Tal  wurde  in  eine  dorfliche  Pfarrkirche  umgewandelt.  Nach 
dem  Bewuchs  des  Hanges  wurden  Kloster  und  Ortschaft  nun  Weingarten  ge- 


terfiihrender  Literatur. 

17  Wolfgang  Petke  (Hrsg.),  Regesta  Imperii  4,1,1,  Koln/ Weimar /Wien  1994,  S.  74 ff. 
Nr.  115;  Alois  Schmid,  Heinrich  X.  der  Stolze,  in:  Lexikon  des  Mittelalters  4,  1989,  Sp. 
2065 f. ;  Josef  Fleckenstein,  Uber  Lothar  von  Siipplingenburg,  seine  Griindung  Konigslutter 
und  ihre  Verbindung  mit  den  Welfen,  Helmstedt  1980;  Schneidmuller,  Welfen,  wie 
Anm.  1,  S.  158-179. 

18  Erbe  Welfs  VI.  wurde  letztendlich  Heinrich  VI.:  Historia  Welforum,  Continuatio 
Staingademsis,  wie  Anm.  1,  S.  88;  Franz  Josef  Schmale  (Hrsg.),  Die  Chronik  Ottos  von  St. 
Blasien  und  die  Marbacher  Annalen,  Darmstadt  1998,  S.  62;  Burchard  von  Ursberg,  wie 
Anm.  1,  S.  188/190,  S.  198;  E  Continuatione,  wie  Anm.  1,  S.  98;  Karin  Feldmann,  Herzog 
Welf  VI.  und  sein  Sohn.  Das  Ende  des  siiddeutschen  Welfenhauses  (mit  Regesten),  Diss, 
phil.  Tubingen  1971  (masch.),  S.  73-78,  S.  86-91,  S.  94f.;  Hechberger,  Staufer  und  Welfen, 
wie  Anm.  1,  bes.  S.  288-293  mit  Anm.  101;  Ders.,  Die  Erbfolge  von  1055  und  das  welfische 
Selbstverstandnis,  in:  Bauer/Becher,  wie  Anm.  2,  S.  129-155,  hier  S.  150f.;  Baaken, 
Welf  VI.,  wie  Anm.  16,  S.  24;  Oexle,  Welfische  Memoria,  wie  Anm.  3,  S.  76-84. 

19  Historia  Welforum,  wie  Anm.  1,  cap.  12,  S.  46. 


Illuminierte  Herrscher  247 

nannt.20  Da  dies  zu  Beginn  der  Herrschaftszeit  Welfs  IV.  geschah  und  er  zudem, 
zusammen  mit  seiner  Frau  Judith  von  Flandern,  das  Kloster  in  der  Folgezeit  reich 
beschenkte  -  hervorzuheben  ist  die  Schenkung  einerHeilig-Blut-Reliquie21  -  gel- 
ten  er  und  Judith  in  der  Klostertradition  als  dessen  (zweite)  Griinder.  Weingarten 
ist  als  das  wichtigste  Kloster  der  Welfenfamilie  zu  betrachten,  vergleichbar  nur 
mit  dem  St.-Blasius-Stift  in  Braunschweig,  das  fur  die  jiingere,  sachsische  Linie 
derFamilie  eine  ahnliche  Bedeutung  erlangte.  Sicher  wurden  in  Weingarten  zehn 
bis  zwolf  Familienmitglieder  bestattet,  angefangen  mit  Rudolf  II.  bis  zu  Heinrich 
dem  Schwarzen,  das  Kloster  bildete  fortan  den  memorialen  Mittelpunkt  dersiid- 
deutschen  Welfen.22 

Um  1000  war  Welf  II.  an  der  Wiederbesiedlung  bzw.  dem  Neuaufbau  des 
Klosters  Altomiinster  beteiligt,  das  um  740  von  dem  iro-schottischen  Missionar 
Alto  mit  Unterstiitzug  von  Konig  Pippin  gegriindet  worden  sein  soil.  Das  Kloster 
wurde  mit  Benediktinern  besetzt,  die  dann  1056  mit  den  Nonnen  aus  Weingarten 
ausgetauscht  wurden.  Zwei  „Welfinnen"  bzw.  welfische  Ehefrauen  wurden  in  die- 
sem  Kloster  beigesetzt,  Ita  von  Ohningen  und  ihre  Schwiegertochter  Imiza  von 
Luxemburg.23  Allerdings  verlor  das  Kloster  im  Verlauf  des  Mittelalters  an  Anse- 

20  Ebd.  cap.  4,  S.  40:  Zu  der  Griindung  Altdorfs/ Weingarten  durch  Heinrich  „mit  dem 
goldenen  Wagen",  cap.  10,  S.  44:  Fehlerhaft  zu  der  Wandlung  des  Frauen-  in  ein  Mannerklo- 
ster  durch  Welf  II.,  cap.  12,  S.  47f.  Anm.  50:  Zum  „Umzug"  innerhalb  von  Altdorf;  Konig, 
wie  Anm.  11,  S.  12-19;  Gebhard  Spahr,  Weingarten,  in:  Franz  Quarthal  (Hrsg.),  Germania 
Benedictina  5:  Die  Benediktinerkloster  in  Baden-Wiirttemberg,  Augsburg  1975,  S.  622-647, 
hier  S.  622;  Thomas  Zotz,  Art.:  Weingarten,  in:  Lexikon  des  Mittelalters  8,  1997,  Sp.  2132f.; 
Sonke  Lorenz,  Weingarten  und  die  Welfen,  in:  Bauer/Becher,  wie  Anm.  2,  S.  30-55,  hier 
S.  35  und  bes.  S.  40 f. 

21  Zu  den  Schenkungen  Judiths  an  Weingarten  siehe  Hans  Ulrich  Rudolf,  Die  Heilig- 
Blut-Verehrung  im  Uberblick.  Von  den  Anfangen  bis  zum  Ende  der  Klosterzeit  (1094-1803), 
in:  Norbert  KRUSE/Hans  Ulrich  Rudolf  (Hrsg.),  900Jahre  Heilig-Blut-Verehrung  in  Wein- 
garten 1094-1994.  Festschrift  zum  Heilig-Blut-Jubilaum  am  12.  Marz  1994,  2  Bde.,  Sigmarin- 
gen  1994,  hier  Bd.  1  S.  3-51  und  Ders.,  1090  oder  1094  -  Wann  erfolgte  die  Ubergabe  der 
Heilig-Blut-Reliquie?  Die  Frage  nach  den  richtigenjubilaumsdatum,  in:  ebd.  S.  52-56  sowie 
ebd.  passim. 

22  Die  verschiedenen  Nachweise  der  in  Weingarten  bestatteten  Welfen  sind  in  einer  Ta- 
belle  im  Anhang  zusammengestellt. 

23  GeorgWAiTZ  (Hrsg.),  Otloh  von  St.  Emmeram,  Vita  sancti  Altonis,  in:  MGH  SS  15,2, 
Hannover  1888,  S.  843-846,  hier  S.  845;  Genealogia  Welforum,  wie  Anm.  1,  cap.  7,  S.  26;  Hi- 
storia  Welforum,  wie  Anm.  1,  cap.  10,  S.  44,  beide  zu  Imizas  Bestattungsort,  wahrend  sich  fur 
Itas  Bestattung  keine  zeitnahen  Quellen  finden  lassen,  sondern  erst  Aventinus'  (1477-1534)  er- 
wahnt  in  seiner  Bayerischen  Chronik  beide  Bestattungen,  Matthias  Lexer  (Hrsg.),  Johannes 
Turmair's,  genannt  Aventinus,  Bayerische  Chronik,  Buch  5,  Miinchen  1883  (ND  Neustadt  an 
der  Aisch  1996) ,  S.  281 :  Und  diese  Irmdraud,  sant  Kunigund  swester,  ligt  begraben  zu  Altensmiinster 
bet  ir  swiger,  grdfin  Itha;  vgl.  Michael  Huber,  Der  hi.  Alto  und  seine  Klosterstiftung  Altomiin- 
ster, in:  Joseph  Schlecht  (Hrsg.),  Wissenschaftliche  Festgabe  zum  zwblfhundertjahrigenju- 


248  Nathalie  Kruppa 

hen.  Ende  des  15.  Jahrhunderts  besiedelte  Herzog  Georg  der  Reiche  von  Wittels- 
bach-Landshut  (1455-1503)  das  weitgehend  erloschene  Benediktinerinnenkloster 
mit  Brigittinen  neu.  Damit  iiberlagerten  die  Wittelsbacher  sowie  der  neue  Orden 
das  potentielle  Gedachtnis  an  die  urspriinglichen  (oderZweit-)Griinder.  Das  Klo- 
ster  wurde  fur  die  welfische  Memoria  bedeutungslos. 

1073  stiftete  Welf  IV.  an  der  Stelle  einer  Eremitenansiedlung  das  Augustiner- 
chorherrenstift  Rottenbuch,  das  von  ihm,  seiner  Frau  Judith  sowie  spater  auch 
von  Welf  VI.  mit  zahlreichen  Schenkungen  unterstiitzt  wurde.  Ebenso  wie  Wein- 
garten  iibertrug  Welf  IV  die  Anlage  dem  Papst,  so  daB  beide  Kloster  aus  der  di- 
ozesanen  Herrschaft  des  Bischofs  herausgenommen  waren.  Beide  Kommunita- 
ten  waren  reformatorisch  gepragt,  in  Weingarten  kamen  zu  Beginn  der  90erjahre 
des  11.  Jahrhunderts  Hirsauer  Reformen  zum  Zuge,  Rottenbuch  war  von  Anfang 
an  der  Kanonikerreform  verpflichtet.24  In  diesem  Stift  wurde  das  Gedachtnis  an 
Welf  IV  und  an  seine  Frau  Judith  von  Flandern  weiterhin  gepflegt. 

Welfs  IV  Sohn  Heinrich  der  Schwarze  stand  ebenfalls  der  Regularkanoniker- 
reform  nahe  und  iibereignete  den  Augustinerchorherren  das  bereits  mehr 
schlecht  als  recht  bestehende  Kanonikerstift  in  Ranshofen  (Oberosterreich) .  Eine 
Urkunde  von  1125  mit  Zehntiibertragungen  seitens  Heinrichs  beendete  die  Ver- 
anderungen  in  dem  Stift  und  gilt  als  dessen  Griindungsdokument.  Fur  die  Welfen 
spielte  das  Stift  in  der  Folgezeit  aber  keine  groBe  Rolle,  so  auch  nicht  fur  ihre 
Memoria.25 


bilaum  des  hi.  Korbinian,  Miinchen  1924,  S.  209-244;  Josef  Hemmerle,  Altomiinster,  in: 
Ders.  (Hrsg.),  Germania  Benedictina  2:  Die  Benediktinerkloster  in  Bayern,  Augsburg  1970, 
S.  27.  Bei  Ausgrabungen,  die  1995  in  der  Klosterkirche  durchgefiihrt  wurden,  stieBen  die  Ar- 
chaologen  auf  zahlreiche  Bestattungen,  mit  den  beiden  „Welfinnen"  lassen  sich  aber  keine  in 
Verbindung  bringen,  Tilman  Mittelstrass,  Archaologische  Ausgrabungen  in  St.  Alto.  Die 
Ergebnisse  der  1995  durchgefiihrten  Sondagen  in  der  Pfarr-  und  Klosterkirche  von  Altomiin- 
ster, Teil  2:  Die  barocken  Griiber,  in:  Amperland  33,  1997,  S.  149-154,  bes.  S.  149. 

24  Historia  Welforum,  wie  Anm.  l,cap.  13,  S.  50;  Monumenta  Raitenbuchensia,  in:  Mo- 
numenta  Boica  8,  Miinchen  1767,  S.  7-11  Nrr.  If.;  Jakob  Mois,  Das  Stift  Rottenbuch  in  der 
Kirchenreform  des  11.-12.  Jahrhunderts.  Ein  Beitrag  zur  Ordens-Geschichte  der  Augusti- 
ner-Chorherren,  Miinchen /Freising  1953;  Ders.,  Das  Stift  Rottenbuch  im  Mittelalter,  in: 
Hans  Pornbacher  (Hrsg.),  900  Jahre  Rottenbuch.  Beitrage  zur  Geschichte  und  Kunst  von 
Stift  und  Gemeinde,  WeiBenhorn  1974,  S.  9-25;  Stefan  Weinfurter,  Art.:  Rottenbuch,  in: 
Lexikon  des  Mittelalters  7,  1995,  Sp.  1055;  Hans  Pornbacher,  Rottenbuch.  Das  Augustiner- 
chorherrenstift  im  Ammergau.  Beitrage  zur  Geschichte,  Kunst  und  Kultur,  WeiBenhorn 
1980;  Franz  Fuchs,  Die  Anfange  Rottenbuchs,  in:  Bauer/Becher,  wie  Anm.  2,  S.  261-279. 

25  Monumenta  Ranshofana,  in:  Monumenta  Boica  3,  Miinchen  1764,  S.  314f.  Nr.  5;  Ru- 
dolf Wolfgang  Schmidt,  Das  Augustiner  Chorherrenstift  Ranshofen.  Seine  Vorgeschichte 
und  seine  Geschichte,  in:  900  Jahre  Stift  Reichersberg.  Augustiner  Chorherren  zwischen 
Passau  und  Salzburg.  Ausstellung  des  Landes  Oberosterreich  26.  April  bis  28.  Oktober  1984 
im  Stift  Reichersberg  am  Inn,  Linz  1984,  S.  139-148;  Ders.,  4.07  Urkunde  Herzog  Hein- 


Illuminierte  Herrscher  249 

In  Steingaden  errichtete  Welf  VI.  1147  ein  Pramonstratenserstift,  das  er  als  neues 
welfisches  Hauskloster  vorgesehen  hatte.26  Er  stattete  es  reichhaltig  aus  und  lieB 
zwanzig  Jahre  nach  der  Griindung  seinen  Sohn  hier  bestatten.  Auch  er  selbst 
wurde  hier  beerdigt.27  Steingaden  gait  lange  Zeit  als  Entstehungsort  der  Historia 
Welforum.  Sicher  ist,  daB  die  Chronik  der  Welfen  hier  eine  Fortfiihrung  erfuhr,  in 
der  die  letzten  Lebensjahre  des  Herzogs  illustriert  wurden  und  die  Darstellung 
mit  seiner  Bestattung  abschlieBt.28 

Neben  Urkunden  spielen  vor  allem  die  sogenannten  „Welfen-Quellen"  des 
12.  Jahrhunderts  eine  herausragende  Rolle  fiirdie  Kenntnis  der  Welfengeschich- 
te  bis  in  die  70er Jahre  des  12.  Jahrhunderts.  Zu  ihnen  gehort  zuvorderst  die  be- 
reits  mehrfach  erwahnte  Historia  Welforum.  Sie  kann  zu  der  sogenannten  „Haus- 
iiberlieferung"  gerechnet  werden.29  Offensichtlich  wurde  sie  im  Auftrag  der  Wel- 
fen in  einem  welfischen  Kloster  um  1170  niedergeschrieben.  Wer  genau  der 

richs  IX.  von  Bayern  fur  Ranshofen,  in:  ebd.  S.  310f.;  Hubert  Schopf,  Die  Geschichte  des 
Augustiner-Chorherrenstiftes  Ranshofen  am  Inn  im  Mittelalter  (1125-1426),  Diss.  Innsbruck 
1985  [nicht  eingesehen];  Ders.,  Zur  inneren  Struktur  des  Augustiner  Chorherrenstiftes 
Ranshofen  im  Mittelalter,  in:  Mitteilungen  des  Osterreichischen  Landesarchivs  16,  1990, 
S.  17-45;  bes.  S.  17-21;  Sigrid  Kramer,  Die  Bibliothek  von  Ranshofen  im  friihen  und  hohen 
Mittelalter,  in:  Peter  Ganz  (Hrsg.),  The  role  of  the  book  in  medieval  culture,  Turnhout  1986, 
S.  41-72,  hier  S.  41-52  zur  Geschichte  des  Stiftes. 

26  Monumenta  Steingadensia,  in:  Monumenta  Boica  6,  Miinchen  1766,  S.  492f.  Nr.  10; 
Feldmann,  wie  Anm.  18,  Reg.-Nr.  273;  Continuatio  Staingademsis,  wie  Anm.  1,  S.  86:  Maxi- 
me  tamen  Staingadmensi  ecclesiae,  quam  fundavcrat,  obtulit;  E  Continuatione,  wie  Anm.  1,  S.  98: 
In  montanis  etiam  claustrum  Steingadim  dictum  a  primaria  fundatione  constituit,  quod  suae  providit 
sepulturae,  quod  et  consecratione  et  multa  dote  ditavit;  Hans  Pornbacher,  Quod  divinabat 
Norbertus  ...  -  Das  Pramonstratenserstift  Steinganden  zwischen  Ideal  und  Wirklichkeit,  in: 
Ingrid  Haaser/ Gerhard  KLEIN/Heide-Marie  Krathauf  (Hrsg.),  Das  ehemalige  Pramon- 
stratenserstift Steingaden.  Beitrage  zur  850-Jahr-Feier.  Schongau  =  Der  Welf.  Jahrbuch  des 
Historischen  Vereins  Schongau  -  Stadt  und  Land  4,  1996/97,  St.  Ottilien  1997,  S.  29-37;  Jo- 
hanna Lauchs-Liebel,  Steingaden  und  die  Griindung  des  Pramonstratenserstiftes,  in:  ebd., 
S.  38-51. 

27  Historia  Welforum,  wie  Anm.  1,  S.  86;  Monumenta  Steingadensia,  wie  Anm.  26, 
S.  489  Nr.  6f.,  S.  492  Nr.  10.  Im  Steingader  Necrolog  wird  zum  14.  November  Welf  VI.,  sei- 
ner Frau  Uta  und  ihren  Sohn  Welf  VII.  gedacht:  Necrologium  Steingadense,  in:  MGH  Ne- 
crologia  1,  Berlin  1888,  S.  37:  Gwelfonis  ducis  Suevie  et  Bavarie,  fundatoris  nostri  monasterii 
Staingadensis,  Ute  coniungis  eius  et  Gwelfonis  iunoris  filii  eius. 

28  Continuatio  Staingademsis,  wie  Anm.  1,  S.  86-90.  Alois  Schmid,  Die  Geschichts- 
schreibung  des  Pramonstratenserstiftes  Steingaden,  in:  Haaser/ Klein /Krauthauf,  wie 
Anm.  26,  S.  165-181,  hier  S.  166f. 

29  Der  Begriff  der  Hausiiberlieferung  ist  auch  gerade  im  Zusammenhang  mit  der  Histo- 
ria Welforum  umstritten,  siehe  Gerd  Althoff,  Anlasse  zur  schriftlichen  Fixierung  adligen 
Selbstverstandnisses,  in:  Zeitschrift  fur  die  Geschichte  des  Oberrheins  134,  1986,  S.  34-46, 
passim,  bes.  S.  44f.  zur  Genealogia  Welforum;  vgl.  Oexle,  Welfische  Memoria,  wie  Anm.  3, 
S.  61-94,  mit  einer  Reaktion  auf  die  Thesen  Althoffs  auf  S.  69-76. 


250  Nathalie  Kruppa 

Auftraggeber  war,  in  derRegel  werden  Welf  VI.  oderHeinrich  der Lowe  genannt, 
und  in  welchem  der  Kloster  sie  zuerst  verfaBt  wurde,  ist  umstritten.  Vermudich 
stammt  die  Handschrift  aus  den  Klostern  Weingarten  oder  Steingaden.  Aus 
Weingarten  hat  sich  die  bekannteste  Fassung  erhalten,  in  Steingaden  wurde  der 
Text  mit  den  letzten  Lebensjahren  Welfs  VI.  fortgesetzt.30  Die  Handschrift  der 
Historia  Welforum  aus  Weingarten  wird  auf  die  Jahre  1185/91  datiert  und  wurde 
mit  anderen  Handschriften  des  spaten  12.  Jahrhunderts  zusammengebunden,  zu 
denen  unter  anderem  das  Necrolog  des  Klosters  gehort.  Heute  wird  diese 
Sammelhandschrift  in  der  Hessischen  Landesbibliothek  in  Fulda  aufbewahrt.31 

Fernergibt  es  zwei  altere  Quellen  des  12.  Jahrhunderts,  dieje  in  einer  kiirzeren 
Version  die  Welfengeschichte  beinhalten.  Dabei  handelt  es  sich  um  die  Genealo- 
gia  Welforum,  die  im  Auftrag  Heinrichs  des  Schwarzen  um  1125/26  niederge- 
schrieben  wurde,  und  die  „sachsische  Welfenquelle",  die  sich  in  der  Chronik  des 
Annalista  Saxo  sowie  im  Zusammenhang  mit  der  Sachsischen  Weltchronik  (An- 
hang  IV)  erhalten  hat.  Sie  wird  in  die  Zeit  zwischen  1132  bis  1137  datiert  und 
stammte  wohl  -  im  Gegensatz  zu  den  beiden  anderen  Texten  -  aus  Sachsen, 
wahrscheinlich  aus  dem  Michaelis-Kloster  in  Liineburg.32 

Abernicht  nurin  Weingarten  und  Steingaden  hat  sich  mindestens  jeweils  eine 
Version  der  Historia  Welforum  erhalten,  sondern  in  alien  genannten  Klostern  so- 
wie in  dem  unter  welfischen  EinfluB  stehenden  Pramonstratenserstift  Marchtal.33 


30  Vgl.  zu  den  Quellen  die  jiingste  Zusammenfassung  in:  Becher,  Quellen,  wie  Anm.  1, 
S.  1-22  mit  Verweisen  auf  weitere  Literatur. 

31  Fulda,  Hessische  Landesbibliothek,  Cod.  D  11;  vgl.  Otto  Gerhard  Oexle,  Welfische 
und  staufische  Hausiiberlieferung  in  der  Handschrift  Fulda  D  11  aus  Weingarten,  in:  Von 
der  Klosterbibliothek  zur  Landesbibliothek,  Stuttgart  1978,  S.  203-231,  hier  S.  207-216, 
S.  218.  Als  die  wichtigste  Handschrift  der  Historia  Welforum  gilt  eine  Handschrift  aus  Al- 
tomunster,  die  vor  1200  niedergeschrieben  und  erst  1919  entdeckt  wurde:  Berlin,  Staatsbi- 
bliothek  Ms.  Lat.  Quart.  795.  Sie  ist  seit  dem  Zweiten  Weltkrieg  verschollen;  einzig  die  Ab- 
bildung  eines  Welfenstammbaums  hat  sich  erhalten,  siehe  Anm.  33f.  Diese  Handschrift  wur- 
de sowohl  von  Erich  Konig  als  auch  in  seiner  Nachfolge  von  Matthias  Becher  fur  die  Edition 
der  Historia  Welforum  genutzt,  siehe  Becher,  Quellen,  wie  Anm.  1,  S.  12;  vgl.  Erich  Konig 
(Hrsg.),  Historia  Welforum,  Stuttgart  1938. 

32  Vgl.  Oexle,  „sachsische  Welfenquelle",  wie  Anm.  3;  Hubert  Herkommer,  Art.:  Sachsi- 
sche  Weltchronik,  in:  Die  deutsche  Literatur  des  Mittelalters.  Verfasserlexikon  8,Sp.  473-500; 
Ernst  Schubert,  Art.:  Sachsische  Weltchronik,  in:  Lexikondes  Mittelalters  7, 1995,  Sp.  1242 f.; 
Klaus  Nass,  Die  Reichschronik  des  Annalista  Saxo  und  die  sachsische  Geschichtsschreibung 
im  12.  Jahrhundert,  Hannover  1996,  bes.  S.  139-143;  Annalista  Saxo,  wie  Anm.  9. 

33  Die  altesten  Handschriften:  aus  Weingarten:  Fulda,  Hessische  Landesbibliothek, 
Cod.  D  11;  aus  Altomunster:  Berlin,  Staatsbibliothek,  Ms.  Lat.  Quart.  795;  aus  Rottenbuch: 
Munchen,  Bayerische  Staatsbibliothek,  Clm  12202a  und  Clm  12202b;  aus  Ranshofen:  ebd., 
Clm  12631  und  Clm  29091;  aus  Steingaden:  Stuttgart,  Wurttembergische  Landesbibliothek, 
Hist.  Hs.  2°  Nr.  359  und  Wien,  Osterreichisches  Staatsarchiv,  Haus-,  Hof-  und  Staatsarchiv, 
Ms.  W  74;  aus  Marchtal:  Stuttgart,  Wurttembergische  Landesbibliothek,  Cod.  hist,  quart. 


Illuminierte  Herrscher  251 

Und:  Einer  jeden  Handschrift  ist  ein  Stammbaum  der  Welfen  beigegeben,  die  mit 
Welf  und  seinem  Sohn  Heinrich  „mit  dem  goldenen  Wagen"  beginnt  und  mit 
Heinrich  dem  Lowen  und  Judith  bzw.  ihrem  Sohn  Friedrich  Barbarossa  endet.34 
Bei  diesen  Stammbaumen  handelt  es  sich  um  graphisch  illustrierte  Texte,  in  de- 
nen  die  Namen  der  Protagonisten  durch  Linien  verbunden  sind. 

Der  beriihmteste  Bild- Stammbaum  der  Welfen  ist  allerdings  nicht  Teil  einer 
Handschrift  der  Historia  Welforum,  sondern  findet  sich  auf  der  letzten  Seite  des 
Weingartener  Necrologs.  Er  stellt  zudem  das  alteste  erhaltene  Welfen-Bild  iiber- 
haupt  dar.  Inhaltlich  konnte  die  Darstellung  zwar  zur  Historia  Welforum  gehoren, 
ihr  Uberlieferungszusammenhang  aber  -  das  Necrolog  -  verweist  in  den  Bereich 
der  liturgischen  Memoria.  Dargestellt  wird  auf  diesem  Stammbaum  die  Familie 
der  Welfen,35  angefangen  mit  Welf,  seiner  Tochter Judith  und  ihrem  Sohn  Kaiser 
Karl  dem  Kahlen.  In  der  Mitte  des  Baumes,  auf  dem  griinen  „Stamm",  werden  die 
fur  das  Haus  der  Welfen  wichtigsten  Vertreter  der  Familie  mit  ihren  jeweiligen 
Ehepartnern  gezeigt,  d.  h.  diejenigen,  die  fiir  die  Erbfolge  der  welfischen  Erbgiiter 
sorgten.  Dabei  sind  auf  der  rechten  Seite  -  vom  Betrachter  aus  gesehen  -  die  Wel- 
fen dargestellt,  und  auf  der  Linken  ihre  Partner.  Die  fiir  die  Erbfolge  unbedeuten- 
deren  Personen,  wie  beispielsweise  Geschwister,  werden  als  Seitenzweige  prasen- 
tiert.  Einen  Bruch  gibt  es  in  der  sechsten  Generation.  Da  wird  rechts  Kuniza  ge- 
zeigt, die  Tochter  Welfs  II.  und  Imizas  von  Luxemburg,  Mutter  Welfs  IV.  Dies  ist 
insofern  von  Bedeutung,  als  sich  iiber  sie  und  nicht  iiber  ihren  Bruder  Welf  III., 
der  neben  ihr  in  einem  Seitenzweig  abgebildet  ist,  die  Erbfolge  der  Familie  fort- 
setzte.  Pragnant  ist  auch  das  Abknicken  des  Hauptastes  des  Stammbaumes  mit 


261.  Dieses  zuletzt  genannte  Stift  wurde  zwar  von  den  Alaholfingern  im  8.  Jahrhundert  ge- 
griindet  und  von  Elisabeth  von  Bregenz  und  Pfalzgraf  Hugo  II.  von  Tubingen  wiederbe- 
griindet  bzw.  reformiert,  hat  sich  aber  im  12.  Jahrhundert  den  Welfen  als  Unterstiitzern  zu- 
gewandt,  vgl.  Wilfried  Schontag,  Vom  bregenz-tiibingischen  Hausstift  zum  Eigenstift  des 
Hochstifts  Konstanz.  Zur  Geschichte  des  Pramonstratenserstifts  Marchtal  bis  1300,  in: 
Sonke  LoRENz/Ulrich  Schmidt  (Hrsg.),  Von  Schwaben  bis  Jerusalem.  Facetten  staufischer 
Geschichte.  Gerhard  Baaken  zum  65.  Geburtstag,  Sigmaringen  1995,  S.  261-283,  hier 
S.  263f.,  S.  269,  siehe  auch  Ders.,  Pramonstratenserabtei  St.  Peter  und  Paul  Obermarchtal, 
in:  Wolfgang  ZiMMERMANN/Nicole  Priesching  (Hrsg.),  Wiirttembergisches  Klosterbuch. 
Kloster,  Stifte  und  Ordensgemeinschaften  von  den  Anfangen  bis  zur  Gegenwart,  Ostfildern 
2003,  S.  332-335. 

34  Vor  einigen Jahren  hat  sich  Werner  Hechberger  mit  dieser  Problematik  befaBt,  siehe 
Graphische  Darstellungen  des  Welfenstammbaums.  Zum  „welfischen  Selbstverstandnis"  im 
12.  Jahrhundert,  in:  Archiv  fur  Kulturgeschichte  79,  1997,  S.  269-297,  hier  S.  272  Abb.  1:  Ein- 
zelblatt  aus  Weingarten  [siehe  auch  Heinrich  der  Lowe  und  seine  Zeit  1,  wie  Anm.  1,  S.  66 
B  1]  (verschollen);  S.  273  Abb.  2:  aus  Altomunster,  Ms.  Lat.  Quart.  795;  S.  275  Abb.  3:  aus 
Ranshofen,  Clm  12631;  S.  277  Abb.  4  aus  Rottenbuch,  Clm  12202a;  S.  278  Abb.  5:  aus 
Marchtal,  Cod.  hist,  quart.  261. 

35  Abbildung  siehe  Heinrich  der  Lowe  und  seine  Zeit  1,  wie  Anm.  1,  S.  64. 


252 


Nathalie  Kruppa 


Abb.  1:    Steingaden,  St.  Johannes  Bapt.,  Vorhalle,  Welfengenealogie  um  1600 
(Foto:  Kruppa). 


Welf  VII.  und  Heinrich  dem  Lowen,  die  beide  (!)  kinderlos  gezeigt  werden.  Hin- 
gegen  gehen  von  den  Bildern  Heinrichs  des  Schwarzen  und  Wulfhilds  Bilking 
zahlreiche  weitere  Bilder  ab,  auf  denen  die  Tochter  des  Paares  gezeigt  werden 
und  deren  bildlichen  Hohepunkt  das  Feld  fur  Friedrich  Barbarossa  als  Sohn  der 
Judith  bildet  -  bzw.  bilden  wiirde,  wenn  es  denn  ausgefuhrt  worden  ware. 

Die  anderen  erhaltenen  Stammbaume  zeigen  verkiirzt  dasselbe.  Auch  hier 
wird  von  Welf,  Judith  und  Karl  dem  Kahlen  die  Hauptlinie  bis  zu  Heinrich  den 
Lowen  und  seiner  Tante  Judith,  der  Mutter  Friedrich  Barbarossas,  gezogen.  Die 
Ehepartner  der  Welfen  werden  allerdings  nicht  angegeben  und  ebenfalls  fehlen 
die  Abbildungen. 

Die  Stammbaume  der  Welfen  stehen  in  einer  Uberlieferungsreihe,  die  sich  lan- 
ge  in  den  welfischen  Klostern  erhalten  hat.  Wahrend  die  graphischen  Zeichnun- 
gen  auf  Handschriften  des  12.  und  13.  Jahrhunderts  zuriickgehen,  wurden  diese 
Traditionen  in  den  Klostern  vom  16.  bis  ins  18.  Jahrhundert  in  monumentalen 
Auspragungen  wieder  erweckt.  Der  alteste  dieser  jiingeren  Welfenstammbaume 
oder  besser  Welfengenealogien  ist  in  der  spatgotischen  Vorhalle  des  Pramonstra- 
tenserstiftes  Steingaden  erhalten,  die  um  1600  gemalt  wurde  (Abb.  1).  In  vierBil- 
derreihen  werden  verschiedene  Personen  dargestellt.  Die  Beschriftung  ist  in  den 


Illuminierte  Herrscher  253 

leeren  Feldern  unter  den  Bildern  nur  noch  zu  erahnen.  Den  Anfang  bilden  legen- 
denhafte  friihe  Welfen,  die  Genealogie  ist  bis  zur  Griindung  des  Pramonstraten- 
serstiftes  durch  Welf  VI.  und  die  Darstellung  seiner  Bestattung  im  letzten  Bildfeld 
fortgesetzt.36  Dabei  wird  eine  eigene  (Steingader)  Tradition  der  Welfengeschichte 
sichtbar,  wobei  in  den  ersten  Bildern  weniger  bekannte  „Welfen"  gezeigt  werden 
samt  einer  seltenen  Legende  der  Entstehung  des  Welfennamens.37  In  der  ober- 
sten  Reihe,  im  Zwickel,  sind  die  sagenhaften  „Welfen"  derFriihzeit  zu  sehen:  Graf 
Warin  zu  Altdorf  und  Weingarten,  Sohn  eines  frankischen  Herzogs  aus  dem  El- 
saB,  mit  seiner  Frau  Guzonis  und  einem  ihrer  Kinder,  Isenbart  (1,1)-  Im  zweiten 
Bild  werden  derzweite  Graf  von  Altdorf,  Ruthard,  und  seine  Gemahlin  Irmenissa 
gezeigt  (I,2).38  In  dernachsten  Reihe  erscheinen  im  ersten  Bild  die  Frau  Catilina 
mit  ihrem  Mann  Welf-Eticho  und  ihren  Kindern  Eticho  und  Judith  (11,1).  Hier 


36  Die  Interpretation  der  Bilder  erfolgt  nach  Hans  Pornbacher,  Die  Welfengenealogie 
in  Steingaden,  in:jEHL,  wie  Anm.  2,  S.  117-120;  der  sich  stiitzt  auf  Sigfrid  Hofmann,  Uber  die 
Welfenfresken  von  Steingaden,  in:  Lech-  und  Ammerain  3,  1952,  S.  1-4.  Hofmann  fiigt  den 
Text  einer  Handschrift  von  1720  bei,  die  -  neben  den  1950  noch  teilweise  zu  lesenden  Bild- 
unterschriften  -  die  Grundlage  fur  die  Identifizierung  bietet.  Ferner  ist  der  Ausarbeitung 
Hofmanns  zu  entnehmen,  daB  sich  unter  dieser  Genealogie  altere,  gotische  Fresken  befin- 
den,  die  aber  nicht  mehr  zu  einem  geschlossenen  Bild  rekonstruiert  werden  konnen. 

37  Zum  Welfennamen  siehe  weiter  unten  S.  275 f. 

38  Die  Grafen  Warin  (f  20.  Mai  774),  Isenbart  (|  29.  Mai  806)  und  Ruthard  (t  vor  31. 
August  790)  lassen  sich  in  Quellen  finden  und  zahlen  wohl  zu  den  Welfenvorfahren.  Sie  ge- 
horten  zur  frankischen  Reichsaristokratie  und  waren  nach  der  Zerschlagung  des  alemanni- 
schen  Herzogtums  im  Aufbau  von  Grafschaften  und  der  Einbindung  Alemanniens  an  das 
frankische  Reich  tatig.  Fur  Warin,  der  mit  einer  Hadallindis  verheiratet  war,  sind  zwei  Sonne 
belegt,  Isenbard  (!)  und  Swabo.  Mit  Ruthard,  der  seit  Fleckenstein  allein  zu  den  Vorfahren 
der  Welfen  gezahlt  wird,  ist  die  Klostergrundung  in  Arnulfsau  verbunden,  spater  fiihrten 
auch  Scharzach,  Gegenbach  und  Schuttern  ihre  Griindung  auf  ihn  zuriick;  Warin  und  seine 
Frau  griindeten  Buchau  am  Federsee.  Allerdings  ist  Warins  und  Ruthards  Rolle  in  der  Ge- 
schichte  nicht  nur  positiv,  sie  werden  mit  der  Verbannung  des  (HI.)  Otmar,  Abt  von  St.  Gal- 
len,  in  Verbindung  gebracht,  was  die  Welfen  als  Schuld  iibernahmen.  Die  Vita  Otmars, 
Ekkehard  von  St.  Gallen  und  auch  Burchard  von  Ursberg  berichten,  daB  bis  zu  den  Sohnen 
Rudolfs  II.,  Welf  (hard)  II.  und  Heinrich,  die  Welfen  an  St.  Gallen  einen  jahrlichen  Zins  zahl- 
ten,  den  Heinrich  -  im  Gegensatz  zu  seinem  Bruder  -  verweigerte.  Kurz  danach  verstarb  er 
bei  einem  Jagdunfall  und  seine  Mutter  Ita  von  Ohningen  kam  mit  ihrem  Sohn  und  ihrer 
Tochter  zu  dem  Heiligen  und  entrichtete  den  schuldigen  Zins,  Ildephonso  ab  Arx  (Hrsg.), 
Vita  Sancti  Otmari  abbatis  Sangallenis,  in:  MGH  SS  2,  Hannover  1829,  S.  40-47,  hier 
cap.  4-6,  S.  43  f. ;  Johannes  Duft  (Hrsg.) ,  Die  Lebensgeschichten  der  Heiligen  Gallus  und  Ot- 
mar, St.  Gallen /Sigmaringen  1988,  cap.  4-6,  S.  6 1  f f . ;  Hans  F.  HAEFELE/Steffen  Patzold 
(Hrsg.),  Ekkehard  IV,  St.  Galler  Klostergeschichten,  Darmstadt  42002,  cap.  21,  S.  52/54.  Ek- 
kehard IV.  zahlte  auch  Konig  Konrad  I.  zu  den  Nachfahren  Warins  und  Ruthards,  der  sich 
verpflichtete  eine  jahrliche  Siihneleistung  an  das  Kloster  zu  zahlen.  Burchard  von  Ursberg, 
wie  Anm.  1,  S.  112;  Fleckenstein,  wie  Anm.  7,  S.  97f.  mit  Anm.  152;  Borgolte,  wie  Anm.  5, 
S.  150-156,  S.  229-236,  S.  282-287;  SchneidmOller,  Welfen,  wie  Anm.  1,  S.  40-72. 


254  Nathalie  Kruppa 

wird  auf  die  Deutung  des  Namens  Welf  angespielt,  der  unter  anderem  von  dem 
romischen  Senatorengeschlecht  der  Catilina  hergeleitet  wird,39  was  in  diesem 
Bild  durch  das  stadtromische  SPQRWappen  verdeutlicht  wird.  In  der  folgenden 
Abbildung,  in  der  Isenbart  von  Altdorf  und  seine  Frau  Irmentrud  zu  sehen  sind,40 
wird  auf  eine  andere,  wesentlich  unbekanntere  Variante  der  Sage  um  die  Her- 
kunft  des  Welfennamens  eingegangen.  Der  dazugehorigen  Legende  nach  glaubte 
Irmentrud  einer  um  Almosen  bittenden  Frau  nicht,  daB  sie  Drillinge  ohne  Ehe- 
bruch  geboren  haben  konnte  und  verweigerte  ihr  eine  milde  Gabe.  Kurze  Zeit 
spater  gebar  sie  selbst  zwolf  Sonne.  Aus  Scham  befahl  sie  einer  Magd,  elf  der  Kin- 
der zu  ertranken.  Auf  dem  Weg  zum  Wasser  traf  die  Magd  auf  Isenbart,  der  sie 
fragte,  was  sie  in  dem  Korb  transportiere.  Sie  antwortete:  „Kleine  Welpen".  Isen- 
bart entfernte  die  Bedeckung  des  Korbes,  entdeckte  die  Kinder  und  iibergab  sie 
einem  Miiller  zu  Erziehung.  Sechs Jahre  spater  stellte  er  sie  der  iiberraschten  Mut- 
ter vor  und  entschuldigte  ihr  Verhalten.  Von  da  an  nannte  er  seine  Sonne  „Wel- 
fen"  (=  Welpen).  In  der  Szene  werden  die  elf  kniendenjungen  vor  Isenbart  ge- 
zeigt(II,2). 

Erst  das  dritte  Bild  der  zweiten  Reihe  zeigt  Welf,  seine  Frau  Heilwig  und  seine 
Kinder,  unter  anderem  auch  seine  Tochter  Judith,  die  den  Ubergang  zum  nach- 
sten  Bild  herstellt,  in  dem  diese  mit  Ludwig  dem  Frommen  und  ihrem  Sohn  Karl 
dem  Kahlen  erscheint  (11,3-4).  Die  nachsten  beiden  Reihen  zeigen  die  aus  den 
Quellen  bekannten  Welfen  wie  beispielsweise  als  fiinftes  Bild  der  dritten  Reihe 
Welf  III.  mit  einer  sonst  nicht  bezeugten  Ehefrau  und  im  Hintergrund  einer  Kir- 
che,  bei  der  es  sich  um  die  Klosterkirche  von  Weingarten  handelt.  Dies  spielt  auf 
das  Erbe  Welfs  III.  an  oder  auch  auf  die  miBverstandene  Uberlieferung,  nach  der 
er  an  der  Verlegung  des  Klosters  in  Altdorf  beteiligt  war.  Im  sechsten  und  letzten 
Bild  der  Reihe  sind  Albert  Azzo  mit  seiner  Frau  Kuniza  und  ihren  Sohn  Welf  IV. 
zu  sehen. 

Wichtiger  ist,  daB  diese  Genealogie  -  im  Vergleich  zu  den  anderen  bekannten 
Welfenstammbaumen  -  neben  der  eigenstandigen  Legende  am  Anfang  zwei  wei- 
tere  Sonderheiten  aufweist:  Im  ersten  Bild  der  vierten  Reihe  wird  Welf  IV  nicht 


39  Vgl.  Historia  Welforum,  wie  Anm.  1,  cap.  2,  S.  36. 

40  Pornbacher,  wie  Anm.  36,  S.  119.  Isenbart  soil  mit  einer  Irmentrud,  angeblich  eine 
Schwester  der  Hildegard,  Ehefrau  Karls  des  GroBen,  verheiratet  gewesen  sein,  vgl.  dagegen 
Borgolte,  wie  Anm.  55,  S.  154f.,  der  eine  Ehefrau  namentlich  nicht  benennen  kann.  Sollte 
Isenbarts  Ehefrau  tatsachlich  eine  Schwester  Hildegards  gewesen  sein,  so  stammte  sie  von 
den  Gerolden  ab,  die  -  ahnlich  wie  die  Welfen-Vorfahren  -  zu  den  Unterstiitzern  der  Karo- 
linger  in  Alemannien  und  Bayern  gehorten,  vgl.  Michael  Mitterauer,  Karolingische  Mark- 
grafen  im  Siidosten.  Frankische  Reichsaristokratie  und  bayerischer  Stammesadel  im  oster- 
reichischen  Raum,  in:  Archivfiir  osterreichische  Geschichte  123,  1963,  S.  1-273,  hier  S.  8-25. 
Mitterauer  kennt  allerdings  ebenfalls  keine  Irmentrud,  Ehefrau  Isenbarts. 


Illuminierte  Herrscher  255 

wie  sonst  iiblich  nur  mit  seiner  dritten  Frau  Judith  von  Flandern  gezeigt,  sondern 
zusatzlich  mit  seiner  zweiten,  der  1070  verstoBenen  Ethelinde  von  Northeim,  die 
sonst  in  keiner  bildlichen  Darstellung  aufgenommen  wurde.  Diese  war  die  Toch- 
ter  Ottos  von  Northeim,  des  Herzogs  von  Bayern,  der  1070  von  Heinrich  IV. 
abgesetzt  wurde.  Nach  diesem  Ereignis  verstieB  Welf  Ethelinde  und  heiratete  Ju- 
dith von  Flandern;  zudem  wurde  er  Nachfolger  seines  ehemaligen  Schwiegerva- 
tersim  Herzogtum  Bayern.41  Ferneristhierein  „Familienbild"  Heinrichs  des  Stol- 
zen  mit  seiner  Frau  Gertrud  von  Siipplingenburg  und  ihrem  Sohn  Heinrich  dem 
Lowen  zu  sehen  (IV,5) .  Auch  das  ist  bei  den  monumentalen,  von  alien  Kirchenbe- 
suchern  einzusehenden  Genealogien  eine  Ausnahme. 

Das  letzte  Bild  sprengt  den  iiblichen  Rahmen  (IV,6).  Gezeigt  wird  die 
Griindung  des  Stiftes  Steingaden  durch  Welf  VF  im  linken  Bildfeld,  der  auf  die 
Konventsgebaude  hinweist.  Vor  ihm  kniet  ein  Pramonstratenser,  wahrscheinlich 
der  Propst  des  Griindungskonventes,  mit  einem  Buch  in  der  Hand.  Begleitet  wird 
der  sitzende  Welf  von  einigen  Rittern.  Am  rechten  Bildrand  ist  sein  Sohn 
Welf  VIF  zu  sehen,  in  der  Mitte  wird  der  Leichenzug  des  alten  Welfen  gezeigt.  Ei- 
ne Pramonstratenserprozession  zieht  Richtung  der  Kirche,  der  sich  ein  Wagen 
mit  dem  Sarg  des  Verstorbenen  anschlieBt. 

In  Rottenbuch  gab  es  ebenfalls  eine  Genealogie  des  17.  Jahrhunderts,  gemalt 
von  dem  dortigen  Chorherrn  Joseph  Saal  (t  1697).  Leider  ist  sie  wenige  Jahre 
nach  ihrer  Entstehung  vernichtet  worden,  nur  ein  Fliigel  der  Tafel  ist  erhalten. 


41  Oswald  HoLDER-EoGER/Adolf  ScHMiDT/Wolfgang  Dietrich  Fritz  (Hrsg.),  Lampert 
von  Hersfeld,  Annalen,  Darmstadt  2 1973,  S.  132;  Edmund  von  Oefele  (Hrsg.),  Annales  Al- 
tahenses  maiores,  in:  MGH  SS  rer  Germ.  4,  Hannover  1891,  S.  80;  Gerd  Althoff,  Heinrich 
der  Lowe  und  das  Stader  Erbe.  Zum  Problem  der  Beurteilung  des  „Annalista  Saxo",  in:  Deut- 
sches  Archiv  41,  1985,  S.  66-100,  hier  S.  93f.;  Wilhelm  Stormer,  Die  siiddeutschen  Welfen 
unter  besonderer  Beriicksichtigung  ihrer  Herrschaftspolitik  im  bayrisch-schwabischen 
Grenzraum,  in:  Ay/Maier/Jahn,  wie  Anm.  1,  S.  57-96,  hier  S.  79f.;  Bernd  Schneidmuller, 
Welf  IV.  1101-2001:  Kreationen  furstlicher  Zukunft,  in:  Bauer/Becher,  wie  Anm.  2,  S.  1-29, 
hier  S.  15ff.;  Sabine  Borchert,  Herzog  Otto  von  Northeim  (um  1025-1083).  Reichspolitik 
und  personelles  Umfeld,  Hannover  2005,  S.  95,  S.  178f.,  S.  194.  Die  Historia  Welforum  ver- 
schweigt  diese  Ehe,  siehe  Historia  Welforum,  wie  Anm.  1,  cap.  13,  S.  48,  wahrend  die  Genea- 
logie der  Welfen  im  Anhang  IV  der  Sachsischen  Weltchronik  zwar  von  der  Ehe  zwischen 
Welf  IV  und  Ethelinde  berichtet,  sich  aber  um  die  Nennung  des  Grundes  der  Tren- 
nung/Scheidung  herumdruckt:  De  Welp  let  sider  sin  wif  Ethelinde,  warumbe,  des  ne  wet  men 
nicht,  Anhang  IV,  wie  Anm.  1,  S.  30.  Der  Annalista  Saxo,  wie  Anm.  9,  S.  588,  stellt  den  Zu- 
sammenhang  zwischen  der  Rebellion  Ottos  von  Northeim,  seiner  Absetzung  und  der  Tren- 
nung  Welfs  IV  von  Ethelinde  schon  deutlicher  her:  Hie  [Welf  IV]  prius  duxit  uxorem  Ethilin- 
dam  nomine,  filiam  Ottonis  ducis  Bauuarie,  virigenere  Saxonis  et  amplissime  tarn  dignitatis  quam  no- 
bilitatis,  ita  ut  Henrico  inperatori  huius  nominis  quarto  rebellandi  fiduciam  acciperet.  Quern  tamen 
inperator,  licet  iniuste  oppressum,  ducatu  privavit  eique  successorem  generem  eius,  predictum  Uuel- 
phum,  constituit.  Qui  Uuelphus  deinde,  nescio  qua  de  causa,  eandem  Ethilindam  dimisit .  .  . 


256  Nathalie  Kruppa 

Dieser  zeigt  Welf  IV.  mit  seiner  Stiftung,  dem  Augustinerchorherrenstift  Rotten- 
buch.  Im  Hintergrund  erscheint  die  1514  erbaute  Wallfahrtskapelle  Hohenpei- 
Benberg,  deren  Betreuung  die  Augustinerchorherren  1604  iibernahmen.42  Der 
romanische  Turm  der  Stiftskirche,  zentral  im  Bild,  hat  sich  bis  auf  die  Spitze,  die 
heute  von  einer  barocken  Turmhaube  besetzt  ist,  erhalten.  Die  dahinter  gezeigte 
zweite  Kirche,  das  sogenannte  Altenmiinster,  war  vermutlich  die  eigentliche 
Keimzelle  des  Stiftes,  an  der  spater  ein  Konvent  von  Augustinerchorfrauen  ansas- 
sig  wurde.43  Diese  sowie  dergroBte  Teil  dergezeigten  Kapellen  wurden  nach  der 
Sakularisation  1803  abgerissen;  stehen  geblieben  ist  lediglich  eine  Friedhofska- 
pelle,  die  im  Vordergrund  zu  sehen  ist. 

In  Weingarten  schlieBlich,  dem  wichtigsten  Welfenkloster,  sind  monumentale 
Fresken  des  Malers  Cosmas  Damian  Asam  (1686-1739)  iiberliefert.44  Sie  befinden 
sich  in  den  beiden  Westtonnen  der  barocken  Klosterkirche  und  konnen  durchaus 
als  Genealogie  bezeichnet  werden,  denn  auch  hier  sind  alle  „Haupt"-Welfen  zu 
sehen.  Inschriften  nennen  ihre  Namen  und  geben  kurze  personliche  Beschrei- 
bungen;  ferner  werden  Bestattungsorte  genannt,  vor  allem  Weingarten.  In  sechs 
Bildfeldern  sind  von  Heinrich  „mit  dem  goldenen  Wagen"  und  Welf  I.  bis  Wulf- 
hild  Bilking  und  ihrer  Tochter  Sophia  wieder  die  fur  Altdorf/ Weingarten  wich- 
tigsten" Welfen  dargestellt.45  Auf  dem  Bild,  das  den  friihesten  Welfen  gewidmet 
ist,  erscheinen  Heinrich  „mit  dem  goldenen  Wagen",  Welf  I.,  sein  Vater/GroBva- 
ter,  sowie  Heinrichs  Frau  Atha  von  Hohenwarth,  die  ein  Modell  einer  Kirche  in 
der  Hand  halt.  Dieses  spielt  auf  die  Griindung  des  Klosters  Weingarten  an,  das 


42  Pornbacher,  Rottenbuch,  wie  Anm.  24,  Farbtafel  1  nach  S.  12. 

43  Jakob  Mois,  Die  Kirchen  und  Kapellen  des  Augustinerchorherrenstiftes  Rottenbuch  2 : 
Die  ehemaligen  Nebenkirchen  und  Kapellen,  Rottenbuch  1992,  S.  Ill  zum  Altenmiinster. 

44  Gerhard  Spahr,  Die  Basilika  Weingarten.  Sigmaringen  1974,  Frontspiz  sowie  Abb.  42- 
46,  siehe  dort  auch  S.  89-92  zu  den  Fresken.  Zu  Asam  siehe  HeleneTROTTMANN,  Cosmas  Da- 
mian Asam  1686-1739.  Tradition  und  Invention  im  malerischen  Werk,  Nurnberg  1986,  bes. 
S.  70-75;  Bruno  BusHART/Bernhard  Rupprecht  (Hrsg.),  Cosmas  Damian  Asam  1686-1739. 
Leben  und  Werk,  Munchen  31986,  bes.  S.  210-215. 

45  In  den  anderen  Fresken  werden  gezeigt:  Welf  II.:  GUELPHO  II.  RUDOLPHI  FIL: 
UXOREI[US]  IRMENTRUD  SORORS:  CHUNIGUND:  IMPERATI:  SUB  HIS  MONA- 
CHI  EX  ALTOMUNSTER  HUC  IN  ALTORFF  TRANSLATI  CIRCA  ANN:  MXLVII, 
OSSAEI[US]  HlC  SEPULTA;  Rudolf  (I. /II.?):  RUDOLPHUS  FILI[US]  HENRICI  UXOR 
EI[US]  ITHA  OTTONIS  MAGNIS  IMPERATORIS  NEPTIS.  [Ita  von  Ohningen]  OSSA 
EIUS  HUC  ETIAM  EX  ECCLESIA  PAROCHIALI  TRANSLATA;  Welf  VI.:  GUEL- 
PHO VI.  FRAT:  HENRICI  SUPERBI.  MARCHIO  TUSCIAE  &CC  FUNDATORMONA- 
STERII  STEINGADEN.  MORIT:  AN:  MCXCI;  Welf  V:  GUELPHO.  V.  DUX  NORI- 
COR:  POSTERIO  MARIT[US]  MATHILDIS,  CELEBERRILLI[US]  IN  ITAL:  FAEMIN: 
MORIT:  AN:  MCXVIII.  HlC  SEPULTA;  Heinrich  der  Schwarze:  HENRICUS  GUEL- 
PHON:  IV  FILIUS  DICTUS  NIGGER,  DUX  NORICORU[M]  AEDIFICAT  DE  NOVO 
HOC  MONASTERIUM  FACT[US]  HIC  MONACH[US]  MORITURAN:  MCXXVII. 


Illuminierte  Herrscher 


257 


Abb.  2: 

Weingarten, 

St.  Martin, 

Fresko  von 

Cosmas  Damian 

Asam, 

WelflV.    und 

Judith  von  Flandern 

(Abb.  nach  Spahr,  wie 

Anm.  44, 

Frontspiz). 


GUtLPHO.IV^UX  NO. 
RICORU  FILIUS  AZONIS 
MARCHIO^ESTLNSIS  IN 
ITAL=FUNfMTIONfcANt\IO 
RIBjETA.SE  FACTA  B1NIS 
LITTERISAN:  MXCCON. 

firmat.  moritur  anno 
MCIhic 

.     ...■—..       SEPULTV 


IUDITHA  GUFXPHO* 
NlsIV  UXOR  FIL*  BAJU 
DUINl  FLANDR.COMw, 
DEDIT  HUIC  MONASTB 


CHRI.I 


SANGU1NEM 
ET ALIAS  S=S: 


RELIQUIAS  MOR1T-.AK 

Mxcim 

HKSEPUls 


w*K 


Iji1      -     fm.t 


den  welfischen  Quellen  nach  durch  Heinrich  gegriindet  worden  sein  soil.  Die  In- 
schrift  unter  dem  Bild  Heinrichs  weist  ihn  als  Fundator  aus:  HENRIC[US]  AL- 
TORFF:  COMES,  PRIMpJS]  IBID:  SANCTIMONAL:  MON[AST]RII  FUN- 
DATOR PATERS.  CONARADI  EPISCO:  CONSTANT:  OSSAEIUS  EXECC- 
LES:  PAROCHI:  HUC  TRANSLATA  SUNT.  Die  weiteren  Inschriften  dieses 
Freskos  lauten:  GUELPHO  I.  COMES  ALTORFFENSIS  DE  GENTE  FRAN- 
CORUM.  VIXIT  TEMPORE  CAROLI  MAGNI  und  HATTA  COMITISSA  AB 
HOCHENWART&c:  UXORHENRICI  ETMATERS:  CONRADI  OSSAEIUS 
ETIAM  HUC  EX  ECCL:  PAROCHIALI  SUNT  TRANSLATA.  Ein  weiteres 
Kirchenmodell  halt  auch  Welf  III.  in  derHand,  der  sich  damit  ebenfalls  als  Stifter 
verrat:  GUELFO  III.  DUX  CARINTHIAE,  QUI  HOC  MONASTERIU[M]  EX 
ALTORFF  HUC  IN  MONTEM  TRANSTULI  ET  WEINGARTEN  VOCAVIT 


258  Nathalie  Kruppa 

MORITUR  AN:  MLV,  HIC  SEPULTUS.  Ihm  wird  in  der  Inschrift,  wie  in  der  Le- 
gende,  falschlicherweise  die  Verlegung  des  Klosters  aus  dem  Tal  auf  den  Martins- 
berg  zugeschrieben.  Das  Modell  hatte  eigentlich  seiner  Mutter  Imiza  von  Luxem- 
burg, der  Frau  Welfs  II.,  beigegeben  werden  miissen,  die  aber  gar  nicht  dargestellt 
ist.  Das  Bild  neben  Welf  III.  zeigt  seinen  jungverstorbenen  Onkel  Heinrich: 
HENRICUS,  RUDOLPHI  FILIUS,  QUI  IN  VENATIONE  PROPE  VILLAM 
LENON  IN  TYROLI  INTERIIT.  Korrekterweise  wird  Welf  IV.  (Abb.  2)  nicht 
mit  einem  Kirchenmodell  gezeigt,  sondern  als  Ritter  mit  Herzogshut  und  (falsch- 
licherweise) einer  Fahne  mit  dem  sachsischen  Wappen  in  der  linken  Hand  -  erst 
sein  Enkel  Heinrich  der  Stolze  wurde  Herzog  von  Sachsen.  Die  Inschrift  sagt 
nichts  iiber  dieses  Herzogtum:  GUELPHO.  IV.  DUX  NORICORU[M]  FILIUS 
AZONIS  MARCHIO:  ESTENSIS  IN  ITAL:  FUNDATIONE[M]  A  MAIORI- 
B[US]  ET  ASE  FACTA[M]BINIS  LITTERIS  AN:  MXC.  CONFIRMAT.  MORE 
TUR  ANNO  MCI.  HIC  SEPULT[US].  Seine  Frau  Judith  von  Flandern  wird  mit 
der  Heilig-Blut-Reliquie  in  der  rechten  und  einem  weiteren  Reliquienkastchen  in 
der  linken  Hand  dargestellt:  IUDITHA  GUELPHONIS.  IV.  UXOR  FIL:  BAL- 
DUINI  FLANDR:  COM&c.  DEDIT  HUIC  MONASTRERIO  S:S:  SANGUI- 
NEM  CHRI[STI]  ET  ALIAS  S:S:  RELIQUIAS  MORIT:  AN:  MXCIIII  HIC  SE- 
PULTA.  Das  jiingste'  Bild  zeigt  Wulfhild  Billung,  die  Ehefrau  Heinrichs  des 
Schwarzen,  und  eine  ihrerTochter,  Sophia.  Die  Inschrift  vermerkt  Wulfhilds  Ehe 
mit  Heinrich  und  ihre  Abstammung  von  Magnus  Billung,  Herzog  von  Sachsen, 
herausgestellt  durch  das  Wappen  der  spateren  askanischen  Herzoge  von  Sach- 
sen: WILPHILDIS  HENRICI  UXOR,  FILIA  MAGINONIS  SAXONIAE  DU- 
CIS.  Hier  fehlt  iiberraschenderweise  der  Hinweis,  daB  Wulfhild  in  Weingarten 
bestattet  wurde.  Platzprobleme  konnen  dafiirkeine  Ursache  gewesen  sein.  Bei  Hi- 
rer Tochter  Sophia  werden  ihre  beiden  Ehemanner,  Herzog  Berthold  V  von  Zah- 
ringen  und  Markgraf  Leopold  von  Steyr  sowie  ihr  Bestattungsort  in  Weingarten 
vermerkt:  SOPHIA  FILIA  HENRICI  PRIMO  BERCHTOLDO  ZARINGENSI 
DUCI  DEIN  LEOPOLDO  STYRAE  MARCHIO:  NUPTA  HIC  SEPULTA. 

Die  Fresken  Asams  gehen  auf  Handschriften  des  Klosters  zuriick.  Grundlage 
bilden  die  drei  sogenannten  „Stifterbiichlein"  aus  Weingarten,  die  heute  in  Stutt- 
gart aufbewahrt  werden  (Abb.  3  und  4)  .46  Es  handelt  sich  hierbei  um  drei  vonein- 


46  Stuttgart,  Wiirttembergische  Landesbibliothek,  Cod.  hist,  quart.  584  („Stifterbiich- 
lein  3");  ebd.,  Hauptstaatsarchiv,  B  515  Hs  5a  („Stifterbuchlein  2"),  B  515  Hs.  5b  („Stifter- 
biichlein  1").  Das  sogenannte  „Stifterbiichlein  3"  ist  eine  Sammelhandschrift,  die  zum  letz- 
ten  Mai  1956  neu  zusammengebunden  wurde,  und  die  neben  den  Text  und  den  Bildern  der 
„Historia  Guelfica  cum  Iconibus.  In  fine  Historia  Ss.  Sanguinis"  beigebunde  Notizen  iiber 
die  Altare  in  Weingarten  aus  derZeit  um  1500  mit  barocken  Nachtragen  enthalt.  Das  3.  und 
das  1.  „Stifterbuchlein"  sind  in  einem  guten  und  vollstandigen  Zustand  iiberliefert,  wahrend 
das  2.  Biichlein  nicht  vollstandig  ausgefiihrt  wurde,  so  daB  die  Abbildungen  einen  unferti- 


Illuminierte  Herrscher 


259 


Abb.  3: 

Stuttgart, 

Wiirttembergische 

Landesbibliothek, 

Cod.  hist,  quart  584, 

fol.  25-0, 

WelflV. 

(Vorlage:  Stuttgart, 

Wiirttembergische 

Landesbibliothek) . 


ander  abhangige  Texte  zur  Heilig-Blut-Reliquie  mit  zahlreichen  Abbildungen  der 
Welfen,  ihrer  Frauen  sowie  einigen  weiteren  Personen.  Bei  einem  der  Biichlein, 
dem  sogenannten  „Stifterbiichlein  1",  handelt  es  sich  um  eine  Papier-Han  d- 
schrift,  wahrend  die  beiden  anderen  auf  Pergament  geschrieben  sind.  Nach  einer 
ersten  Analyse  des  Papiers,  der  schreibenden  Hande  sowie  der  Abbildungen  ist 
das  „Stifterbiichlein  3"  das  alteste  und  kann  an  den  Anfang  des  16.  Jahrhunderts 
gesetzt  werden,  wahrend  das  „Stifterbiichlein  1"  eherin  die  Zeit  um  1600  zu  datie- 


gen  Charakter  aufweisen.  Ferner  kam  es  ungliicklicherweise  in  Kontakt  mit  Wasser,  so  daB 
auch  der  Gesamtzustand  ziemlich  schlecht  ist.  Hinweise  auf  die  „Stifterbuchlein":  Hans  Ul- 
rich  Rudolf,  K5-K7,  in:  Norbert  KRUSE/Hans  Ulrich  Rudolf  (Hrsg.),  900Jahre  Heilig-Blut- 
Verehrung  in  Weingarten  1094-1994.  Katalog  zur  Jubilaumsausstellung,  Sigmaringen  1994, 
S.  104 f.  Nach  Pornbacher,  wie  Anm.  36,  S.  118  Anm.  5  soil  das  „Stifterbuchlein  3"unter  Abt 
Gerwig  Blarer  (1520-1567)  entstanden  sein. 


260 


Nathalie  Kruppa 


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Abb.  4: 

Stuttgart, 

Hauptstaatsarchiv 

Stuttgart, 
B  515  Hs  5b, 
fol.  22v: 

WelflV. 

(Vorlage:  Stuttgart, 

Hauptstaatsarchiv 

Stuttgart). 


ren  ist.47  Dieses  stellt  nicht  nur  als  einziges  eine  Papier-Handschrift  dar,  sondern 
weist  auch  als  einziges  die  Begleittexte  in  Latein  und  (nachgetragenem)  Deutsch 
auf,  wahrend  in  den  beiden  anderen  die  Begleittexte  ausschlieBlich  in  deutscher 
Sprache  abgefaBt  sind.  Ein  (verlorenes?)  Vorbild  derZeit  um  1400  kann  anhand 
der  Abbildungen  angenommen  werden. 

In  den  Biichlein  sind  auf  jeweils  bis  zu  45  ganzseitigen  Miniaturen  24  Welfen, 
ihre  Ehefrauen  und  Kinder  sowie  die  Staufer  als  Nachkommen  der  Welfen  darge- 
stellt.  Ferner  werden  Kaiser  Maximilian  I.  und  Markgraf  Leopold  IV.  von  Oster- 


47  An  dieser  Stelle  mtichte  ich  meinen  Dank  an  Dr.  Erwin  Frauenknecht,  Stuttgart,  fur 
die  Datierung  der  Wasserzeichen  des  Papiers  aussprechen,  ferner  an  Prof.  Dr.  Harald  Wol- 
ter-von  dem  Knesebeck,  Bonn/Gottingen,  fiir  eine  Einschatzung  der  zeitlichen  Abfolge  und 
Abhangigkeit  der  Bilder  sowie  Dr.  Waldemar  Konighaus  und  Daniel  Berger,  MA,  beide  Got- 
tingen,  fiir  die  Unterstiitzung  bei  der  Schriftdatierung. 


Illuminierte  Herrscher  261 

reich  gezeigt.48  Erganzungen  zu  den  Bildern  bringen  unterschiedlich  lange  Texte, 
die  biographische  Notizen  zu  den  Dargestellten  beinhalten.  So  erhalt  eine  In- 
schrift  bei  Maximilian,  warum  dieserberiicksichtigt  wurde:  Das  Biichlein,  das  die 
Vorlage  fiir  die  beiden  anderen  war,  wurde  wohl  wahrend  seiner  Herrschaftszeit 
konzipiert,  geschrieben  und  gemalt.49  Das  Erscheinen  von  Leopold  ist  dagegen 
schwieriger  zu  begriinden.  Liber  seine  Mutter  Agnes  von  Waiblingen  war  er  ein 
Neffe  Kaiser  Heinrichs  V.  Sein  Halbbruder  Friedrich  von  Schwaben  heiratete  die 
Welfin Judith  und  sein  anderer  Halbbruder  Konig  Konrad  III.  ernannte  ihn  nach 
dem  Tod  Heinrichs  des  Stolzen  zum  Herzog  von  Bayern.  Eine  Verbindung  nach 
Weingarten  lieB  sich  (bisher)  nicht  nachweisen. 

Neben  den  Welfenbildern  und  Texten  enthalten  die  Biichlein  Texte  zur  Hei- 
lig-Blut-Reliquie,  die  die  Wiederauffindung  der  Reliquie  in  Mantua  beschreiben 
und  ihren  Weg  von  Golgotha  bis  Mantua  verfolgen.  Sie  zeigen  die  Wunderkraft 
der  Reliquie,  ihre  Translation  nach  Weingarten,  einen  Aufruf  zum  Gedachtnis 
des  Leidens  Christi  und  weiteres  mehr.50 

Aus  den  Abbildungen  2  bis  4  ist  anhand  des  Beispiels  Welfs  IV.  die  Abhan- 
gigkeit  der  Bilder  der  Stifterbiichlein  und  der  Fresken  Asams  voneinander  zu  er- 
kennen.  Die  Standmotive,  die  Kleidung  und  die  Frisuren  sind  bis  ins  Detail  die 
gleichen,  die  sichtbaren  Unterschiede,  z.  B.  in  der  Farbintensivitat,  gehen  auf  die 


48  Gezeigt  werden  nach  „Stifterbiichlein  3"  auf  fol.  8r:  Kaiser  Maximilian,  fol.  9v:  Toch- 
ter  Catilinas,  fol.  lOr:  Welf,  fol.  1  lv:  Judith,  fol.  12  r:  Ludwig  der  Fromme, Judiths  Ehemann, 
fol.  13r:  (Welf-)Eticho,  fol.  14v:  Heinrich  „mit  dem  goldenen  Wagen",  fol.  15r:  Atha  von 
Hohenwarth,  Heinrichs  Ehefrau,  fol.  16r:  Bischof  Konrad  von  Konstanz,  fol.  17r:  Eticho, 
fol.  18  v:  Rudolf  II.,  fol.  19 r:  Ita  von  Ohningen,  Rudolfs  Ehefrau,  fol.  20 r:  Heinrich,  fol.  21  v: 
Welf  II.,  fol.  22r:  Imiza  vom  Luxemburg,  Welfs  II.  Ehefrau,  fol.  23r:  Welf  III.,  fol.  24r:  Kuni- 
za,  fol.  25 v:  Welf  IV.,  fol.  26r:  Judith  von  Flandern,  fol.  27r:  Welf  V.,  fol.  28v:  Heinrich  der 
Schwarze,  fol.  29r:  Wulfhild  Billung,  Heinrichs  Ehefrau,  fol.  30r:  Judith  von  Schwaben, 
fol.  31r:  Sophia  von  Zahringen-Steyr,  fol.  32  r:  Wulfhild  von  Bregenz,  fol.  33  v:  Heinrich  der 
Stolze,  fol.  34 r:  Gertrud  von  Siipplingenburg,  Heinrichs  Ehefrau,  fol.  35  r:  Heinrich  der  Lo- 
we, fol.  36r:  Pfalzgraf  Heinrich,  fol.  37r:  Uta  von  Calw,  fol.  38r:  Welf  VI.,  Utas  Ehemann, 
fol.  39 v:  Beatrix  von  Schwaben,  fol.  40r:  Kaiser  Otto  IV.,  Beatrix'  Ehemann,  fol.  41  r: 
Welf  VII.,  fol.  42r:  Leopold  IV.  von  Osterreich,  fol.  43r:  Kaiser  Friedrich  Barbarossa, 
fol.  44r:  Kaiser  Heinrich  VI.,  fol.  45r:  Konig  Philipp  von  Schwaben,  fol.  46r:  Kaiser 
Friedrich  II.,  fol.  47r:  Konig  Heinrich  (VII.),  fol.  48r:  Konig  Konrad  IV.  Die  Ehepartner 
sind  jeweils  einander  gegemibergestellt. 

49  Wenn  auch  seine  Herrschaft  keine  positive  Auswirkung  auf  Weingarten  hatte,  da  der 
Erzherzog  und  spaterer  Konig/Kaiser  dem  Kloster  sogar  seine  Reichsunmittelbarkeit  be- 
stritt  und  es  in  seine  osterreichische  Landesherrschaft  einbinden  wollte,  Spahr,  wie 
Anm.  20,  S.  630;  Hans  Ulrich  RuDOLF/Anselm  Gunthor,  Die  Benediktinerabtei  Weingar- 
ten. Zwischen  Grundung  und  Gegenwart  1056-2006.  Ein  Uberblick  uber  950  Jahre  Kloster- 
geschichte,  Lindenberg  2006,  S.  41. 

50  Norbert  Kruse,  Die  historischen  Heilig-Blut-Schriften  der  Weingartner  Klostertradi- 
tion,  in:  900  Jahre  Heilig-Blut-Verehrung.  Festschrift  1,  wie  Anm.  21,  S.  77-123. 


262  Nathalie  Kruppa 

verschiedenen  Trager  der  Bilder  -  Fresken  bzw.  Pergament/ Papier  und  Aquarell 
-  zuriick. 

Wie  schon  der  Welfenstammbaum  des  Weingartener  Necrologs  durch  den 
abknickenden  Hauptzweig  und  die  Betonung  Friedrich  Barbarossas  gezeigt  hat, 
wurden  in  diesem  Kloster  die  Staufer,  namentlich  Friedrich  Barbarossa  und  seine 
Sonne,  als  Welfennachkommen  und  damit  letztendlich  als  Welfen  angesehen.  So 
iiberrascht  es  nicht,  daB  nach  Heinrich  dem  Stolzen,  Welf  VF  und  Welf  VIF  eini- 
ge  Staufer  in  den  Stifterbiichlein  gezeigt  werden,  angefangen  mit  Friedrich 
Barbarossa,  dem  seine  Sonne  Heinrich  VF  und  Philipp  von  Schwaben  sowie 
Friedrich  IF,  Heinrich  (VIF)  und  Konrad  IV  folgen.  Ferner  werden  weiterhin  - 
entgegen  meiner  urspriinglichen  Erwartung  -  Welfen  im  heutigen  Verstandnis, 
also  mannliche  Nachkommen  Heinrichs  des  Schwarzen  bzw.  Heinrichs  des  Stol- 
zen, gezeigt:  Heinrich  der  Fowe  sowie  seine  Sonne  Pfalzgraf  Heinrich  und  Kaiser 
Otto  IV 

Die  Darstellungen  zeigen  dennoch  insgesamt  eine  Praferenz  fur  die  Staufer, 
von  denen  einschlieBlich  Friedrich  Barbarossa  vier  Generationen  dargestellt 
wurden,  wahrend  Heinrich  dem  Fowen  nur  noch  zwei  seiner  Sonne  folgen.  Die 
Darstellung  Ottos  IV.  verdeutlicht  dies  noch  mehr.  Zwar  wird  ihm  als  einzigen 
der  jiingeren  Dargestellten  eine  Ehefrau  zur  Seite  gestellt.51  Es  handelt  sich  aber 
nicht  um  Maria  von  Brabant  (t  1260),  die  spatere  Kaiserin,  sondern  um  die  Foch- 
ter  Philipps  von  Schwaben,  Beatrix,  die  bereits  drei  Wochen  nach  der  Hochzeit 
1212  starb.  Auch  die  beigegebenen  Fexte  sprechen  eine  deutliche  Sprache:  Otto 
ain  hertzog  von  paier  vnd  sachsen  ist  romischer  kaiser  erwelt  warden  wider  kilnig philip- 
pen.52  Schon  die  einleitende  Bemerkung  zu  Heinrich  dem  Fowen  macht  die  In- 
teressen  Weingartens  deutlich:  Hainrich  hertzog  [Nachtrag:  dictus  leo]  zu  sachsen  vnd 
paier  vnd  brunschwig  ist  von  kaiser  fridrichen  vertriben  wordens.53  Die  Informationen 
bei  den  Staufern  erganzen  dieses  Bild.  So  wird  zu  Konig  Philipp  berichtet:  Hertzog 
Philipp  hertzog  von  Swaben  ist  worden  romischer kiinig  wider kiinig  otten  hant  langmit  ain 
ander  kriegt  und  Item  Philippus  ain  Hertzog  von  Schwaben  vnd Ethurie  ain  Bruder  kaiser 
Hainrichs  Ist  Romischer  Kiinig  erwelt  ain  gerechter  man  vnd  hat  geregiert  xijar  Wider  in 
hant  etliche  fiirsten  erwelt  Ottonem  ainen  Hertzogen  von  Brunschwig  vnd  Sachsen  zu  aine 
Rdmischen  kiinig  darumb  in  tiischem  land groji  krieg  worden  sind  Der  Philipp  Ist  von  dem 
pfaltzgraffen  von  wittelspach  als  er  ain  lasser  was  betriigenlich  erschlagen  worden.54  Bei 
Friedrich  IF  wird  u.  a.  betont,  daB  er  gegen  Otto  IV.  zum  Konig  erwahlt  wurde: 
Ist  erwelt  worden  ain  Romischer  kiinig  wider  Ottone.55  Auch  die  Anwesenheit  des  mit 


51  Vgl.  die  Aufzahlung  in  Anm.  48. 

52  Stuttgart,  Wiirttembergische  Landesbibliothek,  Cod.  hist,  quart.  584,  fol.  40r. 

53  Ebd.,  fol.  35 r. 

54  Ebd.,  fol.  45 r  und  45  v. 

55  Ebd.,  fol.  46  v. 


Illuminierte  Herrscher 


263 


Abb.  5: 

Stuttgart,  Wiirttembergische 

Landesbibliothek, 

HB  V,4a,fol.  168r: 

WelflV. 

(Vorlage:  Stuttgart, 

Wiirttembergische 

Landesbibliothek) . 


den  Saliern,  Staufern  und  Welfen  verwandten  Leopold  IV.  von  Osterreich,  der  in 
Nachfolge  Heinrichs  des  Stolzen  von  Konig  Konrad  III.  zum  Herzog  von  Bayern 
ernannt  wurde,  kann  in  dieser  Richtung  interpretiert  werden.  In  den  welfisch- 
staufischen  Thronwirren  um  und  nach  der  Wende  vom  12.  zum  13.  Jahrhundert 
und  ihrer  200  Jahre  jiingeren  bildlichen  Nachwirkungen  standen  die  Weingar- 
tener  Monche  eindeutig  auf  der  Seite  der  Staufer. 

Die  Bilder  der  Stifterbiichlein  haben  eine  Vorbildfunktion  fur  die  bildlichen 
Darstellungen  der  Welfen  in  den  kommenden  Jahrhunderten  erhalten.  Zunachst 
hat  Gabriel  Bucelin  (1599-1681), S6  ein  Monch  des  Klosters  Weingarten,  der  sich 


56    Zu  Bucelin  siehe  Claudia  Maria  Neesen,  Gabriel  Bucelin  OSB  (1599-1681).  Leben 
und  historiographisches  Werk,  Ostfildern  2003. 


264 


Nathalie  Kruppa 


Abb.  6: 

Origines  Guelficae,  2, 

wie  Anm.  58, 

TafellzuS.  279: 

WelflV. 


Gueipno  qoartus,  filiitf  Chu- 
misajBuDf.  NoticorS .  Comftittni«a+ 
"Weimg arienfem  fiiwteiow?  Bferis 
gennauucefcriptis  atuio  CbXC. 
moritttr    anno   cl3  C  1  ■ 


als  Historiker  der  Benediktiner  und  vor  allem  seines  Klosters  betatigte,  einige 
dieser  Bilder  in  seinen  Handschriften  in  einer  einfacheren  Ausfiihrung  mit  zum 
Teil  nicht  realisierten  Inschriften  in  Rankenfeldern  iiberliefert  (Abb.  5,  vgl. 
Abb.  2-4). S7 

Den  Bildern  der  Stifterbiichlein  wurde  noch  eine  weitere  Verbreitung  zuteil.  In 
den  vier  Banden  der  Origines  Guelficae,  begonnen  von  Gottfried  Wilhelm  Leib- 
niz, fortgesetzt  von  Johannes  Georg  von  Eckhart  und  Johannes  Daniel  Gruber, 
herausgegeben  von  Christian  Ludwig  Scheidt  und  zwischen  1750-1780  erschie- 
nen,  kommen  einige  der  Bilder  nochmals  vor,  so  beispielsweise  Welf  IV. 
(Abb.  6).58  So  wurden  diese  Bilder  der  Welfen  des  Klosters  Weingarten  des 
16.  Jahrhunderts  im  18.  Jahrhundert  bis  nach  Niedersachsen  transportiert.59 


57  Stuttgart,  Wiirttembergische  Landesbibliothek,  HB  V  4,  fol.  170r:  Heinrich  „mit  dem 
goldenen  Wagen"  und  Atha  von  Hohenwarth,  fol.  232 r:  Welf  II.  und  Imiza  von  Luxemburg 
undHB  V4a,  fol.  72 r:  Welf  III.,  fol.  168 r:  Welf  IV.,  fol.  170 r:  Judith  von  Flandern. 

58  Origines  Guelficae  2,  Hannover  1751,  Tafel  2  zu  S.  279:  Welf  IV.,  Tafel  3  zu  S.  323: 


Illuminierte  Herrscher  265 

Die  Stifterbiichlein  und  die  Welfengenealogien  beinhalten  nicht  die  einzigen 
Bildzeugnisse,  die  sich  in  den  siiddeutschen  Welfenklostern,  vor  allem  in  Wein- 
garten,  Steingaden  und  Rottenbuch,  erhalten  haben.  In  Steingaden  spielten 
Welf  VI.  und  Welf  VII.  die  Hauptrolle  in  den  bildlichen  Darstellungen  -  als 
Griinder  des  Stiftes  und  als  dessen  Sohn.  Zwei  Stellen  in  der  barockisierten  Kir- 
che  zeigen  die  beiden  Welfen.  Zum  einen  ist  hier  das  Deckenfresko  des  Johann 
Georg  Bergmiiller  (1688-1762) 60  zu  nennen,  auf  dem  die  Stiftung  und  derBau  des 
Pramonstratenserstiftes  dargestellt  wird:  Welf  VI.  in  Riistung,  neben  ihm  ein  Pra- 
monstratenser,  dererste  Propst;  vorihnen  halt  eine  Person,  wohl  derBaumeister, 
eine  Zeichnung  derSteingaderKlosteranlage  (Abb.  7).  Im  Hintergrund  sind  Bau- 
arbeiten  zu  sehen.  Dariiber,  aus  himmlischen  Spharen,  wird  die  Szene  von  Jesus 
und  einigen  Engeln  betrachtet. 

An  der  Westwand  derKlosterkirche,  rechts  und  links  des  Eingangs,  werden  die 
beiden  Welfen  in  zwei  iiberlebensgroBen  Darstellungen  gezeigt  (Abb.  8).61 
Welf  VI.  ist  als  alter  Mann,  gekennzeichnet  durch  einen  langen  weiBen  Bart,  und 
Welf  VII.  entsprechend  jiinger,  mit  einem  blonden  Backenbart,  abgebildet.  Beide 
sind  als  Ritter  dargestellt,  und  neben  beiden  liegt  auf  einem  Podest  ein  Herzogs- 
hut,  was  zumindest  im  Fall  desjiingeren  Welfen  nicht  korrekt  ist,  denn  er  warzwar 
der  Sohn  eines  Herzogs,  hatte  diese  Wiirde  selbst  aber  nicht  inne. 

Das  Motiv  der  beiden  Welfen  als  spatmittelalterlicher  Ritter  ist  in  ahnlicher 
Form  seit  dem  16.  Jahrhundert  mehrfach  im  Stift  belegt.  Eine  entsprechende  Ge- 
staltung  Welfs  VI.  und  VII.  wurde  wohl  erstmals  auf  einem  Epitaph  von  1527  ge- 
zeigt. Dieses  hat  sich  zwar  nicht  erhalten,  ist  aber  aus  einem  Kupferstich  von 


Heinrich  der  Schwarze,  Tafel  9  zu  S.  357:  Heinrich  der  Stolze;  Origines  Guelficae  3,  Hanno- 
ver 1752,  Tafel  15  zu  S.  159:  Heinrich  der  Lowe. 

59  Leibniz  selbst  stand  im  Kontakt  zu  Gabriel  Bucelin,  aber  auch  zum  Tiibinger  Profes- 
sor Johann  Ulrich  Pregitzer,  den  er  mit  Forschungen  in  Oberschwaben  beauftragte,  Stefan 
Benz,  Historiker  um  Gottfried  Wilhelm  Leibniz,  in:  Herbert  BREGER/Friedrich  Niewohner, 
Leibniz  und  Niedersachsen,  Stuttgart  1999,  S.  148-172,  hier  S.  154,  S.  164-172  zu  Eckhart; 
Nessen,  wie  Anm.  56,  S.  2 1 5 f . ,  S.  310f.  und  passim;  vgl.  auch  Origines  Guelficae  1,  Hanno- 
ver 1750,  praefatio  S.  19. 

60  Georg  Hager,  Die  Bau-  und  Kunstdenkmale  des  Klosters  Steingaden,  in:  Oberbaye- 
risches  Archiv  fur  die  vaterlandische  Geschichte  48,  1893-1894,  S.  124-177,  hier  S.  150f.;  Jo- 
sef Strasser,  Johann  Georg  Bergmiiller  1688-1762.  Die  Zeichnungen,  Salzburg  2004;  Art. 
Bergmiiller,  Johann  Georg,  in:  Ulrich  TmEME/Felix  Becker  (Hrsg.),  Allgemeines  Lexikon 
der  bildenden  Kiinstler  von  der  Antike  bis  zur  Gegenwart  3  /4,  Studienausgabe  Leipzig  1999, 
S.  412. 

61  Hager,  wie  Anm.  60,  S.  147-150.  An  dieser  Stelle  sollen  sich  bereits  davor  ahnliche 
Bilder  der  beiden  Welfen  befunden  haben,  die  sogar  mit  langen  Inschriften  in  Versform  auf 
das  Leben  Vaters  und  Sohns  eingingen.  Auch  auf  den  Sockeln  der  Bergmiiller-Fresken  wa- 
ren  wohl  urspriinglich  Inschriften  angebracht,  die  allerdings  verloren  sind. 


266 


Nathalie  Kruppa 


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Abb.  7:    Steingaden,  St.  Johannes  Bapt.,  westliches  Deckenfresko  vonjohann  Georg  Bergmuller: 
Griindung  des  Stiftes  (Foto:  Kruppa). 


Joseph  Anton  Zimmermann  (1705-1797) 62  bekannt.  Die  beiden  knienden  Welfen 
werden  in  einer  Stifterdarstellung,  d.  h.  mit  der  von  ihnen  gestifteten  Klosterkir- 
che  Steingaden  in  den  Handen,  gezeigt.  Mit  der  jeweils  freien  Hand  stiitzen  sie 


62  Abbildung:  Monumenta  Steingadensia,  wie  Anm.  26,  nach  S.  480,  Taf.  15.  Zum  Grab- 
mal  und  den  Epitaphien  siehe  auch  Hager,  wie  Anm.  60,  S.  143-147.  Anstelle  der  urspriingli- 
chen  Grabstelle  im  Mittelschiff  wurde  1749  eine  metallene  Platte  mit  einer  Inschrift  in  den 
Boden  eingelassen:  HOC  SUB  LAPIDE  /  LATENT  /  LAPIDES  PRETIOSI  /  SERENISSIMI 
AC  POTENTISSIMI  /  BAVARIjE  ET  SPOLETI  PRINCIPES  /  GUELPHO  VI  PATER  /  ET 
jEQUALIS  PATRI  PIETATE  /  FILIUS  GUELPHO  VII  /  QUORUM  MUNIFICENTIAM  / 
PERPETUO  LAPIDES  CLAMABUNT  /  CANONIyE  HUJUS  STEINGADIAN.E  /  ANNO 


Illuminierte  Herrscher 


267 


Abb.  8: 

Steingaden, 

St.  Johannes  Bapt., 

Fresko  von 

Johann  Georg  Bergmiiller: 

Welf  VI. 

(Foto:  Kruppa). 


sich  auf  ein  Lowenwappen,  das  Wappen  der  Welfen,  wie  es  in  den  Welf  enklo  stern 
vorkommt  und  wie  es  ab  dem  12.  Jahrhundert  auf  welfischen  Siegeln  und 
Miinzen  belegt  ist.  Uber  den  Stiftern,  neben  der  Kirche,  sind  zwei  Heiligendar- 
stellungen  zu  sehen.  Es  handelt  sich  um  die  beiden  heiligen  Johannes.  Johannes 
der  Taufer  befindet  sich  iiber  Welf  VI.  Johannes  der  Evangelist  iiber  dessen  Sohn. 
Geschuldet  ist  die  Darstellung  der  beiden  Heiligen  dem  Patrozinium  der  Stifts- 
kirche,  die  dem  Taufer  geweiht  war. 

Dieses  Motiv  war  in  Steingaden  beliebt,  so  daB  es  auf  weiteren  Bildtragern  zu 


MCXLVII  /  AB  IPSIS  FUNDATvE  /  IN  CUJUS  GREMIO  /  HIC  REQUIESCUNT.  Die  neu- 
en  Grabepitaphien  des  18.  Jahrhunderts  befinden  sich  hingegen  auf  zwei  gegeniiberliegen- 
den  Pfeilern  des  Mittelschiffes  in  der  Hohe  der  Metallplatte.  Zu  Zimmermann  siehe  Art.: 
Zimmermann, Joseph  Anton,  in:  Ulrich  TmEME/Felix  Becker  (Hrsg.),  Allgemeines  Lexikon 
der  bildenden  Kiinstler  von  der  Antike  bis  zur  Gegenwart  35/36,  Studienausgabe  Leipzig 
1999,  S.  513f. 


268  Nathalie  Kruppa 

finden  ist:  Als  ein  Detail  eines  Passionsbildes  aus  der  Zeit  um  1570,  in  einer  ,Ne- 
crologium'  genannten  Handschrift  von  1651  und  schlieBlich  auch  auf  den  neuen 
Epitaphien  der  Welfen  vonjohann  Baptist  Straub  (1704-1784). 63  Gerade  das  Pas- 
sionsbild  wiederholt  das  spatmittelalterliche  Epitaph  fast  bis  ins  Detail;  nur  daB 
in  diesem  Fall  die  Welfen  die  Kirche  mit  jeweils  beiden  Handen  halten  und  der 
Wappenschild  vor  ihnen  steht. 

Das  Steingader  ,Necrologium',  bei  dem  es  sich  um  ein  Rotelbuch  handelt,  also 
eine  Aufzeichnung  von  Verstorbenen,  die  mit  „befreundeten"  oder  „verbriider- 
ten"  Klostern  ausgetauscht  wird,64  stellt  auf  Folio  2r-9v  die  Geschichte  des  Stiftes 
Steingaden  und  damit  Welfs  VF  in  Bild  und  Fext  dar.65  Auf  fol.  2  wird  das  Stifter- 
bild  wiederholt.  Auch  hier  halten  die  Welfen  erneut  das  Modell  der  Kirche  in  der 
Hand;  im  Unterschied  zu  den  anderen  Darstellungen  stehen  die  beiden  nun. 
Welf  VIF  weist  wie  sein  Vater  einen  Vollbart  auf  und  der  Wappenschild  ist  nicht 
so  auffallig  unterhalb  des  Kirchenmodells  angebracht,  sondern  im  abgetrennten 
begleitenden  Textfeld  unterhalb  des  Bildes. 

Im  Zuge  der  Barockisierung  der  Klosterkirche  im  18.  Jahrhundert  bekamen 
die  beiden  Welfen  neue  Epitaphien  vonjohann  Baptist  Straub.66  Im  Gegensatz 
zu  dem  Epitaph  des  16.Jahrhunderts  wurde  ihrer  aber  nicht  mehrgemeinsam  ge- 
dacht.  Beide  erhielten  jeweils  ein  eigenes  bronzenes  Denkmal  (Abb.  9),  die  alte- 
ren  Motive  wurden  aber  wieder  aufgenommen.  Welf  VI.  halt  das  Modell  der 
Stiftskirche  in  seiner  linken  Hand.  Die  Kirche  entspricht  der  Darstellung  auf  dem 
Stich  von  Zimmermann.  Welf  VII.  halt  in  seiner  linken  Hand  ein  Model  einer 


63  Passionsbild:  Jehl,  wie  Anm.  2,  nach  S.  104;  Ausschnitt:  Gerhard  Klein,  Ein  Haus 
voll  Glorie  -  Schauet!  Alte  Ansichten  des  Steingadener  Welfenmiinsters  und  der  Klosteran- 
lage,  in:  Haaser/Klein/Krauthauf,  wie  Anm.  26,  S.  220-263,  hier  S.  231  Abb.  12;  Necrolo- 
gium:  Hermann  Hauke,  Das  sogenannte  Necrologium  aus  Steingaden,  in:  ebd.,  S.  74-104, 
Abb.  S.  79;  Baaken,  Welf  VI.,  wie  Anm.  16,  nach  S.  24;  Epitaphien:  Jehl,  wie  Anm.  2,  nach 
S.  112  (Welf  VI.);  Pornbacher,  wie  Anm.  26,  S.  30  (Welf  VII.). 

64  Vgl.  Jean  Dufour,  Art.:  Totenrotel,  in:  Lexikon  des  Mittelalters  8,  1997,  Sp.  897f.; 
Gabriela  Signori,  Totenrotel  und  andere  Medien  klosterlicher  memoria  im  Austausch  zwi- 
schen  spatmittelalterlichen  Frauenklostern  und  -stiften,  in:  Eva  ScHLOTHEUBER/Helmut 
FLACHENECKER/Ingrid  Gardill  (Hrsg.),  Nonnen,  Kanonissen  und  Mystikerinnen.  Religiose 
Frauengemeinschaften  in  Siiddeutschland,  Gottingen  2008,  S.  281-296,  bes.  S.  281-287. 

65  Miinchen,  Bayerische  Staatsbibliothek,  Clm  1007,  fol.  1-3,  siehe  auch  Hauke,  wie 
Anm.  63,  S.  74-104,  bes.  S.  76-84. 

66  Inschriften:  Welf  VI.:  Vuelfo  dux  /  fundavit  monasterium  /  istud  an.  1  1  47/ obijt[us] 
1  1  91  /  in  die  Luciae;  Welf  VII.:  Vuelfo  filius  ei[us]  /  in  italia  peste  interijt  /  an.  1  1  67sed  hie 
/  ossa  ei[us]  translata  /  et  reposita.  Sie  wurden  wortwortlich  auf  die  neuen  Epitaphien  des 
18.  Jahrhunderts  ubernommen.  Zu  Straub  siehe  Art.:  Straub,  Johann  Baptist,  in:  Ulrich 
TmEME/Felix  Becker  (Hrsg.),  Allgemeines  Lexikon  der  bildenden  Kiinstler  von  der  Antike 
bis  zur  Gegenwart  31/32,  Studienausgabe  Leipzig  1999,  S.  162-167. 


Illuminierte  Herrscher 


269 


Abb.  9: 

Steingaden,  St.  Johannes  Bapt., 

Johann  Baptist  Straub, 

Epitaph  Welfs  VI. 

(Foto:  Kruppa). 


Klosteranlage.  Auf  diesem  Weg  werden  bei- 
de  weiterhin  als  Stifter  angesprochen.  Als 
weitere  Reminiszenz  an  das  altere  Epitaphi- 
um  werden  beide  Welfen  erneut  von  den 
beiden  heiligen  Johannes  begleitet,  Welf 
VI.  wiederum  von  Johannes  dem  Taufer  - 
als  dem  eigentlichen  Stifter  stand  ihm  die 
Begleitung  des  Hauptpatrons  zu  -  und  sein 
Sohn  von  Johannes  dem  Evangelisten. 

Insgesamt  ist  eine  motivische  Verwandt- 
schaft  zwischen  alien  vier  bildlichen  Dar- 
stellungen  nicht  zu  bestreiten,  da  sie  sich  - 
wenn  auch  unterschiedlich  stark  -  ahneln 
und  nur  einige  zeittypische  Unterschiede 
wie  abweichende  Details  in  den  Riistungen 

aufweisen.  Die  groBte  Differenz  im  direkten  Vergleich  weist  das  ,Necrologium' 
auf.  Hier  werden  die  beiden  Stifter  stehend  und  nicht  kniend  dargestellt  und 
Welf  VII.  zudem  mit  einen  Vollbart. 


In  Rottenbuch  und  Weingarten  spielen  in  den  Bildern,  die  neben  den  Genealogi- 
en  konzipiert  und  ausgefiihrt  wurden,  vor  allem  Welf  IV  und  seine  Frau  Judith 
von  Flandern  die  Hauptrolle.  Dieses  ist  in  beiden  Fallen  keine  Uberraschung, 
denn  Rottenbuch  wurde  von  Welf  IV.  gegriindet,  waraberim  engeren  Sinne  kein 
Hauskloster  der  Welfen,  da  der  memoriale  Mittelpunkt  der  Welfen  stets  das  Klo- 
ster  Weingarten  blieb. 

In  Rottenbuch  gehort  zu  den  friihesten  Welfenbildern  die  sogenannte  Prop- 
steitafel,  die  im  geschlossenen  Zustand  Welf  IV  als  Ritter  und  Judith  in  hofischer 
Kleidung  auf  den  Seitenfliigen  zeigt  und  in  der  Mitte  eine  Ansicht  des  vorbarok- 


270  Nathalie  Kruppa 

ken  Stifts  mit  den  beiden  Kirchen  fur  den  Manner-  und  Frauenkonvent  bringt 
(Abb.  10).  Im  geoffneten  Zustand  werden  in  der  Mitte  die  Propste  Rottenbuchs 
bis  1802  gezeigt.  Diese  Tafel  wurde  1585  unter  Propst  Wolfgang  Perkhofer 
(t  3.  Oktober  1611)  angelegt  und  iiber  die  Jahre  weiter  fortgefiihrt,  vergleichbar 
mit  Abtegalerien  in  anderen  Klostern.  Die  Inschriften  unter  den  Bildern  des  Ehe- 
paares  gehen  in  kurzer  Form  auf  ihr  Leben  und  die  Stiftsgriindung  ein.67 

Eines  der  wenigen  plastischen  Objekte  stammt  wiederum  aus  Weingarten  und 
wird  heute  in  der  Niedersachsischen  Landesgalerie  in  Hannover  aufbewahrt.  Es 
handelt  sich  um  eine  Biiste  Judiths  von  Flandern  vom  Ende  des  15.  Jahrhunderts. 
Diese  wurde  wohl  vom  siiddeutschen  Bildhauer  Heinrich  Yselin  (t  1513) 68  oder 
zumindest  in  seiner  Werkstatt  geschaffen.  Sie  zeigt  Judith  mit  einer  vierzackigen 
Krone  sowie  einem  kirchenbauahnlichen  Reliquienkastchen  in  derlinken  Hand, 
wahrend  die  Rechte  fehlt.69  Wenn  man  diese  Skulptur  mit  der  Darstellung  in  den 
Stifterbiichlein  vergleicht,  spricht  vieles  fur  eine  Rekonstruktion  der  rechten 
Hand  mit  der  Heilig-Blut-Reliquie.  Eine  motivische  Verwandtschaft,  gerade  was 
die  Krone,  die  Frisur  und  das  Reliquienkastchen  betrifft,  laBt  sich  zudem  zwi- 
schen  den  beiden  zeitnahen  Abbildungen  derjudith  erkennen.  Anderes  aber,  wie 
z.B.  die  Kleidung  der  Herzogin,  unterscheidet  sich  aber  stark.  Sicher  ist,  daB 
Heinrich  Yselin  in  Weingarten  tatig  war,  wo  er  das  vorbarocke  Chorgestiihl  von 


67  Welf:  Guelfo  quartus,  cognomento  Fortis,  primo  despondit  sibi  Filiam  Othonis,  Ducis 
Bavarian,  et  illo  per  Henricum  Regem  proscripto,  renuntiavit  Sponsalibus,  et  a  Rege  titulo 
Ducatus  investitus,  expulso  Othone  factus  est  Dux  Bavarian.  Multa  strenue  in  Italia,  et  Ger- 
mania  fecit.  Monasterium  istud  venerandum  fundavit  Anno  1074.  Senex  iam  cum  maxima 
difficultate  adiit  terrain  sanctam  Anno  1101.  In  reditu  moritur  in  Insula  Cypro,  ibi  sepultus, 
ossibus  paucis  inde  ad  Weingarten. 

Rottenbuch:  Monasterium  Rottenbuech  a  rubra  Fago  nuncupatum,  fundatum  est  Anno 
millesimo  septuagesimo  quarto  a  Serenissimo  Duce  Bavarian  Guelphone  quarto,  et  eius  Co- 
niuge  Iudintha  Regina  Anglise,  in  honorem  BeatissimEe  Deiarae  Virginis  Mariae,  pro  Canoni- 
cis  Regularibus  Ordinis  Sancti  Augustini,  a  quibus  continua  possessione,  hactenus  inhabita- 
tum  est.  Loci  huius  Propositus  titulo,  ac  dignitate  Archidiaconi  Nati  insignitus  est,  nunc 
etiam  Abbatis  Lateranensis.  Moderna  Monasterij  facies  intuentibus  accurate  hac  forma  pro- 
ponitur. 

Judith:  Iudintha  Filia  Balduini  nobilissimi  Comitis  Flandriae,  nupta  primo  Regi  Angliae, 
quo  mortuo  spreta  Othonis  Bavarian  Ducis  Filia  hanc  duxit  Guelfo  quartus  cum  magna  dote. 
Attulit  ilia  Sanguinem  sacrum  ad  Weingarten,  qui  hodie  religiose  ibi  asservatur.  Iuvit  Mari- 
tum,  et  precibus  impetravit  fundationem  Monasterij  nostri  in  Rottenbuech.  Diu  infirma,  tan- 
dem obijt  in  bona  senectute,  sepulta  per  manus  Domini  Gebhardi  Episcopi  Constantiensis, 
Fratris  Berchtoldi  Ducis  Karingiae  in  Weingarten. 

68  Art.:  Yselin,  Heinrich,  in:  Thieme/Becker,  wie  Anm.  62,  S.  362ff. 

69  Abbildung:  900  Jahre  Heilig-Blut-Verehrung.  Festschrift  1,  wie  Anm.  21  S.  II,  Abb.  1; 
900  Jahre  Heilig-Blut-Verehrung.  Katalog,  wie  Anm.  46,  S.  13,  vgl.  Norbert  Kruse,  K4,  in: 
ebd.,  S.  104;  siehe  auch  Gert  von  der  Osten,  Katalog  der  Bildwerke  in  der  Niedersachsi- 
schen Landesgalerie  Hannover,  Miinchen  1957,  S.  18 If.  Nr.  222. 


Illuminierte  Herrscher 


271 


Abb.  10:    Rottenbuch,  St.  Peter  und Paul,  Propsteitafel  mit  der  Darstellung 

Welfs  IV.  und  Judiths  von  Flandern  sowie  in  der  Mitte  der  Anlage  des  Stiftes 

(Abb.  nach  Mois,  wie  Anm.  43,  Abb.  4). 


1478  erschuf.  Es  ist  von  daher  moglich,  daB  er  das  Stifterbiichlein  -  oder  dessen 
unbekannte  Vorlage  -  gesehen  hat  und  sich  davon  hat  inspirieren  lassen. 

Ferner  gab  es  in  Weingarten  zwei  sogenannte  Heilig-Blut-Tafeln,  auf  denen  die 
Legende  des  HI.  Blutes  von  Golgotha  bis  zur  Ankunft  der  Reliquie  in  Weingarten 
in  szenischer  Folge  gezeigt  wurde.  Die  altere  der  beiden  Tafeln  stammt  aus  dem 
Jahr  1489  und  zeigt  in  geschlossenem  Zustand  auf  den  beiden  Seitenfliigeln  er- 
neut  Welf  IV.  und  seine  Frau  Judith  von  Flandern.70  Beide  werden  in  hofischer 
Kleidung  des  spaten  15.Jahrhunderts  dargestellt.  Welf  IV.  halt  der  Stifterein  Kir- 
chenmodell  in  der  Hand,  wahrend  Judith  in  ihrer  rechten  Hand  die  Heilig-Blut- 
Reliquie  tragt. 

Wahrend  bei  den  bislang  genannten  Bildern  aus  Weingarten  die  motivische 
Abhangigkeit  voneinander  gut  erkennbar  war,  sind  im  vorliegenden  Fall  der  Bild- 


70  Stuttgart,  Wiirttembergisches  Landesmuseum,  Ulmer  Kiinstler  (?);  Norbert  Kruse, 
A  6  Die  Heilig-Blut-Tafel  von  1489  (geoffneter  Zustand)  und  A  7  Die  Heilig-Blut-Tafel  von 
1489  (geschlossener  Zustand),  in:  900  Jahre  Heilig-Blut-Verehrung.  Katalog,  wie  Anm.  46, 
S.  17-20,  siehe  auch  Rainer  Jensch,  Das  Heilige  Blut  in  der  Bildenden  Kunst,  in:  900  Jahre 
Heilig-BlutA^erehrung.  Festschrift  1,  wie  Anm.  21,  S.  209-249,  hier  S.  212-215  und  S.  210f. 
Abb.  149;  Rudolf/ Gunthor,  wie  Anm.  49,  S.  18  und  S.  20f. 


272  Nathalie  Kruppa 

tafeln  eigenstandige  Bildtraditionen  zu  erkennen,  die  nichts  mit  der  bisherigen 
Uberlieferung  gemein  haben.  Auch  haben  diese  Darstellungen  keine  Nachfolge 
erfahren  und  sind  als  singular  anzusehen. 

Vor  allem  in  Weingarten  haben  sich  zahlreiche  weitere  Bilder  erhalten,  die  die 
Welfen  im  Zusammenhang  mit  der  Heilig-Blut-Reliquie  zeigen.71  Neben  einer 
jiAngeren  Heilig-Blut-Tafel  von  1604  72  zahlen  hierzu  die  beiden  Jubilaumstafeln 
von  1694  und  1755, 73  das  Gemalde  mit  derUbergabe  des  heiligen  Blutes  aus  der 
Zeit  um  1730  sowie  der  sogenannte  Weingartener  Heiligenhimmel  von  1756.74 
Dazu  kommt  eine  Darstellung  der  Judith  -  sowie  Kaiser  Heinrichs  III.  -  aus  dem 
19.  Jahrhundert,75  die  sich  beide  heute  in  der  Welfengruft  der  Klosterkirche  be- 
finden.  Ferner  hat  Gabriel  Bucelin  nicht  nur  einige  Bilder  der  Stifterbiichlein  in 
seinen  Handschriften  wiederholt,  sondern  auch  eigene  Aquarelle  der  Welfen  ge- 
schaffen.76  SchlieBlich  sind  noch  in  zwei  mittelalterlichen  Evangeliaren  Stifterbil- 


71  Der  Zusammenhang  zwischen  den  Welfen  und  der  Hl.-Blut-Reliquie  war  im  Kloster 
nicht  nur  in  der  bildenden  Kunst  gegeben,  sondern  auch  in  baulichen  Zusammenhangen.  In 
der  romanischen  Klosterkirche  befand  sich  die  Grablege  der  Welfen  in  der  Oswald-Kapelle 
im  Westen  der  Kirche.  Benachbart  befand  sich  in  der  Zeit  zwischen  1276  und  etwa  1487  die 
Hl.-Blut-Kapelle  im  Nordturm  der  Kirche.  Beim  barocken  Neubau  der  Klosterkirche  wurde 
sowohl  die  Grablege  als  auch  der  Reliquienort  verlegt.  Die  Grablege  befindet  sich  nun  un- 
terhalb  nordlichen  Seitenschiffs  und  der  Hl.-Blut-Altar  bzw.  der  Reliquienort  waren  zwi- 
schen 1724  und  1731  daruberim  Seitenschiff.  Wegen  Pilgerstromen  wurde  die  Reliquie  bzw. 
ihr  Altar  nach  einigenjahren  in  die  Vierung  der  Kirche  verlegt,  vgl.  Konrad  Hecht,  Die  mit- 
telalterlichen Bauten  des  Klosters  insbesondere  die  beiden  ersten  Minister,  in:  Festschrift 
zur  900-Jahr-Feier  des  Klosters  1056-1956,  Weingarten  1956,  S.  254-327,  hier  S.  286ff.  mit 
Abb.  15  zur  mittelalterlichen  Altaren  und  Kapellen  der  Klosterkirche;  Hans  Ulrich  Rudolf, 
Kapellen  -  Altare  -  Reliquiare.  Die  Aufbewahrung  des  Heiligen  Bluts  im  Uberblick,  in:  900 
Jahre  Heilig-Blut-Verehrung.  Festschrift  1,  wie  Anm.  21,  S.  251-280,  bes.  S.  251-262;  Abbil- 

dung  der  Oswald-Kapelle  von  Gabriel  Bucelin  ebd.  S.  10  Abb.  8. 

72  Jensch,  wie  Anm.  70,  S.  215ff.  S.  24f.  Abb.  30  und  S.  215  Abb.  153  (Ausschnitt) . 

73  Jubilaumstafel  von  1694:  ebd.,  S.  234-238  und  S.  235  Abb.  173;  Jubilaumstafel  von 
1755:  ebd.,  S.  239ff.  und  S.  239  Abb.  175. 

74  Ubergabe  des  HI.  Blutes,  Gemalde  von  ca.  1730:  ebd.,  S.  217  und  S.  216  Abb.  154; 
Weingartener  Heiligenhimmel  von  1756:  ebd.,  S.  240  Abb.  176. 

75  Norbert  Kruse,  K  2 1  f. ,  in:  900  Jahre  Heilig-Blut-Verehrung.  Katalog,  wie  Anm.  46, 
S.  108f.;  Abbildung:  900  Jahre  Heilig-Blut-Verehrung.  Festschrift  1,  wie  Anm.  21,  S.  73 
Abb.  88 f. 

76  Stuttgart,  Wurttembergische  Landesbibliothek,  (unter  anderem)  HB  V,  4;  HB  V,  4a; 
HB  V,  5  und  HB  V,  7;  vgl.  Wolfgang  IRTENKAUF/Ingeborg  Krekler,  Die  Handschriften  der 
Wiirttembergischen  Landesbibliothek  Stuttgart  2:  Die  Handschriften  der  ehemaligen  Ko- 
niglichen  Hofbibliothek:  2,2:  Codices  Historici,  Wiesbaden  1975,  S.  XVI  XXII,  S.  3-32.  Ne- 
ben den  verschiedenen  Welfen-Stammbaumen  in  den  Bucelin-Handschriften  sowie  auch 
Kopien  der  Zeichnungen  der  Stifterbiichlein  sind  beispielsweise  in  der  Handschrift  HB  V,  7 
auf  fol.  617r,  618r,  619r,  620r,  621r,  622r,  623r  einige  der  Welfen  als  Reiterstandbilder  ge- 
zeichnet.  Zu  ihnen  gehoren  die  Darstellungen  Welfs  I.,  Etichos,  Welfs  IV.,  Welfs  V,  Hein- 


Illuminierte  Herrscher  273 

der  der Judith  von  Flandern  iiberliefert.77  Diese  wurden  aber  nicht  in  Weingarten 
hergestellt,  sondern  dem  Kloster  durch  die  Herzogin  geschenkt. 

Der  immer  wiederkehrende  Zusammenhang  der  Darstellungen  der  Welfen 
mit  dem  der  Heilig-Blut-Reliquie  zeigt,  daB  die  Reliquie  und  ihre  Stifter  eine 
groBe  Rolle  fiir  das  Kloster  spielten  und  sie  in  einem  gemeinsamen  Zusammen- 
hang gesehen  wurden.  Zweifellos  war  die  Memoria  fiir  Welf  IV.  und  Judith  im 
engeren  und  fiir  die  Welfen  im  weiteren  Sinne  mit  dieser  bedeutenden  Reliquie 
verbunden. 

Weitere  Welfenbilder  befinden  sich  heute  im  Audienzsaal  der  Padagogischen 
Hochschule  Weingarten,  die  in  den  Gebauden  der  barocken  Abtei  untergebracht 
ist.  Diese  sind  ihren  Motiven  nach  auBergewohnlich  und  mit  keinen  derbisherer- 
wahnten  Bilder  in  Verbindung  zu  bringen.  Auf  sechs  bzw.  acht  Olgemalden  des 
17.  Jahrhunderts  werden  Welfen  in  einer  iiberraschenden  Auswahl  prasentiert. 
Gezeigt  werden  Welf  II.,  Welf  III.,  Welf  IV.  undjudith  von  Flandern,  Welf  V.  und 
sein  B ruder  Heinrich  der  Schwarze.  Zudem  gehoren  die  Konige  Pippin  d.J.  und 
Heinrich  von  Bohmen78  sowie  der  Heilige  Benedikt  und  der  Heilige  Alto  sowie 
einige  Abte  des  Klosters  zu  dieser  Bildergalerie.  Die  Anwesenheit  Pippins  ist  zu 
erklaren,  da  er  die  Griindung  des  HI.  Alto,  Altomiinster,  unterstiitzte.  Dieses  wie- 
derum  war  der  urspriingliche  Ort  des  Benediktinerkonvents  von  Weingarten. 
Von  daher  kann  Pippin  auch  als  ein  Unterstiitzer  Weingartens  betrachtet  werden. 


richs  des  Schwarzen, Judiths  von  Flandern  und  Wulfhilds  Billung.  In  der  Handschrift  HB  V, 
5  hat  Gabriel  Bucelin  einige  der  Welfen  in  hofischer  Kleidung  seiner  Zeit  nochmals  gezeich- 
net.  Zu  den  hier  ausgewahlten  gehoren:  fol.  535r:  Isenbart,  fol.  538v:  Welf  I.,  fol.  541  r:  Heil- 
wig,  fol.  541  v:  Ludwig  der  Fromme,  fol.  542  v:  Judith,  fol.  543  r:  Kaiser  Ludwig,  fol.  543  v:  Ju- 
dith, Konigin  der  Angelsachsen,  Frau  Etichos(-Welfs),  fol.  544r:  Eticho(-Welf),  fol.  545v: 
Heinrich  („mit  dem  goldenen  Wagen"),  fol.  549  r:  Welf  II.  und  Abt  Rudolf  von  Altomiinster, 
fol.  550r:  Welf  II.,  fol.  554r:  Welf  III.,  fol.  567r:  unterhalb  der  von  zwei  Putten  gehaltenen 
HI. -Blut- Reliquie  Welf  V.  und  Heinrich  der  Schwarze.  In  der  Regel  fiigte  Bucelin  zu  den  Bil- 
dern  kurze  beschreibende  Texte  bei,  in  den  Fall  der  Reiterstandbilder  als  Inschriften  im  Sok- 
kel,  in  dem  anderen  Fall  begleitend  rechts  und  links  der  gezeigten  Personen. 

77  New  York,  Pierpont  Morgan  Library,  MS.  709,  fol.  1  v  (Kreuzigungsszene  mitjudith- 
Darstellung  am  FuB  des  Kreuzes)  und  Fulda,  Landesbibliothek,  Aa  21,  fol.  2v  (Widmungs- 
bild  der  Judith);  Abbildung:  900  Jahre  Heilig-Blut-Verehrung.  Festschrift  1,  wie  Anm.  21, 
S.  4  Abb.  2  und  S.  66  Abb.  82;  vgl.  zu  der  erstgenannten  Handschrift  ferner  Christine  Jakobi- 
Mirwald,  Kreuzigung  und  Kreuzabnahme  in  den  Weingartener  Handschriften  des  12.  und 
13.  Jahrhunderts,  in:  ebd.  S.  185-208,  bes.  S.  186f. 

78  Konig  Heinrich,  Inschrift  HENRICUS  REX  BOHEMIAE,  DVX  CARINTHIAE, 
COMES  TIROLIS  ;  Heinrich,  Herzog  von  Karnten  und  Graf  von  Tirol,  der  1307  gegen  den 
Widerstand  der  Habsburger  zum  Konig  von  Bohmen  -  wohl  aufgrund  seiner  Ehe  mit  der 
Premyslidin  Anna  -  gewahlt  worden  war.  Seine  Eltern  waren  Meinhard  II.  von  Gorz-Tirol 
und  die  Wittelsbacherin  Elisabeth,  die  Witwe  Konrads  IV. 


274  Nathalie  Kruppa 

Eine  Verbindung  Konig  Heinrichs  von  Bohmen  (f  1335)  zu  Weingarten  ist  hin- 
gegen  nicht  erkennbar. 

Die  Darstellungder  Welfen  (Abb.  11:  Welf  IV.)  undihre  Auswahl  ist  ungewohn- 
lich.  Wenn  nicht  Welf  I.  fehlen  wiirde,  konnte  man  meinen,  daB  vor  allem  diejeni- 
gen  Mitglieder  der  Familie  zusammengestellt  wurden,  die  „Welf"  hieBen.  Aber 
auch  hier  gibt  es  zwei  Ausnahmen:  Judith  von  Flandern79  sowie  Heinrich  der 
Schwarze.  Judiths  Bedeutung  fur  Weingarten  ist  bereits  dargestellt  worden.  Auf- 
fallig  hingegen  ist  das  Fehlen  Welfs  VI.  oder  Heinrichs  „mit  dem  goldenen 
Wagen",  der  in  den  schriftlichen  Quellen  des  Mittelalters  als  Griinderdes  Klosters 
gait.  Wahrend  Judith  in  den  sonst  bekannten  Darstellungen  mit  der  Heilig-Blut- 
Reliquie  gezeigt  wird  und  sie  dabei  stets  ein  Reliquienkastchen  in  Handen  hat, 
wie  es  seit  derZeit  AbtBertolds  (1200-1232)  in  Weingarten  vorhanden  war,80  wur- 
de  bei  diesem  Gemalde  eine  andere  Form  gewahlt.  Judith  halt  nicht  das  Reliquiar 
in  ihren  Handen,  sondern  einen  Krug.  Im  Bildhintergrund  ist  -  in  einem  zweiten, 
eingeschobenen  Bild  -  die  Ubergabe  der  Reliquie  an  die  Herzogin  zu  sehen. 

Welf  IV.  (Abb.  11),  der  hier  stellvertretend  abgebildet  wird,  ist  mit  einem  hel- 
len,  weiB-goldenen  Untergewand  bekleidet,  dariibertragt  er  einen  blau-goldenen 
Mantel  ohne  Armel.  Eine  goldene  Kette  und  ein  Giirtel  schmiicken  den  Herzog, 
seine  linke  Hand  stiitzt  er  auf  sein  Schwert,  mit  der  rechten  halt  er  einen  Federkiel, 
mit  dem  er  etwas  auf  einem  Blatt  notiert.  Er  erscheint  vollbartig  und  mit  kurzen 
halbdunklen  Haaren  sowie  mit  einem  groBen  Hut  mit  einer  blauen  Feder.  Der 
Bildhintergrund  ist  dunkel,  links  ist  ein  blauer  Vorhang,  rechts  oben  ein  kleines 
Bild  eingeblendet.  Auf  diesem  sind  eine  Felsenlandschaft  und  ein  Ochsenge- 
spann  zu  erkennen.  Ein  Zusammenhang  mit  der  Person  des  Welfen  ist  nicht  zu 
finden.  Inschrift:  GVELPHVS  QVARTVS.  Wer  diese  Bildergalerien  der  Welfen 
und  Abte  wann  und  zu  welchem  Zweck  malte,  ist  unbekannt.  Sie  wurden  Mitte 
der  50er  Jahre  des  vorigen  Jahrhunderts  im  Fundus  des  Klosters  wiederentdeckt 
und  im  Zuge  der  Restaurierung  der  Klostergebaude  1952/56  an  ihren  heutigen 
Aufbewahrungsort,  den  Audienzsaal,  gebracht. 

Die  Darstellungen  der  Welfen  in  den  siiddeutschen  Klostern  Weingarten,  Steinga- 
den  und  Rottenbuch,  von  denen  hier  ein  Teil  iiberblicksartig  vorgestellt  wurde,81 


79  Abbildung:  siehe  900  Jahre  Heilig-Blut-Verehrung.  Festschrift  1,  wie  Anm.  21,  S.  269 
Abb.  208. 

80  Das  Reliquiar  ist  in  seiner  Form  bis  heute  nahezu  unverandert  erhalten,  wenn  auch  in 
einer  zuletzt  1956  erschaffenen  Version.  Heute  wird  es  im  Hauptaltar  der  Klosterkirche  auf- 
bewahrt.  Rudolf,  wie  Anm.  71,  S.  268-278  mit  zahlreichen  Abbildungen.  Zu  der  Reliquie 
siehe  auch  Norbert  Kruse,  Der  Weg  des  Heiligen  Blutes  von  Mantua  nach  Altdorf- Weingar- 
ten, in:  ebd.  S.  57-76. 

81  Eine  umfangreiche  Ausarbeitung  der  hier  skizzierten  Phanomene  ist  geplant. 


Illuminierte  Herrscher 


275 


Abb.  11: 

Weingarten, 

Pddagogische 

Hochschule, 

Audienzaal: 

WelflV. 

(Foto:  Kruppa). 


zeigt  eine  bestimmte  Auswahl.  Je  weiter  das  Leben  der  Personen  zuriicklag,  desto 
unklarer  wurden  die  Darstellungen  und  knapper  die  begleiteten  Texte,  wie  z.  B. 
die  Asam-Fresken  oder  aber  auch  die  begleitenden  Texte  in  den  Stifterbiichlein 
zeigen.  Deutlich  wird  dies  vor  allem  auch  im  Fall  der  Welfengenealogie  in 
Steingaden  (Abb.  1),  die  eine  eigene  Legende  des  Welfennamens  zeigt,  nicht  nur 
die  ,iibliche'  Catilina-Erklarung,  wie  sie  in  der  Historia  Welforum  iiberliefert  ist. 
Die  Geschichte  von  Isenbart,  seiner  Frau  Irmentrud  und  ihrer  zwolf  Sonne,  der 
„kleinen  Welpen",  zeigt  eine  Variante  des  spielerischen  Umgangs  mit  dem  Wel- 
fen-Namen.  In  der  Genealogia  Welforum  sowie  in  der  Historia  Welforum  gehen  die 
Autoren  im  fiinften  bzw.  zweiten  Kapitel  auf  die  Herkunft  des  Welfennamens  ein. 
In  beiden  Texten  beruht  die  Gleichsetzung  des  Namens  ,Welf  =  Catilina  (=  catu- 
lus) .  Zugleich  berichten  die  Autoren  von  einem  Adligen,  der  seinen  Aufenthalt 
beim  Kaiser  abkiirzen  wollte,  weil  seine  Frau  ein  Kind  geboren  hat.  Der  Kaiser 
bemerkte,  daB  er  ihn  fur  einen  „Welfen"  -  gleichzusetzen  mit  Welpen?  -  verlassen 
wollte,  worauf  dieser  meinte,  der  Kaiser  hatte  seinem  Sohn  einen  Namen  gege- 


276  Nathalie  Kruppa 

ben.82  Diese  Berichte  fiihrten  dazu,  daB  in  der  Forschung  die  Entwicklung  des 
Welfennamens  „Welf"  =  „Welpe"  =  leo  [(kleiner)  Lowe]  verfolgt  wurde,  und 
schlieBlich,  daB  die  Bezeichnung  leo,  wie  sie  vor  allem  bei  Heinrich  dem  Lowen 
iiberliefert  ist,  fur  die  Zugehorigkeit  zur  Welfenfamilie  stehen  sollte.  Diese  Gleich- 
setzung  hat  sich  angeblich  im  12.  Jahrhundert  entwickelt,  bildlich  soil  sie  in  der 
Symbolik  des  welfischen  Lowenwappens  auf  Siegeln  und  Miinzen  sowie  schlieB- 
lich 1166  im  Braunschweiger  Burglowen  zum  Ausdruck  gekommen  sein.83 

In  keinem  der  anderen  Kloster  ist  die  vorgenannte  Steingader  Geschichte  so- 
weitbekannt  odergangig,  daB  sie  bildlich  dargestellt  wurde.84  Die  Illustrationen 
der  Welfengenealogie  in  Steingaden  weisen  aber  noch  weitere  Besonderheiten 
auf:  Die  erwahnte  Illustration  Ethelindes  von  Northeim,  der  ersten  Frau 
Welfs  IV.,  gehort  ebenso  dazu  wie  das  Bildnis  Heinrichs  des  Stolzen  mit  seiner  Fa- 
milie,  die  -  bis  auf  die  Bilder  in  den  Stifterbiichlein  -  in  keinem  der  anderen  Klo- 
ster belegt  sind. 

Stabil  hingegen  ist  die  Abfolge  der  anderen  Darstellungen:  Heinrich  -  Welf  - 
Rudolf  -  Welf  II.  bis  Welf  VI.  und  Heinrich  den  Schwarzen.  Diese  -  durch 
Schriftquellen  belegte  Genealogie  -  wird  in  verschiedenen  Bildern,  die  zum  Teil 
motivisch  voneinander  abhangen,  gezeigt.  Eine  besondere  Rolle  spielten  vor  al- 
lem in  Weingarten  und  Rottenbuch  Welf  IV.  und  Judith  von  Flandern,  wahrend 
Welf  VI.  und  seinem  Sohn  eine  herausragende  Rolle  in  Steingaden  zuerkannt 
wurde.  In  alien  drei  Fallen  war  die  Stifterrolle  der  Ausloser. 

Die  Wiederaufnahme  der  Darstellungen  der  Welfen  in  den  drei  erwahnten 
Klostern  im  Zuge  der  Renovierungen  und  Barockisierungen  (Rottenbuch  und 
Steingaden)  bzw.  dem  barocken  Neubau  (Weingarten)  laBt  sich  problemlos  erkla.- 
ren.  Wenn  auch  die  damaligen  norddeutschen  Welfen  an  den  Arbeiten  nicht  be- 


82  Genealogia  Welforum,  wie  Anm.  1,  cap.  S.  24;  Historia  Welforum,  wie  Anm.  1, 
cap.  2,  S.  36/38;  vgl.  hierzu  Becher,  wie  Anm.  4,  S.  172-176. 

83  Siehe  Peter  Seiler,  Welfischer  oder  koniglicher  Furor?  Zur  Interpretation  des  Braun- 
schweiger Burglowen,  in:  Xenja  von  Ertzdorff  (Hg.),  Die  Romane  von  dem  Ritter  mit  dem 
Lowen,  Amsterdam  1994,  S.  135-183,  mit  Zusammenfassung  und  Kommentaren  zu  der  bis- 
herigen  Erforschung  des  Welfennamens;  vgl.  hierzu  Becher,  wie  Anm.  4,  S.  156-198;  siehe 
auch  Dirk  Jackel,  Der  Herrscher  als  Lowe.  Ursprung  und  Gebrauch  eines  politischen  Sym- 
bols im  Friih-  und  Hochmittelalter,  Koln/ Weimar /Wien  2006,  S.  48-74  gegen  die  mittelal- 
terliche  Gleichsetzung  „Welf"  =  catulus  =  leo;  alle  mit  weiterfiihrenden  Literatur. 

84  Allerdings  ist  diese  Sage  nicht  vollig  unbekannt,  fand  sie  doch  Eingang  in  die  Sagen- 
Sammlung  der  Briider  Grimm,  siehe  Briider  Grimm,  Deutsche  Sagen  2,  hrsg.  von  Hans-Jorg 
Uther,  Miinchen  1993,  S.  463 f.,  nach  Reiner  Reineccius,  Chronica  des  Chur-  u[nd]  Fiirstli- 
chen  Hauses  der  Marggraffen  zu  Brandenburg  etc.  Burggraffen  zu  Nurnberg  etc.  darinen  6r- 
dentlich  verfasset,  erstlich  zwo  unterschiedliche  kurtze  Beschreibunge  von  der  uhralten 
Welffen,  Hertzogen  zu  Bayern,  Graffen  zu  Altorff,  Herrn  zu  Ravesburg  etc.  .  .  .,  Wittenberg 
1580,  S.  12-23. 


Illuminierte  Herrscher  277 

teiligt  waren  und  diese  Kloster  ignorierten,  wurden  die  friihen  Welfen  hier  weiter- 
hin  als  Stifter  gefeiert.  So  fallen  letztendlich  all  die  Abbildungen  in  den  Bereich 
der  liturgischen  Memoria,  denn  ein  groBer  Teil  der  Bilder  befand  sich  im  kirchli- 
chen  Bereich  der  Kloster.  Die  heute  erhaltenen  Bilder  gehen  zwar  nur  ungefahr 
bis  zum  Jahr  1500  zuriick,  es  ist  aber  wahrscheinlich,  daB  es  in  den  Klostern  im- 
mer  Welfenbilder  gegeben  hat.  Im  Fall  von  Steingaden  ist  dies  durch  das  gemein- 
same  Epitaph  Welfs  VI.  und  des  VII.  belegt,  das  im  Stich  Josef  Anton  Zimmer- 
manns  iiberliefert  ist.  In  Weingarten  deutet  dies  eine  Zeichnung  Bucelins  an.  Die 
Darstellung  der  St.-Oswald-Kapelle  der  vorbarocken  Klosterkirche  zeigt  zwolf 
Bilder  der  hier  bestatteten  Welfen  als  Epitaphien  an  der  Wand  der  Kapelle.85  Fer- 
ner  sind  an  einem  Stuck  der  erhaltenen  Mauer  des  Siidschiffs  der  romanischen 
Klosterkirche  Reste  von  Fresken  mit  Welfenbildern  in  ganzer  Figur  erhalten.86 

In  alien  Klostern  brechen  die  Darstellungen  der  Welfen  mit  Welf  VI.  oderHein- 
rich  dem  Schwarzen  ab.  Die  „welfischen"  Schriftquellen  und  die  Stifterbiichlein 
bieten  eine  Erklarung  dafiir.  Nicht  Heinrich  der  Stolze  und  sein  Sohn  Heinrich 
der  Lowe  galten  in  den  Quellen  als  Nachfolger  Welfs  VI.,  sondern  Friedrich  Bar- 
barossa  und  dessen  Sonne.  Die  Historia  Welforum  erklart  dies  mit  den  Erbver- 
handlungen  Welfs  VI.  mit  seinem  Neffen  Heinrich  dem  Lowen  und  dann  dem 
Kaiser.  Im  Weingartener  Necrolog  wurde  es  sogar  mit  der  Bemerkung  verdeut- 
lich,  Welf  VI.  sei  der  letzte  Welfe  -  Welfo  dux  ob[iit],  Welfonium  ultimus.87  In  der 
Handschrift  Fulda,  Landesbibliothek  D  11,  die  sowohl  das  Weingartener  Necro- 
log als  auch  die  alteste  dortige  Historia- Welforum-Handschrift  enthalt,  wird  dies 
besonders  deutlich  dargestellt.  Diese  Handschrift,  nachtraglich  aus  mehreren  ur- 
spriinglich  unabhangigen  Manuskripten  zusammengebunden,  zeigt  auf  fol.  13v 
die  letzte  Seite  des  Necrologs  mit  dem  oben  angesprochenen  beriihmten  Welfen- 
stammbaum  und  -  in  der  Art  eines  Widmungsbildes  -  auf  fol.  14 r  die  erste  Seite 


85  Stuttgart,  Wiirttembergische  Landesbibliothek,  HB  V,  3,  fol.  180r;  Abbildung:  Ru- 
dolph/Gunthor,  wie  Anm.  49,  S.  6;  vgl.  auch  die  Tabelle  im  Anhang. 

86  Hecht,  wie  Anm.  71,  S.  261f. 

87  Necrologium  Weingartense,  in:  MGH  Necrologia  1,  wie  Anm.  27,  S.  230:  Welfo  dux 
ob.,  Welfonium  ultimus,  filius  Heinrici  ducis,  qui  inter  alia  beneficia  dedit  nobis  duas  curias 
Berge  et  Willare.  Vgl.  auch  E  Continuatione  Chronici  Hugonis  a  S.  Victore  Weingartensi,  wie 
Anm.  1,  S.  98:  Anno  MCXCI XVIII Kal.  Januarias  Welfo  nobilis  Altorfensis,  principum  nostrorum 
illustrissimus,  Heinrici  ducis  videlicet  et  Woulfhildis filius,  came  solutus  migravit  a  saeculo.  In  quo 
nobilitas  Altorfensium  non  mediocriter  completa  desiit  (Sperrungen  Kruppa).  Eine 
andere,  allerdings  vereinzelte  Darstellung  aus  Sachsen  bittet  die  Chronik  des  Klosters  St. 
Michael  in  Liineburg:  Iste  predictus  Ottonis  [Otto  das  Kind  von  Braunschweig-Liineburg 
(t  1252)]  filius  Willehelmi,  solus  superstes  illius  nobilissime  generationis,  que  de  Althorp  et  Ravens- 
burg  nominatur .  .  .,  nach  Ludwig  Weiland  (Hrsg.),  Chronicon  s.  Michaelis  Luneburgernsis, 
in:  MGH  SS  23,  Hannover  1874,  S.  397. 


278  Nathalie  Kruppa 

der  Historia  Welforummit  derDarstellungFriedrich  Barbarossas  und  seiner  Sohne 
Heinrich  VI.  und  Friedrich  von  Schwaben.88  Neben  den  vorhin  erwahnten  Be- 
gleittexten  der  Stifterbiichlein  und  der  dortigen  Bilder  ist  dies  ein  deutlicher 
Hinweis,  daB  die  Weingartner  die  Staufer  als  die  wahren  Welfenerben,  ja  letztiich 
als  Welfen  angesehen  haben. 

Nicht  nur  in  Weingarten  gab  es  einen  Traditionsbruch.  Auch  die  norddeut- 
schen  Welfen,  Heinrich  der  Lowe  und  seine  Nachkommen,  vollzogen  einen  sol- 
chen.  Auf  dem  beriihmten  Kronungsbild  aus  dem  Evangeliar  Heinrichs  des  Lo- 
wen  werden  seine  Vorfahren  gezeigt: 89  So  ist  sein  Vater  Heinrich  der  Stolze  dar- 
gestellt,  daneben  seine  Mutter  Gertrud  von  Siipplingenburg  -  und  allein  deren 
Eltern,  Kaiser  Lothar  III.  und  Richenza  von  Northeim.  Ebenso  betont  die  Weihe- 
notiz  des  Marienaltars  in  der  Braunschweig  Stiftskirche  St.  Blasius  die  Herkunft 
Heinrichs  von  Lothar  (filio  filie  Lotharii)  .90  In  eine  ahnliche  Richtung  lieBe  sich 
auch  das  Widmungsgedicht  des  Evangeliars  interpretieren,  das  erwahnt,  daB 
Heinrich  ein  Nachkomme  der  Karolinger  ist  und  auf  seine  kaiserlichen  Ahnen  - 
also  neben  den  Karolingern  wieder  auf  Lothar  -  hinweist,91  denn  seine  Karolin- 


88  Abbildungen:  Heinrich  der  Lowe  und  seine  Zeit  1,  wie  Anm.  1,  S.  64  (Stammbaum) 
und  S.  69  (Stauferbild);  vgl.  Oexle,  wie  Anm.  31,  passim. 

89  Abbildung  des  Kronungsbildes:  Heinrich  der  Lowe  und  seine  Zeit  1,  wie  Anm.  1, 
S.  152  D  31. 

90  Heinrich  der  Lowe  und  seine  Zeit  1,  wie  Anm.  1,  S.  193f.  D  26:  +  ANNO  .  D(omi)NI . 
M  .  C  .  LXXX  .  VII  .  DEDICATV(m)  .  EST .  HOC  .  ALTARE  IN  HONORE  .  BEATE  .  DEI 
.  GENITRICIS  .  MARIE  .  /  +  AB  .  ADELOGO  .  VENERABILI  .  EP(iscop)0  .  HIL- 
DESEM(en)SI  .  FVNDATE  .  AC  .  PROMOVE(n)TE  .  ILLVSTRI  .  DUCE  .  HENRICO  .  / 
+  FILIO  .  FILIE  .  LOTHARII  .  INPERATORIS  .  ET  RELIGIOSISSIMA  .  EVIS  .  CON- 
SORTE  .  MATHILDI  .  /  +  FILIA .  HENRICI  .  SECVNDI  .  REGIS  .  ANGLOR(um)  .  FILII 
.  MATHILDIS  .  I(m)P(er)AT(r)ICIS  .  ROMANOR(um).  Zum  Altar  siehe  ebd.  S.  192ff.  D 
26;  Oexle,  Adliges  Selbstverstandnis,  wie  Anm.  3,  S.  63f.  zu  der  Weihenotiz,  zum  Her- 
kunftsbewuBtsein  Heinrichs  siehe  ebd.  S.  71-75. 

91  Zum  Widmungsgedicht  siehe  beispielsweise:  Elisabeth  Klemm,  Das  Evangeliar  Hein- 
richs des  Lowen,  Frankfurt  am  Main  1988,  S.  36f.  und  Taf.  1;  siehe  auch  Odilo  Engels,  Fried- 
rich  Barbarossa  und  die  Welfen,  in:  Jehl,  wie  Anm.  2,  S.  59-74,  hier  S.  67-72;  und  die  ver- 
schiedenen  Arbeiten  von  Oexle,  die  sich  mit  der  welfischen  Memoria  beschaftigen,  wie  z.B. 
Oexle,  Memoria  Heinrichs  des  Lowen,  wie  Anm.  3;  Ders.,  Welfische  Memoria,  wie  Anm.  3, 
S.  85-90;  Ders.,  Fama  und  Memoria,  wie  Anm.  3.  Bernd  Schneidmuller,  Kronen  im  gold- 
glanzenden  Buch:  Mittelalterliche  Welfenbilder  und  das  Helmarshausener  Evangeliar  Hein- 
richs des  Lowen  und  Mathildes,  in:  Ingrid  Baumgartner  (Hrsg.),  Helmarshausen.  Buchkul- 
tur  und  Goldschmiedekunst  im  Hochmittelalter,  Kassel  2003,  S.  123-146,  bes.  S.  127-131  zum 
Widmungsbild  und  -gedicht,  S.  127  zur  urspriinglichen  Bindung  der  Handschrift,  nach  der 
das  Widmungsgedicht  sowie  das  Stifterbild  wahrscheinlich  nebeneinander  standen, 
S.  132 ff.  zum  Kronungsbild  und  der  Auswahl  der  Vorfahren  des  Paares,  die  -  wie  im  Ge- 
dicht -  vor  allem  die  koniglichen  und  kaiserlichen  Ahnen  betonten. 


Illuminierte  Herrscher  279 

gerherkunft  ist  iiber  Lothars  Ehefrau  Richenza  von  Northeim  und  ihre  brunoni- 
sche  Mutter  Gertrud  abzuleiten.92 

Die  Abgrenzung  Heinrichs  des  Lowen  von  seinen  siiddeutschen  Vorfahren 
wird  noch  an  einem  weiteren  Punkt  deutlich:  der  Namensgebung  seiner  Kinder. 
Keines  trug  einen  „welfischen"  Namen  wie  WelLJudith,  Konrad  oder  Rudolf.  Nur 
der  Name  Heinrich,  den  zwei  seiner  Sonne  aufwiesen,  konnte  auf  die  Welfen  ver- 
weisen,  aber  spatestens  bei  Pfalzgraf  Heinrich,  dem  jiingeren  gleichnamigen 
Sohn  des  Herzogs,  kann  derNamenspate  ebensogut  dessen  englischerGroBvater, 
Konig  Heinrich  II.,  gewesen  sein.93 

Die  vorgestellten  Welfen-Bilder  zeigen,  daB  vor  allem  in  den  drei  siiddeutschen 


92  Schneidmuller,  wie  Anm.  91,  S.  127  weist  darauf  hin,  daB  auch  iiber  die  Welfen 
selbst  -  iiber  Judith  von  Flandern  -  eine  Karolingerverwandtschaft  Heinrichs  des  Lowen  be- 
stand.  Judith  von  Flandern  bzw.  ihre  Familie  waren  tatsachlich  iiber  zwei  Vorfahrinnen  mit 
den  Karolingern  verwandt.  Zu  einen  war  da  die  Ahnin  der  Grafen  von  Flandern,  Judith 
(t  nach  870),  die  Tochter  Karls  des  Kahlen  (f  877),  die  Balduin  I.  (f  879)  entfiihrte  und  ehe- 
lichte,  zum  anderen  die  Ehefrau  Arnulfs  I.  von  Flandern  (t  964),  Adela  von  Vermandois 
(t  960),  die  aus  einer  Karolingernebenlinie  (Nachkommen  Karlmanns  gen.  Pippin,  Konig 
von  Italien  [f  810])  abstammte,  vgl.  Adriaan  Verhulst,  Art.  Flandern,  in:  Lexikon  des  Mit- 
telalters  4,  1989,  Sp.  514-518,  hier  Sp.  514;  Erich  Brandenburg,  Die  Nachkommen  Karls  des 
GroBen.  Faksimile-Nachdruck  mit  Korrekturen  und  Erganzungen  versehen  von  Manfred 
Dreiss  und  Lupoid  von  Lehsten,  Neustadt  an  der  Aisch  1995,  Tafel  1,  2,  5  sowie  S.  109 
Anm.  1,  S.  Ill  Anm.  33,  S.  114  Anm.  3,  S.  116  Anm.  20;  Karl  Ferdinand  Werner,  Die  Nach- 
kommen Karls  des  GroBen  bis  um  das  Jahr  1000,  in:  Wolfgang  BRAUNFELs/Percy  Ernst 
Schramm  (Hrsg.),  Karl  der  GroBe.  Lebenswerk  und  Nachleben  4:  Das  Nachleben,  Diissel- 
dorf  1967,  S.  403-482,  passim.  Die  Karolingerherkunft  Richenzas  von  Northeim  (f  1141)  ist 
iiber  die  Familie  ihrer  Mutter,  Gertrud  d.  J.  „von  Braunschweig"  (t  1117)  und  ihre  UrgroB- 
mutter,  (Kaiserin)  Gisela  von  Schwaben  (f  1043),  gegeben.  Diese  stammte  miitterlicherseits 
aus  dem  burgundischen  Konighaus  der  Rudolfinger  und  ihre  GroBmutter  Mathilde  d'Outre 
Mer  (f  981/82)  war  eine  Karolingerin,  Tochter  Ludwigs  IV.  (f  954),  der  zu  den  Nachkom- 
men Kaiser  Karls  des  Kahlen  (t  877)  gehorte,  vgl.  Brandenburg,  wie  eben,  Tafel  1  und  5  so- 
wie S.  118  Anm.  33,  S.  121f.  Anm.  52;  Rudolf  Schieffer,  Die  Karolinger,  Stuttgart  42006, 
Stammtafel  6;  Schneidmuller,  Welfen,  wie  Anm.  1,  S.  90. 

93  Somit  bliebe  nur  Heinrichs  des  Lowen  altester  Sohn  Heinrich,  der  in  jungen  Jahren 
verstarb,  als  Trager  eines  „welfischen"  Namens  iibrig.  Die  Tochter  Gertrud  (f  1196)  aus  der 
Ehe  mit  Clementia  von  Zahringen  ist  sicher  nach  ihrer  GroBmutter,  Gertrud  von  Supplin- 
genburg,  benannt.  Richenza  (f  als  Kind),  die  alteste  Tochter  Mathildes  von  England,  tragt 
den  Namen  Kaiserin  Richenzas,  der  GroBmutter  Heinrichs  des  Lowen;  Lothar  (f  1190)  si- 
cher den  seines  GroBvaters,  Kaiser  Lothar  III.  Wilhelm  (f  1212/13)  weist  wiederum  in  die 
Familie  Mathildes,  auf  die  Anjou-Planaganet  hin,  wahrend  Mathilde  (f  vor  1219)  -  sowie  ih- 
re Schwester  Richenza  (f  1208/09),  die  spaterin  Mathilde  umbenannt  wurde  -  auf  ihre  Mut- 
ter sowie  ihre  UrgroBmutter,  die  Mutter  Konig  Heinrichs  II.,  verweisen,  Jackel,  wie 
Anm.  83,  S.  62-67,  der  im  Ubrigen  die  Ansicht  vertritt,  daB  Heinrich  der  Lowe  sich  vor  allem 
auf  seine  sachsischen  und  nicht  auf  die  welfischen  Vorfahren  berief. 


280  Nathalie  Kruppa 

Welfenklostem  Weingarten,  Steingaden  und  Rottenbuch  mit  verschiedener  Ge- 
wichtung  ihrer  Griinder  und  Forderer  gedacht  wurde.  Schon  das  Mittelalter  legte 
hier  die  Grundlagen,  ausjedem  der  mit  den  Welfen  verbundenen  Klosterist  min- 
destens  eine  Abschrift  einer  Historia  Welforum  bekannt.  Diese  sind  grundsatzlich 
mit  einem  graphischen  Welfen stammbaum  verbunden.  Ab  dem  spaten  Mittelal- 
ter, dem  15.  Jahrhundert,  sind  auch  andere  bildliche  Darstellungen  iiberliefert. 
Wahrend  sich  diese  in  den  Stiften  Steingaden  und  Rottenbuch  auf  ihre  Stifter 
konzentrierten,  im  Fall  von  Steingaden  auf  Welf  VL  und  seinen  Sohn  Welf  VII., 
in  Rottenbuch  auf  Welf  IV  und  seine  Frau  Judith  von  Flandern,  waren  in  Wein- 
garten die  Darstellungen  umfassender.  In  seiner  Funktion  als  das  Grabkloster  der 
friihen  Welfen,  von  Heinrich  „mit  dem  goldenen  Wagen",  also  ab  dem  10.  Jahr- 
hundert, bis  zu  Heinrich  dem  Schwarzen  und  seiner  Frau  Wulfhild  Billung  sowie 
einer  ihrer  Tochter,  Sophia,  dienten  diese  Bilder  der  Erinnerung,  der  Memoria, 
der  Familie.  Diese  endete  nicht  mit  dem  Wegzug  der  Welfen,  Heinrichs  des  Stol- 
zen  und  seiner  Nachkommen,  nach  Sachsen,  und  auch  nicht  mit  dem  Aussterben 
der  Staufer  in  der  Mitte  des  13.  Jahrhunderts,  sondern  wurde  in  der  gesamten  frii- 
hen Neuzeit,  bis  zur  Aufhebung  der  Kloster  wahrend  der  Sakularisation  weiter 
gepflegt. 


281 


Anhang 

Die  in  Weingarten  den  verschiedenen  Quellen  zufolge 
bestatteten  Welfen 


Necrologium 

Gabriel  Bucelin 

Asam-Fresken, 

Inschrift 

Weingartense, 

in:  Stuttgart, 

nach  den 

in  der  heutigen 

wie  Anm.  87, 

Wiirttembergische 

Abbildungen  in: 

Welfengruft, 

S.  221-232. 

Landesbibliothek, 

Spahr, 

nach  Spahr, 

HB  V,  3  fol.  180r 

wie  Anm.  44. 

wie  Anm.  44,  S.  171. 

(St.-Oswald-Kapelle), 

vgl.  Anm.  85 

(Abb.-Nachweis) . 

H 


einncus 


HEINRICUS 
ALTOFFENSIS 
COMES  PRIMUS 
[mit  „dem  goldenen 
Wagen"]  ... 
OSSA  EIUS  ... 
HUC  TRANSLATA 
SUNT 


Hatta 


HATTA  COMITIS- 
SA  AB  HOCHEN- 
WART  ...  OSSA 
EIUS  ...  SUNT 
TRANSLATA 


08.02.:  Heinricus  com. 
[Bruder  Welfs  II.], 
filius  Ruodolfi  comitis, 
hie sepultus  ... 


Heinricus 


. . .  filii  eius  [Rudolfi] 
Henricus  ... 


05.03.:  Judita  dux, 
regina  Anglie,  hie 
sepulta  ... 


Judith 


IUDITHA  ...  FI 
LIA  BALDUINI 
FLANDRIAE 
COM.  ...  AN: 
MXCIIII.  HIC 
SEPULTA 


Juditha  conjux  eius 
[WelflV.]. 


10.03.:  Rudolfus 
com.,fratersancti 
Chuonradi . . . 


Rudolph 


RUDOLPHUS 
FILIUS  HENRICI 
...  OSSA  EIUS  ... 
TRANSLATA 


Rudolphus  . 


282 


Nathalie  Kruppa 


Necrologium 

Gabriel  Bucelin 

Asam-Fresken, 

Inschrift 

Weingartense, 

in:  Stuttgart, 

nach  den 

in  der  heutigen 

wie  Anm.  87, 

Wiirttembergische 

Abbildungen  in: 

Welfengruft, 

S.  221-232. 

Landesbibliothek, 

Spahr, 

nach  Spahr, 

HB  V,  3  fol.  180r 

wie  Anm.  44. 

wie  Anm.  44,  S.  171. 

(St-Oswald-Kapelle), 

vgl.  Anm.  85 

(Abb.-Nachweis). 

10.03.:  ...  et  Welf  [II.]    Guelpho 
filius  eius  [Ruodol- 
fi\,  ...  hie sepulti ... 

11.07.:  Suophia  com"       Sophia 
de  Stira,  hie  sepulta  . . . 


GUELPHO  II. 
...  OSSA  EIUS 
HIC  SEPULTA 

SOPHIA  FILIA 
HENRICI  ...  HIC 

SEPULTA 


...  filii  eius 

[Rudolfi]  ...  WelfoII. 


24.09.:  WelfPinguis 
dux  [V.],  hie  sepultus 


09.11.:  Welfodux 
senior  [IV.],  hie 


Guelpho 


Guelpho 


sepultus  . 


GUELPHO  V. 
DUXNORI 
COUM  ...  AN: 
MCXVIII.  HIC 
SEPULTUS 

GUELPHO  IV. 
DUXNORICO 
RUM  ...  ANNO 
MCI.  HIC 
SEPULTUS 


Welfo  V,  dux 
Bavariae. 


Welfo  IV.  dux 
Bavar.,  Sator 
posted,  familiae. 


13.11.:  Welfodux 
Carinthie  [III.],  hie 
sepultus  ... 


13.12.:  Heinricus  dux 
[der  Schwarze]  et 
m.n.c,  ...,  hie  sepultus 


Guelpho 


Heinricus 


GUELPHO  III. 
DUX  CARIN 
THIAE  ...  AN: 
MLV  HIC 

SEPULTUS 


Welfo  III. 


Henricus  Niger,  dux, 


29.12.:  Wuolhildis 
[Billung]  ducissa,  hie 
sepulta 


Wulphild 


conjux  eius  [Henric 
Niger]  Wulphilidis 


Organisationsstrukturen  der  Bergbauverwaltung 

als  Elemente  des  fruhneuzeitlichen 

Territorialstaates 

Das  Beispiel  Braunschweig-Wolfenbuttel 
Von  Hans-Joachim  Kraschewski 


Fur  Karl  Heinrich  Kaufhold,  Gottingen, 
zum  75.  Geburtstag 


Die  Landesherren  in  Zentral-Europa,  die  Inhaber  des  Bergregals  waren,  bemiih- 
ten  sich  seit  dem  16.  Jahrhundert  zunehmend,  die  Kontrolle  iiber  den  finanziell 
lukrativen  Bergbau  auszudehnen,  um  am  Bergsegen  in  ihren  Landern  nicht  nur 
durch  fiskalische  Abgaben,  sondern  auch  durch  eigene  unternehmerische  Aktivi- 
taten  und  direkte  Unternehmergewinne  teilzuhaben.  Sie  sahen  sich  nicht  mehr 
nur  als  Regalherren  ihres  Montanwesens,  sondern  auch  als  verantwortliche  tech- 
nische  und  okonomische  Leiterdes  Bergbaus.  Dabeigelang  es  ihnenjedoch  nicht 
iiberall  in  gleicher  Weise,  die  starke  Position  der  alten  Montanreviere  und  Berg- 
stadte  zu  untergraben  und  die  wirtschaftliche  und  soziale  Stellung  der  patrizi- 
schen  Bergherren  zu  brechen. 

Ein  deutlicher  Beschleunigungsfaktor  lag  dieser  langerfristigen  Entwicklung 
zugrunde:  das  Zuriickdrangen  der  stadtisch-okonomischen  Vormacht  wurde  ge- 
stiitzt  durch  den  gesellschaftlichen  Aufstieg  jener  friihmodernen,  staatlich  privi- 
legierten  Funktionstrager  im  ausgehenden  16./Anfang  des  17.  Jahrhunderts,  die 
ihre  montanwirtschaftlichen  Vorstellungen  mit  Erfahrungswissen  verbanden. 
Diese  Fachleute  hatten  als  begleitende  Akteure  der  Entstehungsprozesse  des 
friihmodernen  Territorialstaates  nicht  nur  einen  iiberschaubaren  Anteil  an  der 
sukzessiv  beschleunigten  Ubernahme  der  Bergbauwirtschaft  in  den  Kompetenz- 
bereich  des  Landesherrn,  sondern  beeinflussten  mit  ihrer  auf  wirtschaftliche  Effi- 
zienz  ausgerichteten  Haltung  dariiber  hinaus  die  innere  Entwicklung  der  alten 
mitteleuropaischen  Bergbaureviere.  Die  Marginalisierung  des  Einflusses  der  tra- 
dierten  Bergstadte  beinhaltete  nicht  nur  die  Verlagerung  der  wirtschaftlichen 
Machtverhaltnisse  aus  dem  Umfeld  des  stadtischen  Biirgertums  in  die  Hand  des 


284  Hans-Joachim  Kraschewski 

friihmodernen  Territorialstaates,  sondern  bedeutete  einen  weiterreichenden  Pro- 
zess,  der  alle  Bereiche  des  biirgerlich-stadtischen  Lebens  umfasste  und  stark  in 
die  soziale,  wirtschaftliche  und  kulturelle  Ordnung  der  Bergstadte  eingriff. 

Biindeln  lassen  sich  diese  Vorgange  in  der  iibergreifenden  Leitfrage  nach  dem 
Verhaltnis  von  Stadt  und  Bergbau,  die  gerade  darauf  abzielt,  die  Wechselwirkun- 
gen  zwischen  beiden  als  jeweils  konstituierend  und  pragend  zu  untersuchen.  Aus 
der  Perspektive  „Zentralitat  und  Funktionalitat"  hat  am  Beispiel  der  Bergbauorte 
in  den  Vorderosterreichischen  Montanregionen  der  Friihen  Neuzeit  Angelika 
Westermann  die  zentralistische  Ausrichtung  auf  „Mehrung  des  Kammerguts",  d. 
h.  gates  Geld  und  dessen  Wertigkeit  und  Vergleichbarkeit,  fur  die  Bergregalinha- 
ber  plausibel  belegt.1  Denn  die  Herausbildung  eines  fruhneuzeitlichen  Bergbe- 
amtenstandes  stellt  einen  wichtigen  Schritt  zum  eigentlichen  Beamtenstaat  dar, 
vergleichbar  mit  der  geforderten  bergmannischen  Arbeitsdisziplin  als  Anpas- 
sungsleistung  der  Hauer  und  damit  Vorstufe  zur  Schaffung  einer  neuzeitlichen 
Arbeitsordnung.2 

Die  Uberlegungen  und  das  Engagement  von  leitenden  Montan-  und  Betriebs- 
beamten  betrafen  vor  allem  praktisch-technische  Bereiche,  wenn  es  zu  einer  Star- 
kung  der  landesherrschaftlichen  Rahmenbedingungen  fiir  Bergbautatigkeit  kom- 
men  sollte:  es  ging  um  die  flachendeckende  „Durchorganisation"3  derTerritorien 
auf  dem  Weg  zum  kameralistischen  Staat,  die  jede  Form  von  Selbstverwaltung, 
auch  die  der  individuellen  Produzenten  im  Bergbau,  abschaffte. 

Konkrete  Zielvorstellungen  waren: 

-  Mit  der  Durchsetzung  neuer  Bergordnungen  und  Bergfreiheiten  durch  die 
Landesherren  sahen  die  Funktionstrager  eine  Veranderung  der  Produktions- 
anforderungen  (Steigerung  der  Produktionsleistung)  als  wesentliche  Voraus- 
setzung  fiir  ertragreichen  Bergbau  an, 

-  durch  die  Einfiihrung  produktionstechnischer  Neuerungen4  und  den  Uber- 


1  Angelika  Westermann,  Zentralitat  und  Funktionalitat.  Uberlegungen  zur  Bedeutung 
der  Bergbauorte  in  den  Vorderosterreichischen  Montanregionen  der  Friihen  Neuzeit;  in: 
Karl  Heinrich  KAUFHOLD/Wilfried  Reinighaus  (Hg.),  Stadt  und  Bergbau,  Koln,  Weimar 
2004,  S.  73-91. 

2  Hans-Joachim  Kraschewski,  Betriebsablauf  und  Arbeitsverfassung  des  Goslarer  Berg 
baus  am  Rammelsberg  vom  16.  bis  zum  18.  Jahrhundert,  Bochum  2002. 

3  Friedrich-Wilhelm  Henning,  Landliche  Sozialstruktur  und  soziale  Mobilitat  im  Mittel- 
alter;  in:  Hans-Jiirgen  Gerhard  (Hg.),  Strukturund  Dimension.  Festschrift  fiir  Karl  Heinrich 
Kaufhold  zum  65.  Geburtstag,  Bd.  1:  Mittelalter  und  Friihe  Neuzeit,  Stuttgart  1997,  S.  195- 
222,  Mer  S.  221. 

4  Die  Einfiihrung  der  SchieBarbeit  am  Rammelsberg  1671  bedeutete  keinen  Innovations- 
schub,  der  vergleichbar  gewesen  ware  mit  dem  im  Oberharz  nach  1632/33.  Das  Feuersetzen 
blieb  infolge  des  unregelmaBigen  Firstenbaus  in  den  Weiten  der  Gruben  als  Handhabe 


Organisationsstrukturen  der  Bergbauverwaltung  285 

gang  zum  Abbau  von  armen  Erzen  mussten  die  Forderanlagen  und  die  dafiir 
benotigte  Antriebsenergie  ausgebaut  werden  (Pumpen  und  der  Einsatz  von 
Kehrradern  sowie  Pferdegopel),5 

-  eng  verbunden  war  damit  die  Neuordnung  der  Betriebsablaufe  durch  die  Be- 
triebsplanverfahren  fur  alle  Gruben  und  Zechen  mit  verbindlichen  Betriebs- 
planen  und  ZubuBen  und 

-  einige  Finanz-  und  Montanbeamte  entwickelten  noch  weitergehende  Vorstel- 
lungen  von  einer  sorgfaltigen  Veranderung  der  Verwaltungs-  und  Organisa- 
tionsstruktur  des  Bergbaus  durch  stetigen  Einfluss  und  die  Kontrollaufgaben 
der  Bergamter. 

Wenn  sich  seit  derMitte  des  lG.Jahrhunderts  eine  erhebliche  Zunahme  zielge- 
richteter  landesherrschaftlicher  Eingriffe  in  den  Bergbaubetrieb  beobachten 
lasst,  ist  als  erste  Voraussetzung  eine  Verschiebung  der  Eigentumsverhaltnisse  im 
Berg-  und  Hiittenwesen  zugunsten  des  Landesherrn  festzuhalten.  Durch  die 
Reformation  und  die  ihr  nachfolgenden  kriegerischen  Auseinandersetzungen 
gingen  geistliche  und  stadtische  Besitzanteile  durch  Einfiigen  und  Ubertragen  in 
landesherrlichen  Besitz  verloren  und  fielen  dem  Territorialfursten  als  Machtzu- 
wachs  und  materielle  Basis  fur  moderne  Staatsbildung  zu,  sei  es  durch  Enteig- 
nung  klosterlicher  Vermogenswerte  und  deren  reformationsspezifische  Annexi- 
on oder  Umwidmung  durch  weltliche,  z.  B.  adlige  Besitzanspriiche. 

I.  Kameralismus  als  okonomische  Kommunikation 

Anders  als  dieses  die  Forschung  bisherbetont  hat,  betrafen  die  wirtschaftstheore- 
tischen  Diskussionen  des  Alten  Reichs  keine  spezifisch  deutsche  Entwicklung, 
sondern  sie  sollten  vielmehr  als  Teil  einer  europaischen  Wirtschaftsordnung  ver- 
standen  und  qualifiziert  werden,  namlich  einer  Ordnung  okonomischer  Spra- 
chen,  die  in  ihren  aufeinanderbezogenen  Strukturen  allerdings  bislang  kaum  zur 
Kenntnis  genommen  wurden.6  Insofern  erhielt  die  wissenschaftliche  Diskussion 

ein  hochst  effektives  und  kostengiinstiges,  wenn  auch  nicht  immer  berechenbares  Verfahren 
zum  Losen  der  Erze.  Das  Bohren  und  SchieBen  verursachte  hohe  Kosten  und  war  aufgrund 
mangelhafter  Qualitat  der  Bohrer  im  festen  Gestein  wenig  effizient.  Insofern  hatte  es  nur  se- 
kundare,  erganzende  Funktion  beim  Feuersetzen  und  der  Schlagel-  und  Eisenarbeit. 

5  Die  Entwicklung  der  SchieBarbeit  hing  mit  den  Lagerstattenverhaltnissen  zusammen: 
mit  dem  Ubergang  zum  Abbau  von  Bleiglanz  mit  einem  Silbergehalt  von  0,03-0,07  v.  H.  (ar- 
me  Erze)  anstatt  der  Gewinnung  von  Fahlerzen  mit  einem  Silbergehalt  von  bis  zu  9  v.  H.  (rei- 
che  Erze)  musste  die  Grubenarbeit  in  immer  groBere  Teufen  vordringen. 

6  Wolfgang  Zorn,  Gesellschafts-  und  Wirtschaftstrukturen  der  nichteuropaischen  Eura- 
sischen  Welt.  Gemeinsamkeiten  und  Alternativen;  in:  Hans-Jiirgen  Gerhard  (Hg.),  Struktur 
und  Dimension,  wie  Anm.  3,  S.  3-24,  verweist  darauf,  dass  „neomerkantilistisches"  Denken 


286  Hans-Joachim  Kraschewski 

der  Frage,  inwieweit  derMerkantilismus  nichts  anderes  als  Staats-  und  Volkswirt- 
schaftsbildung  zugleich  gewesen  ist7  und  der  Kameralismus,  eine  in  Deutschland 
und  Osterreich  entwickelte  Politikkonzeption  dieses  Merkantilismus,8  in  den 
letzten  drei  Jahrzehnten  keine  neuen  Impulse  -  weder  von  der  Forschung  der 
politischen  Herrschaftspraxis  in  der  friihen  Neuzeit  noch  der  historischen  Sozial- 
wissenschaft  oder  der  Montangeschichtsschreibung.9  Daher  gibt  es  keine  neuen 
Erkenntnisse  iiber  die  reale  Durchsetzung  der  kameralistischen  Lehre  beim  terri- 
torialen  Fiirstentum  als  dem  eigentlichen  Trager  des  fruhneuzeitlichen  Flachen- 
staates,10  wahrend  die  historische  Friihneuzeitforschung  mit  europaischer  Aus- 
richtung  eine  ganze  Reihe  neuerer  Arbeiten  vorgelegt  hat.11 

Die  Entwicklung  zum  Territorialstaat  -  bei  standiger  Vermehrung  der  landes- 
herrlichen  Aufgabenbereiche  -  war  ebenso  bestimmt  durch  eine  Erweiterung  der 
bisherigen  Verwaltungsorganisation  mit  entsprechender  Arbeitsteilung.  Die  ei- 
gentliche  Regierungsform  des  16.  Jahrhunderts  aber  war  als  eine  Variante  des  eu- 
ropaischen  Merkantilismus  die  Kameral-  oder  Kabinettsregierung.12  Hier  stand 

das  Doppelfach  Wirtschafts-  und  Sozialgeschichte  in  Deutschland  nach  1917  teilweise  zu  ei- 
nem  „germanistischen"  Fach  fiihrte  (S.  3).  -  Katrin  Keller,  Kleinstadte  im  18.  Jahrhundert 
zwischen  Stagnation  und  Dynamik.  Pladoyer  fur  die  Revision  eines  historiographischen  To- 
pos;  in:  Geschichte  und  Gesellschaft  29,  2003,  S.  353-392. 

7  Gustav  von  Schmoller,  Studien  iiber  die  wirtschaftliche  Politik  Friedrichs  des  Gro- 
Ben;  in:  Schmollers  Jahrbuch  1884,  II,  S.  22. 

8  Kurt  Zielenziger,  Die  alten  deutschen  Kameralisten,  in:  Beitrage  zur  Geschichte  der 
Nationalokonomie,  2.  Heft,Jena  1914,  S.  134,  207.  -  Ders.,  Kameralismus,  in:  Handworter- 
buch  der  Staatswissenschaften,  4Jena  1923.  -  Ingomar  Bog,  Der  Reichsmerkantilismus.  Stu- 
dien zur  Wirtschaftspolitik  des  Heiligen  Romischen  Reiches  im  17.  und  18.  Jahrhundert. 
Forschungen  zur  Sozial-  und  Wirtschaftsgeschichte,  Bd.l,  Stuttgart  1959,  S.  6.  Unabhangig 
von  Erfolg  oder  Misserfolg  der  zugehorigen  Politik  halt  Bog  die  Theorie  des  Kameralismus 
fur  gerechtfertigt,  er  spricht  ihr  Systemcharakter  zu,  denn  sie  gewonne  Fragestellungen  und 
Losungen  aus  der  Beobachtung  des  Marktes.  -  Fritz  Blaich,  Die  Epoche  des  Merkantilis- 
mus, Wiesbaden  1973,  S.  22:  auch  er  lasst  den  eigentlichen  Merkantilismus  als  bestimmte 
Richtung  der  ,theoretischen'  Wirtschaftspolitik  und  die  daran  anschlieBende  praktische 
Wirtschaftspolitik  in  Deutschland  erst  nach  1648  beginnen.  -  Ders.,  Merkantilismus,  Kame- 
ralismus, Physiokratie;  in:  Otmar  Issing  (Hg.),  Geschichte  der  National-Okonomie,  Miin- 
chen  1984,  S.  35-47. 

9  Vgl.  dazu  Erhard  Dittrich,  Die  deutschen  und  osterreichischen  Kameralisten,  Darm- 
stadt 1974. 

10  Gerhard  Oestreich,  Verfassungsgeschichte  vom  Ende  des  Mittelalters  bis  zum  Ende 
des  alten  Reiches;  in:  Bruno  Gebhardt,  Handbuch  der  deutschen  Geschichte,  Bd.  2,  Stutt- 
gart 1967,  S.  318. 

11  Luise  Schorn-Schutte,  Politische  Kommunikation  in  der  Friihen  Neuzeit:  Obrig- 
keitskritik  im  Alten  Reich;  in:  Geschichte  und  Gesellschaft  32,  2006,  S.  274-314. 

12  Gerhard  Oestreich,  Das  personliche  Regiment  der  deutschen  Fiirsten  am  Beginn  der 
Neuzeit;  in:  Welt  als  Geschichte  1,  1935.  -  Vgl.  Ders.,  Geist  und  Gestalt  des  friihmodernen 
Staates,  Berlin  1969. 


Organisationsstrukturen  der  Bergbauverwaltung  287 

neben  oder  vielmehr  iiber  alien  Hof-  und  Landesbehorden  die  Camera,  das  Fi- 
nanz-  und  Entscheidungszentrum  des  Fiirsten,  von  dem  alle  wichtigen  Regie- 
rungsgeschafte  ausgingen. 

Bis  in  das  16.  Jahrhundert  hinein  war  die  Wirtschaft  nahezu  ausschlieBlich  an 
den  Stadten  orientiert  und  von  ihnen  getragen,  so  dass  fast  verborgen  blieb,  wie 
die  Fiirsten  bzw.  der  Territorialstaat  sie  dennoch  einrahmten,  von  ihnen  profitier- 
ten  und  sie  schlieBlich  zuriickdrangten  und  iiberwanden.  Der  Schritt  von  der 
Stadtwirtschaft  zur  ausgebildeten  Volkswirtschaft  vollzog  sich  gleichzeitig  in  un- 
geschiedener  Einheit  von  politischer,  sozialer  und  wirtschaftlicher  Ordnung  als 
Ubergang  zur  fiirstlich  gepragten  Friihneuzeit.  Der  geldwirtschaftlich  intensive 
Kameralismus  mit  kontrollierter  Ubereinkunft  iiber  Miinzen,  MaBe  und  Gewich- 
te  verband  sich  mit  der  urspriinglich  tauschwirtschaftlich  orientierten  Haushalts- 
wirtschaft  der  Fiirsten  und  deren  Machtbestrebungen.  In  diesem  Zusammen- 
hang,  wenn  es  um  ausgewiesene  Reflexionen,  Thesen  und  Ordnungen  des  16.  bis 
18.  Jahrhunderts  zu  Wahrung,  Geld  und  das  Finanzwesen  geht,  ist  Harald  Witt- 
hoft  durchaus  bereit,  diese  „merkantilistisch"  zu  nennen,  „mit  verschiedenen  Pha- 
sen  der  Entwicklung  und  unterschiedlichen  territorialen  Auspragungen".13  Im 
Verlauf  dieses  Prozesses  bildete  sich  als  neue  Staatsform  das  furstliche  Territori- 
um,  d.h.  ansatzweise  der  deutsche  Territorialstaat  mit  der  fur  ihn  spezifischen 
wirtschaftstheoretischen  Grundlage  des  Kameralismus  heraus.  Der  aber  warstets 
in  den  friihneuzeitlichen  europaischen  Kontext  mit  seiner  okonomischen  Kom- 
munikation  eingebunden.14 

Eine  genauere  inhaltliche  Bestimmung  des  Kameralismus  erweist  sich  als  sinn- 
voll,  um  ihn  z.  B.  gegen  die  zeitgenossische  wirtschaftstheoretische  Gattung  der 
Hausvaterliteratur  abzugrenzen.  Hausvaterliteratur  war  die  Bezeichnung  fiir  eine 
vorwiegend  auf  deutschem  Boden  entstandene  und  verbreitete  Gruppe  von  Wer- 


13  Harald  Witthoft,  Ansatze  zu  merkantilistischem  Denken  um  die  Mitte  des  16.  Jahr- 
hunderts -  Georgius  Agricola;  in:  Friedrich  Naumann  (Hg.),  Georgius  Agricola  -  500Jahre, 
Basel,  Boston,  Berlin  1994,  S.  423-429,  hier  S.  428.  -  Ders.,  Die  Miinzordnung  und  das 
Grundgewicht  im  Deutschen  Reich  vom  16.  Jahrhundert  bis  1871/72;  in:  Eckart  Schremmer 
(Hg.),  Geld  und  Wahrung  in  der  Neuzeit  vom  16.  Jahrhundert  bis  zur  Gegenwart  (VSWG 
Beihefte  106),  Stuttgart  1993,  S.  51-68.  -  Ders.,  Uberlegungen  zu  Zahl,  MaB  und  Gewicht  im 
Bergbau  und  dem  Hiitten-  und  Hammerwesen.  Von  Numerik  und  materieller  Kultur  in  Mit- 
telalter  und  friiher  Neuzeit,  in:  Christoph  BARTELs/Markus  A.  Denzel  (Hg.),  Konjunkturen 
im  mitteleuropaischen  Bergbau  in  vorindustrieller  Zeit.  Festschrift  fiir  Ekkehard  Wester- 
mann  zum  60.  Geburtstag  (VSWG  Beihefte  155) ,  Stuttgart  2000,  S.  123-150. 

14  Ein  markantes  Beispiel  ist  Georgius  Agricola  (1494-1555):  auch  wenn  er  Okonomie 
und  Politik  seiner  Zeit  nicht  in  einer  eigenen  Schrift  untersuchte,  so  hat  er  sie  in  seine  zahl- 
reichen  Texte  eingefiigt,  wenn  er  auf  Miinzgehalt,  MaBe  und  Gewichte,  Erz  und  Metall  zu 
sprechen  kommt  und  sie  seinen  Zeitgenossen  verstandlich  zu  machen  sucht.  Politik  war  Ge- 
genstand  der  geistesgeschichtlichen  Entwicklung:  des  Humanismus  als  Bildungsbewegung. 


288  Hans-Joachim  Kraschewski 

ken  des  16.  bis  18.  Jahrhunderts,  die  die  Lehre  vom  Stand  der  Hausvater  mit  einer 
eingehenden  Darstellung  der  Landwirtschaft  und  des  bodenstandigen  Gewerbes 
verbanden.15  Da  die  Gemeinschaft  von  Hausvater  und  Ehewirtin  (Ehe  und  Haus- 
halt)  als  Kern  der  weltlichen  Ordnung  verstanden  wurde,  musste  in  der  Beschrei- 
bung  der  hauslichen  Verhaltnisse  (Eltern,  Kinder  und  Gesinde)  zugleich  das  We- 
sen  derpolitischen  Ordnung  erortert  werden.  Das  hatte  schon  1529  Justus  Meni- 
us,  Schiiler  Melanchthons  und  Luthers,  in  seiner  Oeconomia  Christiana  betont.16 
Die  zunehmende  Bedeutung  der  Landwirtschaft  im  16.  Jahrhundert  brachte 
schlieBlich  eine  Agrarliteratur  hervor,  die  sich  mit  der  Okonomik  alter  Art  zur 
Hausvaterliteratur  verband.17 

Diese  Literaturbeschaftigte  sich  wie  die  Okonomik  mit  allem,  was  der  Vorste- 
her  eines  landlichen  Gemeinwesens  (z.  B.  eines  adligen  Gutes)  wissen  musste, 
also  mit  agrarisch-technischen  Problemen  in  kleinraumlichem  Rahmen.18  Der 
wesentliche  Unterschied  des  Kameralismus  zur  Hausvaterliteratur19  lag  in  der 
Ausrichtung  auf  Wirtschaftsforderung  und  Sozialdisziplinierung.  Der  friihneu- 
zeitliche  Territorialstaat  bediente  sich  bei  deren  Durchsetzung  des  entstehenden 
Beamtenwesens  und  gewahrte  bereitwillig  den  Funktionstragern  bei  ihrer  Ge- 
staltung  und  Ausweitung  eine  tolerierte  Regelungsautonomie.  Die  Bedeutung 
der  Hausvaterliteratur  als  gewichtiges  Medium  der  politisch-okonomischen 
Kommunikation  ist  bisher  nicht  analysiert  worden.  Ansatze  liegen  vor,  wenn 

15  Otto  Brunner,  Hausvaterliteratur,  in:  Handworterbuch  der  Sozialwissenschaften, 
Bd.  5,  Stuttgart  1956,  S.  92. 

16  Justus  Menius  (1499-1558),  Oeconomia  Christiana.  Von  Christlicher  HauBhaltung 
[Mit  einer schbnen  Vorred,  13  Seiten,  von  Martin  Luther),  Wittenberg  1529:  Denn  daran  ist  kein 
zweiffel,  aus  der  Oeconomia  oder  haushaltung  mus  die  Politia  oder  landregirung  als  einem  brunnenquel 
entspringen  undherkomen.  Diese  Oeconomia  ist  ein  friihes  Beispiel  fur  Hausvaterliteratur,  deren 
geistige  Ausrichtung  auf  Martin  Luthers  „Predigten  iiber  die  Christliche  Haushaltung"  zu- 
riickgeht.  -  Zujustus  Menius  vgl.  auch  Schorn-Schutte,  Politische  Kommunikation  in  der 
Friihen  Neuzeit,  wie  Anm.  11,  S.  296-301. 

17  Zum  ersten  Mai  geschah  das  beijohannes  Coler  (1566-1639)  in  seiner  Oeconomia  ru- 
ralis  et  domestica,  Wittenberg  1593-1607.  In  seiner  Nachfolge  steht  Wolfgang  Helmhard  von 
Hoberg  (1612-1688)  mit  seiner  Georgica  curiosa  oder  adliges  Land-  und  Feldleben,  Niirnberg 
1682,  in  der  er  die  Erhebung  von  Zollen  und  Mauten  rechtfertigt:  Der  Ursprung  [.  .  .]  ist  aus 
dem  gemeinen  Nutzen  und  Billigkeit  hergeflossen,  well  man  die  Strajien,  Briicken,  Passe  und  Wdlder, 
sowol  mit  Ausbesserung  als  auch  mit  Schermung  vor  Strafien  Rdubern  und  vor  Unsicherheit  versorgen 
und  verwahren  mufi  und  well  dadurch  mehr  Fremde  und  Auslandische  als  die  Inwohner,  mehr  die  rei- 
chen  Kauffleute,  Wein  Handler  als  die  armen  Bauern,  die  Fahrenden  als  die  Gehenden  getroffen  sind 
(S.  124). 

18  Otto  Brunner,  Das  „ganze  Haus"  und  die  alteuropaische  „Okonomik";  in:  Ders., 
Neue  Wege  der  Sozialgeschichte,  Gottingen  1956,  S.  33-61.  -Julius  Hoffmann,  Die  „Hausva- 
terliteratur"  und  die  „Predigten  iiber  den  christlichen  Hausstand",  Weinheim  1959. 

19  Albion  Small,  The  Cameralists.  The  Pioneers  of  German  Social  Polity,  Chicago  1909, 
S.  3:  „Cameralism  was  a  technique  and  a  theory  of  administering  a  peculiar  type  of  state". 


Organisationsstrukturen  der  Bergbauverwaltung  289 

Christian  Lippelt  das  Verhaltnis  von  landesherrlicher  Amtsverwaltung  und  Wirt- 
schaftsfiihrung  im  16.  Jahrhundert  am  Beispiel  territorialer  Hoheitstrager  auf  der 
Ebene  lokaler  Amter  und  Gerichte  im  Land  Braunschweig- Wolfenbiittel  kritisch 
betrachtet.20 

II.  Interdependente  Bezugssysteme 

In  drei  groBe  Segmente  laBt  sich  das  Untersuchungsfeld  des  fruhneuzeitlichen 
Staates  gliedern:  Verwaltung,  Wirtschaft  und  Kultur,  auch  wenn  eine  klare  Ab- 
grenzung  zwischen  diesen  Sparten  nicht  immer  vorzunehmen  ist,  da  sich  die  ein- 
zelnen  Teilbereiche  gegenseitig  bedingen  und  beeinflussen.  Wechselwirkungen, 
die  jeweils  territorial  konstituierend  und  pragend  gewesen  sind,  lassen  sich  aber 
durchaus  starker  untersuchen.  Denn  erst  eine  systematische  Verklammerung 
zeigt,  dass  der  eine  Bereich  in  der  Tat  ohne  den  anderen  nicht  praxiswirksam  zu 
gestalten  war.  Als  Beispiel  sei  auf  den  Ausbau  Wolfenbiittels  zur  Residenz-  und 
Handelsstadt  {Heinrichstadt)  und  die  Errichtung  offentlicher  Bauwerke  verwiesen, 
die  ohne  wirtschaftliche  Fundierung  durch  Bergbau  und  Hiittenwesen  nicht 
denkbar  sind.21  Eine  Ausblendung  wiirde  die  produktive  Perspektive  von  Wandel 
und  struktureller  wie  sozialer  Integration  verkiirzen.22  Dass  aber  besonders  in 
diesem  Kontext  ein  zentrales  Thema  der  Eriihneuzeitforschung  liegt,  das  zu  einer 
vertieften  okonomischen,  technischen  und  verwaltungsmaBig-kulturellen  Durch- 
dringung  derTerritorien  fiihren  kann,  machten  schon  die  Ausfiihrungen  von  Ker- 
sten  Kriiger  und  Evi  Jung  deutlich:  ihre  Beschreibung  einer  funktionierenden 


20  Christian  Lippelt,  Hoheitstrager  und  Wirtschaftsbetrieb:  Die  herzogliche  Amtsver- 
waltung zur  Zeit  der  Herzoge  Heinrich  der  Jiingere,  Julius  und  Heinrich  Julius  von  Braun- 
schweig-Wolfenbiittel  (1547-1613),  weist  darauf  hin,  dass  Herzog  Julius  die  Gedanken  des 

Justus  Menius  (s.  Anm.  16)  in  seinem  politischen  Testament  aufnahm,  wenn  er  festlegte,  dass 
Unser  zukiinfftiger  regierender  Sohn  und  Erbe,  Hertzog  Heinrich  Julius,  gantz  und  gar  kein  Geld  weder 
an  kleinen  noch  an  grossen  Summen  hinter  sich  borgen  noch  aufnehmen  .  .  .  noch  auch  einiges  unsers 
Furstenthumb,  Clbster,  Herrschafften,  Schlosser,  Hauser,  Stadte,  Dorffer,  Gerichte,  Hiiltzer,  Muhlen, 
Schaffereien,  Kriigen  noch  andere  ansehnliche  Stucke  und  Cammer-Guter  von  neuen  verpfanden,  ver- 
kauffen  oder  alieniren  solle;  in:  Christian  Lippelt /Gerhard  Schildt  (Hg.),  Braunschweig- Wol- 
fenbiittel in  derfriihen  Neuzeit.  Neue  historische  Forschungen,  Braunschweig  2003,  S.  11-28, 
hier  S.  11.  -  Johann  Christian  Lunig  (Hg.),  Teutsches  Reichs-Archiv,  Hertzog  JULII  zu 
Braunschweig  und  Liineburg  Testament,  Anno  1582  auffgerichtet,  nebst  Kaysers  Rudol- 
phi  II.  Confirmation,  Bd.  9,  Leipzig  1712,  S.  286-306  (zu  Lunig  s.  ADB  19,  S.  641). 

21  Barbara  Uppenkamp,  Das  Pentagon  von  Wolfenbiittel.  Der  Ausbau  der  welfischen  Re- 
sidenz 1568-1626  zwischen  Ideal  und  Wirklichkeit,  Hannover  2005,  weist  nach,  wie  Herzog 
Julius  Wolfenbiittel  nach  modernsten  wirtschaftlichen,  militarischen  und  philosophischen 

Gesichtspunkten  aus-  und  umbauen  lieB. 

22  Christian  LiPPELT/Gerhard  Schildt  (Hg.),  Braunschweig-Wolfenbiittel  in  der  friihen 
Neuzeit,  wie  Anm.  20. 


290  Hans-Joachim  Kraschewski 

Amter-  und  Finanzverwaltung  am  Beispiel  Braunschweig-Wolfenbiittel  zeigt  die- 
se  als  notwendige  Voraussetzung  fur  den  Aufbau  eines  friihneuzeidichen  Territo- 
rialstaates.23  Kriiger/Jung  konzentrierten  ihre  historische  Forschung  zum  friih- 
neuzeidichen Staatsbildungsprozess  auf  die  Entwicklung  der  Zentralverwaltung, 
die  nachgeordnete  Amtsverwaltung  (lokale  Amter  und  Gerichte)  wurde  weniger 
untersucht. 

Zweifelsohne  schalt  sich  das  lG.Jahrhundert  als  eigenstandige  Transformation- 
sepoche  heraus,  vor  allem  wenn  diese  funktionierende  Amterverwaltung  geschaf- 
fen  wurde,  gefolgt  von  der  Phase  umfassender  staatlicher  Verwaltung  und  direk- 
torial  gefiihrter  Regiebetriebe  in  der  Zeit  nach  dem  DreiBigjahrigen  Krieg.  Diese 
Verflechtung  wird  deutlich,  wenn  es  um  den  Aufbau  einer  wirksamen  Verwal- 
tung durch  den  „okonomischen"  Fiirsten  Julius  von  Braunschweig-Wolfenbiittel 
geht,  der  ein  ausgepragtes  politisch-okonomisches  Interesse  an  Verwaltungs-  und 
Wirtschaftsvorgangen  in  seinem  Territorium  hatte.24  Entscheidend  aber  ist,  dass 
sich  diese  politisch-okonomischen  Vorgange  der  Herrschaftsentwicklung  und 
-stabilisierung  in  verwandten  Formen  in  vielen  Teilen  Europas  wieder  finden,  sei 
es  zeitlich  synchron,  sei  es  in  knapp  versetzter  Abfolge.25 

Gerade  die  Montanwirtschaft  hatte  ein  hohes  Potential  an  Integration,  Kom- 
munikation  und  Austausch  vorzuweisen,  nicht  nur  in  den  Metropolen,  sondern 
auch  in  den  Flachenstaaten  mit  Metall-Produktionszentren.26  Zu  den  wirksam- 
sten  Transmissionskraften  zahlten  z.  B.  Bergbauunternehmerund  Handelsgesell- 
schaften,  die  in  den  zentraleuropaischen  Revieren  Erfahrungen  gesammelt  hat- 
ten  und  Beteiligungen  an  diversen  Gruben  erwarben  bzw.  verkauften  oder  verleg- 
ten.  Ein  signifikantes  Beziehungs-Beispiel  aus  dem  Umkreis  dieser  Verbindung 
von  Bergbau,  Hiittenindustrie  und  Finanzgeschaft,  also  Kaufmann-Unterneh- 
mertum,  soil  hier  kurz  vorgestellt  werden. 

Mit  ausgewiesenen  Kenntnissen  der  Absatzmoglichkeiten  und  Rohstoffgebiete 
gehorte  Matthaus  Zellmaier  aus  Augsburg  zu  diesen  Unternehmern.  Seine  Ver- 


23  Kersten  KRUGER/EviJuNG,  Staatsbildung  als  Modernisierung.  Braunschweig-Wolfen- 
biittel im  lG.Jahrhundert:  Landtag  -  Zentralverwaltung  -  Residenzstadt;  in:  Braunschweigi- 
schesjahrbuch  64,  1983,  S.41-68. 

24  Hans-Joachim  Kraschewski,  Der  ,6konomische'  Fiirst.  Herzog-Julius  als  Unterneh- 
mer-Verleger  des  Wirtschaft  seines  Landes,  besonders  des  Harz-Bergbaus;  in:  Christa  Grae- 
fe  (Hg.),  Staatsklugheit  und  Frommigkeit.  Herzog  Julius  zu  Braunschweig- Liineburg,  ein 
norddeutscher  Landesherr  des  16.  Jahrhunderts,  Wolfenbiittel  1989,  S.  41-57. 

25  Martin  Krieger,  „Transnationalitat"  in  vornationaler  Zeit?  Ein  Pladoyer  fur  eine  er- 
weiterte  Gesellschaftsgeschichte  der  Friihen  Neuzeit;  in:  Geschichte  und  Gesellschaft  30, 
2004,  S.  125-136.  Als  koharente  friihmoderne  transnationale  Gesellschaften  nennt  der  Autor 
akademische,  intellektuelle  Kommunikationsnetzwerke. 

26  Marina  Dmitrieva/ Karen  Lambrecht  (Hg.),  Krakau,  Prag  und  Wien.  Funktionen 
von  Metropolen  im  fnihmodernen  Staat,  Stuttgart  2000. 


Organisationsstrukturen  der  Bergbauverwaltung  291 

bindungen  und  sein  Einfluss  erstreckten  sich  iiber  Schwaben  bis  nach  Osterreich 
und  Bohmen.  Schon  1548  hatte  er  mit  Herzog  Heinrich  dem Jiingeren  von  Braun- 
schweig-Wolfenbiittel  eine  Ubereinkunft  zur  Exploitation  neuer  Bodenschatze 
und  Exploration  weiterer  Bergwerke  auBerhalb  der  bekannten  Bergbaureviere 
des  Fiirstentums  getroffen,  da  dieser  sein  Regalrecht  mit  eigenen  Einlagen  auszu- 
weiten  suchte.27  Uberdies  botZellmaierin  einem  Vertrags-Entwurf  vom  8.Januar 
1550  Heinrich  dem  Jiingeren  an,  die  Halfte  der  Teile  der  Fundgrube  Aufm  Neuge- 
bornen  Kindlein  in  Klein- Waltersdorf  (bei  Freiberg) ,  die  er  iiber  die  Freiberger  Bur- 
ger (Magister)  Valentin  Graf  und  Hans  Schacht  fur  2300  Taler  gekauft  hatte,  zum 
Preis  von  1200  Talern  (also  erheblich  iiber  der  halben  Kaufsumme)  zu  iiberlassen, 
die  auch  s.f.g.  ime  also  bar  entrichten  und  bezalen  lassen  sollen.28  Das  Geld  sollte  bei 
Jorg  Hellferich  in  Leipzig  hinterlegt  werden,  denn  dieser  hatte  fur  die  Leipziger 
Bleihandler  Rauscher  und  Rot  bei  deren  Bleikaufen  im  Harz  bereits  Gelder  der 
Gesellschafter  zu  verwalten  gehabt.29 

Die  Anteile  des  Herzogs  waren  dann  beim  weiteren  Vortrieb  der  Zechen,  ver- 
hoffen  mit  Gottes  hilffin  der  Teiff  ein  mechtig  und  bestendig  Ertz  zuerpauen,  von  den 
Augsburger  Kaufleuten  Veit  Wittich  und  Urban  Sighart  ohne  Ausbeute  verlegt 
worden,  nunhabenE.F.G.  inn  obberurter Zechen  21 7/3Kuckhes,  machen  die  beide  [Quar- 
tale Reminiscere  und  Crucis  1555]  die  Zubuji  darauf26  Gulden  14 groschen  diser  landes- 
wehrung30  Was  die  vormals  verlaufene  ZubuBe  betraf,  so  hatte  wiederum  der 
Bergmeister  von  Saalfeld,  Illgen  Wegner,31  fiir  Veit  Wittich  und  Urban  Sighart  sie 
erlegen  sollen. 

Die  beiden  Vertragspartner  von  Zellmaier  standen  mit  Wegner  in  enger  ge- 
schaftlicher  Verbindung,  denn  sie  lieBen  ihre  Kupfer-Erze  in  Saalfeld  verhiitten, 
um  von  derNeuen  Saigerhiitte  der  Augsburger  Gesellschaft  desjakob  Herbrodt32 
Gar-Kupferzu  beziehen  -  das  hatten  sie  bereits  fiir  die  reichen  Augsburger  Unter- 


27  Ekkehard  Henschke,  Landesherrschaft  und  Bergbauwirtschaft.  Zur  Wirtschafts-  und 
Verwaltungsgeschichte  des  Oberharzer  Bergbaugebietes  im  16.  und  17.  Jahrhundert,  Berlin 
1974,  S.  214. 

28  NLA  HStA  BaCl  (fiir:  Niedersachsisches  Landesarchiv  -  Hauptstaatsarchiv  Hanno- 
ver, Bergarchiv  Clausthal) ,  Hann.  84a,  la,  Nr.  2  (5) ,  Zellmaiers  Handlung  ufs  Bergkwerck  zu 
Freiberg  (8.  Januar  1550). 

29  Maximilian  Schmid,  Der  Goslarer  Bleikauf.  Diss.  Phil.,  Leipzig  1914  (nicht  veroffent- 
licht,  MS  im  Stadt-Archiv  Goslar),  S.  219-222. 

30  NLA  HStA  BaCl,  Hann.  84a,  la,  Nr.  2  (28),  Zellmaiers  Schreiben  aus  Freiberg  an 
Herzog  Heinrich  den  Jiingeren  betr.  die  ZubuBe  (17.  November  1555). 

31  Wieland  Held,  Blei  und  Holz  fiir  den  Saalfelder  Bergbau  in  der  Mitte  des  16.  Jahr- 
hunderts.  Versorgungsprobleme  eines  kleinen  Reviers;  in:  Jahrbuch  fiir  Wirtschaftsge- 
schichte  1991/92,  S.  21-39,  hier  S.  29. 

32  Zu  Jakob  Herbrodt  und  Gesellschafter  in  Augsburg  vgl.  Gerhard  Fischer,  Aus  zwei 
Jahrhunderten  Leipziger  Handelsgeschichte  1470-1650,  Leipzig  1929,  S.  155,  170,  182,  370. 


292  Hans-Joachim  Kraschewski 

nehmer  Hieronymus  Paumgartner  und  Matthias  Manlich  nach  dem  Riickzug  An- 
ton Fuggers  im  Karpathengebiet  getan.33 

Bei  diesen  knapp  skizzierten  Unternehmungen  ging  es 

-  einerseits  um  eine  typische  mitteleuropaische  Vernetzung  von  Bergbaurevie- 
ren  bei  durchgehend  zu  beobachtenden  unternehmerischen  Strategien  zur 
Entwicklung  neuer  Absatzmoglichkeiten  durch  private  Initiativen  und 

-  andererseits  um  solch  wichtige  Funktionen  wie  Ideentransfer  und  Vermitt- 
lung  von  Kapitalinteressen  innerhalb  der  jeweils  eingebundenen  Territorien 
mit  ihren  privaten  und  landesherrlichen  Wirtschaftskraften. 

Das  waren  durchaus  iibliche  europaische  Dimensionen  im  Metallgeschaft,  die 
hier  miteinander  verkniipft  und  in  ein  weitreichendes  montanistisches  Bezie- 
hungssystem  eingebunden  wurden.34 

III.  Der  Landesherr:  Herzog Julius  (1568-1589) 

Grundlegende  Voraussetzungen  zum  Aufbau  des  Landes  Braunschweig  als  Terri- 
torialstaat  schuf  der  „planereiche"  und  „unruhige"  Herzog  Heinrich  der  Jiinge- 
re,35  der  bis  zum  Ende  seines  Lebens  (Regierungszeit  1514-1568)  entschieden  am 
katholischen  Glauben  festhielt  und  mit  einer  von  Staatsraison  getragenen  landes- 
herrlichen Durchdringung  des  Fiirstentums  den  Ausbau  des  friihmodernen  Terri- 
torialstaates  einleitete.  Seinem  fiirstlichen  Selbstverstandnis  entsprechend  konn- 
te  er  biirgerliche  Sondergewalten  wie  die  Stadte  Braunschweig  oder  Goslar  nicht 


33  Johannes  Burkhardt  (Hg.),  Augsburger  Handelshauser  im  Wandel  des  historischen 
Urteils,  Berlin  1996.  -  Vgl.  dazu  auch  Ekkehard  Westermann,  Das  Eislebener  Garkupferund 
seine  Bedeutung  fur  den  europaischen  Kupfermarkt  von  1460  bis  1560,  Koln  1971,  S.  52-53.  - 
Zur Tatigkeit  Matthias  Manlichs  1551  in  Tirol  vgl.  Christoph  Bartels  u.  a.  (Hg.),Das  Schwazer 
Bergbuch.  Der  Bergbau  bei  Schwaz  in  Tirol  im  mittleren  16.  Jahrhundert,  Bd.  III.,  Bochum, 
2006,  S.  773-779. 

34  NLA  HStA  BaCl,  Hann.  84a,  4a,  Nr.  24,  Bericht  des  Zellerfelder  Bergamts  an  Herzog 
Heinrich  Julius  iiber  eingegangene  Beschwerden  von  Gewerken  iiber  die  Abfuhr  der  ober- 
harzischen  Erze  zu  den  unterharzischen  Hiitten  an  Herzog  Heinrich  Julius  (16.  Juli  1589): 
Item  ist  auch  Anno  [15] 50  von  etzlichen  Goslarischen  und  Augspurgischen  Gerwercken  eine  Zeche  im 
Lauttenthal gebaut  warden,  welche  die  Schliche  zum  theyl  nach  Sahelde  schueren  und  mit  ander  ertzen 
verschmeltzen  lassen,  d.  h.  auch  Heinrich  derjiingere  und  Goslarer  und  Augsburger  Gewerken 
lieBen  Lautenthaler  Kupfererz  in  Saalfeld  verhutten  -  wie  es  ublichen  und  gebreuchlich.  - 
Schlieg/Schlich  war  das  in  den  Pochwerken  angereicherte  Erzkonzentrat. 

35  Charakterisierung  von  Karl  Brandi,  Kaiser  Karl  V.,  7Miinchen  1964,  S.  448.  -  Zu 
Heinrich  demjiingeren  vgl.  Manfred  von  Boetticher,  Niedersachen  im  16.  Jahrhundert; 
in:  Christine  van  den  HEUVEL/Manfred  von  Boetticher  (Hg.),  Geschichte  Niedersachsens, 
Bd.  3,  1,  Politik,  Wirtschaft  und  Gesellschaft  von  der  Reformation  bis  zum  Beginn  des  19. 
Jahrhunderts,  Hannover  1998,  S.  21-116,  hier  S.  83-92. 


Organisationsstrukturen  der  Bergbauverwaltung  293 

dulden.36  Goslar  musste  1552  vor  der  militarischen  Gewalt  des  Landesherrn  kapi- 
tulieren  und  im  Riechenberger  Vertrag  den  groBten  Teil  seiner  Erzgruben  des 
Rammelsbergs  an  den  Fiirsten  abtreten.37  Dagegen  blieb  die  Belagerung  Braun- 
schweigs  durch  Heinrichs  Truppen  1550  zunachst  erfolglos.  Erst  1606/11  gelang 
es  Herzog  Heinrich  Julius,  die  einst  machtige  Hansestadt  aus  ihrer  ehedem  fiih- 
renden  wirtschaftlichen  Stellung  in  Norddeutschland  zu  verdrangen.  Die  Resi- 
denz  Wolfenbiittel,  die  bis  1515  gemeinsam  mit  der  Burg  lediglich  die  unbefestig- 
te  Siedlung  „auf  dem  Damm"  umfasste  und  wahrend  der  Schmalkaldischen  Be- 
setzung  stark  in  Mitleidenschaft  gezogen  worden  war,  hatte  bereits  Heinrich  der 
Jiingere  systematisch  ausbauen  lassen.38 

Schon  vor  Beginn  seiner  Regentschaft  (1567)  waren  Herzog  Julius  verschiede- 
ne  Gutachten  zugegangen,  die  als  Bestandsaufnahme  wirtschaftlicher  Verhaltnis- 
se  des  Landes  anzusehen  sind,  die  aber  auch  wirtschaftspolitische  Perspektiven 
der  Entwicklung  darlegten.  Intention  dieserdem  Kanzlerjoachim  Mynsinger  von 
Frundeck  zugeschriebenen  Bedencken  die  Enderung  der  Religion  betreffend  und  wie  es 
mit  stifften  und  Clostern  solle  gehalten  werden  war  umfassendes  Ausschopfen  der  vor- 
handenen  wirtschaftlichen  Ressourcen  und  die  Verflechtung  einzelner  Wirt- 
schaftszweige  des  Landes.39  Diese  Zielorientierung  hatte  Heinrich  der  Jiingere 
durch  seine  Politik  praformiert.40 

Mit  seiner  Regierungsiibernahme  1568  begann  Herzogjulius  konsequent  das 
Fiirstentum  Braunschweig- Wolfenbiittel  zu  einem  friihmodernen  Territorialstaat 
umzuformen.  Erfiihrte  die  Reformation  durch,  richtete  Visitationskommissionen 
und  Konsistorium  ein  zur  Examination  von  Kirchen-  und  Schuldienern  sowie 
kirchlicher  Vermogensverwaltung  und  des  Bauwesens.  Nach  wiirttenbergischem 
Vorbild  iibernahm  er  Kirchenordnung  und  Kirchenrat  als  Zentralbehorde.  Be- 
sonders  die  Rolle  der  fiirstlichen  Amtstrager  -  Visitatoren  -  diente  der  Kontrolle 
des  Beamtenapparates  auf  lokaler  Ebene:  sie  zahlten  das  Vieh  nach  und  maBen 
das  Korn  neu  auf  auBerhalb  der  terminierten  Zeitvorgaben.  Die  Amter  wurden 

36  Analog  zum  Anspruch  Heinrich  des  Jiingeren  auf  Braunschweig  als  Erb-  und  Land- 
stadt  (in  mediater  Stellung)  wurde  auch  Goslar  von  Herzogjulius  als  unsere  Erbschut&tadt  re- 
klamiert  (NLA  HStA  BaCl,  Hann.  84a,  3a,  Nr.  15,  Schreiben  Herzogs  Julius  an  Christoph 
Sander  vom  29.  Februar  1580). 

37  Rammelsberger  Bergbaumuseum  Goslar  (Hg.),  Der  Riechenberger  Vertrag,  Goslar 
2004. 

38  Wolf-Dieter  Mohrmann,  Wolfenbiittel  -  ein  stadtgeschichtlicher  Abriss;  in:  Hans- 
Georg  Reuter  (Hg.),  Zur  Stadtgeschichte  Wolfenbiittels,  Wolfenbiittel  1988,  S.  7-34. 

39  Zu  Mynsinger  von  Frundeck  vgl.  Horst-Rudiger  Jarck  (Hg.) ,  Braunschweigisches  Bio 
graphisches  Lexikon.  8.  bis  18.  Jahrhundert,  Braunschweig  2006,  S.  516-517. 

40  Sabine  Schumann,  Wirtschaftspolitische  Gutachten  fiir  den  Erbprinzen  Julius  von 
Braunschweig- Liineburg  (Wolfenbiittel)  aus  demjahre  1567;  in:  Braunschweigisches  Jahr- 
buch65,  1984,  S.  99-113. 


294  Hans-Joachim  Kraschewski 

doppelt  besetzt  -  durch  einen  Beamten  der  Registrator  und  einen  Gegenbeamten 
als  Kontrollinstanz.  Rechnungslegung  war  an  feste  Termine  gebunden  und  hatte 
jahrlich  in  der  Zentralverwaltung  zu  Wolfenbiittel  zu  erfolgen.41 

1576  griindete  er  in  Helmstedt  eine  Landesuniversitat.  Die  Idee  hierzu  ging 
wiederum  vom  Kanzler  Joachim  Mynsinger  von  Frundeck  aus,  geleitet  von  der 
Einsicht,  eine  Ausbildungsstatte  fiir  Geisdiche  und  vor  allem  Beamte  der  fiirstli- 
chen  Administration  zu  schaffen.  Mynsinger  hatte  bereits  1556  bei  der  Errichtung 
des  Hofgerichts  mitgewirkt,  um  die  Rechtsprechung,  die  bis  dahin  in  der  fiirstli- 
chen  Kanzlei  zentriert  gewesen  war,  einer  von  derKanzlei  unabhangigen  Institu- 
tion zu  iibertragen.42  Als  landesherrliches  Gegengewicht  zur  Kanzlei  oderRatstu- 
be  wurde  1573  erstmals  ein  geheimer  Kammerrat  bestellt,  dessen  Aufgabe  eine 
neue  Kanzleiordnung  naher  bestimmte.  Durch  die  GroBe  Kanzleiordnung  von 
1575  trennte Julius  die  geheimen  Kammersachen  des  Fiirsten  von  den  Angelegen- 
heiten  des  Landes:  Die  Ratstube  erledigte  fortan  die  offentlichen  und  richterli- 
chen  Aufgaben  des  Landes,  wahrend  der  Kammerrat  fiir  die  geheimen  Sachberei- 
che  zustandig  war.  Aus  dieser  Einrichtung  ging  in  der  Folgezeit  als  dauerhafte 
Korporation  der  Geheime  Rat  hervor.  Die  verschiedenen  Zweige  der  landsherrli- 
chen  Verwaltung  wurden  in  ihm  zusammengefuhrt  und  zugleich  ein  Ausgleich 
der  Interessen  gesucht.  In  diesen  Kontext  gehort  auch  die  Reorganisation  der 
Finanzverwaltung,  in  der  eine  Trennung  zwischen  derHofrentei,  die  die  Landes- 
steuern  einnahm  und  iiberpriifte,  und  der  Kammerkasse,  der  Privatgeldkasse  des 
Fiirsten,  vollzogen  wurde.  Die  Aufsicht  der  Geldangelegenheiten  behielt  derHer- 
zog  in  seiner  Hand,  um  die  Landesfinanzen  zu  konsolidieren. 

Bereits  im  Jahr  1547  hatte  Heinrich  der  Jiingere,  als  er  nach  dem  Ende  der 
Schmalkaldischen  Besetzung  wieder  die  Regierungsgeschafte  in  seinem  Fiirsten- 
tum  iibernehmen  konnte,  den  Ausbau  derLandesverwaltung  und  des  Bergbaus43 


41  Thomas  Klingebiel,  Ein  Stand  fiir  sich?  Lokale  Amtstrager  in  der  Friihen  Neuzeit. 
Untersuchungen  zur  Staatsbildung  und  Gesellschaftsentwicklung  im  Hochstift  Hildesheim 
und  im  alteren  Fiirstentum  Wolfenbiittel,  Hannover  2002. 

42  Vgl.  dazu  Sabine  Schumann,  Joachim  Mynsinger  von  Frundeck  (1514-1588),  Kanzler 
in  Wolfenbiittel.  Biographische  Aspekte  zu  einem  humanistischen  Rechtsgelehrten  und  Po- 
litiker  der  friihen  Neuzeit;  in:  Braunschweigischesjahrbuch  64,  1983,  S. 25-39. 

43  NLA  HStA  BaCl,  Hann.  84a,  la,  Nr.  1  (12),  Quittung  des  Bergunternehmers  Hans 
von  Wiedersdorf  iiber  12  Taler,  die  Herzog  Heinrich  der  Jiingere  ihm  habe  entrichten  lassen 
durch Johann  Dankwart,  Amtmann  auf  der  Staufenburg,  da  er  mil  einem  Saltzburgischen  Berck- 
mann  unnd  Schmeltzer  auf  die  Berckwerck  alhir  abgefertigt  (24.  Februar  1548).  Johann  Dankwart 
war  von  1534  bis  1539  als  Wolfenbiittelscher  Bergbeamter  Zehntner  im  Oberharzer  Revier 
gewesen  -  ein  Hinweis  auf  die  friihe  Verkniipfung  von  Berg-  und  Landesverwaltung.  -  Hans 
von  Wiedersdorf  war  als  Gesellschafter  von  Matthaus  Zellmaier  an  Herzog  Heinrich  den 
Jiingeren  vermittelt  worden  (vgl.  Anm.  28).  -  NLA  HStA  BaCl,  Hann.  84a,  808,  2,  Bergord- 
nung  Heinrichs  des  Jiingeren  vom  1.  Januar  1550  (Octav,  136  Blatter). 


Organisationsstrukturen  der  Bergbauverwaltung  295 

voran  getrieben  und  den  Aufbau  einer  geordneten  Finanzverwaltung  wie  auch 
der  Amtergliederung  eingeleitet:  er  legte  die  Grundlagen  fur  eine  zentrale  Lan- 
desverwaltung.44  Die  Kammer  blieb  der  wirksame  Ort  der  okonomischen  Regu- 
lierung,  ihr  gait  auch  die  ganze  Aufmerksamkeit  Herzogs Julius.  Ein  herausragen- 
derBestandteil  derUnterlagen  derVerwaltungs-  und  Wirtschaftsfiihrung  des  Ter- 
ritorialstaates  sind  die  Kammerrechnungen.  Ihre  Eintragungen  belegen,  dass  z. 
B.  im  Rechnungsjahr  1586/87  insgesamt  21,7%  der  Ausgaben  des  Landes  anteilig 
auf  den  Bergbau  entfielen.  Demgegeniiberlag  der  Anteil  derEinnahmen  aus  dem 
Bergbau  1586/87  bei  35,63%  der  Kammereinkiinfte.  Damit  lagen  die  Einkiinfte 
aus  diesem  Sektor  der  territorialen  Wirtschaft  um  ca.  ein  Drittel  iiber  den  Ausga- 
ben.45 In  den  von  1585  an  vorliegenden  Quartalsrechnungen  der  Gruben  sind  fur 
jeden  Betrieb  Einnahmen  und  Ausgaben  ausgewiesen,  sachlich  in  Berg-  und  Hiit- 
tenkosten  untergliedert  und  diese  wiederum  durch  die  Person  des  Bergschreibers 
in  der  Aufstellung  und  Niederschrift  der  wochentlichen  Anschnitte  abgefasst.  Die- 
se Unterlagen  sind  von  groBer  Zuverlassigkeit,  alle  Angaben  dienten  den  Betrie- 
ben  zur  Festsetzung  von  Ausbeute  und  ZubuBe,  den  Betrieb skosten  und  den  Ab- 
gaben  an  den  Landesherrn  -  zusammengestellt  von  den  dazu  bestellten  und  ver- 
eidigten  Bergbeamten. 

Julius  entwickelte  durch  effiziente  Organisation  und  iibergreifende  Struktur 
ein  erfolgreiches  okonomisches  System  in  seiner  an  gutem  Geld  armen  Wirt- 
schaft.46 Weit  mehr  als  Heinrich  der  Jiingere  gestaltete  er  dank  seiner  unterneh- 
merischen  Risikobereitschaft  und  innovativen  Fahigkeiten  das  Land  Braun- 
schweig-Wolfenbiittel  zu  einer  relativ  klar  abgegrenzten  Wirtschaftseinheit  in 
Norddeutschland  um,  die  mit  ihrem  „ordnungsgemaBen  Ablauf  des  Markt-  und 


44  Manfred  von  Boetticher,  Niedersachsen  im  16.  Jahrhundert,  wie  Anm.  35,  S.  95.  - 
Helmut  Samse,  Die  Zentralverwaltung  in  den  siidwelfischen  Landen  vom  15.  bis  zum  17. 
Jahrhundert.  Ein  Beitrag  zur  Verfassungs-  und  Sozialgeschichte  Niedersachsens,  Hildes- 
heim,  Leipzig  1940. 

45  NLA  HStA  Hannover,  Kammerrechnungen  Hann.  76  c  A,  Nr.  22,  23,  24.  -  NLA  StA 
Wolfenbiittel,  Kammerrechnungen  17  III  Alt  59,  62,  62  a.  -  NLA  HStA  Hannover,  Rechnun- 
gen,  Cal.  Br.  21,  Nr.  842,  152, 590.  -  NLA  StA  Wolfenbiittel,  Kammerrechnungen  17III  Alt  35. 
-  Bereits  Ende  des  16.  Jahrhunderts  zogen  die  Wettiner  aus  dem  erzgebirgischen  Silberberg- 
bau  vergleichbar  hohe  Gewinne;  vgl.  Uwe  Schirmer,  Kursachsische  Staatsfinanzen  (1456- 
1656).  Strukturen  -  Verfassung  -  Funktionseliten,  Stuttgart  2006,  S.  92-94.  -  ManuelaSissAKis, 
Territoriale  Rechnungslegung  in  der  Friihen  Neuzeit.  Quellenkritische  Anmerkungen  anhand 
von  Kammerrechnungen  des  16. Jahrhunderts  im  Fiirstentum  Braunschweig- Wolfenbiittel;  in: 
Lippelt/Schildt  (Hg.),  Braunschweig-Wolfenbiittel,  wie  Anm.  20,  S.  93-108. 

46  Hans-Jiirgen  Gerhard,  Ein  schoner  Garten  ohne  Zaun.  Die  wahrungspolitische  Si- 
tuation des  Deutschen  Reiches  um  1600;  in:  VSWG  81,  1994,  S.  156-177.  -  Ders.,  Ursachen 
und  Folgen  der  Wandlungen  im  Wahrungssystem  des  Deutschen  Reiches  1500-1625.  Eine 
Studie  zu  den  Hintergriinden  der  so  genannten  Preisrevolution;  in:  Eckart  Schremmer 
(Hg.) ,  Geld  und  Wahrung  vom  16.  Jahrhundert  bis  zur  Gegenwart,  Stuttgart  1993,  S.  69-84. 


296  Hans-Joachim  Kraschewski 

Handelsverkehrs"  sowie  der  ^offentlichen  Finanzierung  des  Berg-  und  Hiittenwe- 
sens"  fiir  das  16.  Jahrhundert  kennzeichnend  blieb.47 

Theoretisch  setzte  er  sich  mit  Verwaltungs-  und  Wirtschaftsfragen  auseinan- 
der,  indem  er  die  staatspolitischen  Schriften  Niccolo  Machiavellis  und  des  mans- 
feldischen  Kanzlers  Lauterbeck  las.  Und  er  erwarb  nachweislich  mehrere  Biicher 
iiber  Hauswirtschaft,  die  Okonomie  und  die  Verwaltung  eines  Hauswesens,  die 
Regelung  von  Einnahmen  und  Ausgaben  sowie  die  Rechtsprechung.48  Uber  die 
Bibliotheka  Julia,  die  den  Grundstock  der  spateren  Herzog  August  Bibliothek  in 
Wolfenbiittel  bildete,  hat  ausfuhrlich  Christa  Graefe  berichtet.49  Es  sei  anzuneh- 
men,  so  die  Autorin,  dass  die  hohen  herzoglichen  Beamten  diese  Werke  ebenfalls 
zu  lesen  bekamen.50  Doch  worin  bestanden  die  wirtschaftlichen  Bedingungen 
und  technischen  Konsequenzen  dieser  Entwicklung? 

Das  lasst  ein  Blick  auf  zwei  technische  Bildhandschriften  des  Herzogs  erken- 
nen,  die  Instrumentenbiichervon  1573  mit  den  Hauptthemen  „Flussschifffahrt"  und 
„Steingewinnung"  mit  reichlich  technischer  Illustration.  Sie  wurden  unter  per- 
sonlicher  Beteiligung  und  Mitarbeit  des  Landesherrn  angefertigt  und  spiegeln 
dessen  groBes  Interesse  an  produktiven  Geratesystemen  wider  und  die  Bereit- 
schaft,  in  die  Sphare  des  konkreten  Erfahrungswissens  der  praktischen  Mechanik 
einzudringen.  Sie  zeigen  Arbeitsgerate,  Werkzeuge,  Krane  und  Eimerbagger  in 
den  Steinbriichen  und  Fahren  sowie  FloBe  auf  und  Stauschleusen  in  den  Fliissen 
des  Landes  -  vom  Herzog  selbst  erdacht  oder  von  ihm  in  den  Niederlanden  gese- 
hen  und  nach  Wolfenbiittel  iibertragen.51  Der  Herzog  machte  genaue  Vorschlage 
fiir  eine  wirtschaftlich  verbesserte  Verwertung  der  montanistischen  Rohstoffe  des 
Landes  und  ihre  chemischen  und  physikalischen  Wirkungen.  Es  waren  also  klare 
okonomische  Interessen  im  Spiel.  Von  seinen  Fachleuten  erwartete  er  die  appara- 
tive  Umsetzung  seiner  Ideen  in  rationelle  Arbeitsablaufe,  um  sie  dem  Land 


47  Karl  Heinrich  Kaufhold,  Die  Wirtschaft  in  der  friihen  Neuzeit:  Gewerbe,  Handel  und 
Verkehr:  in:  van  den  Heuvel/von  Boetticher  (Hg.),Geschichte  Niedersachsens,Bd.  3,  l,wie 
Anm.  35,  S.  351-574,  hier  S.  363-365,  S.  420. 

48  Das  Rechenbuch  des  Herzogs  Julius,  das  er  1567  anlegte  und  mit  eigenen  Berechnun- 
gen  fiillte,  zeigt  seine  intensive  Beschaftigung  mit  dieser  Materie.  Als  Musterrechnungen 
iibertrug  er  die  Beispiele,  die  er  im  Handelbuch  aus  der  Bibliothek  des  Michael  von  Kaden 
vorfand,  auf  Braunschweigische  Verhaltnisse  (Herzog  August  Bibliothek  [HAB]  Wolfenbiit- 
tel: Cod.  Guelf.  700  Nov.). 

49  Christa  Graefe  (Hg.),  Staatsklugheit  und  Frommigkeit,  Die  Bibliotheka  Julia  -  Staats- 
klugheit  und  Frommigkeit,  wie  Anm.  24,  S.  59-162,  hier  S.  59-60 

50  Christian  Lippelt,  Hoheitstrager  und  Wirtschaftsbetrieb;  in:  Christian  Lippelt/ Ger- 
hard Schildt  (Hg.),  Braunschweig- Wolfenbiittel,  wie  Anm.  20,  S.  25. 

51  NLA  StA  Wolfenbiittel,  2  Alt  5228,  Instrumentenbuch  I.  -  LA  StA  Magdeburg,  Rep. 
Cop.  Nr.  803b,  Instrumentenbuch  II.  -  Vgl.  dazu  auch  Gerd  Spies,  Technik  der  Steingewin- 
nung  und  der  FluBschiffahrt  im  Harzvorland  in  der  friihen  Neuzeit,  Braunschweig  1992. 


Organisationsstrukturen  der  Bergbauverwaltung 


297 


Abb.  1: 

„machina  tractoria" 

Brunnenpumpe  von 

Leonardo  da  Vinci  (1502). 

(Quelle:  Hermann  Grote, 

Leonardo  da  Vinci, 

Berlin  7874) 


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dienstbar  zu  machen.  Transferiert  wurden  diese  Ergebnisse,  so  weit  sie  anwen- 
dungsfahig  waren,  auf  den  Sektor  Bergbau.  In  dem  Bericht  vom  Rammelsbergischen 
Bergwerk  von  1576  wird  darauf  wiederholt  verwiesen,  wenn  es  heiBt,  dass  durch  ihr 
f.g.  jfurstlich  gnaden]  eigene  erfindungen  die  berg-  und  huttewergke  sampt  denforst-  und 
Sagemulen  des  Rammesbergischen  und  Zellferfeldischen  und  Wildemennischen  bergwerck 
verbessert.52  Zu  diesen  „Erfindungen"  gehoren  die  Munitionskugeln,  Schlacken- 
kugeln  genannt,  die  Herzogjulius  in  groBer  Zahl  aus  Blei  gieBen  und  im  Stichhan- 
del  vertreiben  lieB.53 


52  NLA  HStA  BaCl,  Hann.  84a,  2a,  Nr.  11,  Bericht  vom  Rammelsbergischen  Berg-  und 
Huttenwerk,  1576.  -  NLA  StA  Wolfenbuttel,  Landesverwaltung  IV,  Nr.  72:  Es  haben  auch  ihr 
f.g.  selbst  erfunden,  das  man  aus  den  bleyen  rhoren,  grasebancke  und  taffelbley,  aus  dem  ersten  feuer ge- 
gossen,  konnen  werden. 

53  NLA  HStA  BaCl,  Hann.  84a,  la,  Nr.  4,  Schreiben  Herzogs  Julius  an  Christoph  San- 
der, Formen  zum  GieBen  von  Schlackenkugeln  anzufertigen  (25.  September  1569)  und  Lie- 


298 


Hans-Joachim  Kraschewski 


Abb.  2:    „machina  tractoria":  Aufzugsystem  -  Zugseil  mit  Pferdegbpel 
von  Herzog  Julius  (1573).  (Quelle:  Instrumentenbuch  I   1573) 


Die  Kombination  von  Unternehmertum  und  Verlagssystem  war  fiir  Herzog 
Julius  ein  konkreter  Faktor  fiir  dessen  wirtschaftliche  Erfolgsbilanz.  Der  Verlag  er- 
moglichte  seinen  Fernhandelsgeschaften  eine  elastische  Verflechtung  diversifi- 
zierter  Giiterproduktion  in  der  Landwirtschaft  mit  dem  Montansektor  bei  Erpro- 
bung  neuer  Absatzwege.54  Auch  bei  der  finanziellen  Einflussnahme  auf  Berg- 
werks-,  Aufbereitungs-  und  Hiittenbetriebe  war  die  Gewahrung  von  Vorschiissen 
oder  Krediten  in  Form  des  laufenden  Verlags  das  zentrale  Mittel  des  Landes- 
herrn.  Kontinuierlichen  Vorschuss  gewahrte  die  Zehntkammer  bzw.  der  Kasten- 
verlag  als  investive  Summen  des  Fiirsten  fiir  Entwasserungsstollen,  Wasserreser- 
voirs  (Teiche,  Stauungen)  oderForsten  (Holz,  Holzkohle).  Ein  groBerTeil  der  auf 
Verlagsbasis  produzierten  Montanerzeugnisse  wurde  nicht  nur  gegen  Bargeld, 
sondern  vor  allem  auf  den  Messen  in  Leipzig,  Naumburg  und  Frankfurt  auf 
Wechsel-Kredit  bis  zum  nachsten  Messetermin  oder  als  Stichhandel,  das  heiBt  im 


ferung  derselben  (15.  Oktober  1569). 

54  Hans  Joachim  Kraschewski,  Quellen  zum  Goslarer  Bleihandel  in  der  friihen  Neuzeit 
(1525-1625),  Hildesheim  1990.  -  Ders.,  Quellen  zum  Goslarer  Vitriolhandel  in  der  friihen 
Neuzeit  (16.  Jahrhundert),  St.  Katharinen  1995. 


Organisationsstrukturen  der  Bergbauverwaltung 


299 


Abb.  3: 

„machina  tractoria": 

Hubpumpe  mit  zwei 

Saugrohren  von 

Georgius  Agricola  (1556). 

(Quelle: 

Georgius  Agricola, 

De  re  metallica  libri  XII) 


Realtausch  umgesetzt.55  Den  in  diesem  Zirkulationssystem  erzeugten  Gewinn 
konnte  der  fiirstliche  Unternehmer-Verleger  auch  in  neue  Montan-Untemeh- 
mungen  investieren,  Kredit-  und  Wechselgeschaft  als  Anreiz  zur  wirtschaftlichen 


55  Markus  A.  Denzel,  Wechselplatze  als  territoriale  Enklaven  an  der  europaischen  Peri- 
pherie: Von  der  Anbindung  zur  Integration  von  Finanzmarkten  im  System  des  bargeldlosen 
Zahlungsverkehrs  (Spatmittelalter  bis  beginnendes  20. Jahrhundert) ;  in:  Hartmut  Zwahr,  Uwe 
Schirmer,  Hennig  Steinfuhrer  (Hg.),  Leipzig,  Mitteldeutschland  und  Europa.  Festschrift  fur 
Manfred  Straube  und  Manfred  Ungerzum  70.  Geburtstag,  Beucha  2000,  S.  545-560. 


300  Hans-Joachim  Kraschewski 

Entwicklung  seines  Landes  einsetzen.  So  war  er  z.  B.  bereit,  probehalber  auf  ei- 
nen  Energietrager  zuriickzugreifen,  der  schon  langst  bekannt  war,  aber  -  im  Un- 
terschied  zur  Situation  in  England  oder  in  Liittich,56  -  auf  dem  Kontinent  nur  ver- 
einzelt  Verwendung  gefunden  hatte:  die  Mineral-  oder  Steinkohle.57 

Zwei  Salinen  wurden  im  Land  betrieben:  die  alte  Salzquelle  zu  Liebenhall  bei 
Salzgitter,  deren  Ergiebigkeit  schon  Heinrich  der  Jiingere  genutzt  hatte,  und  die 
Saline JuliushaU  bei  Biindheim  am  FuB  derHarzburg,  1569  von  Herzog  Julius  an- 
gelegt  und  als  fiirstlicher  Eigenbetrieb  gefiihrt.58  1579  gab  es  auf  dem  Salzwerk 
Liebenhall  15  Siedehiitten,  die  jeweils  mit  einer  Pfanne  und  fiinf  Vorwarmpfan- 
nen  arbeiteten.59  Als  1588  der  Brunnenschacht  erneuert  wurde,  erhohte  sich  die 
Zahl  derHiitten  auf  zwanzig.  1579  erlieB  Julius  eine  groBe  Salzordnung,  die  nicht 
nur  sparsamen  Holzverbrauch  festlegte,  sondern  von  den  Salzsiedern  kontinuier- 
liche  Anwesenheit  wahrend  des  Siedevorgangs  verlangte.  Im  Vergleich  zur  Zeit 
unter  Heinrich  dem  Jiingeren  verdreifachte  diese  Saline  ihren  Produktionsum- 
fang  in  den  achtziger  Jahren.60 

Wahrend  seines  dreijahrigen  Studienaufenthaltes  in  Lowen  (1550-53)  hatte  Ju- 
lius als  junger  Prinz  gesehen,  wie  Gewerbe  und  Schifffahrt  erfolgreich  eingesetzt 
werden  konnten,  um  den  Reichtum  des  Landes  zu  mehren.61  Er  schatzte  die 
Tiichtigkeit  der  Niederlander,  so  dass  er  sie  als  Beamte  und  Techniker  nach  Wol- 
fenbiittel  berief.  Stellvertretend  sei  hier  Wilhelm  de  Raet  aus  s'Hertogenbosch  als 
Wasserbaumeister  und  Ingenieur  genannt,  dessen  Ausgangs-  und  Zielpunkt  der 
Arbeit  die  Okonomie  war. 

Das  Hiittenwesen  aber,  sowohl  durch  die  Gewerken  wie  die  landesherrlichen 
Beamten  nicht  leicht  zu  steuern,  da  es  hierum  Betriebsgeheimnisse  und  hermeti- 
sche  Kenntnisse  ging,  brachte  er  im  Einvernehmen  mit  seinem  Zehntner  Chri- 
stoph  Sander  nahezu  vollstandig  unter  seine  Kontrolle,  um  die  Produktion  von 
Blei  und  Silber  fur  die  fiirstliche  Kammer  und  das  Gemeinwohl  des  Landes  zu  op- 


56  Horst  Kranz,  Liitticher  Steinkohlenbergbau  im  Mittelalter,  2  Bde.,  Aachen  2000. 

57  Hans-Joachim  Kraschewski,  Steinkohle  als  Energietrager.  HerzogJulius  von  Braun- 
schweig-Wolfenbiittel  und  der  Kohlenbergbau  bei  Hohenbiichen  am  Hils  in  der  zweiten 
Halfte  des  16.  Jahrhunderts;  in:  Niedersachsischesjahrbuch  fiir  Landesgeschichte  76,  2004, 
S.  181-218. 

58  NLA  StA  Wolfenbiittel,  40  Slg  848. 

59  NLA  HStA  BaCl,  Hann.  84a,  2a,  Nr.  14,  Bericht  Christoph  Sanders  iiber  die  Befah- 
rung  des  Salzwerks  Liebenhall  (25.  Februar  1579). 

60  Hess  StA  Marburg,  Best.  3  PA  (Kiich),  4  f  Br.  W.,  S.  103-122. 

61  An  der  Universitat  Lowen  lehrte  Leonhard  Lessius  (1554-1623),  Freund  des  Wirt- 
schaftsethikers  Ludwig  Molina  (1535-1600),  dessen  Geldlehre  im  17.  Jahrhundert  z.  B.  von 
dem  Volkswirtschaftler  und  Statistiker  Sir  William  Petty  (1623-1687)  sowie  dem  Staatstheo- 
retiker  und  politischen  Okonomen  John  Locke  (1632-1704)  aufgenommen  und  systemati- 
siert  wurde. 


Organisationsstrukturen  der  Bergbauverwaltung  301 

timieren.  Als  seit  1575  eingeleitete  ReformmaBnahmen,  deren  Umsetzung  von 
den  Hiittenmeistern  konsequent  gefordert  wurde,  sind  zu  nennen: 

-  korrekte  Einhaltung  der  wochentlichen  Abrechnungen, 

-  Nachmessen  der  angelieferten  Holzmengen  auf  den  Hiittenhofen, 

-  Verhinderung  von  Diebstahl  (Unterschleife)  an  Betriebsmaterial, 

-  exakte  Uberpriifung  angelieferter  Erzquantitaten  auf  den  Hiittenhofen, 

-  Fixierung  eines  Minimums  an  Erzdurchsatz  je  Schmelzofen  und  Schicht, 

-  Effektivitat  der  Ofengeblase  und 

-  Einfiihrung  von  Kontrollbiichern  durch  die  Hiittenschreiber.62 

Mit  der  Konzentration  der  Hiittenbetriebe  auf  elf  Einrichtungen  -  sieben  in 
landesherrlichem  Besitz,  vier  vorlaufig  noch  als  Privathiitten  -  gelang  es  dem 
Herzog  in  Kooperation  mit  dem  bereits  genannten  Oberverwalter  und  Hiitten- 
meister  Christoph  Sander,  die  in  alien  Hiittenordnungen  monierten  Defizite  der 
Arbeit  zu  reduzieren  und  die  Hiittenbetriebe  wiederin  seinen  unmittelbaren  Be- 
sitz zu  bringen  und  Ergebnis  bezogen  rentabel  zu  gestalten,  denn  seine  Hauptein- 
nahmen  erzielte  er  -  wie  alle  Landesherren  mit  Bergsegen  in  ihren  Territorien  -  im 
Miinzwesen. 

Auch  die  Forste  unterlagen  dem  Grundsatz  rationeller  Wirtschaftlichkeit,  eine 
ausreichende  Versorgung  der  Berg-  und  Hiittenbetriebe  mit  Baumaterial  und 
Energie  war  auf  die  umfangreiche  Bereitstellung  von  Holz  bzw.  Holzkohle  ange- 
wiesen.  Die  Belieferung  der  Gruben  und  Hiitten  hatte  deshalb  hochste  Prioritat 
gemessen  an  alien  anderen  Verbrauchern  des  Landes.63 

Weitreichende  Handelsbeziehungen  mit  zentraleuropaischen  Warenmarkten 
dienten  dem  Absatz  der  Produkte  des  Landes,  vor  allem  des  Metalls  Blei.  Denn 
die  umwalzende,  weil  folgenreichste  Neuerung  beim  Schmelzverfahren  von  sil- 
berhaltigen  Kupfererzen  durch  das  Saigerverfahren  -  verbunden  mit  einem  er- 
hohter  Bedarf  an  Blei  -  hatte  im  Verlauf  des  16.  Jahrhunderts  zu  einer  Expansion 
im  mitteleuropaischen  Bleibergbau  gefiihrt.64  Die  Kuppel-Produktion  von  Gar- 

62  NLA  HStA  BaCl.,  Harm.  84a,  4a,  Nr.  4,  Bericht  des  Zehntners  Christoph  Sander  an 
Herzog  Julius  betr.  die  Frage  der  Instandhaltung  der  Hiitten  (17.  Marz  1569).  -  Hann.  84a, 
2a,  Nr.  10,  Gutachten  des  Oberverwalters  Christoph  Sander  iiber  den  Betrieb  der  Schmelz- 
hiitten  (14.  Januar  1575). 

63  Hans-Joachim  Kraschewski,  Holzversorgung  von  Schmelzhutten  im  Harzrevier  der 
friihen  Neuzeit  (16./17.  Jahrhundert);  in:  Braunschweigischesjahrbuch  fur  Landesgeschich- 
te  86,  2005,  S.  37-63.  -  Ders.,  Schmelzhutten  und  ihre  Energieversorgung  in  der  friihen  Neu- 
zeit (Das  Beispiel  Harz);  in:  Wolfgang  INGENHAEFF/Johann  Bair  (Hg.),  Bergbau  und  Holz  (4. 
Internationaler  Montanhistorischer  Kongress  Schwaz  2005),  Innsbruck  2006,  S.  85-110. 

64  Saigern  meint  hier  das  selektive  Ausschmelzen  von  Silber  aus  metallischem  Kupfer 
unter  Zusatz  des  Treibmittels  Blei  auf  dem  Saigerherd.  Die  Saigerhiitten  nutzten  den  niedri- 
gen  Schmelzpunkt  des  Bleis,  um  beim  Arbeitsablauf  das  Silber  in  dem  silberhaltigen  Kupfer 


302  Hans-Joachim  Kraschewski 

kupfer  und  Silber  trug  ganz  erheblich  bei  zu  einer  Verflechtung  regional  unter- 
schiedlicher  Wirtschaftsraume  bei  wirtschaftlichen  Wechsellagen.  Das  Silber  aus 
dem  Kupfer  zu  seigern  war,  wie  Lazarus  Ercker  betonte,  eine  besonders  schdne  Kunst.65 
Durch  den  innereuropaischen  Saigerhandel  wurden  nicht  nur  das  Mansfelder  Re- 
vier,  der  Harz  und  das  sachsisch-bohmische  Erzgebirge  samt  Zuliefergewerbe  in 
das  Marktgeschehen  eingebunden,  sondern  auch  osteuropaische  Kaufleute,  die 
den  Umlauf  des  Geldes  im  Westen  mit  ihren  Blei-Handelsgeschaften  beforderten 
(Heinrich  Cramer  von  Clausbruch).66 

Seinem  Nachfolger  hinterlieB  der  Landesherr  ein  schuldenfreies  Fiirstentum 
durch  Wiedereinlosung  zahlreicher  verpfandeter  Amter  und  einen  stattlichen 
Landesschatz.67  Julius  verstand  sich  -  im  Unterschied  zu  seinem  machiavellisti- 
schen  Vater  -  als  Friedensfiirst,  der  das  Fiirstentum  mit  der  Residenz  Wolfenbiit- 
tel  zu  einem  kulturellen  Mittelpunkt  entfaltete.  Zeitgenossische  Portrats  zeigen 
einen  Herzog,  der  auf  den  schonen  Schein  der  bedachten  Selbstdarstellung  und 
den  Reichtum  einer  inszenierten  Legitimation  verzichtet.68 

IV.  Furstliche  Berater 

Im  Zentrum  der  Betrachtung  steht  das  Engagement  des  Landesherrn,  dessen  In- 
teresse  einerseits  aus  dem  Eigentum  am  Bergbau  resultierte  (Bergregal),  anderer- 
seits  einem  durchaus  zeittypisch  motivierten  Unternehmergedanken  mit  Zugriff 
des  Fiirsten  auf  den  Bergbau  als  profitable  Landesressource  entsprach.  69  Diese 

zu  isolieren;  vgl.  dazu  Lothar  Suhling,  Der  SeigerhiittenprozeB.  Die  Technologie  des  Kup- 
ferseigerns  nach  dem  friihen  metallurgischen  Schrifttum,  Stuttgart  1976. 

65  Paul  Reinhard  Beierlein  (Bearb.),  Lazarus  Ercker,  Beschreibung  der  Allervornehm- 
sten  mineralischen  Erze  und  Bergwerksarten  vomjahre  1580,  Berlin/Ost  1960,  S.  211.  -  Die 
Einfiihrung  der  Kupfersaigerung  seit  dem  ausgehenden  15.Jahrhundert  war  es,  die  nach  Cy- 
ril Stanley  Smith  „deeply  affected  European  economy",  in:  Charles  Singer  u.  a.,  A  History 
of  Technology,  Bd.  3,  3Oxford  1969,  S.  42. 

66  Ian  Blanchard,  International  Lead  Production  and  Trade  in  the  „Age  of  the  Saiger- 
prozess"  1460-1560,  in:  Zeitschrift  fur  Unternehmensgeschichte,  Beiheft  85,  Stuttgart  1995, 
S.  32,  187. 

67  Vgl.  Michael  North  (Hg.),  Von  Aktie  bis  Zoll.  Ein  historisches  Lexikon  des  Geldes: 
Artikel  Juliusturm',  Miinchen  1995,  S.  181-182. 

68  Zu  Herzogjulius  s.  ADB  14,  S.  663-670.  -  NDB  10,  S.  654f.  -  Friedrich  Wagnitz,  Der 
Lebensweg  von  Herzog  Julius  von  Braunschweig-Wolfenbiittel  bis  zum  Regierungsbeginn 
1568,  Wolfenbiittel  1999.  -  Kurt  Kronenberg,  Die  Reformation  im  Lande  Braunschweig,  in: 
Vierjahrhunderte  Lutherische  Landeskirche  in  Braunschweig,  Braunschweig  1968,  S.  9-32.  - 
Horst-Riidiger  Jarck /Gerhard  Schildt  (Hg.),  Die  Braunschweigische  Landesgeschichte. 
Jahrtausendruckblick  einer  Region,  Braunschweig  2000,  S.  470-472,  488-491,  500-505.  -  Hor- 
st-Riidiger Jarck  (Hg.),  Braunschweigisches  Biographisches  Lexikon,  wie  Anm.  39,  S.  386. 

69  Aktive  montan-unternehmerische  Tatigkeit  in  der  wirtschaftlichen  Entwicklung  der 


Organisationsstrukturen  der  Bergbauverwaltung  303 

wurde  nun  nicht  primar  als  Geldquelle  des  Herzogs  gesehen,  sondern  zuneh- 
mend  als  landeswirtschaftlich  relevantes  Erwerbsunternehmen.  Eine  Erlaute- 
rung  zur  Ordnungspolitik  sei  hier  eingefiigt:  Innerhalb  des  landesherrlichen 
Wirtschaftsgefiiges  wurde  nicht  zwischen  ordnungspolitischen  Entscheidungen 
und  prozesspolitischen  Eingriffen  unterschieden,  denn  eine  Wirtschaftspolitik 
mit  Systematik  und  theoretischer  Konzeption  gab  es  zur  Zeit  der  friihen  Kamera- 
listen  noch  nicht.70  Der  fortgeschrittene  Organisationsgrad  des  Berg-  und  Hiit- 
tenwesens  wurde  im  Direktionssystem  zusammengefasst.71  Landesherrlich  diri- 
gierter  Bergbau  konnte  sich  bei  Storungen  und  Erschiitterungen,  wie  z.  B.  bei 
schwieriger  Rohstofflage,  bei  Uberproduktion  oder  Absatzflauten  als  lenkender 
Faktor  herausstellen,  urn  innovative  Impulse  zu  geben. 

Doch  ohne  fachlich-kompetente,  technisch-funktionale,  durch  Eid  dem  Lan- 
desherrn  verpflichtete  und  mit  hinreichendem  und  stetigem  Zugewinn  an  Hand- 
lungsfahigkeit  ausgestattete  Berater,  bei  Zuriickdrangung  von  subjektiven  Ent- 
scheidungen und  Empirie  sowie  standigem  Wohnsitz  im  Harz  waren  solche 
Handlungsformen  und  -ertrage  mit  entsprechender  Verwertung  zugunsten  des 
Regalherrn  nicht  moglich  gewesen. 

In  diesem  Zusammenhang  ist  aber  auch  festzuhalten, 

-  dass  dieses  Handeln  an  bestimmte  normative  (christliche)  Setzungen  gebun- 
den  bleiben  musste,  um  dem  Anspruch  auf  Giiltigkeit  Anerkennung  verschaf- 
fen  zu  konnen, 

-  dass  produktive  Arbeitsbereitschaft  durch  unmittelbare  Bevormundung  und 
adstringierende  Vorschriften  zunichte  gemacht  werden  konnte  (Direktions- 
system), 

-  dass  einerseits  unter  solchen  Pramissen  ein  vergleichsweise  geringes  MaB  an 
Regelungsautonomie  notig  war,  die  sich  denn  auch  nurin  wenigen  Beispielen 
prazise  nachweisen  lasst  und 


Moglichkeiten  eines  Territoriums  durch  den  regierenden  Landesherrn  ist  in  der  Wirtschafts- 
und  Sozialgeschichte  der  Friihneuzeit  keine  ungewohnliche  Erscheinung:  Kurfiirst  August 
von  Sachsen,  Herzog  Johann  Albrecht  von  Mecklenburg  oder  Landgraf  Wilhelm  IV.  von 
Hessen-Kassel  gehorten  ebenso  zu  den  deutschen  fiirstlichen  Unternehmern  wie  Herzogju- 
lius  von  Braunschweig- Wolfenbiittel,  die  Herzoge  von  Bayern,  Sachsen  und  Tirol  und  die 
Grafen  von  Mansfeld,  Henneberg  und  St.  Joachimsthal. 

70  Der  Kameralismus  benotigte  zu  seiner  vollen  Entfaltung  mit  verschiedenen  systema- 
tischen  Ansatzen,  stufenweisen  Wandlungen  und  Entwicklungsrichtungen  nahezu  dreijahr- 
hunderte  (bis  zum  18.  Jahrhundert). 

71  Roland  Ladwig,  Beitrage  zur  Herausbildung  eines  wissenschaftlichen  okonomischen 
Denkens  durch  Georg  Agricola;  in:  Studien  zur  Geschichte  des  Montanwesens  in  Sachsen 
vom  16.  bis  19.  Jahrhundert,  Leipzig  1989,  S.  15-38.  -  Vgl.  dazu  auch  Andrea  Kramarczyk 
(Hg.),  Das  Feuer  der  Renaissance.  Georgius  Agricola  Ehrung  2005,  Chemnitz  2005. 


304  Hans-Joachim  Kraschewski 

-  dass  andererseits  die  Beamten  ganz  in  das  soziale  Umfeld  eingeordnet  waren 
mit  einer  Vielzahl  von  personlichen  und  gesellschaftlichen  Beziehungen  zu 
anderen  Fachleuten,  Beratern  oder  Praktikern. 

Ein  signifikantes  Beispiel  dieser  gesellschaftlichen,  stark  anwendungsorientier- 
ten  Praxis  ist  Christoph  Sander  in  seiner  Funktion  als  Oberverwalter  aller  wolfen- 
biittelschen  Berg-  und  Hiittenwerke  sowie  Forsten  im  Ober-  und  Unterharz,  der 
aufgrund  seiner  Fachkompetenz  gelegentlich  klar  und  deutlich  Bedencken  gegen- 
iiber  seinem  Landesherrn  auBerte.72 

Der  zentrale  Punkt  der  Aktivitaten  und  Vorstellungen  des  Herzogs  und  seiner 
Berg-  und  Finanzbeamten  betraf  die  zweckrationale  Effektivitat  des  Bergbaus, 
der  in  seiner  kleinteiligen  Struktur  mit  einer  Vielzahl  von  einzelnen  Gruben  am 
Rammelsberg  und  im  Oberharz  charakteristisch  war.  Diese  Aufsplitterung  in 
kleinere  Betriebsstatten,  die  jeweils  durch  einen  unabhangigen  Gewerken  als 
selbstandige  Unternehmen  gefiihrt  worden  waren  und  zunehmend  den  techni- 
schen  Schwierigkeiten  nicht  Stand  hielten  (das  Problem  war  die  Wasserwalti- 
gung  bei  zunehmender  Abbauteufe),  hatte  ihren  Grund  in  der  Bergordnung  aus 
der  Zeit  vor  1350.  Diese  beruhte  auf  dem  Besitz  einzelner  Bergteile,  deren  Nut- 
zung  wiederum  an  den  jeweiligen  Teilbesitzer  verpachtet  war,  ein  fur  die  Friih- 
neuzeit  typischer  Fall  der  Verschachtelung  von  Eigentums-  und  Nutzungsver- 
haltnissen  im  produzierenden  Bergbau.  Mit  der  Ausweitung  des  Bergbaus  muss- 
te  eine  grundlegende  Reorganisation  der  zersplitterten  Besitzverhaltnisse,  der 
Technologie  und  der  Arbeitsablaufe  eingeleitet  werden.  Insbesondere  die  Ent- 
wicklung  des  fiirstlichen  Direktionssystems  fiihrte  zu  groBraumigen  Grubenver- 
haltnissen  und  damit  zum  kostengiinstigeren  Ausbringen  der  Erze.  Das  war  die 
Grundlage  fiir  den  okonomischen  Ertrag,  den  der  Oberharzer  Bergbau  wie  der 
des  Unterharzes  am  Rammelsberg  seit  1552  zu  erwirtschaften  hatten.  Ein  weite- 
res  Moment  kam  hinzu:  Diese  groBeren  Dimensionen  unter  einer  zentralisierten 
Leitung  verlangten  nach  vereinheitlichten  und  vergleichbaren  Setzungen  zwecks 
Wiederholbarkeit  und  Abrechnung  sowie  Kontrolle  der  erzielten  Ergebnisse. 
Das  waren  aus  dem  unmittelbaren  Betriebsablauf  abgeleitete,  dringliche  Forde- 
rungen,  die  die  Bearbeitung  metrologischer  Fragen  (Regelung  von  MaB-  und  Ge- 
wichtssystemen)  auslosten.73 


72  NLA  HStA  BaCl,  Harm.  84a,  la,  Nr.  6,  Bedenken  des  Oberverwalters  Christoph  San- 
der an  Herzogjulius  betr.  den  Ankauf  von  Leder,  Planen,  Grubenseilen  etc.  (19.  April  1571). 

73  Vgl.  dazu  Harald  Witthoft,  Die  Markgewichte  von  Koln  und  Troyes  im  Spiegel  der 
Regional-  und  Reichsgeschichte  vom  11.  bis  19.Jahrhundert;  in:  Historische  Zeitschrift  253, 
1991,  S.  51-100. 


Organisationsstrukturen  der  Bergbauverwaltung  305 

1.   Bergbeamte 

Dominantes  Instrument  zur  Durchsetzung  eines  zentral  steuernden  Prinzips  der 
Produktionsprozesse  waren  die  dem  Landesherrn  unterstellten  Bergamter.  Es 
handelte  sich  indessen  um  bewahrte,  korporative  Institutionen,  die  den  Willen 
der  Grubeneigner  -  Stadt  Goslar  und  Gewerken,  dann  (nach  1552)  nur  noch  die 
Landesherrschaften  -  konsequent  umzusetzen  hatten,  um  den  Bergbau  zu  si- 
chern,  langfristig  produktiv  zu  erhalten  und  damit  die  Einkiinfte  der  fiirstlichen/ 
landesherrlichen  Kammerkassen  zu  gewahrleisten.  Denn  das  Bergamtbildete  die 
eigentliche  Betriebsleitung  der  Gruben.  1569  unterstellte  Herzog  Julius  die  Un- 
ter-  und  Oberharzer  Bergbeamten  der  Bergamter  einem  Berghauptmann,  der  als 
furstlicher  Rat  aus  Wolfenbiittel  berufen  wurde.74  Der  Berghauptmann  war  mit 
umfassenden  Befugnissen  ausgestattet.  Ihm  unterstanden  die  „Bedienten  vom 
Leder",  die  bergverstdndig  zu  sein  hatten,  d.  h.  mit  langjahriger  Berufserfahrung, 
Sachverstand  und  Umsicht  den  Bergbau  zu  leiten  in  der  Lage  waren  und  sich  zu 
alien  Bergsachen  williglichen  gebrauchen  lassen  und  dem  Bergmeister gehorsam  seyn.75  So 
war  der  Steiger  ein  vereidigter  Bediensteter  des  Bergamts,  der  auf  seiner  Grube 
die  Erzhauerzu  beaufsichtigen  hatte,  sie  zur  Arbeit  anwies  und  kontrollierte.  Nur 
errechnete  die  erbrachten  Leistungen  mit  dem  Bergamt  ab.  Lohn-  und  Gedinge- 
festlegungen  betrafen  nicht  seine  Befugnis,  allerdings  sollte  er  dem  Bergamt  Vor- 
schlage  machen,  die  der  Verbesserung  der  Arbeitsablaufe  dienten.  Diese  hatte  er 
dann  als  landesherrliche  Direktive  in  seiner  Grube  umzusetzen. 


2.   Funktionstrager:  Ein  Beispiel 


76 


Einen  exemplarischen  Konfliktfall  bildete  die  Amtsfiihrung  des  Steigers  Caspar 
Pommerlein,  der  fur  das  Eisenbergwerk  am  Schulenberg  im  Oberharz  zustandig 
war.  Es  handelte  sich  um  einen  Bergbau,  dessen  Stollen  von  Tage  vorgetrieben 
wurde  und  in  dessen  Fundgruben  groBe  Anbriiche  an  Eisenstein  vorhanden  sein 

74  Das  Bergamt  (Zellerfeld,  seit  1570  das  Bergamtssigel  fiihrend)  setzte  sich  zusammen 
aus  dem  (Ober)Berghauptmann  und  zwei  Vizeberghauptleuten,  den  Beamten  „von  der  Fe- 
der"  (Zehntner  und  Zehntgegenschreiber,  dem  Bergmeister  und  dem  Bergschreiber,  einem 
Hiittenreiter  und  einem  Hiittenschreiber)  als  Betriebs-  und  Finanzbeamten  und  den  Beam- 
ten  „vom  Leder"  (Bergvogt,  Vizebergvogt,  fiinf  Geschwornen  und  Schicht-  oder  Bergmei- 
ster) als  den  technischen  Fachleuten  der  Verwaltung. 

75  NLA  HStA  BaCl,  Hann.  84a,  808,  2,  Grubenhagensche  Bergordnung  von  1554  (For- 
mat Octav,  136  Blatter,  nicht  gedruckt). 

76  NLA  HStA  BaCl,  Hann.  84a,  8a,  Nr.  67,  Schreiben  Herzogs  Julius  an  das  Obere  Berg- 
amt betr.  die  Amtsfiihrung  des  Steigers  Caspar  Pommerlein  (14.  Oktober  1575).  -  Protokoll 
des  Oberen  Bergamts  (19.  Oktober  1575)  -  Bericht  des  Oberverwalters  Christoph  Sander  an 
Herzog  Julius  (19.  Oktober  1575). 


306  Hans-Joachim  Kraschewski 

sollten.  Auf  die  Klage  des  Steigers  setzte  das  Obere  Bergamt  in  Zellerfeld  am  19. 
Oktober  1575  in  Anwesenheit  des  Oberverwalters  Christoph  Sander  einen  Ver- 
handlungstag  an  und  legte  anschlieBend  ein  umfangreiches  Protokoll  vor.  Vorge- 
laden  war  Oberbergmeister  Peter  Adner,  der  als  Berichterstatter  iiber  die  Entset- 
zung  Pommerleins  vom  Dienst  zu  referieren  hatte. 

Pommerlein  wurde  vorgeworfen,  -  so  die  Geschwornen  Wolf  Tost  und  Valen- 
tin Fleischer,  beide  ermahnt  bey  den  pflichten  und  eyden,  damit  sie  dem  Landesherrn 
verwandt,  ohne  Neid  und  Hass  auszusagen,  -  er  habe 

-  seinen  Steigerdienst  nachlassig,  weil  unpiinktlich  vollzogen, 

-  die  Arbeiter  nicht  zur  Arbeit  angehalten, 

-  sich  von  einem  Haspeler77  unrechtmaBig  Holz  liefern  lassen, 

-  ihm  dafiir  seinen  Lohn  gutgeschrieben  und  er  sei,  da  er  ein  bier  Krueger gewesen, 
in  verdacht,  weil  der  Eysenstein  etwas  abgelegen,  das  er  demselbigen  mit  sollichem  vleis, 
wie  ihme  wol  het  geburen  wollen,  nicht  obligge. 

Hier  sei  eine  Erlauterung  eingefiigt:  Die  Aufgabe  der  Geschwornen  war  die 
tagliche  Kontrolle  der  Betriebsablaufe  in  den  ihnen  zugewiesenen  Gruben.  Sie 
hatten  auf  die  Sicherheit  der  Baue  und  der  Arbeiter,  auf  die  Einhaltung  der  For- 
dermengen  und  bergamtlicher  Vorschriften  zu  achten.  Mit  Sitz  und  Stimme  im 
Bergamt  bildeten  sie  die  untere  Instanz  dieser  Behorde  auf  technischem  und  be- 
triebsorganisatorischem  Gebiet. 

Als  weitere  VerstoBe  Pommerleins  kamen  hinzu:  Gedingearbeit78  wahrend 
der  regularen  Schichtzeit  ausfiihren  und  verrechnen  zu  lassen,  Eisengezeug  (Ge- 
zahe  als  Schlagel  und  Eisen,  Keilhacken,  Kratzen,  Schaufeln)  von  einer  anderen 
Zeche  (Prophet  Samuel)  vorbei  am  Bergmeister  zu  seiner  Zeche  bringen  zu  las- 
sen, da  es  dort  standig  fehlte,  und  schlieBlich  Unschlitt  furs  Geleucht  falsch  ausge- 
wogen  zu  haben. 

Die  Vorwiirfe  wurden  durch  den  Geschwornen  Hans  Bruckner,  in  dessen  Zu- 
standigkeit  das  Stuffenthal  fiel,  bestatigt  und  zugespitzt:  Pommerlein  habe  das 
Gezeug  auf  dessen  eigene  Zeche  auf  dem  Adler  im  Spiegelthal  schaffen  und  dort 
zur  Arbeit  einsetzen  lassen.  Sollte  er  ergiebigere  Eisenstein-Gruben  als  die  beleg- 
ten  gekannt  haben,  so  ware  es  bei  seinem  Diensteid  seine  Pflicht  gewesen,  dieses 
dem  Oberbergamt  anzuzeigen.  Das  sei  aber  nicht  geschehen.  Was  Pommerleins 
eigene  Zeche  auf  dem  Adler  betreffe,  so  habe  er  bisher  dort  keine  Stufe  Erz  nach- 


77  Haspeler.  obertagiger  Bergarbeiter,  der  mit  einem  horizontal  liegenden  Rundbaum 
zum  Auf-  und  Abwickeln  von  Forderseilen  arbeitete. 

78  Gedinge:  zu  einem  festen  Lohnsatz  vereinbarte  Abbau-  oder  Auffahrleistung.  Gedinge 
wurden  fur  besondere  StoBarbeiten  vergeben.  Im  Unterschied  zu  den  Erzhauern  standen 
die  Gedingehauer  in  einem  fixierten  Zeit-Leistungslohn  (als  Vorstufe  des  spater  entwickel- 
ten  Akkords). 


Organisationsstrukturen  der  Bergbauverwaltung  307 

geschlagen,  sondern  er  habe  den  -  dem  Herzog  Julius  -  vorgewiesenen  Hand- 
stein79  von  den  Halden  gebrochen,  dan  alda  noch  zimlicher  Vorrat  von  ertzen,  so  die 
alten  Gewercken  mit  ihren  gulden  und  Gelde  erwonnen,  d.  h.  der  Steiger  Pommerlein 
habe  bewusst  triigerisch  gehandelt  oder  sich  mit  falschen  Aussagen  Vorteile  zu 
verschaffen  gesucht. 

In  seiner  Gegenrede  bestritt  Pommerlein  die  gegen  ihn  erhobenen  Vorwiirfe. 
Es  blieb  bei  den  zugewiesenen  Beschuldigungen,  zumal  der  Oberverwalter  Chri- 
stoph  Sander  in  seinem  eigenen  Bericht  an  den  Herzog  bekraftigte,  dass  Ober- 
bergmeister  und  Hiittenreuter  vormuge  ihres  tragenden  ambtes  Macht  haben,  undiichti- 
ge  Steiger  und  Schmelzer  zuentsetzen,  dock  mit  wissen  des  [BergJHaubtmanns. 

Oberbergmeister  Peter  Adner  hingegen  musste  sich  rechtfertigen,  aus  welchen 
Griinden  er  ohne  Bewilligung  und  Vorwissen  des  Berghauptmanns  den  Steiger 
Pommerlein  des  Dienstes  enthoben  habe,  zumal  der  Eisenbergbau  nicht  in  sein 
Ressort  fiele  und  -  so  Herzog  Julius  -  das  Silberbergwerk  mit  dem  Eisenwerk  nicht  zu 
schaffen  noch  eins  dem  andern  zu  gebieten.  Denn  wenn  er,  Adner,  etwas  pecciret,  d.  h. 
einen  Fehler  gemacht  hat,  hatte  man  ihn  in  gebuhrliche  strafe  nehmen  konnen,  unab- 
hangig  von  dessen  redlichem  Bemiihen,  den  Eisenstein  zum  Erfolg  zu  fiihren.80 

Soweit  dieser  Vorgang,  der  zeigt,  wie  stark  die  Bergbeamtenschaft  unter  einem 
Druck  zur  Veranderung  stand,  der  sowohl  ihre  technischen  Kenntnisse,  ihre  Ein- 
stellung  zur  Arbeit  wie  ihre  gruben-rechtlichen  Vorstellungen  betraf.  Die  klare 
Abtrennung  des  Edelmetallbergbaus  ist  in  diesem  Kontext  als  die  wichtigste 
MaBnahme  zu  qualifizieren,  um  sachgerechte  und  storungsfreie  Arbeitsablaufe 
zu  erreichen. 

Das  Direktionssystem  stellte  die  Beamtenschaft  vor  die  Forderung  des  Landes- 
herrn,  korrekte  und  effektive  Grubenarbeit  einzulosen,  Arbeitsschritte  zu  iiber- 
wachen,  gegen  Unterschleife,  Dieberei,  Nachlassigkeit  und  Unpiinktlichkeit  vor- 
zugehen  und  eventuell  ein  StrafmaB  bei  Vergehen  festzulegen.  Eine  fachkundige 
Bergbeamtenschaft  musste  aus  sachlogischen  Griinden  die  Notwendigkeit  der 
eindeutigen  Trennung  und  Regulierung  von  Montanbetrieben  mit  unterschiedli- 
chen  Funktionssystemen  anerkennen,  sollte  derBergbau  produktiv  weiter  gefiihrt 
werden.  Verglichen  mit  den  iibrigen  Verwaltungseinrichtungen  des  Landes  wies 
Herzog  Julius  der  Bergbehorde  eine  herausgehobene  Stellung  zu:  Sie  war  eine 
iiber  den  Grubenbetreibern  stehende  entscheidende  Instanz  -  abgesehen  vom 


79  Handstein  oder  Erzstufe:  Handstiick  von  Gestein  oder  Erz. 

80  Als  Konsequenz  aus  diesem  und  vergleichbaren  Vorgangen  (UnregelmaBigkeiten  bei 
der  Arbeit  von  Zehntnern  oder  Zehntgegenschreibern)  erlieB  der  Landesherr  1578  eine 
Dienstanweisung  fur  die  Kommission  der  Visitatoren  iiber  die  Reihenfolge  ihrer  Rechnungs- 
abnahme  der  Bergwerke,  wozu  auch  die  Rechnung  der  Gittelder  Einsenkanzlei  und  der  Ei- 
sensteingruben  gehorte  (NLA  HStA  BaCl,  Hann.  84a,  2a,  Nr.  13,  14.  Marz  1578). 


308  Hans-Joachim  Kraschewski 

Landesherrn,  -  die  iiber  einen  groBen  Kernbereich  an  delegierten  Befugnissen 
auf  dem  Bergbausektor  verfiigte.  Zu  fragen  ist  in  diesem  Zusammenhang: 

-  Um  welche  sozialen  Gruppen  handelte  es  sich  bei  den  mit  der  Leitung  des 
Bergbaus  betrauten  Beamten? 

-  Was  bedeuteten  Territorialstaat  und  Beamtenschaft  im  Kontext  von  Berg- 
und  Hiittenwesen  Mitte/Ende  des  16.  Jahrhunderts? 

Das  sind  insofern  wichtige  Fragen,  als  der  friihneuzeitliche  Territorialstaat 
nicht  nur  im  Bereich  des  Bergbaus  eine  historisch  neue  Erscheinung  war,  sondern 
Beamte  sich  erst  in  Umrissen  herausbildeten,  wenn  auch  schon  einige  biirokrati- 
sche  Strukturen  sichtbar  wurden  (vor  allem  durch  Kontrollfunktionen) .  Es  waren 
Beamte,  die  ihr  Amt  vom  Landesherrn  verliehen  bekamen  und  durch  ein  regel- 
maBiges  Einkommen  und  Deputate  (Sommer-  und  Winter-Kleidung,  Brot-  und 
Futtergetreide,  Holz  etc.)  entlohnt  wurden.  Es  gab  keine  formalisierte  Ausbil- 
dung,  die  eng  mit  dem  Erlernen  eines  spezifischen  Beamtenhabitus  verkniipft 
war.  Es  gab  auch  kein  ausgebildetes  Sozialmodell  des  Bergbeamten  mit  wissen- 
schaftlicher  Ausbildung  an  einer  Bergakademie.  Inhaltlich  verfiigten  sie  iiber 
groBes  Erfahrungswissen  und  praktische  Unterweisung  in  den  verschiedenen 
Bergbaubereichen  ohne  deren  theoretische  Durchdringung.  Dass  sie  auch  auf  ein 
empirisch  verankertes  Verstandnis  von  kameralistischer  Wirtschaftsforderung 
zuriickgreifen  konnten,  ist  nicht  anzunehmen.  Pragmatisch  und  zweckgebunden 
wurden  sie  in  die  Vorgaben  und  Konzeptionen  des  Landesherrn  eingebunden 
und  hatten  dessen  Willen  umzusetzen. 

Ihre  besondere  Stellung  als  Bergbeamte  innerhalb  des  fruhmodernen  Territo- 
rialstaates  griindete  in  der  engen  Verkniipfung  von  praktischen  Expertenkennt- 
nissen,  konkreten  Erfahrungen  mit  dem  Gedankengut  des  nachreformatorischen 
Konfessionalisierungsprozesses  und  dem  Status  der  privilegierten  Oberschicht 
ihrer  sozialen  Trager.81  Das  erst  erklart  eine  gewisse  Vorrangstellung  der  monta- 
nistischen  Sozialformation  der  Beamten.  Stadtpatriziat  und  Adlige82  trafen  sich 


81  Giinther  Schulz  (Hg.) ,  Sozialer  Aufstieg.  Funktionseliten  im  spaten  Mittelalter  und  in 
der  Friihen  Neuzeit,  Miinchen  2002.  -  Ronald  G.  Asch,  Staatsbildung  und  adlige  Fiihrungs- 
schichten  in  der  Friihen  Neuzeit:  Auf  dem  Weg  zur  Auflosung  der  standischen  Identitat  des 
Adels?;  in:  Geschichte  und  Gesellschaft  33,  2007,  S.  375-397. 

82  Hartmut  Harnisch,  Grundherrschaft  oder  Gutsherrschaft.  Zu  den  wirtschaftlichen 
Grundlagen  des  niederen  Adels  in  Norddeutschland  zwischen  spatmittelalterlicher  Agrar- 
krise  und  DreiBigjahrigem  Krieg;  in:  Rudolf  Endres  (Hg.),  Adel  in  der  Friihneuzeit.  Ein  re- 
gionaler  Vergleich,  Koln,  Wien  1991,  S.  73-98,  verweist  auf  mehrere  Beispiele  des  niederen 
Adels,  die  als  „Adelskapitalisten"  (S.  95)  ihr  Geld  im  Harzer  Montanwesen  anlegten:  Achaz 
von  Veltheim  erwarb  1572  die  Hiitte  Rubeland,  wahrend  Ludolf  von  Alvensleben  1572  ge- 
meinsam  mit  mehreren  Biirgern  aus  Magdeburg  durch  einen  Gesellschaftsvertrag  am  Ilsen- 
burgischen  Draht-,  Messing-Kessel-,  Eisen-  und  Blechhandel  mit  der  eingelegten  Summe  von 


Organisationsstrukturen  der  Bergbauverwaltung  309 

in  den  Bergamtem  und  der  Bergbauverwaltung  mit  dem  Ziel,  im  landesherrli- 
chen  Dienst  als  Bergbeamte  den  Bergbau  zum  Gemeinen Bergwerksbestenvmd  dem 
Gemeinwohl-  und  damit  nicht  nur  fur  das  landesherrliche  Privatvermogen  -  tech- 
nisch  und  wirtschaftlich  effizient  fortzuentwickeln.83  Mit  ihren  Vorstellungen  von 
der  Entfaltung  eines  Wirtschaftssektors,  in  den  man  eine  Reihe  von  anderen  Pro- 
duktionszweigen,  u.  a.  produzierendes  Handwerk  und  Gewerbe  integrierte,  ver- 
banden  sie  Elemente  einer  Wirtschafts-  und  Gesellschaftsordnung,  die  Teile  der 
alten  standischen  Verfassung  der  tradieren  Gesellschaft  in  Frage  stellten.  Dazu  ge- 
horte  der  Berghauptmann  Asmus  Helder,  der  1556  die  Leitung  aller  Harzer  Berg- 
und  Hiittenwerke  in  der  Zeit  vor  Christoph  Sanders  Ernennung  inne  gehabt  hat- 
te.84  Infolge  einigerUnregelmaBigkeiten  beim  Kuxhandel  und  Missgriffen  in  sei- 
ner Verwaltung  lebte  er  zeitweilig  zuriickgezogen,85  bis  er  1571  als  herzoglicher 
Landsknechtshauptmann,  zustandig  auch  fur  Haus-  und  Amtersachen,  in  Wol- 
fenbiittel  bestallt  wurde  und  zwischen  den  einzelnen  Teilbereichen  Verbindun- 
gen  aufbaute.  Das  konnte  allerdings,  bei  der  Vielzahl  der  Amter,  nur  zwischen 
wirtschaftlich  bedeutsamen  Amtern  geschehen. 

Die  Beamten  mussten  sich  mit  ihren  Vorstellungen  und  Konzeptionen  nicht 
gegen  andere,  namlich  konkurrierende  Plane  oder  soziale  Gruppen  (Stadtbiirger) 
durchsetzen,  zumal  sie  innerhalb  eines  einheitlichen  (homogenen)  Verwaltungs- 
apparates  tatig  waren.  Berg-  und  Finanzbeamte  nahmen  auch  keine  unterschied- 
lichen  Positionen  ein  und  standen  nicht  quer  zueinander  im  Wettstreit  um  die  zu 
verandernde  Ausgestaltung  von  Segmenten  des  fruhmodernen  Territorialstaates. 
Der  Landesherr  dominierte  und  forderte  zwangslaufig  die  Vereinheitlichung, 
falls  unterschiedliche  Konzepte  vertreten  wurden  oder  setzte  seinen  eigenen,  au- 
tonomen  Willen  durch.  Das  beeinflusste  den  intendierten  Weg  der  Entwicklung, 
der  nicht  zuletzt  in  der  beibehaltenen  Trennung  von  verwaltender  und  manueller 
Tatigkeit  seinen  Ausdruck  fand. 


40.000  Gulden  engagiert  war.  Damit  waren  sie  allerdings  lediglich  finanziell,  nicht  aber 
technisch  oder  betriebswirtschaftlich  an  der  Montanproduktion  beteiligt. 

83  Herbert  Dennert,  Bergbau  und  Huttenwesen  im  Harz  vom  16.  bis  19.  Jahrhundert 
dargestellt  in  Lebensbildern  fuhrender  Personlichkeiten,  2Clausthal-Zellerfeld  1986. 

84  Zu  Asmus  Helder  vgl.  Jarck  (Hg.),  Braunschweigisches  Biographisches  Lexikon,  wie 
Anm.  39,  S.  333-334.  -  NLA  HStA  BaCl,  Hann.  84a,  Histor.  und  Stat.  Nachr.,  Nr.  27,  Ver- 
tragliche  Abgrenzung  der  Kompetenzen  zwischen  Asmus  Helder,  Berghauptmann  auf  dem 
Zellerfeld,  und  Christoph  Sander,  Zehntner  zu  Goslar  (3.  Februar  1566). 

85  Vgl.  auch  Georg  Conrad  von  Salz,  Der  Communion-Oberharz.  Ein  actenmaBiger 
Beitrag  zur  Harzgeschichte,  2.  Heft,  1858,  S.  22-24  (MS  im  NLA  HStA  BaCl,  Bibliothek 
Achenbach). 


310  Hans-Joachim  Kraschewski 

V.  Normative  Sachkompetenz 

1.   Oberverwalter  Christoph  Sander  (1518-1598) 

Der  wichtigste,  weil  fachlich  kompetenteste  Bergbeamte  des  16.  Jahrhunderts  im 
Harz  war  Christoph  Sander.  Es  war  sein  Verdienst,  dass  die  wolfenbiittelsche 
Bergverwaltung  unterHerzog  Julius  kontinuierlich  und  vorbildlich  funktionierte 
und  derBergbau  auf  mittlerem  (Rammelsberg)  bis  hohem  Niveau  (Oberharz)  vor- 
weisbare  Ergebnisse  erzielen  konnte,  denn  er  sicherte  die  Uberwachung  des 
Montanwesens  im  westlichen  Harz  und  starkte  damit  den  landesherrlichen  Ein- 
fluss  und  die  Kontrolle  iiberdie  Blei-  und  Silber-Produktion.  Zugleich  sorgte  erfiir 
die  Entwicklung  staatlicher  Regiebetriebe  durch  Verhiittung  der  Fronerze  in  den 
landesherrlichen  Schmelzhiitten.  Konkurrierende,  privatwirtschaftlich  betrie- 
bene  Unternehmungen  wurden  von  ihm  in  landesherrliche  Aufsicht  uberfuhrt. 
Mit  seiner  Berufung  zum  Amtmann  in  Lichtenberg  und  1556  zum  Zehntner 
(Rechnungs-  und  Finanzverwalter)  und  Forstschreiber  der  Oberharzer  Bergwer- 
ke  durch  Herzog  Heinrich  den  Jiingeren  begann  Sanders  eigentliche  Karriere. 
1563  wurde  er  nach  Goslar  versetzt  und  zum  Oberzehntner  und  Verwalter  der 
Berg-  und  Hiittenwerke  am  Rammelsberg  befordert,  der  energisch  fur  korrekte 
Verwaltung  und  effiziente  Arbeit  der  Gruben-  und  Hiittenbetriebe  sorgte.  Zu- 
nachst  geriet  er  in  Kompetenzstreit  mit  Peter  Adner,  der  schon  unmittelbar  nach 
der  Wiederaufnahmen  des  Bergbaus  in  Wildemann  1536  durch  Herzog  Heinrich 
den  Jiingeren  zum  Steiger  und  Geschwornen  (1554)  auf  dem  Oberharz  ernannt 
worden  war  und  seit  1556  als  Bergmeisterund  Berghauptmann  seine  technischen 
und  organisatorischen  Fahigkeiten  und  Erfahrungen  fur  mehr  als  dreiBig  Jahre 
einbringen  konnte.86  Insofern  ist  es  nicht  zufallig,  dass  Agricola  Zellerfeld  als  ein 
zu  seiner  Zeit  wieder  aufgenommenes  Bergwerk  erwahnt.  Aus  diesem  hatten  die 
Fiirsten  von  Braunschweig-Wolfenbiittel  Werte  aufgehauft,  weil  man  dort  und  an 
benachbarten  Platzen  Silber  schiirfe.87  Als  der  Streit  zwischen  Adner  und  Sander 
1566  vertraglich  beigelegt  wurde,  bestellte  Herzog  Julius  Christoph  Sander  auf- 
grund  seiner  erfolgreichen  Tatigkeit  1572  zum  Oberverwalter  aller  wolfenbiittel- 
schen  Berg-  und  Hiittenwerke  sowie  Forsten  im  Ober-  und  Unterharz,  ausgestat- 
tet  mit  der  Machtfiille  eines  Berghauptmanns,  ohne  dass  er  diesen  Titel  besaB.  Er 
war  Zehntner  und  Statthalter  des  Fiirsten.  Adner  und  Sander  beritten  und  beauf- 
sichtigten  gegenseitig  ihre  Reviere  und  informierten  sich  wechselseitig  iiber  fest- 


86  Zum  Oberbergmeister  Peter  Adner  vgl.  Jarck  (Hg.),  Braunschweigisches  Biographi- 
sches  Lexikon,  wie  Anm.  39,  S.  28-29. 

87  Georgius  Agricola,  Vermischte  Schriften,  Bd.  I,  De  veteris  et  novis  metallis  libri  II. 
Erzlagerstatten  und  Erzbergbau  in  alter  und  neuer  Zeit,  Berlin  1961,  S.  96. 


Organisationsstrukturen  der  Bergbauverwaltung  311 

gestellte  Mangel.88  Wie  Georg  Conrad  von  Salz  berichtet,  hatte  Herzog  Julius 
1569  es  fur  notig  befunden,  die  Wirksamkeit  der  Berghauptleute  einer  speziellen 
Aufsicht  durch  Oberberghauptleute  zu  unterstellen.  Das  war  gleichsam  eine  Mittel- 
instanz  zwischen  dem  Landesherrn  und  seiner  Regierung  bzw.  den  Bergamtern 
des  Harzes.89  Sie  bewahrte  sich  jedoch  nicht,  da  dieses  Verwaltungspersonal  kei- 
ne  sachverstandigen  Techniker  des  Bergbaus  hatte  und  seinen  Wohnsitz  auBer- 
halb  des  Harzes  beibehielt  und  folglich  im  Bedarfsfall  nicht  rechtzeitig  am  Ort 
des  Geschehens  eintraf.  Schon  nach  wenigenjahren  wurde  daher  diese  Mittelin- 
stanz  wieder  abgeschafft  und  die  Berghauptleute  in  ihr  altes  Direktionsrecht  ein- 
gesetzt,  des  Bergwercks  gedey  und  wolfart  zu  befurdern. 

Bereits  1564  hatte  Sander  den  Techniker  Heinrich  Eschenbach  aus  dem  Land 
MeiBen  zum  Rammelsberg  berufen  lassen,  der  zur  Wasserwaltigung  die  Stangen- 
kunst  mit  dem  Krummen  Zapfen,  seinerzeit  die  leistungsfahigste  Maschinerie,  inner- 
halb  von  zwei Jahren  als  die  Hauptwasserhaltung  aufbaute,  so  dass  noch  weitere 
unter  Wasser  stehende  Gruben  gesiimpft  und  neue,  unverritzte  Bleierzvorkom- 
men  erschlossen  werden  konnten.90  Durch  diese  Neuerung  vergroBerte  sich  das 
Vo lumen  der  Metallgewinnung.  Auch  der  Miinzwardein  Lazarus  Ercker91  war 
von  der  technische  Qualitat  dieser  Gestangewasserhaltung  mit  Wasserradantrieb 
tiber  einer  Kurbelwelle  ebenso  iiberzeugt92  wie  der  Berghauptmann  Georg  En- 
gelhardt  von  LohneiB  eine  Generation  sparer:  Die  Stangenkiinste  mit  dem  krummen 
Zapfen  sind  unter  alien  anderen  Wasserkiinsten  die  bestendigsten  und  niitzlichsten,  zudem 
sind  sie  auch  ohn  grossen  Kosten  zuerbauen  und  zuerhalten.93 


88  NLA  HStA  BaCl,  Harm.  84a,  la,  Nr.  5,  Resolution  Herzogs  Julius  fur  das  Obere  und 
Untere  Bergwerk,  dass  die  Beamten  wechselseitig  in  alien  Fallen  und  zu  jeder  Zeit  mit  Rat 
und  Tat  einander  die  Hand  reichen  sollen  (S.Juni  1570). 

89  Georg  Conrad  von  Salz,  Der  Communion-Oberharz.  2.  Heft,  wie  Anm.  85,  S.  3. 

90  Paul-Reinhard  Beierelein,  Heinrich  Winkelmann  (Bearb.  und  Hg.):  Lazarus  Ercker, 
Das  kleine  Probierbuch  von  1556;  Vom  Rammelsberg"  und  dessen  Bergwerk,  ein  kurzer  Be 
richt  von  1565;  Das  Munzbuch  von  1563.  Drei  Schriften,  Bochum  1968.  -  In  „Vom  Ram- 
melsberg und  dessen  Bergwerk"  heiBt  es  dazu:  Es  hat  der  Rammelsberg  viel  Wasser  und  ist  kein 
tieffer  Stollen  darein  getrieben.  [.  .  .J  Da  unter stund  sich  ein  Ausldnder  aus  dem  Land  zu  Meissen  mit 
Nahmen  Matthias  [korrekt:  Heinrich]  Eschenbach,  in  den  Rammelsberg  die  Wasser-Kunst  mit  dem 
krummen  Zapfen  zu  hdngen  (S.  241).  -  Eschenbach  hatte  nach  1545  im  sachsischen  Erzgebirge 
(Ehrenfriedersdorf)  die  wassergetriebene  Gestangepumpe  „Kunst  mit  dem  Krummen  Zap- 
fen" oder  „Ehrenfriedersdorfer  Radpumpe"  entwickelt,  die  in  den  zentraleuropaischen  Re- 
vieren  eingesetzt  wurde.  Dieses  System  zur  Wasserwaltigung  blieb  die  folgenden  zwei  Jahr- 
hunderte  in  Anwendung.  -  Graham  Hollister-Short,  Die  Anfange  der  Gestangewasserhal- 
tung im  mitteleuropaischen  Bergbau;  in:  Der  Anschnitt  42,  1990,  S.  131-140. 

91  Vgl.  dazu  unten  Anm.  106. 

92  NLA  HStA  BaCl,  Hann.  84a,  2a,  Nr.  11,  Bericht  vom  Rammelsbergischen  Bergwerk 
1576  (wie  Anm.  52). 

93  Georg  Engelhardt  von  Lohneiss,  Bericht  vom  Bergkwerck,  wie  man  dieselben  bauen 


312  Hans-Joachim  Kraschewski 

Im  Oberharz  (Wildemanner-Revier)  setzte  Sander  nicht  nur  Pumpanlagen  mit 
Wasserradantrieb  erfolgreich  ein,  um  das  zuflieBende  Wasser  zu  heben,  sondern 
fiihrte  die  von  Heinrich  demjiingeren  begonnene  Arbeit  an  Wetter-  und  Wasser- 
losungs-Stollen  fort.  Er  lieB  gegen  alle  Bedenken  der  zustandigen  Bergbeamten, 
aber  mit  Zustimmung  Herzogs  Julius,  einen  Stollen  in  den  Stuffenthaler  Gangen 
in  zweieinhalb  Jahren  auffahren:  Denn  albereitt  15  Zechen  im  Staubenthall  rege  und 
fundtlich  gemacht  sind,  zugeschweigen,  dass  soldier  Stoln  nunmehr  dem  tieffen  frankschar- 
nerStoln  die  erbgerechtigkeit  benimpt.9i  Das  Bergamt  hatte  darauf  verwiesen,  dass  auf 
den  bezeichneten  Grubenfeldern  bei  Wildemann  nicht  ausreichend  Wetter-  und 
Wasserlosungsstollen  vorhanden  seien.  Doch,  -  bevehlen  derwegen  gnediglich,  -  der 
Stollner  der  bedeutenden  Wasserlosungsstollen  war  definitiv  der  Landesherr  und 
dessen  Anordnung  gait  ohne  Widerrede.  SchlieBlich  wurden  noch  zwei  weitere 
Stollen  aufgenommen,  der  Getroste  Hedwigs-  bzw.  der  Obere  Wildemanner- 
Stollen,  die  vierzig  Lachter  Teufe  brachten  und  in  ihrer  Bedeutung  vom  Haus 
Braunschweig  hoch  geschatzt  wurden.  Allerdings  hatte  man  dort  keine  Erzanbrii- 
che  gefunden,  sondern  tauben  Fels.  Als  aber  nach  1570  der  Getroste  Hedwigs- 
Stollen  37  Lachter  tiefer  eingebracht  wurde,  konnten  dort  eingesprengtes  Erz 
iiberfahren  und  auf  schneidigem  Gang  fortgefiihrt  werden,  wenn  auch  nur  mit  ge- 
ringem  Silbergehalt  (zwei  Lot) .  Insofern  musste  ein  weiterer  Stollen  angelegt  bzw. 
wieder  aufgewaltigt  und  weiter  getrieben  werden,  den  Heinrich  der  Jiingere  be- 
reits  1526  hatte  auffahren  lassen  wollen,  der  Tiefe  Wildemanner-Stollen,  dessen 
Gang  bessere  Ergebnisse  versprach.95  Die  fur  die  zahlreichen  Stollen-Auffahrun- 
gen  vom  Landesherrn  angelegten  Gelder  kamen  sukzessive  durch  den  Stollen- 
Neunten,  den  jede  Grube  neben  dem  Zehnten  als  weiteres  Zehntel  an  die  Zehnt- 
kasse  zu  zahlen  hatte,  wieder  herein.96 

und  in  guten  Wohlstandt  bringen  soil,  sampt  alien  darzu  gehorigen  Arbeiten,  Ordnungen 
und  rechtlichen  ProceB,  1.  Aufl.  Zellerfeld  1617,  343  S.,  Vorrede.  Doppelseitige  Tafeln  im 
Text  (4.  Aufl.  Frankfurt/M.  1672  -  Letzte  Auflage  1717  Hamburg). 

94  NLA  HStA  BaCl,  Hann.  84a,  2a,  Nr.  11,  Bericht  vom  Rammelsbergischen  Bergwerk 
1576,  wie  Anm.  52,  die  Forderung  in  dem  Bericht  lautet,  dass  ein  Stollen,  der  die  Erbgerecht- 
same  erlangen  wollte,  7 Lachter  und  ein  Viertel  (14  m)  von  der  Erdoberflache  bis  unter  des  an- 
dern  Wasserseige  (Ebene  zum  Ablaufen  des  Wassers)  einbringen  musste,  dann  hat  es  deme  an- 
dern  seine  gerechtigkeit  gantz  und  gar  abgeschnitten.  Am  Rammelsberg  hatte  der  tiefere  Stollen 
mindestens  10  Lachter  (19,20  m)  unter  dem  dariiber  liegenden  einzubringen. 

95  NLA  HStA  BaCl,  Hann.  84a,  2a,  Nr.  13,  Bericht  des  Oberen  Bergamts  an  HerzogJuli- 
us  iiber  den  Stand  des  Bergbaus  im  Oberharz  (zwischen  Wildemann  und  Zellerfeld),  10. 
April  1578.  -  Der  Tiefe  Wildemann  Stollen  warder  spatere  13  Lachter-Stollen,  den  die  Alten 
durch  den  Gallenberg  zu  treiben  begonnen  hatten.  Dieser  Stollen  musste  auf  dem  Zellerfel- 
der  Hauptzug  die  beachtliche  Teufe  von  100  Lachter  (ca.  200  m)  einbringen,  ein  Projekt,  das 
mit  ungeheuren  Schwierigkeiten  verbunden  war. 

96  Der  13  Lachter-Stollen  wurde  mit  43  Durchschlagen  auf  einer  Lange  von  4500  m  in 
ca.  170  Jahren  von  Wildemann  bis  zum  Treuer  Schacht  in  Zellerfeld  durchgetrieben  und  er- 


Organisationsstrukturen  der  Bergbauverwaltung  313 

Das  Beispiel  zeigt,  welche  AnstoBe  Sander  von  Herzog  Julius  aufhahm  und, 
weit  vorausschauend,  in  Eigeninitiative  umsetzte.  1576  verwaltete  er  als  Oberamt- 
mann  die  sieben  Amter  im  Harz  und  war  damit  Vorgesetzter  des  Amtmanns  zur 
Harzburg,  der  iiber  die  Bergstadte  die  hohe  Gerichtsbarkeit  ausiibte.  Zwei  Jahre 
nach  dem  Tod  seiner  ersten  Frau  heiratete  er  1573  die  Tochter  des  angesehnen 
Goslarer  Burgers  Heinrich  von  Uslar,  wodurch  er  in  die  soziale  Oberschicht  der 
Stadt  aufstieg. 

Das  wesentliche  Problem  des  Bergbaubetriebs  war  und  blieb  die  Wasserhal- 
tung.  Mit  der  Anlage  eines  neuen  Wasserlosungsstollen,  der  bis  1585  mit  groBem 
finanziellen  Aufwand  vollendet  wurde,  erlangte  der  „Tiefe  Julius  Fortunatus  Stol- 
len"  (Lange  2.578  m)  zentrale  Bedeutung  fur  die  Wasserhaltung  des  Rammels- 
bergs  und  behielt  sie  weitere  vierhundert  Jahre  bei.97  Durch  Zuheben  der  Wasser 
gelang  es  nun,  selbst  in  wassernotigen  Gruben  bis  in  eine  Tiefe  von  50  Lachter 
(knapp  100  m)  unterhalb  des  tiefsten  Stollens  die  Wasser  knapp  z.u  halten.  Mit  dem 
Durchschlag  enterbte  dieser  Stollen  den  dariibergelegenen  Rathstiefsten  Stollen, 
d.  h.  dessen  Rechte  als  bis  dahin  tiefster  Stollen  gingen  nunmehr  auf  den  Julius 
Fortunatus  Stollen  bzw.  auf  dessen  Stollner,  den  Landesherrn,  iiber  hinsichtlich 
der  Erhebung  des  Stollen-Neunten  und  des  Rechts  auf  Stollenhieb  (Gewinnung 
derjenigen  Erze,  die  beim  Auffahren  des  Stollens  durch  eine  fremde  Grube  er- 
reichbar  waren). 

Bis  zum  Betriebsende  des  Bergwerks  Rammelsberg  1988  funktionierte  dieser 
Stollen  als  entscheidender  Wasserhaltungsstollen.98 

reichte  im  Jahr  1700  auf  der  Grube  Caroline  den  Burgstadter  Zug.  -  Zu  den  wasserwirtschaft- 
lichen  Anlagen  im  Oberharz  vgl.  auch  Arbeitsgemeinschaft  Harzer  Montangeschichte 
(Hg.),  200  Jahre  Tiefer  Georg-Stollen,  Clausthal-Zellerfeld  1999.  -  Friedrich  Balck,  Wolf- 
gang Lampe,  Vier  Teiche  auf  der  Streitkarte.  Anlass  fur  eine  Zeitreise  durch  die  Wasserwirt- 
schaft  des  Unteren  Burgstadter  Reviers,  Clausthal-Zellerfeld  2007,  bes.  S.  32-39  („Augen- 
scheinkarte"  von  1581  mit  der  Darstellung  der  Bergstadte  Clausthal  und  Zellerfeld). 

97  NLA  HStA  Hannover,  Hann.  76  c,  A,21,pag.  41  r:  Den  25  Septembris  A"  [15]85  nachmit- 
tag  umb  drey  Uhr  ist  der  durchschlag  im  Julius  fartunatus  Stoll  vor  dem  orth  aus  der  Voigtschen  durch 
Abraham  Brodtauf,  einen  Hauwer,  gemacht  worden.  -  Der  Bau  des  „Tiefen  Julius  Fortunatusstol- 
len"  war  bereits  1486  begonnen  worden,  seit  1535  nachhaltig  gefordert  und  mehrfach  wegen 
der  Kostenfrage  und  infolge  Streitigkeiten  iiber  die  Berghoheit  liegen  geblieben.  Als  GroBstol- 
len  brachte  er  einen  Teufengewinn  von  45  m,  d.  h.  er  lag  um  diese  Distanz  unter  dem  bis  dahin 
Wasser  ableitenden  Rathstiefsten  Stollen.  Erst  unter  Christoph  Sanders  Leitung  konnte  er  zum 
Durchschlag  gebracht  werden.  Mitte  der  1990er  Jahre  wurde  der  Tiefe  Julius  Fortunatusstol- 
len  verschlossen  und  leitet  somit  keine  Grubenwasser  mehr  nach  iiber  Tage. 

98  NLA  StA  Wolfenbiittel,  Kammerrechnung  17  III  Alt,  35-62:  Die  Ausgaben  auf  die  Berg- 
werke  umfassten  neben  den  Ausgaben  fur  Personal-  und  Betriebskosten  etc.  die  Kosten  fur 
Wasserlosungsstollen.  Daher  wurde  der  Durchschlag  des  Tiefen  Julius  Fortunatus  Stollens 
von  Kammermeister  Albrecht  Eberding  ausdrucklich  vermerkt  [1585].  -  Desgl.  in  NLA 
HStA  Hannover,  Kammerrechnungen  76c  A,  21-32.  -  Vgl.  auch  Wilhelm  Stelling,  Der  Tie- 


314  Hans-Joachim  Kraschewski 

MaBgeblich  trug  Sander  zum  Ausbau  des  Zellerfelder  Bergamts  bei.  Er  wirkte 
an  alien  grundlegenden  MaBnahmen  des  Herzogs  im  Bergbau  des  Harzes  mit 
(„Sandersches  System").  Auf  ihn  ging  die  Einfiihrung  von  eisernen  Ketten  in  der 
Erzforderung  zuriick:  sie  ersetzten  die  anfalligen  Hanfseile. 

Auf  Sanders  Betreiben  wurden  nahezu  alle  Schmelz-  und  Treibhiitten  am  Un- 
terharz  in  herzogliche  Verwaltung  iiberfiihrt,  um  durch  umfangreiche  betriebs- 
technische  und  organisatorische  Reformen  die  Ausbeute  an  Blei  und  Silber  zu 
verbessern.  Die  veranderte,  namlich  metallarmere  Rohstofflage  in  der  zweiten 
Halfte  des  16.  Jahrhunderts"  erforderte  eine  neue  Technik,  hohere  Treib-  und 
Schmelzofen  mit  groBerer  Stichoffnung,  die  mit  starkerem  Geblase  betrieben 
wurden,  und  eine  erhohte  Kompetenz  der  Hiittenleute  in  alien  Arbeitsschritten: 
es  sollten  methodisch  geregelte  Verfahren  des  Aus-  und  Zusammenschmelzens 
von  Unter-  und  Oberharzer  Erzen  anwendungsreif  entwickelt  werden.100  Ande- 
rerseits  gab  es  in  Relation  zum  Bergbau  im  Hiittenwesen  ein  verringertes  Risiko, 
denn  aufgrund  der  relativ  regelmaBigen  Erzlieferungen  aus  unterschiedlichen 
Gruben  warfen  die  Hiitten  zumindest  einen  stetigen  Gewinn  ab. 

Die  im  Vergleich  zur  Grubenarbeit  sehr  vielfaltigen  Anforderungen  ausgesetz- 
ten  Hiittenprozesse  waren  in  horizontale  Arbeitsstufen  gegliedert  -  Rosten, 
Schmelzen,  Treiben  und  Frischen.  Jede  Stufe  hielt  verschiedene  Arbeitsauftrage 
bereit,  die  nach  MaBgabe  derHiittenanlagen  und  Logik  der  Arbeitsverfahren  von 
dem  jeweiligen  Hiittenteam  ausgefiihrt  wurden.  Dabei  bildeten  die  Schmelzver- 
fahren  eine  besondere  Herausforderung,  denn  ihre  Praxis  war  ein  energieaufwen- 
diger  und  somit  kostenintensiver  Vorgang.  Je  nach  Aufgabe  der  einzelnen  Hiitte 
(auf  Blei-  oder  Silberarbeiten)  waren  von  den  Hiittenleuten  Ablauf-Geschwindig- 
keit,  Genauigkeit  und  verfeinerte  Methoden  des  Ausschmelzens  zu  beachten.  Es 
sollte  die  Zielsetzungen  realisiert  werden,  ein  Schmelz  verfahren  zu  entwickeln, 
dass  erhohte  Mengenausbringung  erreichte,  damit  der  standig  beklagte  Silber- 
Defect  beseitigt  wiirde.  Je  genauer  Niederschlagsarbeit  und  Schmelz-Methode 
aufeinander  abgestimmt  waren,  desto  effektivere  Ergebnisse  konnten  erzielt  wer- 
den. Wahrend  diese  Zielvorstellung  als  theoretische  Vorgabe  alle  Beteiligten  wie 
Landesherrschaften  und  Bergbeamte  in  ein  reges  Austauschsystem  einband  und 
zu  standigen  Erorterungen  in  den  Bergamtern  fiihrte,  probierten  die  Hiittenleute 
in  praktischen  Versuchsanordnungen  wechselnde  Verfahrensweisen  aus.  Es  fehl- 
te  eine  bestimmbare,  stringente  Ziel-Mittel-Relation,  die  als  Systematikzu  verste- 

fe  Julius  Fortunatus-Stollen  am  Rammelsberg.  Geschichte  und  markscheiderische  Doku- 
mentation;  in:  Der  Anschnitt  45,  1993,  S.  132-143. 

99  Vgl.  dazu  oben  Anm.  5. 

100  NLA  HStA  BaCl,  Hann.  84a,  2a,  Nr.  12,  Vermerk  iiber  eine  Besprechung  zwischen 
Herzog  Julius  und  Christoph  Sander  iiber  das  Zusammenschmelzen  von  Rammelsberger 
und  Oberharzer  Erzen  (24.Januar  1577). 


Organisationsstrukturen  der  Bergbauverwaltung  315 

hen  gewesen  ware.  Ansatze  zu  einer  systematischen  Vorgehensweise  lagen  dage- 
gen  vor,  dan  ein  gewisse  regel  in  allem  Schmeltzuierck,  wie  Sander  es  formulierte.101 

Einzelne  Verfahren  der  Erprobung  wurden  kombiniert,  in  Listen  notiert,  von 
fachlich  qualifizierten  Schmelzern  iiberpriift,  gegenkontrolliert  und  in  ihrer  Zu- 
sammensetzung  standig  verandert.  Sie  blieben  damit  stets  im  Bereich  der  mogli- 
chen  Wiederholung  mit  variablen  Zusatzen  im  Detail.  Sander  lieB  auch  mit  der 
Beschickungsmenge  bei  Schmelzofen  experimentieren,  um  ein  optimales  Ver- 
haltnis  zwischen  eingesetzter  Erzmenge  und  verbrauchter  Holzkohle  zu  erzielen. 
Die  ermittelte  Relation  fiihrte  allerdings  zu  einer  erhohten  Arbeitsbelastung  der 
Hiittenleute,  da  sie  nun  groBere  Mengen  an  Erz  in  einer  Schicht  zu  verschmelzen 
hatten.  Wenn  pro  Schicht  und  Schmelzgang  das  Quantum  an  Erz  verdoppelt  wur- 
de  (von  7,5  auf  15  Scherben),  konnte  zumindest  der  Holzkohlenverbrauch  von  4 
auf  3  Fuder  gesenkt  werden. 

Die  Probier-Kunde,102  seit  der  Antike  unter  dem  Namen  Dokimasie  bekannt, 
stellte  fur  Sander  im  hiittenmannischen  Prozess  eine  wichtige  Entscheidungsstel- 
le  dar  und  besaB  entsprechende  Wertschatzung.  Das  zeigte  sich  auf  unterschiedli- 
chen  Ebenen,  namlich 

-  dass  Sander  als  oberster  Miinz-Beamter  des  Landes  diese  Prozesse  der  Steue- 
rung  iiberwachte, 

-  dass  ihm  bekannt  war,  welch  groBe  Erfahrungen  auf  der  Ebene  der  Probier- 
kunst  Lazarus  Ercker  besaB  und 

-  dass  auf  sein  Betreiben  die  Probierkunst  standig  verfeinert  werden  sollte,  um 
zu  neuen  Quantitaten  und  Qualitaten  bei  derMetallerzeugung  zu  gelangen.103 


101  NLA  HStA  BaCl,  Hann.  84a,  16,  Nr.  3a,  Schreiben  Christoph  Sanders  an  Herzogju- 
lius,  wie  es  mitt  dem  probeschmelzen  geschaffen  (24.  Marz  1581). 

102  Die  Probierkunde  war  das  quantitative  Ermitteln  von  Bestandteilen  in  Erzen  und  metal- 
lischen  Legierungen,  aber  auch  in  Verbindungen  wie  Mineralen  und  Salzen,  aus  der  sich  spa- 
ter  die  Analytische  Chemie  entwickelte.  Das  Abtrennen  von  Verunreinigungen  bildete  die 
Voraussetzung  fur  die  anschlieBende  Gehaltsbestimmung.  Probierwaage,  Probiergewichte, 
Probiernadeln  und  Probiernapfchen  zahlten  zu  den  sorgfaltig  gehiiteten  Instrumenten  des 
Probierers.  Beim  Probieren  waren  Durchfuhrung  und  chemische  Reaktionen  die  gleichen  wie 
bei  der  Verhuttung  -  allerdings  kleinmaBstablich  angelegt.  Dabei  bediente  sich  das  quantitati- 
ve Ermitteln  bestimmter  Bestandteile  traditionell  ,trockner',  d.  h.  pyrotechnischer  Scheidever- 
fahren,  zuweilen  auch  ,nasser'  mit  Hilfe  von  Scheidewasser  (vgl.  unten  Anm.  129,  130).  -  Lo 
thar  Suhling,  Hiittenwesen  der  Aricola-Zeit:  Probieren  und  Aufbereiten;  in:  Bernd  Ernsting 
(Hg.),  Georgius  Agricola,  Bergwelten  1494-1994,  Chemnitz,  Bochum  1994,  S.  172-174. 

103  NLA  HStA  BaCl,  Hann.  84a,  la,  Nr.  6,  Bericht  Christoph  Sanders  iiber  seine  Be- 
sprechung  mit  Herzog  Julius  betr.  hiittentechnische  Fragen  und  Probleme  (28.  Juni  1571). 
Als  Huttenvogte  empfiehlt  Sander  die  besten  und  getreuesten  Arbeiter  und  Schmelzer  zu 
nehmen,  denn  Goslarisch  Schmeltzen  sei  eine  sonderliche  Art.  -  Schmelzversuche  durch  Jiirgen 
Richter  (1.  November  1571). 


316  Hans-Joachim  Kraschewski 

Als  Oberverwalter  hatte  Sander  einen  groBen  Harz-Bezirk  mit  Berg-  und  Hiit- 
tenbetrieben  zu  inspizieren  und  Herzog  Julius  in  Wolfenbiittel  Bericht  zu  erstat- 
ten,  denn  die  Betriebsplane  aller  Gruben  (Uber-  und  Ratschldge)  wurden  in  der 
Zentralverwaltung  durch  die  Bergrechnungsvisitatoren  iiberpruft,  ehe  sie  wirk- 
sam  wurden.  1594  schrankte  der  Landesherr  Heinrich  Julius  Sanders  Befugnisse 
deutlich  ein,  als  er  aufgrund  von  Gewerken-Beschwerden  Georg  Engelhardt  von 
LohneiB  zum  neuen  Berghauptmann  fur  den  wolfenbiittelschen  Oberharz  berief. 
Sanders  Befugnisse  umfassten  fortan  nur  noch  das  Rammelsberger  Revier. 

Er  war  der  bedeutendste,  weil  ein  iiberaus  befahigter,  energischer  und  fleiBiger 
Bergbeamter  des  16.  Jahrhunderts  im  gesamten  West-Harz,  mit  groBer  fachlicher 
Autoritat  und  Machtfiille  ausgestattet.  Uneingeschrankte  Loyalitat  und  ein  gutes 
personliches  Verhaltnis  verbanden  ihn  iiber  einen  langen  Zeitraum  mit  Herzog 
Julius.  Das  dokumentieren  seine  reichhaltig  hinterlassenen,  eigenhandig  verfass- 
ten  und  an  den  Landesherrn  gerichteten  Berichte  sowie  die  Beratungs-Protokolle 
in  der  Wolfenbiitteler  Residenz  oder  in  den  Bergamtern  iiber  die  Zustande  im 
Oberharzer  Montanwesen  und  dem  Bergbau  am  Rammelsberg,  die  bisher  nicht 
ediert  sind. 

Christoph  Sander  schuf  mit  seiner  personenbezogenen  Tatigkeit  eine  regelnde 
Organisation.  Durch  das  Medium  der  Reproduktion  seiner  Handlungsvorgaben 
wurden  die  hoheren  Amtstrager  der  fachkundigen,  kompetenten  Bergbeamten- 
schaft  ausgebildet  und  etabliert.  In  seiner  Nachfolge  mussten  Amter  institutiona- 
lisiert  werden  (bis  hin  zurGriindung  derBergakademie  Clausthal  1775),  die  unab- 
hangig  von  personalen  Variablen  auf  fachlicher  Ebene  relativ  konstant  arbeite- 
ten.  Er  starb  im  hohen  Alter  von  80  Jahren  und  wurde  in  der  St.  Jakobi  Kirche  in 
Goslar  beigesetzt.104 

2.   Miinzwardein  Lazarus  Ercker  (1528-1594) 

Ein  weiteres  Beispiel  hochst  kompetenter  Beamtenschaft  und  fachkundiger  Ge- 
diegenheit  ist  Lazarus  Ercker,  der  mit  Vannoccio  Biringuccio  und  Georgius  Agri- 
cola  zum  „illustren  Dreigestirn"  am  Himmel  der  Metallurgie  und  der  metallurgi- 
schen  Technik  gehort.105  Er  hat  ein  Arbeits-  und  Rezeptbuch  der  Probierkunde 

104  Ekkehard  Henschke,  Sozialer  Aufsteiger  und  erfolgreicher  Bergbeamter  -  Chri- 
stoph Sander  der  Altere  1518-1598,  in:  Harz-Zeitschrift  31,  1979,  S.  57-64.  -  Wilhelm  Kalt- 
hammer,  Der  Oberberghauptmann  (Christoph  Sander,  1528-1598)  als  Gevatter,  in:  Unser 
Harz  31,  H.  52,  1983,  S.  73-74.  -  Herbert  Dennert,  Oberverwalter  Christof  Sander  d.  A.,  in: 
Ders.,  Bergbau  und  Hiittenwesen,  wie  Anm.  83,  S.  94-98. 

105  Lothar  Suhling,  Georgius  Agricola  und  die  Hiittentechnik  seiner  Zeit:  Die  „De  re 
metallica  libri  XII"  im  Kontext  metallurgischer  Handschriften  (fruhneuzeitlicher  Schmelz- 
biicher);  in:  Friedrich  Naumann  (Hg.),  Georgius  Agricola,  wie  Anm.   13,  S.  453-464,  hier 


Organisationsstrukturen  der  Bergbauverwaltung  317 

fiir  den  Praktiker  vorgelegt,  das  eine  bis  weit  in  das  18.  Jahrhundert  giiltige  Ar- 
beitsanleitung  war. 

Als  Herzog  Heinrich  derjiingere  Kurfiirst  August  um  Uberlassung  eines  zuver- 
lassigen  Miinzwardeins  bat,106  schickte  ihm  dieser  im  August  1558  Lazarus 
Ercker  als  vertrauenswiirdigen  Miinzbeamten  nach  Goslar,  der  die  Qualitat  des 
Miinzsilbers  zu  probieren  und  zu  iiberwachen  verstand.  Ercker  wohnte  vor  dem 
Vitustor  in  einem  ehemaligen  Klostergebaude,  das  als  Miinzstatte  diente.  Hier 
wirkte  erzunachst  als  Wardein,  ab  1563  auch  als  Miinzmeister.  Sein  starkes  Inter- 
esse  an  metallurgischen  Fragen  zeigt  auch  das  umfangreiche  Miinzbuch  von  1563, 
das  er  als  Handschrift  dem  spateren  Herzog  Julius  iiberreichte.  In  Goslar  verfass- 
te  er  auch  seinen  1565  veroffentlichten  Bericht  iiber  den  Bergbau  am  Rammelsberg, 
der  anschaulich  montanhistorische  und  hiittentechnische  Beschreibungen  zu- 
sammenfuhrt.  Neben  seiner  amtlichen  Tatigkeit  setzte  er  seine  Forschungsarbeit 
auf  dem  Gebiet  des  Schmelzens  fort,  darin  von  Heinrich  dem  Jiingeren  durchaus 
befordert,  indem  dieser  ihm  eine  Schmelzhiitte  bei  Goslar  fiir  seine  Versuchsan- 
ordnungen  zuwies.  Ercker  bediente  sich  vorwissenschaftlicher,  verfahrenstechni- 
scher  Methoden,  wenn  er  im  LabormaBstab  erste  Analysen  des  durch  die  berg- 
mannische  Arbeit  gewonnenen  Erzes  vornahm.107 

Der  Tod  seiner  Frau,  so  wird  angenommen,  veranlasste  ihn  nach  Annaberg  zu- 
riickzukehren,  um  ab  1567  erneut  in  den  Dienst  des  sachsischen  Kurfiirsten  zu  tre- 
ten.  Das  „GroBe  Probierbuch"  bildet  neben  den  Werken  Agricolas  das  bedeu- 
tendste  montanistische  Werk  des  16.  Jahrhunderts.  Es  ist  die  erste  vollstandige 
und  klare  Darstellung  derpraktischen  Probierkunde.  Seine  Erstausgabe  von  1574 
warmit  34  Holzschnitten  -  deren  Verfasser  ist  unbekannt  -  von  groBer  sachlicher 
Aussagekraft  illustriert.  Diese  Veroffentlichung  iiber  die  Probierkunst  und  metall- 
urgische  wie  bergbaukundliche  Fragen,  bis  1736  in  acht  Auflagen  erschienen, 
wurde  bereits  1682/86  von  James  Pettus  ins  Englische  iibersetzt.108 


S.  453.  -  Vanoccio  Biringuccio,  De  la  pirotechnia  libri  X.,  Venetia  1540.  -  OUoJohannsen, 
Biringuccios  Pirotechnia.  Em  Lehrbuch  der  chemisch-metallurgischen  Technologie  und  des 
Artilleriewesens,  Braunschweig  1925.  -  Vgl.  auch  Raffaello  Vergani,  Biringuccio  a  Venezia 
e  l'amalgamazione  dell'argento;  in:  I.  Tognarini  (Hg.),  Siderurgia  e  miniere  in  Maremma 
tra  '500  a  '900,  Firenze  1984,  S.  37-42. 

106  Wardein  (mhd.  wardin,  von  mlat.  wardinus,  engl.  Guardian):  der  Munzwardein  war 
ein  Beamter,  der  iiber  den  Gehalt  der  ausgebrachten  Metalle  zu  wachen  hatte,  diese  auf  ih- 
ren  Gehalt  untersuchte  und  die  Wahrung  und  den  Geldwechsel  beaufsichtigte.  Da  Berg-  und 
Miinzwesen  eng  verbunden  waren,  stand  er  beiden  vor,  die  Trennung  in  Berg-  und 
Munzwardein  erfolgte  erst  im  17.  Jahrhundert. 

107  Paul-Reinhard  Beierlein,  Lazarus  Ercker.  Bergmann,  Hiittenmann  und  Miinzmei- 
ster im  16.  Jahrhundert,  Berlin/ Ost  1955 

108  Paul-Reinhard  Beierlein,  Heinrich  Winkelmann  (Bearb.  und  Hg.):  Lazarus  Ercker, 
Das  kleine  Probierbuch  von  1556;  Vom  Rammelsberg  und  dessen  Bergwerk,  ein  kurzer  Be- 


318  Hans-Joachim  Kraschewski 

3.   Berghauptmann  Georg  Engelhardt  von  LohneiB  (1552-1623) 

Ein  anderer  einflussreicher  Bergbeamter  war  Georg  Engelhardt  von  LohneyB. 
Als  1583  eine  Tochter  des  Kurfiirsten  August  mit  Herzog  Heinrich  Julius  von 
Braunschweig- Wolfenbiittel  vermahlt  wurde,  iibernahm  LohneiB  die  angesehene 
Stellung  eines  braunschweigischen  Stallmeisters.  Auf  Gut  Remlingen  lieB  er  sich 
nach  italienischem  Vorbild  ein  sehenswertes  Schloss  bauen.  Nach  dem  Tod  Her- 
zogs  Julius  ernannte  ihn  Heinrich  Julius  1594  zum  Berghauptmann,  so  dass  ab 
1596,  als  das  Fiirstentum  Braunschweig-Grubenhagen  mit  den  Bergwerken  bei 
Clausthal  und  St.  Andreasberg  an  Herzog  Heinrichjulius  fiel,  das  gesamte  Berg-, 
Hiitten-  und  Forstwesen  des  Oberharzes  in  dessen  Hand  vereinigt  war.  Er  erhielt 
die  Inspektion  iiber  alle  Oberharzer  Bergstadte  und  wurde  ausdriicklich  zur  mitt- 
leren  Instanz  in  Rechts-  und  Bergsachen  ernannt.  Christoph  Sanders  Amts-Be- 
fugnisse  wurden  auf  das  Rammelsberger  Revier  beschrankt.  Den  Ober-Harz  be- 
treute  LohneiB  weiterhin  von  Remlingen  aus.  Haufig  trafen  Gewerken  aus  Niirn- 
berg  oder  aus  Prag  im  Oberharz  ein,  um  sich  iiber  den  modernen  Stand  der 
Montantechnik  zu  informieren.  Auch  von  Zellerfeld  aus  verfolgte  LohneiB  sein 
ausgepragtes  Interesse  an  Fragen  des  Bergbaus.  1617  legte  er  seinen  Bericht  vom 
Bergwerkvor,  im  17. Jahrhundert  eines  derbekanntesten  montanistischen  Werke, 
weil  ein  aufschlussreiches  Kompendium  iiber  Arbeitsprozesse  und  Maschinen, 
mit  groBformatigen  Holzschnitten  von  Moses  Thym  anschaulich-realistisch  wie- 
dergegeben.  Der  Vorwurf  des  Plagiats  gegeniiber  LohneiB,  der  zweifellos  zu  er- 
heblichen  Teilen  aus  den  Werken  von  Lazarus  Ercker  iibernommen  hatte,  redu- 
ziert  sich  im  Kontext  der  zeitgenossischen  Literatur  auf  probate  Praxis.  Es  ist 
nicht  bedeutsam,  dass  Autoren  des  16.  Jahrhunderts  Vorformen  lieferten,  bedeut- 
sam  ist  der  Transfer  zu  eigenstandiger  Leistung.  Ein  gleichfalls  von  LohneiB  ver- 
fasstes  Buch  iiber  Staats-  und  Regierungskunst  wurde  von  seinen  Sohnen  postum 
herausgegeben.  Beim  Brand  des  Schlosses  Remlingen  1625  verbrannte  der  groB- 
te  Teil  der  dort  gedruckten  Biicher.  1619  fiel  der  Berghauptmann  beim  Landes- 
herrn  in  Ungnade,  als  er  mit  dem  Goslarer  Oberverwalter  einen  Rechtsstreit  und 
eine  Auseinanderssetzung  mit  dem  Herzog  um  die  Anwesenheit  bei  Musterun- 


richt  von  1565;  Das  Miinzbuch  von  1563  (wie  Anm.  90)  -  Aula  subterranea  (GroBes  Probier- 
buch)  336  S.,  Folio,  1.  Frankfurter  Ausgabe  1672/73.  -  Paul-Reinhard  Beierelein  (Bearb.), 
Lazarus  Ercker,  Beschreibung  der  Allervornehmsten  Mineralischen  Erze  und  Bergwerksar- 
ten  vom  Jahre  1580,  Berlin/Ost  1960.  -  Herbert  Dennert,  Oberbergmeister  und  Miinzmei- 
ster  Lazarus  Ercker,  in:  Ders.,  Bergbau  und  Hiittenwesen,  wie  Anm.  83,  S.  122-123.  -  Chri- 
stoph Bartels,  Lazarus  Ercker,  Aula  subterranea  (GroBes  Probierbuch),  in:  Rainer  Slotta, 
Christoph  Bartels  (Hg.) ,  Meisterwerke  bergbaulicher  Kunst  vom  13.  bis  19.  Jahrhundert,  Bo- 
chum  1990,  S.  157-159.  -  Thomas  Kirnbauer,  Eine  neue  Handschrift  von  Lazarus  Erckers 
„Bericht  vom  Rammelsberg"  aus  dem  Jahre  1565;  in:  Der  Anschnitt  45,  1993,  S.  37-38. 


Organisationsstrukturen  der  Bergbauverwaltung  319 

gen  hatte.  Er  musste  sein  Amt  niederlegen.  Enttauscht  zog  er  sich  unter  Mitnah- 
me  seiner  Druckerei  auf  sein  Gut  zuriick.109 


4.  Zehntner  Christoph  Andreas  Schluter  (1668-1743) 

Wiewohl  Christoph  Andreas  Schliiter  schon  in  das  17.  Jahrhundert  gehort,  soil  er 
dennoch  hier  einbezogen  werden,  da  sein  Wirken  im  Hiittenwesen  des  Harzes  ei- 
ne  herausragende  Rolle  spielte.  Er  war  es,  der,  mit  einem  breiten  Handlungsspiel- 
raum  ausgestattet,  ein  grundlegendes,  empirisch-theoretisches  Werk  zur  Hiitten- 
kunde  vorgelegt  hat.  Zugleich  fand  mit  diesem  Autor  die  erste  bedeutende  Epo- 
che  der  bergbau-  und  hiittenkundlichen  Literatur  des  Harzes  ihren  Abschluss. 

Schluter  wurde  bereits  im  Alter  von  14  Jahren  seinem  Vater  zur  praktischen 
Ausbildung  beigeordnet.  Nach  dessen  Tod  1702  wurde  er  selbst  zum  Hiittenreiter 
ernannt.  Zwischen  1709  und  1717  fungierte  er  als  Bergschreiber  und  war  anschlie- 
Bend  bis  1724  Zehntgegenschreiber  und  kontrollierte  die  Rechnungsfiihrung  des 
Bergamts  Goslar.  Als  1724  der  Zehnter  Johann  Heinrich  von  Uslar  starb,  wurde 
Schluter  zum  Zehntner  und  Leiter  des  Bergamts  in  Goslar  befordert.  Diese  Stelle 
hat  erbis  zu  seinem  Tod  innegehabt.  Er  hatte  in  seinenjungen  Jahren  die  Hiitten- 
arbeit  im  Unter-  und  Oberharz  griindlich  elernet  und  alle  Hiitten-Arbeit  selber  verrich- 
tet  [Griindlicher  Unterricht  von  Hiitte-Werken,  Vorrede  S.  2).  AnschlieBend  bereiste 
er  Sachsen  und  Bohmen,  um  die  dortigen  Hiitten-Werke  kennen  zu  lernen.  1698 
kehrte  er  nach  Goslar  zuriick.  Uber  die  Arbeit  der  Hiittenwerke  in  Ungarn/Sie- 
benbiirgen  unterrichtete  ihn  sein  Neffe  Christoph  Franz  Seidensticker,  gleichfalls 
Hiittenreiter,  der  diese  renommierten  Produktionszentren  1722/23  besuchte. 

Als  Kdniglich  Grofi-Britannischer,  auch  Chur-  und  Fiirstlicher  Braunschweig-Liine- 
burgischer  Zehndner  am  Unter-Harzist  Schluter  in  die  Metallurgiegeschichte  einge- 
gangen.  Er  hat  sich  mit  seiner  Veroffentlichung  Griindlicher  Unterricht  von  Hiitte- 
Werken  (1738)  mit  Recht  als  kompetenter  Fachmann  einen  groBen  Namen  ge- 
macht,  der  demjenigen  Georgius  Agricolas  oder Lazarus  Erckers  nicht  nachstand. 
In  der  Vorrede  zu  seinem  Werk  (S.  3)  betont  er  selbstbewusst  die  Bedeutung  seiner 


109  Georg  Engelhardt  von  Lohneiss,  Bericht  vom  Bergkwerck,  wie  Anm.  93.  -  Zu  Lohn- 
eiB  s.  ADB  19,  S.  133-135.  -  Manfred  Koch,  Geschichte  und  Entwicklung  des  bergmanni- 
schen  Schrifttums,  Goslar  1963.  -  Ekkehard  Henschke,  Landesherrschaft  und  Bergbauwirt- 
schaft.  Zur  Wirtschafts-  und  Verwaltungsgeschichte  des  Oberharzer  Bergbaugebietes  im  16. 
und  17.  Jahrhundert,  Berlin  1974,  S.  65-67,  69-72.  -  Christoph  Bartels,  Georg  Engelhardt 
von  LohneiB,  Bericht  vom  Bergkwerck,  in:  Rainer  Slotta/ Christoph  Bartels  (Hg.),  Mei- 
sterwerke  bergbaulicher  Kunst,  wie  Anm.  107,  S.  161-163.  -  Anne  Noltze-Winkelmann,  Das 
Titelkupfer  in  Lazarus  Erckers  Aula  subterranea,  1673,  in:  Der  Anschnitt  27,  1975,  S.  1-13.  - 
Vgl.  auch  Christoph  Bartels  u.  a.,  Kupfer,  Blei  und  Silber  aus  dem  Rammelsberg  von  den 
Anfangen  bis  1620,  Bochum  2007,  S.  163,  197,  248,  287,  322,  342,  345. 


320  Hans-Joachim  Kraschewski 

Ausfiihrungen,  wenn  er  sagt,  sonderlich  ist  von  der  Arbeit  am  Ober-  und  Unterharz,  wie 
solches  gefuhret  werden  miisse,  nichts  darin  enthalten,  das  nicht  von  mir  untersuchet  und 
durch  meine  Hand gegangen  ist.  Schliiter  gibt  nicht  nur  eine  vollstandige  und  genaue 
Beschreibung  der  damals  iiblichen  Kupferhiittenarbeiten  (mit  Ausnahme  der 
Messingfabrikation)  sowie  sorgfaltigen  Ausfiihrungen  iiber  die  Gold-,  Silber-  und 
Bleigewinnungsprozesse,  sondern  er  macht  auch  Vorschlage  fur  technische  Ver- 
besserungen.  Erberichtet  iiber  Erfahrungen  mit  Neuerungen  und  bietet  eine  aus- 
fiihrliche,  sachadaquat  illustrierte  Anleitung,  in  die  er  zudem  historische  Riick- 
blenden  einfiigt,  die  den  praktisch-sukzessiven  Gang  der  metallurgischen  Arbeit 
erkennen  lassen.  So  baute  er  1734  im  Unterharz  in  der  Frau-Marien-Saigerhiitte 
den  ersten  iiberwolbten  Windofen  mit  getrenntem  Feuerungsraum,  in  dem 
gleichzeitig  zwolf  Saigerstiicke  im  Holzfeuer  gesaigert  werden  konnten.  Seine  Ar- 
beit ist  ein  Standardwerk  friihneuzeitlicher  Hiittenkunde.110 

VI.  Fazit 

Das  16.  Jahrhundert  zeigt  eine  Haufung  grundlegender  technischer  Innovatio- 
nen,  geradezu  einen  technischen  Innovationsschub,  der  mit  der  ersten  Phase  der 
Industriellen  Revolution  des  18.  Jahrhunderts  zu  vergleichen  ist.  Trager  dieser 
Entwicklung  auf  hohem  Niveau  war  der  europaische  Bergbau  und  das  Hiittenwe- 
sen.111  Im  Bereich  der  Metallurgie,  speziell  der  Nichteisenmetallurgie,  vollzog 
sich  mit  der  Technologie  des  Kupfersaigerns  die  folgenreichste  montanwirt- 
schaftliche  Neuerung  der  Friihneuzeit.  Hinzu  kamen  der  Stollenbau  mit  dem  Ein- 
satz  der  Gestangepumpen  und  die  durch  das  Direktionssystem  klar  und  einheit- 
lich  regulierten  Berg-  und  Hiittenbetriebe.  Nicht  unerheblich  beteiligt  an  dieser 


110  Christoph  Andreas  Schluter,  Griindlicher  Unterricht  von  Hiitte-Werken,  nebst  ei- 
nem  vollstandigem  Probier-Buch,  Braunschweig  1738  (gedruckt  bei  Friedrich  Wilhelm  Mey- 
er). Ins  Franzosische  iibertragen  von  Jean  Hellot  unter  dem  Titel  De  la  fonts  des  mines,  2 
Bde.,  Paris  1750/53  (2.  Aufl.  Paris  1764).  -  Kurze  Lebensbeschreibung  Christoph  Andreas 
Schliiters  (autobiographisch),  vom  27.  Juni  1729  (MS  NLA  HStA  BaCl,  Bibliothek  Achen- 
bach).  -  Franz  Rosenhainer,  Die  Geschichte  des  Unterharzer  Hiittenwesens  von  seinen  An- 
fangen  bis  zur  Griindung  der  Kommunionverwaltung  im  Jahre  1635,  Goslar  1968,  S.  127- 
128.  -  Suhling,  Der  SeigerhiittenprozeB,  wie  Anm.  64,  S.  157-160.  -  Kraschewski,  Be 
triebsablauf  und  Arbeitsverfassung,  wie  Anm.  2,  S.  36-38. 

111  Karl-Heinz  Ludwig,  Bergmannisches  Berufsbewusstsein  als  Protestpotential  im  Mit- 
telalter  sowie  im  Ubergang  zur  Neuzeit;  in:  Angelika  WESTERMANN/Ekkehard  Westermann 
(Hg.)  unter  Mitwirkung  von  Josef  Pahl,  Streik  im  Revier.  Unruhe,  Protest  und  Ausstand  vom 
8.  bis  20.  Jahrhundert,  St.  Katharinen  2007,  S.  11-63.  Ludwig"  gelingt  vor  allem  derNachweis, 
dass  bergmannisches  Standesbewusstsein  und  adaquates  Konfliktverhalten  bereits  im  Mit- 
telalter  ausgepragt  vorhanden  gewesen  sind  und  bis  in  die  Jahre  nach  1525/26  erhalten  blie- 
ben.  Es  schwachte  sich  erst  im  Zusammenhang  mit  den  bauerlichen  Bewegungen  im  ersten 
Drittel  des  16.  Jahrhunderts  in  Deutschland  und  ungiinstigen  Erzabbaubedingungen  ab. 


Organisationsstrukturen  der  Bergbauverwaltung  321 

Entwicklung  waren  die  Braunschweiger  Welfenherzoge  mit  ihrem  Silber-Blei- 
bergbau  im  Harz,112  denen  der  florierende  Bergbau  als  betrachtliche  und  gesi- 
cherte  Einnahmequelle  gelten  konnte  -  vom  Bergzehnten,  dem  Vorkaufsrecht 
und  anderen  Regalabgaben  iiber  das  Salzmonopol  bis  hin  zum  Miinzgewinn  - 
und  nachhaltige  Riickwirkungen  in  der  Kammerkasse  in  Wolfenbiittel  hinterlieB. 

Doch  ohne  sachkundige  Funktionstrager  wie  Christoph  Sander,  Peter  Adner 
oder  Georg  Engelhard  von  LohneiB,  diejeweils  iiber  mehrerejahrzehnte  als  fach- 
kompetente  und  loyale  Bergbeamte  ihren  Dienst  versahen,  ware  die  Ubernahme 
der  technischen  Entwicklung  in  die  Praxis  und  damit  der  Aufschwung  des  Berg- 
und  Hiittenwesens  nicht  moglich  gewesen.  Sie  waren  noch  keine  Beamten-Ge- 
werken,  wie  es  sie  im  Oberharz  nach  1680  gegeben  hat,  sie  verfugten  iiber  keinen 
Kuxbesitz,  sie  hatten  auch  kein  Zugriffsrecht  auf  diese  Ressourcen.  Folglich  lei- 
steten  sie  auch  kein  ZubuBzahlungen,  wenn  die  Ertrage  des  Bergbaus  zuriickgin- 
gen.  Bergteilbesitz  von  Beamten  wurde  im  lG.Jahrhundert  am  Rammelsberg  und 
im  Oberharz  zumindest  bis  1620  relativ  strikt  unterbunden:  Die  Bergordnung 
Heinrichs  desjiingeren  von  1550  verbot  den  obersten  Bergbeamten  wahrend  ih- 
rer  Amtszeit  Bergteile  zu  besitzen  -  es  sei  denn,  mit  ausdriicklicher  Genehmigung 
des  Landesherrn.113  Zur  Erorterung  von  Nutzen  und  Nachteil  von  Kuxbesitz 
durch  Bergbeamte  als  Frage  nach  einerlnteressenkollision  mit  dem  Landesherrn 
kam  es  erst  zu  Beginn  des  17.  Jahrhunderts.114 

Diese  Personlichkeiten,  gepragt  durch  umfangreiches  Erfahrungswissen,  prak- 
tische  Kenntnisse  und  groBen  FleiB,  leisteten  ihren  Beitrag  nicht  nur  zum  Bergbau 


112  Bereits  Georgius  Agricola,  De  natura  fossilium  libri  X,  Berlin  1958,  S.  236  und 
S.  257,  beschreibt  die  Lagerstatte  des  Rammelsbergs  zu  Recht  als  das  allerergiebigste  Bleiwerk 
Innerdeutschlands.  Man  finde  dort  sehr  viel  Bleiglanz,  ein  guterTeil  des  Rammelsbergs  schei- 
ne  aus  nichts  anderem  als  diesem  Bleistoff,  der  auch  Silber  enthalte,  zu  bestehen. 

113  NLAHStABaCl,  Hann.  84a,  808,  Nr.  2,  Bergordnung  Heinrich  desjiingeren  (l.Ja- 
nuar  1550):  Diese  artickell seind  betreffen  beide  -  Haubtmann  und Bergmeister:  Allerley  vordacht  und 
argwon  abzuleinen,  sollen  unser  Haubtmann  und  Bergmeister  zu  zeit  Ihres  Ampts  auf  unseren  Bergk- 
wercken  in  ihre  Vorwaltung gehorig  hinfurtt  on  sondere  bewilligung  keine  Bergtheill  bawen  noch  in  ei- 
nigem  weg  nutzes  davon  gewarten.  -  Eine  friihe  Abweichung  von  dieser  Regel  stellte  der  urn- 
fangreiche  Kuxbesitz  des  Beamten  und  Oberbergmeisters  Peter  Adner  dar,  der  1585  nach- 
weislich  mit  188  Kuxen  an  35  verschiedenen  Gruben  beteiligt  war.  Vgl.  dazu  Heinrich 
Denker  (Hg.),  Die  Bergchronik  des  Hardanus  Hake,  Pastors  zu  Wildemann  (Forschungen 
zur  Geschichte  des  Harzgebietes  2),  Wernigerode  1911,  S.  61-76.  -  Vgl.  auch  NLA  HStA 
BaCl,  Hann.  84a,  4a,  Nr.  22,  Ausfuhrlicher  Bericht  Christoph  Sanders  an  Herzog  Julius  iiber 
den  Haus-  und  Kuxbesitz  des  Berghauptmanns  Asmus  Helder  (12.  Marz  1587). 

114  NLA  HStA  BaCl,  Hann.  84a,  Histor.  und  Stat.  Nachr.,  Nr.  10,  Bergamtsprotokoll 
vom  13.-15.  Juni  1617  (Nachrichten  iiber  die  Unterharzer  Berg-  und  Hiittenwerke) .  -  Hans- 
Joachim  Kraschewski,  Das  Direktionsprinzip  im  Harzrevier  des  17.  Jahrhunderts  und  seine 
wirtschaftspolitische  Bedeutung;  in:  Ekkehard  Westermann  (Hg.),  Vom  Bergbau-  zum  Indu- 
strierevier  (VSWG  Beihefte  115),  Stuttgart  1995,  S.  125-150. 


322  Hans-Joachim  Kraschewski 

selbst,  sondern  zur  Verfugung  von  Berg-  und  Landesverwaltung  durch  ihren  Sta- 
tus als  Beamtenschaft,  so  dass  die  Zentralverwaltung  und  die  Zentralisierung  im 
Direktionssystem  kurzfristig  und  effektiv  durchgesetzt  werden  konnten.  Langfri- 
stig  ging  es  um  die  Absicherung  bestehender  und  die  ErschlieBung  neuer  Einnah- 
mequellen,  die  vor  allem  an  die  Entwicklung  wirtschaftlich  vorweisbarer  Ergeb- 
nisse  im  hiittenmannischen  Arbeitsprozess  gebunden  waren:  der  Silberdefect  soll- 
te  nachhaltig  behoben  werden.  Sie  erfiillten  im  entwickelten  Direktionssystem  in- 
nerhalb  der  Arbeitsablaufe  konsequent  einen  eigenen  TeiljenerForderungen,  wo- 
nach  es  von  groBer  Bedeutung  war,  dem  Bergbau  in  funktionaler  Abhangigkeit 
differenziert  und  eintraglich  zur  Verfugung  zu  stehen.  Durch  ihre  Funktion  als 
Amtstrager  schufen  sie  die  Grundlagen  fur  ein  selbstreferentiell  geregeltes  System 
von  Beamten,  die  den  von  ihnen  gesetzten  normativen  HandlungsmaBstaben  zu 
entsprechen  hatten. 

Als  sinnvoll  eingesetzte  Instrumente  ihrer  Arbeit  dienten  diesen  Bergbeamten 
die  vorurteilslose  Wahrnehmung  von  Betriebsablaufen  oder  Naturzustanden 
(Wald)  mit  den  eigenen  Augen,  die  genaue  Beschreibung  und  vorsichtige  Analyse 
des  Wahrgenommen  und  das  Vergleichen  mit  zweckmaBigen  Aquivalenten. 

Experimentiert  wurde  tendenziell  nur  beim  Probieren  im  Hiittenprozess,  um 
die  Verfahren  zu  optimieren  und  mit  vorwissenschaftlichen  Methoden  zu  neuen 
Qualitaten  und  Ertragsmengen  zu  gelangen.  Das  gemeinsame  Probeschmelzen 
von  Ober-  und  Unterharzer  Erzen  (zwischen  1582  und  1589) 115  gehorte  ebenso 
dazu  wie  Bilanzierung  derKosten  und  Ertrage  beim  Schmelzprozess  durch  Probe 
und  Gegenprobe  mit  verbesserten  Priifverfahren.  Diese  Arbeitsgange  verlangten 
eine  hohe  technische  Disziplin,  denn  noch  kannten  die  Hiittenleute  die  Methode 
nicht,  die  Metalle  mit  einem  Trennungsergebnis  von  90-95%  zu  erzielen.116 

Grundsatzlich  waren  es  Beamte,  die  diesen  Bergbau  leiteten,  ohne  ihn  zu  besit- 
zen,  eine  Struktur,  die  im  westlichen  Europa  keine  Parallele  hatte.  Doch  die  ur- 
spriingliche  Trennung  von  Besitz  und  Aufsichtsfiihrung  wurde  im  Verlauf  des  17. 
Jahrhunderts  durch  prazise  Zuschreibungen  abgelost.  Da  die  Landesherren  nun- 
mehr  vom  Nutzen  einer  Beteiligung  von  Bergbeamten  am  Bergbau  iiberzeugt  wa- 
ren, wurde  in  derZellefelderBergresolution  von  1680/81  administrativ  festgelegt, 
dass  die  128  Kuxe  einer  Grube  nach  einem  bestimmten  Schliissel  auf  die  Landes- 
herren, Gewerken,  Kammerrate,  Berghauptleute  und  hohere  Bergbedienstete  zu 
verteilen  waren.117  Die  Bergordnung  selbst  wurde  weder  revidiert  noch  formal 


115  NLA  HStA  BaCl,  Hann.  84a,  2a,  Nr.  12,  Vermerk  einer  Besprechung  zwischen  Her- 
zog  Julius  und  Christoph  Sander  iiber  das  Zusammenschmelzen  Rammelsbergischer  und 
Oberharzer  Erze  (in  Ilustrm.  Gemach,  24.Januar  1577,  14.  Marz  1577),  d.  h.  Uberlegungen  da- 
zu wurden  schon  recht  friih  angestellt. 

116  Vgl.  dazu  Lazarus  Erckers  „GroBes  Probierbuch",  wie  Anm.  90. 

117  NLA  HStA  BaCl,  Hann.  84a,  Histor.  und  Stat.  Nachr.,  829,  Nr.  2,  Zellerfelder  Bergre- 


Organisationsstrukturen  der  Bergbauverwaltung  323 

aufgehoben.  Festzuhalten  ist:  Der  landesherrliche  Beamtenapparat  hatte  im  Un- 
ter-  und  Oberharz  ein  eigenstandiges  Sozialmodell  entwickelt. 

Die  Durchsetzung  der  Zentralisierung  im  fiirstlichen  Flachenstaat  hatte  die  al- 
ten  Hofrate  des  15.  Jahrhunderts  abgelost  und  die  Notwendigkeit  einer  neuen  Be- 
amtenorganisation  mit  sich  gebracht.  Die  durch  immer  groBere  und  weiterrei- 
chende  Aufgaben  geforderte  Bergverwaltung  bildete  ein  Zentrum  neben  der 
Hofverwaltung  und  der  fiirstlichen  Kammer  innerhalb  der  landesherrlichen  Be- 
hordenorganisation.  Diese  reichten  aber  ebenfalls  als  politische  und  finanzielle 
Zentren  bald  nicht  mehr  aus.  Es  mussten  auch  die  iibrigen  Behorden  der  Verwal- 
tung  durch  regelhafte  Ausdifferenzierung  ungeregelter  Teilsysteme  einen  Beitrag 
zur  Systematisierung  wirtschaftlicher  und  verwaltungsmaBiger  Zusammenhange 
leisten.  In  dieser  Schaffung  eines  funktionierenden  Beamtentums  lag  der  groBe 
okonomische  Gewinn  des  Landesherrn.  Das  war  zugleich  die  Aktivbilanz  der  ter- 
ritorial-staatlichen  Entwicklung. 


ANHANG 


I.  Zellerfeld,  1579  Juli  18 

Bericht  des  Oberharzischen  Bergamts  an  Herzfig Julius,  an  welchen  Orten  noch  Ze- 
chen  aufgenommen  und  verliehen  werden  konnen 

NLA  HStA  BaCl,  Hann.  84a,  2a,  Nr.  14 

Durchleuchtiger Hochgeborner Fiirst,  E.F.G.  seindt  unsere pflichtschuldige  und gehor same 
Dienste  mit  hochsten  getreuen  Vleiji  in  aller  Underthenigkeit  zuvorn  bereit. 

Gnediger  Fiirst  und  Hen,  mit  was  grofSer  Landtvetterlicher  Vorsorge  und  schweren  Geldt 
Kostungen  E.F.G.  als  ein  loblicher  Christlicher Fiirst  von  Anfangs  E.F.G.  Regierung  hero 
sich  dem  gemeinen  nutz  nicht  allein  in  Geistlichen,  sondern  auch  in  Weltlichen  sachen,  als 
mit  Stiftung  der  wahren  und  reinen  Christlichen  Religion  vermoge  der  ausgegangenen  Cor- 


solution  1680/81,  Resol.  II:  Weiln  billig,  dass  wen  einige  bergleuthe  nach Ertzen  schiirffen  und,  umei- 
ne  Grube  rege  zu  machen,  einige  Zeit  unkosten  anwenden,  dieselben  ah  dann  bey  Eintheilung  der  Ge- 
werckschaften  nicht zuriick gesetzet  werden  mogen,  als sollbey  solchen fallen  ihnen  60 Kuchse gelassen,  die 
iibrigen  von  128  aber  also  vertheilet  werden,  dass  4  davon  uns  und  unsers  Herrn  Vettern  lobl,  35  unsern 
und  denfurstl.  Wolfenbuttelschen  Geheimbten  Cammer Rdthen,  Berghauptleuthen  und  Cameralen,  und 
zwar  20  denen  Calenbergischen  und  15  denen  Wolfenbuttelschen,  ingleichen  15  unsern  Communion  Berg 
Officiren  und  14  denen  auswertigen  Vornehmen  Gewerken  zugeschrieben  werden  sollen. 


324  Hans-Joachim  Kraschewski 

poris  Doctrinae  und  Kirchenordnung,  auch  Fundation  der  Julius  Universitet  und  anderer 
Christlichen  Particular  Schulen  E.f.g.  landen  und  leuten,  audi  der  liebejugendt  zu  guette, 
zum  hdchsten  angelegen  sein  lassen, 

darneben  audi  was  fur  schwere  und  grojie  geldausgaben  E.f.g.  uff  die  furstliche  Stoln  zur 
erhebung  derselben  angeerbten  Braunschweigischen  Ober:  und  Unter:  auch  neu  Hannen- 
kleischen  Bergwerken  den  gemeinen  nutz,  auch  in:  und  auflendischen  Gewerken  zu  mergk- 
licherer  befurderung  aufgewendet, 

das  alles  ist  Gott  lob  nunmehr  voraugen,  auch  uns  und menniglichen  unverborgen.  Dafur 
denn  E.f.g.  wir  unsertheils  zum  Underthenigsten  dancken  und  zweifeln  nicht,  es  werden  an- 
dere  E.f.g.  Underthanen,  auch  die  in:  und  auslendischen  Gewergken  gegen  E.f.g.  gleichfals 
in  Underthenigkeit  zu  bedancken  wifien. 

Und  nach  dem  wir  auch,  Gnediger  Fiirst  und  Hen,  aus  E.f.g.  uns  under  dato  den  23ten 
May  zugeschickten  offenen  schreiben  ferner  vernahmen,  das  e.f.g.  aus  hochbegabten  Fiirstli- 
chen  Gemiithe  bey  sich  in  Gottes  nahmen  endschlojien,  alle Erzgenge  undgebeude,  so  uffdie- 
sem  E.f.g.  Obern  Bergkwerke  auf&erhalb  der  Vierung der albereit  verlehnten  Zechen  uberfah- 
ren  und  uffgenommen  werden  miigen,  Gott  dem  almechtigen  zu  Ehren  und  schuldiger 
Danckbarkeit,  Ad pias  Causaszu  mehren  wachstumb  und Fortsetzung  der Loblichen  Julius 
Universitet,  das  Consistory  Hofgerichts  und  anderer  Particular  schulen  auszuthun  und  zu 
vergewercken,  auch  jederm  E.f.g.  Diener  und  Verwandten  iiber  seinen  von  E.f.g.  habenden 
Unterhalt  dermassen  mit  Bergtheilen  berurter Zechen  zu  bedencken,  das  ersich  darvon  ehrli- 
chen  und genugsam  erhalten  miige,  in  deme  spiiren  und  vermercken  wir  abermals  E.f.g.  ve- 
terliche  Zuneigung  und  gnedigen  willen,  seind  dessen  auch  vor  unser  Person  zum  hochsten 
erfreuet  und  ungezweifelter  Hoffnunge,  der  giitige  Fromme  Gott  werde  darzu  gliick,  segen 
und gedeyen  veterlich  geben  und  mittheilen. 

Uber  das  haben  wir  auch  aus  obbemelten  E.f.g.  schreiben  weiter  verstanden,  welcherley 
gestalt  etzliche  Adeliche  Gewercken  eine  ansehnliche  summa  Gulden  zu  erbauung  eines  neu- 
en  Bergkwerkes  zusammen  getragen.  Derowegen  E.f.g.  von  Uns  semptlichen  ingnaden  erfor- 
dern,  das  wir  hochstes  unsers  Vermugens  alle  Zechen  dieses  E.f.g.  Obern  Bergkwerkes  befah- 
ren,  auch  eigendliche  Uffachtunge  haben  und  nach  besichtigung  ausfuhrlichen  bericht  thun 
sollten,  wes  orts  und  wievil  neuer  Zechen  auf&erhalb  der  Vierung  der  andern  hiebevorn  ver- 
liehenen  Gebeude 118  konnen  eingebracht  und  aufgenommen  werden  und  wir  dann  Uns  der 
Verwantnus  nach  E.f.g.  zu  gehorsamen  schuldig  erkennen. 

Als  haben  wir  semptlichen  diese  Befahrung  mit  Vleis  under  die  Handt  genommen  und  be- 
finden,  das  nach  Anweisung  des  Alten  Mannes119  an  hernach  verzeichneten  Ortern  diese 
neue  Gebeude  und  Zechen  konnen  eingebracht  werden, 


118  Als  Vierung  wurde  die  Langserstreckung  und  Breite  eines  Grubenfeldes  bezeichnet, 
die  es  im  Hangenden  und  Liegenden  begrenzten.  Dabei  ging  es  um  erhebliche  Schwierigkei- 
ten  bei  der  Abgrenzung  von  alteren  und  neu  aufgenommenen  Grubenfeldern  gegeneinander. 

119  VorstoBen  in  Alten  Mann:  vom  alteren  Bergbau  geschaffene  und  teilweise  wieder  ver- 


Organisationsstrukturen  der  Bergbauverwaltung  325 

1.  Erstlichen  am  Hanenklee  ufm  Hauptgange  UberE.f.g.  eigene Fundgrube  undzwo  negste 
Majien  noch  seeks  Zechen,  jede  mit  zweyen  vollen  Majien}20 

2.  Dejigleichen  im  Lautenthal  ufHaupt  Zoge  UberE.f.g.  eigene  Zeche  Sanctjacobs Fund- 
grube, beide  negst  und  uber  ander  Majien,  noch  zwanzigk  Majien,  thunzehen  Zechen, 
welche  alle  nacheinander  durch  die  Stolnorter,  so  E.f.g.  des  Orts  itziger  Zeitt  treiben, 
auch  Querschlege  kilnftiglichen  von  Tage zu  Tage  konnen  erhoben  und  erbauet  werden. 

3.  Mehrkann  man  auch  aufdem  neu  angetroffenen  gange  ufm  Pleyfelde  noch  sechs  Mafen, 
thun  drey  Zechen,  uffnehmen  und  einbringen,  welche  noch  unverliehen  und  E.f.g.  al- 
lein  zustehen. 

Diese  jetztgenandte  neunzehn  Zechen  konnen  E.f.g.  anschlagk  nach  uff  dismal,  bis 
sich  was  weiteres  ereugen  mdchte,  uffgenommen,  verliehen  und  vergewercket  werden.  Dis 
wir  aber  zu  E.f.g  gnedigen  gefallen  wollen  gestellt  haben  und  seindt  der  ungezweyfelten 
Hoffnung,  es  werden  die  Unkosten,  so  zur  Erhebung  so Icher  Zechen  ufgewendet,  nach  aus- 
weisung  deralten  vestigia  nicht  vergeblich  sein  und  allerhand  Anzeigungen  nach  wohlErtz 
brechen. 

Es  konnen  aber  itziger  Zeit  solche  Zechen  zugleich  nicht  belegt  werden  aus  Ursachen,  das 
solches Feldt  oder Majien  durch  die  Stollnorter  noch  nicht  verschroten  oder  erlanget, 121  auch 
kein  Arbeitsvolck  vorhanden  und  deren  itzo  fast  uff  alien  Zechen  grojier  Mangel  befun- 
den.122  Derowegen  werden  E.f.g.  mit  Belegung  derselben,  bis  es  die  gelegenheit  geben  und 
Stollnorter  eingetrieben  auch  hinwieder  Arbeiter  anlangen  werden,  in  gnaden  geruhen. 

Ferner  wijien  wir  uff  dismahl  keine  Zechen  oder  Gebeude  vorzuschlagen.  Da  sich  aber 


fiillte  Hohlraume,  wobei  die  Gefahr  bestand,  dass  der  Alte  Mann  in  Bewegung  geraten  konn- 
te,  was  wiederum  schwerwiegende  Folgen  fur  einen  Grubenbau  bedeutete. 

120  Es  geht  hier  um  die  raumliche  Ausdehnung  der  Zechen:  eine  Zeche  umfasste  eine 
Fundgrube  oder  eine  Fundgrube  mit  einer  oder  mehreren  folgenden  MaBen.  Es  gab  auch 
Zechen  mit  nur  einer  MaB  oder  mehreren  MaBen  nach  einer  Fundgrube.  Eine  MaB  war 
28  Lachterlang  (ca.  54m)  und  konnte  7Lachterbreit  sein  (ca.  13,50m),  wurde  jedoch  primar 
von  der  Gestalt  des  Ganges  bestimmt.  Da  groBere  Grubenfeldergemutet  und  verliehen  wur- 
den  -  es  konnten  auch  benachbarte  Zechen  zusammengelegt  werden,  -  waren  die  Gruben- 
felder  in  der  Regel  wesentlich  weiter  ausgedehnt. 

121  Verschroten  (mhd.  schroten:  schneiden,  abschneiden):  durch  einen  Markscheider  be- 
triebstechnisches  Vermessen  von  Gruben;  da  es  zur  Zeit  Herzogs  Julius  noch  keine  ausge- 
wiesene  Markscheiderei  gab,  wurde  diese  Aufgabe  vom  Oberbergmeister  und  dem  Hiitten- 
reiter  wahrgenommen,  die  auf  langjahrige  Erfahrungswerte  zuriickgreifen  konnten. 

122  Im  Jahr  1577  wurden  nahezu  alle  Bergorte  stark  von  Seuchenwellen  heimgesucht. 
Mit  Ausnahme  von  Grund  und  Lautenthal  waren  sie  von  der  Pest  betroffen,  die  Zahl  der  Ar- 
beitskrafte  wurde  stark  dezimiert.  In  diesem  Zusammenhang  ist  die  von  Herzog  Julius  wie- 
derholt  beklagte  Abwanderung  von  Bergleuten  in  andere  Reviere  zu  sehen  und  der  Versuch, 
fur  die  Oberharzer  Bergwerke  Arbeiter  (Erzhauer,  Karrenlaufer,  Knechte,  Jungen,  Holz- 
hauer)  aus  Sachsen  zu  gewinnen  (NLA  HStA  BaCl,  Hann.  84a,  2a,  Nr.  13,  Vermerk  einer 
Besprechung  zwischen  Herzog  Julius  und  Christoph  Sander,  29.  Juni/ 10.  Juli  1578). 


326  Hans-Joachim  Kraschewski 

kiinfftiglichen  was  writers  durch  die  Stolln  an  Taggeben  wiirde,  das  wollen  wirE.f.g  keines 
weges  vorhalten  noch  verschweigen,  underthenigst  bittende,  E.f.g  wollen  Uns  derselben  gne- 
digen  erbieten  nach  als  gehorsame  treue  Diener  der  Orter  vor  Mitgewercken  in  gnaden  auch 
bedenken,  seindt  wir  erbdtlich  uffHoffnungm.it zu  bauen  unddes  Glilcks  auch  zu  erwarten. 

Und  was  wir  dan  als  Bergkleut  E.f.g.  und gemeiner  Gewerkschaft  in  diesem  zu  ersprieji- 
lichen  Nutz  und gedeyen  schaffen  und  raten  kdnnen,  daran  wollen  wir  unsern  menschlichen 
und  muglichen  Fleif  nichts  erwinden  lassen. 

Wollen  auch  solche  erzeigte  Wohltaten  und  landtvetterliche  Wohlmeinunge  mit  unserm 
Gebetgegen  Gott  dem  Almechtigen  vor  E.f.g.  umb  VerleyhunglangwierigerLeibesgesundheit 
und  gliickseliger  Regierung  stets  eingedenk  sein,  welches  E.f.g.  uff  derselben  gnediges  begeh- 
ren  wir  zum  Bericht  in  Underthenigkeit  nicht  vorhalten  sollen. 

Denn  E.f.g.  gehorsame  treue  Dienste  zu  leisten  erkennen  wir  Uns  schuldigk,  seindt  es 
auch  jeder Zeit  geflifen,  und  thun  Uns  derselben  hiermit  undertheniglichen  bevehlen. 

Geben  under  des  Ampts  Insigel.  Sonnabents  nach  Margaretha 

A0  [15] 79 

E.F.G. 

Underthenge  Gehorsame 
Ober  Bergkmeister,  Zehentner 
Geschworne  und  gantzes  Bergampt 
der  Obern  Zellerfeldischen  und 
Wildemennischen  Berkwerke 


II.  Goslar,  1579  August  25 

Oberverwalter  Christoph  Sander  an  Herzog Julius  betr.  Bergbau  im  Oberharz,  die 
Tatigkeit  des  Pulvermachers  Kurt  Bernecke  sowie  Salpeterkauf  in  Sehnde  und 
Aschersleben 

NLA  HStA  BaCl,  Harm.  84a,  2a,  Nr.  14 

DurchleuchtigerhochgebornerFurst.  E.f.g.  seine  meine  gehorsame  und gantzwillige  dienst  in 
getreuem,  hogesten  Vleif  zuvor  bereit. 

Gnediger first  und  Hen,  bei  e.f.g.  Zehntner  uberschick  e.f.g.  ich  die  Ausziige  und  Handstein 
und  dem  Cammerer  die  Rechnunge  E.f.g.  Berchwerck  und  Huttenwerck  bedreffende.  1st 
gottlob  in  gutem  wolstande  und  weif  dieser  Ortter  keine  Mengel,  allein  etwas  an  Arbeitern 
dieses  Orts,  weil  die  Ertze  vorhanden,  dohin  sie  die  Zeit  vorlaufen.  So  mengeln  aufden  obern 
Berchwerck  auch  Arbeiter,  laufen  doch  ab  und  zu,  das  geleichwol  die  Notturft  vorhanden. 


Organisationsstrukturen  der  Bergbauverwaltung  327 

E.F.G.  soil  ich  auch  ungemeldt  nicht  lassen,  das  ich  den  beiden  Marscheidern123  wegen 
e.f.g  auferlecht,  die  Ortunge  des  Fortunatus  Juliusstollen  aufdem  Hauptstollnort  auch  im 
Rammelsberg  herausser  zu  bringen,  domit  e.f.g.  mit  gnaden  zu  ersehende,  was  bei  e.f.g.  Re- 
gierunge  Zeiten  gelenget,  gesencket  und  aufgefahren,  wie  tief  die  Schechte  und  Stollen  in- 
bringen  muchten  und  was  noch  zusencken  undlengen,  in  was Zeit  das  alles geendiget  werden 
kunte,  alles  ungeferlich  aujfes papir  zu  bringen.124 

Was  nun  die  beiden  Marscheider  befunden,  das  haben  e.f.g.  beigewart  mit  gnaden  zu  ver- 
lesen.  Die  Zeit  aber  berufen  sie  sich  aufvorigen  ubergegeben  Bericht. 

E.F.G.  soil  ich  auch  ungemeldt  nicht  lassen,  das  mit  dem  Salpetermacher125  Curt 
Bernecken  ein  Contract  berambt,  aber  noch  nicht  gefertiget,  doch  des  willens,  den  zu  halten. 
So  weit  und ferner  e.f.g.  darin  consentiren  dieses  Inhalts,  er  will  e.f.g.  aufMontag  12  ctngudt 
purs  oder  handt  rohr  Kraut,  damit  man  nach  Scheiben  schiej&t  oder  wie  man  will,  liebern, 
den  ctn  umb  18Vz  daler.  Dagegen  will erplei  nehmen,  soviel  ime geliebet,  den  ctn  4Vzfl  und 
den  Swefel  1  ctn  10 grMiinze,  und  noch  aufMichaelis  8  ctn,  desselben  Krantzzu  leben  sich 
vorpflichten  alle  in  dem  Kaufe. 

So  will  ersich  auch  anderst  nicht  horen  lassen,  dan  den  ctn  umb  5fl an  Blei  angenhomen 
haben,  will sulchs  auch  wol  in  den  Contract  setzen  lassen,  allein  das  ime  ein Beweis  hiruber 
muchte  gegeben  werden,  das  das  Blei  ime  umb  4' ' /,fl  sollte  jeder  Zeit  gerechnet  werden. 

Desselben  geleithen  wollte  er  sich  in  dem  Contract  vorpflichten,  von  Michaeli  anzu  rech- 
nen  bis  wider  auf  Michaeli  einjahr,  hundert  ctn  desselben  Krauts,  duchtiges  Gut,  zu  lifern 
und  wie  es  nach  seinem  willen  zugenge,  itzliche  und  an  die  50  ctn. 

Daruber,  wie  wol  er  die gewisse  nicht  zusagen  kunte  und  wollte,  allemal  den  meisten  Teil, 
wie  nicht  alle,  sich  mit  Blei  bezahlen  lassen}26  Die  fesser  aber  zum  Pulver  kunte  er  nicht 
gestehen.127  Nun  ist  sulchs  geringe  efg,  do  kumpt  eine  Tonne,  darinnen  4  oder  5  ctn  gehen, 
1 0  Mariengroschen  zustehende. 

Was  nun  in  diesem  e.f.g.  mit  gnaden  wollen  gehabt  haben,  stehet  zu  e.f.g.  gnedigem  und 


123  Markscheider,  vgl.  Anm.  120. 

124  Die  Markscheider  sollten  ihre  Berechnungen  vorlegen,  damit  der  Stand  der  Aufwal- 
tigungsarbeiten  am  Julius  Fortunatus  Stollen  erkennbar  wird.  Der  Durchschlag  erfolgte  am 
25.  September  1585. 

125  Salpeter  und  Schwefel:  der  fur  die  Anfertigung  von  Brandsatzen  und  die  SchieBpul- 
verbereitung  unentbehrliche  Salpeter  (chemisch  Kaliumnitrat)  wurde  in  Salpeterhiitten  aus 
Salpetererde  gewonnen.  Herzogjulius  und  Christoph  Sander  zeigten  ein  hohes  Interesse  an 
praktischen  Vorgangen  dieser  Gewinnungsverfahren.  Schwefel  wurde  gleichfalls  zur  Her- 
stellung  von  gewohnlichem  SchieBpulver  benutzt.  Agricola  (De  re  metallica,  Buch  XII) 
stellt  bei  der  Beschreibung  der  Salpetergewinnung  die  praktische  Durchfuhrung  in  den  Mit- 
telpunkt,  ohne  auf  die  zahlreichen,  widerspruchsvollen  Theorien  seiner  Zeit  einzugehen. 

126  Stichhandel:  Herzogjulius  drang  darauf,  die  fefier  auch  mit  bleien  zu  zahlen. 

127  Keine  Ubernahme  der  Gestehungskosten  fur  die  Transportfasser  durch  den  Hand- 
ler, diese  hatte  der  Herzog  zu  tragen. 


328  Hans-Joachim  Kraschewski 

furstlichen  Bedencken.  Mit  dem  andern  ist  noch  nicht gehandelt,  ist  nicht  einheimisch gewe- 
sen,  erachte,  das  der  auch  zu  sulcher  Summa  kommen  kunte. 

Gnediger Furst  undHerr,  soviel  belangende,  was  e.f.g  mit  gnaden  an  den  Oberambtman 
und  mich  geschrieben,  mit  den  Zellerveldischen  zu  handeln,12S  so  soil  solcher  Handel,  ge- 
liebts  Gott,  wie  ich  dem  Oberambtman  zugeschrieben,  vor  sich  gehen.  Will  e.f.g.  mich  aber 
mit  gnaden  in  funf  oder  sechs  tagen  erlaubt  zu  vorreiten  nach  Sehende.129  So  habe  ich  mich 
nechst  bei  den  Richtern  und  Scheffen  gemacht  und  angezeigt,  wes  sich  e.f.g.  jungest  mit  gna- 
den erclert,  darauf  auch  auf  nehesten  Dinstag  der  Handel  vollzogen  werden  solle,  und  inen 
alle  gelegenheit  zugemuete  gefuret,  das  sie  irer  Nachkommen  Notturft  wol  erwegen  und  be- 
trachten  wollten  und  itzo  nicht  bei  den  Tassen  sitzen  und  vorslafen  die  Malzeit  und  sich  mit 
guter  Antwort  auf  die  zeit  gefaft  machen. 

Dessen  sie  sich  erboten  und  werden  sich  meines  Erachtens  ercleren,  was  ihnen  mogelich 
sein  wird.  Und  habe  derwegen  den  Zehtner  Tilmann  Kiel  und  Claussen  Wolf  neben  dem 
Oberambtmann  dieses  zum  besten  zuvorhandlen  in  meiner  stat  volmechtig gemacht,  unter- 
tenigst  bitten,  e.f.g.  wollen  mit  gnaden  fridelich  sein. 

So  will  ich  auch gewertich  vortziehen,  werde  mit  dem  Burgermeister zu  Aschersleben  umb 
den  Salpeter  ein  Handel  ingehent  und  Swebel  dreffen.12,0 

Daran  ich  keinen  vleif  zu  uben  mich  will  vorfallen  lassen. 

Das  sollte  schuldig  ich  gedacht  e.f.g,  der  ich  gehorsame  undgantz  willige  Dienste  in  getreu- 
em  und  hogestem  vleifie  zuerzeigen  williger  dann  willig,  nicht  vorhalten. 

Datum  auffurstlicherfreienMuntze,  den  25.  August  Anno  [15]79 

EFG  williger diener  Christoph  Sander,  Oberzehntner 

mpp131 


128  Es  ging  bei  den  Verhandlungen  mit  den  Zellerfeldischen  um  den  Verkauf  eines  Her- 
renhofes  mit  Wohngebauden.  Herzogjulius  war  daran  interessiert. 

129  Sehnde  (Amtsvogtei  Ilten  -  zum  Haus  Liineburg  gehorig)  wies  das  Salzmineral  Kali- 
um  auf,  das  bergmannisch  gewonnen  wurde  (heute:  Hannoversches  Kalirevier;  vgl.  dazu 
Hans  Peter  Riesche  (Hg.),  Die  Kaliindustrie  in  der  Region  Hannover,  Bielefeld  2004).  - 
Auch  hier  ging  es  um  das  begehrte  Kaliumnitrat  (KNO,),  das  fur  die  Edelmetallurgie  (Me- 
tallscheidung)  ebenso  dringend  gebraucht  wurde  wie  fur  die  SchieBpulverbereitung. 

130  Bei  Aschersleben  (ostlich  von  Quedlinburg)  lagen  Kohlenfloze,  deren  Braunkohle 
Salpeterminerale  aufwies,  die  durch  Auslaugen  (Aschelaugen)  gewonnen  wurden  und  zur 
Herstellung  von  Scheidewasser  (Salpetersaure)  diente.  Der  Kaufmann  Balthasar  Miiller  (Bal- 
zer  Moller)  aus  Aschersleben,  der  auf  den  Leipziger  Messen  und  in  Nurnberg  mit  Salpeter 
handelte,  hatte  im  April  1574  Christoph  Sander  mitgeteilt,  er  hoffe,  im  Sommer  des  Jahres 
150  ctn  Salpeter,  den  Zentnerzum  Preis  von  17V2  Taler,  nach  Wolfenbiittel  liefern  zu  konnen. 
Zunachst  aber  sollten  60  ctn,  wo  das  Wetter  gut,  alle  100  ctn,  nach  Halberstadt  auf  die  Waage 
gelangen,  im  Gegenzug  wolle  er  Blei  und  Glatte  iibernehmen  (NLA  HStA  BaCl,  Hann.  84a, 
Nr.  934,  Schreiben  Balzer  Mollers  an  Christoph  Sander,  30.  Marz/  13.  April  1574). 

131  manu  propria:  mit  eigener  Hand. 


Dafi  auch  der  Ort  wegen  darin  befindlicher  Gespenst 
sehr  beschryen  ist 

Die  »Hohlwelten«  des  Harzes  im  Spiegel  chronikalischer 
Berichte  des  16.  und  17.  Jahrhunderts 

Von  Ralf  Kirstan 


Fiir  Hanna  und  Liping 

Und  dieweil per  rerum  naturam  in  diesen  locum  subterraneum  [=  unterirdischen  Ort;  R. 
K.]  kein  Tagesliecht  hinein fallen  kann,  daneben  sothane  Hohlen  sampt  undsonders  mitste- 
tigen  dicken  Diinsten  und  Nebeln  angefiillet  und  dazu  stets  Wasser  von  oben  herab  darein 
trbpffelt,  ohn  dafe  auch  der  Ort  wegen  darin  befindlicher  Gespenst  sehr  beschryen  ist,  als  ver- 
samlen  sich  gemeiniglich  der  jenigen,  so  den  Ort  zu  besehen  willens,  eine  zimliche  Gesell- 
schafft  und  versehen  sich  mit  einer  menge  Fackeln  oder  Liechter  sampt  einem  oder  anderm 
Fewerzeuge,  auffdaf,  wann  etwa  durch  die  dicke  Diinste  oder  Gespenst  die  Liechter  aufige- 
loschet  wurden,  dieselben  wieder  angezundet  werden  konten  [. .  J.1  So  heiBt  es  in  dem 
aus  dem  Jahre  1651  stammenden  und  fiir  Matthaus  Merians  Topographie  der 
Herzogtiimer  Braunschweig  und  Liineburg  verfaBten  Bericht  des  Amtmanns  zu 
Elbingeorde  iiber  die  im  Harz  gelegene  Baumannshohle.2  Entscheidend  bei  die- 


1  Matthaeus  Merian,  Topographia  vnd  Eigentliche  Beschreibung  Der  Vornembsten  Sta- 
te, Schlosser  auch  anderer  Platze  vnd  Orter  in  denen  Hertzogthiimern  Braunschweig  vnd 
Liineburg,  vnd  denen  dazu  gehorenden  Grafschafften,  Herrschafften  vnd  Landen,  Neue 
Ausgabe,  hrsg.  von  Lucas  Heinrich  Wuthrich  (Nachdruck  der  Ausgabe  Franckfurt  1654), 
Kassel/ Basel  1961,  S.  32.  -  Der  Amtmann  von  Elbingerode,  der  den  Beitrag  iiber  die  Bau- 
mannshohle fiir  Merians  »Topographia«  verfaflt  hat  (siehe  hierzu  unten  Anm.  2),  scheint 
sich  an  Heinrich  Eckstorms  „Epistola  de  specu  Bumanni  vulgo  Bumannsholl"  in  dessen 
Schrift  „Historia  terrae  motuum  complurium"  aus  dem  Jahre  1620  anzulehnen.  So  auch 
schon  Stephan  Kempe,  Fritz  Reinboth,  Die  beiden  Merian-Texte  von  1650  und  1654  zur  Bau- 
mannshohle und  die  dazugehorigen  Abbildungen,  in:  Die  Hohle  -  Zeitschrift  fiir  Karst-  und 
Hohlenkunde  52/2,  2001,  S.  33-45,  hier  S.  36f. 

2  Dem  Amtmann  von  Elbingerode  war  am  11.  Juni  1651  die  Bearbeitung  der  Baumanns- 
hohle fiir  den  als  AbschluB  von  Merians  beriihmter  »Topographia  Germaniae«  gedachten 
Band  iiber  die  braunschweig-liineburgischen  Herzogtiimer  iibertragen  worden.  Vgl.  Paul 
Zimmermann,  Matthaeus  Merians  Topographie  der  Herzogtuemer  Braunschweig  und  Luene- 


330  Ralf  Kirstan 

sen  Ausfiihrungen  ist,  daB  der  Amtmann  ganz  offensichtlich  davon  iiberzeugt  ist, 
die  Hohle  werde  bewohnt  von  Gespenstern.  In  diesen  Wesen  erblickt  er,  neben 
natiirlichen  Ursachen  wie  »dicken  Diinsten«,  eine  Hauptursache  fur  das  Verlo- 
schen  von  Lichtern  und  Fackeln  in  der  »Hohlwelt«  der  Baumannshohle.  Wie 
ernsthaft  und  wahrhaftig  des  Amtmanns  Glauben  an  jene  Gespenster  ist,  zeigt 
sein  Bemiihen  um  Authentifizierung  eines  Berichts  iiber  eine  angebliche  Begeg- 
nung  zwischen  Mensch  und  Gespenstern.  So  hebt  er  die  Glaubhaftigkeit  seiner 
Gewahrsleute  besonders  hervor  und  versucht  das  »unheimliche«  Treffen  mog- 
lichst  genau  zu  datieren:  Es  sei  gewifi  und  mit glaubhafften  Leuten  zu  bezeugen,  dafi  un- 
gefehr  fiir  65  Jahren  ein  junger  starcker  Viehehirte  aufe  dem  Hartze3  sich  allein  in  die 
Hohle  gewagt,  darin  verirrt  und  erst  nach  achttagigerMiBhandlung  durch  die  Ge- 
spenster den  Ausgang  wiedergefunden  habe.  Dabei  scheinen  fiir  den  Amtmann 
derartige  Gespenster  nicht  nur  als  korperlose  Geistwesen  existieren  zu  konnen, 
welche  die  Fackeln  ihrer  Opfer  unbemerkt  und  einem  Dunst  oder  Hauch  gleich 
zum  Erloschen  bringen;  er  sieht  sie  ebenso  mit  der  Fahigkeit  ausgestattet,  sich  zu 
manifestieren  und  in  leiblicher  Gestalt  mit  hochst  irdischen  Gegenstanden  zu 
hantieren:  Teilt  er  seinen  Lesern  doch  ferner  mit,  der  besagte  Viehhirte  sei  von  den 
Gespensten  iiber  alle  maji  gedngstiget  worden,  zumahl  er  von  etlichen  ergriffen,  als  ein  Dieb 
angeklaget  und  zum  Galgen  verdammet,  gefuhret  und  ihm  der  Strick  umb  den  Halfe  gethan 
worden;  wann  er  von  selbigen  kaum  erlediget,  ist  er  einer  andern  Parthey  in  die  Hdnde  ge- 
rahten,  von  denen  er  als  ein  Mdrder  zum  Tode  verdammet,  und  also  fort  von  vielen  andern 
auffviel  andere  Manier  uffs  eusserste  geplaget  und  gedngstiget  worden.4,  Diese  Ausfiihrun- 
gen verdeutlichen  iiberdies,  wie  sehr  der  Amtmann  die  Welt  der  Hohlengeister 
auf  die  Verhaltnisse  der  Menschen  iibertragt:  Nicht  nur,  daB  er  die  Gespenster 
iiber  ein  Gerichtswesen  verfiigen  sieht,  welches  zwischen  unterschiedlichen  De- 
likten  differenziert  und  fiir  Diebstahl  dasselbe  StrafmaB  vorsieht  wie  zeitgenossi- 
sche  »menschliche«  Gerichte,  auch  eine  Differenzierung  der  Gespenster-Gesell- 
schaft  in  unterschiedliche  Gruppen  bzw.  »Parteien«  erscheint  ihm  plausibel  und 
glaubhaft.  Mit  diesem  Geisterglauben  ist  der  Amtmann  durchaus  kein  Einzelfall 
im  17.  Jahrhundert:  Auch  der  1656  die  Baumannshohle  besichtigende  hallische 
Superintendent  Olearius  glaubt  prinzipiell  an  die  Existenz  von  Geistern 
(»spectra«)  in  dieser  Hohle,  auch  wenn  sich  eine  numinose  Erscheinung  durch  ei- 
nen  Fackelwurf  schlieBlich  doch  als  Steinfelsen  identifizieren  lieB:  In  solcher  Zeit 
prdsentirte  sich  an  einem  Ortefur  unser  Gesicht  die  Gestalt  eines  spectri  in  Form  einer  wei- 
jien  Frauen,  als  aber  mit  einer  brennenden  Fackel  darnach  geworfen  ward,  befand  sichs,  daji 


burg,  in:  Jahrbuch  des  Geschichtsvereins  fiir  das  Herzogtum  Braunschweig  1,  1902,  S.  38-66, 
hierS.  47 f. 

3  Merian,  wie  Anm.  1,  S.  32. 

4  Ebd. 


Die  »Hohlwelten«  des  Harzes  331 

es  ein  langer  weifeer  Steinfels  war  [.  .  ,].  Aber  noch  ein  weiterer  Vorfall  zeigt,  daB 
Olearius  ganz  selbstverstandlich  mit  der  Existenz  iibernatiirlicher  Geschopfe  in 
der  Baumannshohle  rechnete:  ingleichen  schien  es  auch  an  einem  Orte,  ah  ob  jemand 
aus  einem  Loch  herausguckte,  welches  aber  ebenmdjiig  falsch  befunden  ward  [.  .  .].6  Mag 
sich  fur  den  Superintendenten  auch  im  Nachhinein  herausgestellt  haben,  daB  er 
lediglich  einer  Sinnestauschung  zum  Opfer  gefallen  war,  so  weist  doch  seine 
Reaktion,  bei  zunachst  unerklarlichen  optischen  Phanomenen  sofort  an  das  Auf- 
tauchen  von  numinosen  Geschopfen  zu  denken,  auf  einen  tief  sitzenden  Gei- 
sterglauben  hin.  Wie  sehr  nicht  nur  er,  sondern  auch  seine  Begleiter  von  diesem 
Glauben  erfiillt  waren,  zeigt  eine  Beschreibung  des  Besuchs  der  Baumannshohle 
von  der  Hand  des  Studiosus  von  Alvensleben.  Eingefiigt  in  diese  Beschreibung 
findet  sich  eine  Karte,  auf  der  von  Alvensleben  drei  Stellen  besonders  bezeichnet 
hat:  Hier  hatte  es  diefalsche  Gestalt  eines  spectri,  hier  schien  es,  als  wenn  jemand  herauJS- 
kuckte,  hier fiel die Fackel  ein?  Warum  nur  erachtete  von  Alvensleben  ausgerechnet 
jene  beiden  aus  heutiger  Sicht  belanglos  anmutenden  „Geistererscheinungen"  in 
seiner  Hohlenkarte  fiir  festhaltenswert?  Den  Aufzeichnungsgrund  bot  offensicht- 
lich  der  Schreck,  den  er  dariiber  empfunden  hat.  Beide  „Erscheinungen"  schei- 
nen  ihn  so  nachhaltig  bewegt  zu  haben,  daB  er  sie  als  berichtenswerte  Ereignisse 
festhielt:  untriiglicher  Beweis  seines  tiefen  Geisterglaubens.8 

Trotz  des  in  alien  drei  Aufzeichnungen  sich  deutlich  offenbarenden  Gespen- 
sterglaubens  ihrer  Verfasser  scheinen  gebildete  Zeitgenossen  jedoch  nicht  unbe- 
dingt  kritiklos  an  jede  Geschichte  geglaubt  zu  haben,  die  Gewahrsleute  ihnen  un- 
terbreiteten.  Das  zeigt  sich  an  folgender  Stelle,  wo  der  Elbingeroder  Amtmann 
ebenfalls  zur  Baumannshohle  mitteilt:  Viel  wollen  auch  zwart  fiirgeben,  als  ob  sie 
durch  unterschiedliche  Gespenst  lange  darinnen  umbgetrieben  und  endlich  starcke,  eiserne, 
verschlossene  Kisten  unglaublicher grdsse  darin  angetroffen,  welche  von  greulichen  Hunden 
verwahret  wiirden,  welches  alles  man  aber  auf fseinen  Wiirden  und  Unwiirden,  weil  es  illu- 
siones  defi  bdsen  Feindes  seyn  kdnnen,  beruhen  lasset.9  Diese  Mitteilung  ist  im  Gegen- 
satz  zum  Bericht  iiber  die  Erlebnisse  des  geplagten  und  geangstigten  Viehhirten 

5  Vgl.  Karl  Burger,  Des  hallischen  Superintendenten  Olearius  Besuch  der  Baumanns- 
hohle, in:  Zeitschrift  des  Harz-Vereins  fiir  Geschichte  und  Altertumskunde  62,  1929,  S. 
172-180,  hier  S.  176. 

6  Ebd. 

7  Ebd.,  S.  179. 

8  Vgl.  zu  solcherart  emotional  dominierten  sachlichen  Mitteilungen  bzw.  zur  Nieder- 
schrift  von  Begebenheiten,  die  durch  Emotionen  veranlaBt  worden  sind:  Benigna  von  Kru- 
senstjern,  Die  Tranen  desjungen  iiber  ein  vertrunkenes  Pferd.  Ausdrucksformen  von  Emotio- 
nalitat  in  Selbstzeugnissen  des  spaten  16.  und  17.  Jahrhunderts,  in:  Kaspar  vonGREYERZ,  Hans 
Medick,  Patrice  Veit  (Hgg.),  Von  der  dargestellten  Person  zum  erinnerten  Ich:  Europaische 
Selbstzeugnisse  als  historische  Quellen  (1500-1850),  Koln  2001,  S.  157-168. 

9  Merian,  wie  Anm.  1,  S.  32. 


332  Ralf  Kirstan 

in  skeptisch-distanziertem  Unterton  gehalten.  Zwar  unterstellt  der  Amtmann  sei- 
nen  Gewahrsleuten  nicht,  die  Geschichte  wider  besseres  Wissen  nur  erfunden  zu 
haben.  Dennoch  aber  halt  er  es  fur  wahrscheinlich,  daB  jene  Leute  durch  illusio- 
nes  defi  bdsen  Feindes  nur  getauscht  worden  seien,  will  heiBen:  durch  Trugbilder 
bzw.  Halluzinationen  des  Teufels  dazu  gebracht  worden  seien,  Dinge  zu  sehen, 
die  eigendich  gar  nicht  existent  sind.  In  dieser  Argumentation  scheint  der  Amt- 
mann nicht  unwesentlich  durch  Martin  Luther  beeinfluBt  zu  sein,  der  in  den 
»Tischgesprachen«  sagte:  Im  Bergwerk  vexiret  und  betreuget  der  Teufel  die  Leute,  macht 
ihnen  ein  Gespenst  und  Gepldrrfur  denAugen,  daji  sie  nicht  anders  wahnen,  als  sdhen  sie 
ein  grofeen  Haufen  Erz.es  und  gediegen  Silber,  da  es  doch  nichts  ist.10  Mag  fur  den  Amt- 
mann die  Grenze  zwischen  »Wahrheit«  und  Aberglauben  also  auch  anders  und 
vor  allem:  weit  weniger  eng  gezogen  sein  als  fur  das  „aufgeklarte"  BewuBtsein  der 
Moderne,  so  ist  es  dennoch  wichtig  festzustellen,  daB  es  eine  solche  Grenze 
durchaus  auch  fur  einen  gebildeten  Mann  des  friihen  17.  Jahrhunderts  geben 
konnte:  Akzeptiert  und  mit  dem  »gemeinen  Mann«  geteilt  wird  der  Glaube  an 
die  Existenz  von  Geistern  in  Hohlen,  abgelehnt  jedoch  die  im  Volke  genauso 
verbreitete  Vorstellung  von  groBen  eisernen  Kisten  darin,  welche  von  greulichen 
Hunden  bewacht  wiirden. 

Der  Glaube  an  Hohlengeister  war  selbst  auf  seiten  friihneuzeitlicher  Gelehrter 
so  unumstoBlich,  daB  eine  eigene  Wissenschaft  daraus  gemacht  wurde  und  Georg 
Agricola  (1494-1555),  dergroBe  humanistische  Gelehrte  des  Bergbaus,  sich  in  ei- 
ner  zoologischen  Abhandlung  anschickte,  verschiedene  Arten  dieser  numinosen 
Wesen  zu  unterscheiden.  In  seiner  1549  entstandenen  Schrift  »De  animantibus 
subterraneis«  (Von  den  Lebewesen  unterTage)  teilt  er  die  unterirdische  Fauna  in 
Anlehnung  an  das  Schema  des  antiken  griechischen  Philosophen  Aristoteles  in 
laufende,  fliegende,  schwimmende  und  kriechende  Tiere  ein  und  schlieBt  als  ei- 
gene systematische  Gruppe  der»Lebewesen  unterTage«  die  »daemones«  an.  Die- 
se  rechnet  er  zu  den  realen  Gegebenheiten  im  Bergbau,  mit  einer  Einschrankung: 
er  weist  darauf  hin,  daB  sie  von  den  Theologen  in  die  „geistigen  Wesenheiten" 


10  Martin  Luther,  Tischreden  1531-46,  Band  4:  Tischreden  aus  den  Jahren  1538-1540, 
Weimar  1916,  S.  404,  Nr.  4617.  Auch  Heinrich  Eckstorm  erwahnt  diese  Geschichten  von  gro- 
Ben eisernen  Kisten  in  der  Baumannshohle:  Saepe  aliqui  fascinati  somnio  ingentium  thesauror- 
um  in  specu  hoc  reconditorum,  in  interiores  eius  cauernas perrepserunt,  qui  nescio  quas  thesaurorum  ci- 
stas  ferreas  obseratas,  nescio  quos  nigros  canes  cistis  incubantes  se  vidisse  referunt.  (Ubersetzung  R. 
K.:  Oft  krochen  irgendwelche  Manner,  verhext  vom  Traum  von  gewaltigen,  in  dieser  Hohle 
verborgenen  Schatzen,  in  deren  innere  Grotten;  diese  Manner  berichten,  daB  sie  irgendwel- 
che verriegelten  eisernen  Schatzkisten  und  irgendwelche  schwarzen  Hunde,  die  auf  diesen 
Kisten  lagen  und  sie  bewachten,  gesehen  haben.)  Henricus  Eckstorm,  Epistola  de  specu  Bu 
manni,  vulgo  Bumansholl,  gerichtet  an  Zacharias  Brendelius,  datierend  vom  28.  April  1591, 
in:  Ders.,  Historiae  Terrae  motuum  complurium,  Helmaestadi  1620,  S.  210-227,  hier  S.  223. 


Die  »Hohlwelten«  des  Harzes  333 

(Substanzen)  eingeordnet  werden.11  Zwei  Gattungen  dieser  »daemones«  halt  er 
fiir  existent:  erstens  die  der  »daemones  subterranei  truculenti«  (unfreundliche  un- 
terirdische  Geister)  und  zweitens  die  der  »daemones  subterranei  mites«  (friedli- 
che  unterirdische  Geister).12  Die  Geister  der  ersten  Gattung,  so  fiihrt  Agricola  aus, 
bieten  einen  wilden  und  schreckenerregenden  Anblick  und  sind  meist  den  Bergleuten  un- 
freundlich  und  feindlich  gesinnt.  Zwei  Beispiele  fiir  diese  Gattung  fiihrt  er  an:  einen 
Geist  in  der  Annaberger  Grube  »Rosenkranz«,  der  mehr  als  12  Arbeiter  [.  .  .]  durch 
seinen  Hauch  totete.  DerHauch  entquoll  seinem  Rachen.  Er  soil  einen  langgestreckten  Hals 
wie  ein  Pferd  und  wilde  Augen  besessen  haben.  Als  zweites  Beispiel  erwahnt  er  einen 
Geist  zu  Schneeberg,  dermit  einer  schwarzen  Kutte  bekleidet  gewesen  sei  und  in 
der  Grube  St.  Georg  das  Handwerkzeug  vom  Boden  aufhob  und  nicht  ohne  korperliche  An- 
strengung  in  eine  hdher gelegene  Strecke  dieser[.  .  .]  Grube  hinaufschaffte.13  Geister  dieser 
Art  seien  schddlich  und  von  Natur  boshaft. u  Daneben  gibt  es  nach  Agricola  als  wei- 
tere  Gattung  die  der  guten  Geister,  die  in  Deutschland  Kobolde  oder  Bergmann- 
chen  genannt  wiirden.  Sie  kichern  in  lauter  Frohlichkeit  und  tun  so,  als  ob  sie  viele 
Dinge  verrichteten,  wdhrend  sie  tatsdchlich  nichts  ausfiihren.  Agricola  zufolge  besitzen 
sie  die  Gestalt  eines  Zwerges  und  sind  nur  drei  Spannen  lang  Sie  sehen  greisenalt  aus  und 
sind  bekleidet  wie  die  Bergleute,  d.  h.  mit  einem  zusammengebundenen  Kittel  und  mit  ei- 
nem  um  die  Schenkel  herabhangenden  Bergleder.  Siepflegen  den  Bergleuten  keinen  Schaden 
zuzufugen,  sondern  treiben  sich  in  Schachten  undStollen  herum.  [.  .  .]  Manchmal  necken  sie 
die  Arbeiter  mit  Goldkdrnern,  tun  ihnen  aber  nur  ganz  selten  etwas  zuleide.  Sie  verletzen 
auch  niemanden,  wenn  man  sie  nicht  vorher  ausgelacht  oder  durch  Schimpfworte  gereizt 
hat}5  Agricola  wahnt  diese  der  Uberlieferung  nach  nicht  nur  in  Bergwerken,  son- 
dern auch  in  Hohlen  hausenden  Bergmannchen16  einer  anderen  Kategorie  guter 
Geister  ahnlich,  namlich  den  aufgrund  ihres  freundlichen,  hilfsbereiten  Verhal- 
tens  gegeniiber  den  Menschen  als  »Guttel«  bezeichneten  Hausgeistern.17  Agrico- 
la klassifiziert  in  seiner  zoologischen  Schrift  also  zwei  Grundtypen  von  Berggei- 
stern:  den  des  einzeln  auftretenden  »truculentus«  und  den  der  gruppenweise  vor- 


11  Vgl.  Gerhard  Heilfurth,  Bergbau  und  Bergmann  in  der  deutschsprachigen  Sagen- 
iiberlieferung  Mitteleuropas,  Bd.  1  (Quellen),  Marburg  1967,  S.  104. 

12  Vgl.  Georg  Agricola,  Zwolf  Biicher  vom  Berg-  und  Hiittenwesen  sowie  sein  Buch  von 
den  Lebewesen  unterTage,  in  neuer  deutscherUbersetzungbearb.  von  Carl  Schiffner,  2.  Auf- 
lage,  Diisseldorf  1953,  Buch  von  den  Lebewesen  unter  Tage,  S.  540  und  S.  540  Anm.  122. 

13  Ebd.,  S.  540.  -  Zur  Identifizierung  dieses  Kuttentragers  mit  einer  Monchsgestalt  und 
dessen  Zuordnung  zur  Gestaltengruppe  der  »Bergmonche«  vgl.  Heilfurth,  Bergbau,  wie 
Anm.  11,  S.  105  f. 

14  Agricola,  Zwolf  Biicher,  wie  Anm.  12,  S.  540. 

15  Ebd.,  S.  541. 

16  Richard  Hunnerkopf,  Art.  »H6hle«,  in:  Handwbrterbuch  des  deutschen  Aberglau- 
bens,  Bd.  4,  Berlin  /Leipzig  1931/1932,  Sp.  175-183,  hier  Sp.  179. 

17  Agricola,  Zwolf  Biicher,  wie  Anm.  12,  S.  541. 


334  Ralf  Kirstan 

kommenden  »mites«.  Diese  klare  Klassifikation  verwischt  er  selbst  jedoch  bereits 
in  seinem  Hauptwerk  der  »Zwolf  Biicher  vom  Berg-  und  Hiittenwesen«,  insofern 
er  dort  am  Ende  des  sechsten  Buches  die  Gattung  der  Bergmannchen  doch  als  ge- 
fahrlich,  ja  fiir  die  Steiger  lebensbedrohlich  einstuft  und  als  fiinfte  von  sieben 
Ursachen  fiir  die  Aufgabe  von  Schachten  anfiihrt:  Diefiinffte  vrsach  ist  das greuwlich 
bergkmenlin/ das  die  lent  vmmbringet/ dan  so  Uses  nicht  mag  aujigetriben  werden/so  blei- 
bet  kein  hauwer  in  der gruben  [.  .  .].18  Schon  bei  Agricola  selbst  finden  sich  also,  wie 
bei  der  Masse  der  Uberlieferung,19  Mischformen,  die  von  den  beiden  idealtypi- 
schen  Gespenster-Grundtypen  abweichen.  Dieser  Widerspriichlichkeit  zum  Trot- 
ze  zeigen  Agricolas  Ausfiihrungen  dennoch  erneut,  daB  das  Phanomen  derBerg- 
und  Hohlengeister  in  der  friihen  Neuzeit  selbst  von  seiten  humanistischer  Fachge- 
lehrter  so  ernst  genommen  wurde,  daB  sie  es  durchaus  unter  die  Griinde  fiir  die 
Aufgabe  von  Schachten  rechneten.20  Von  den  bei  Agricola  erwahnten  ideal- 
typischen  Geistergattungen  ist  es  nun  die  erste  der  »daemones  subterranei  trucu- 
lent^, welcher  die  Geister  zuzuordnen  sind,  von  denen  der  Elbingeroder  Amt- 
mann  in  seinen  Ausfiihrungen  zur  Baumannshohle  berichtet.  DaB  der  Amtmann 
diese  »truculenti«  jedoch  in  pluraler  Form  auftreten  sieht,  macht  deutlich,  daB  es 
auch  in  seiner  Uberlieferung  zu  einer  Vermischung  beider  Gespenstertypen  ge- 
kommen  ist.  Dieser  Mischtypus  begegnet  ebenfalls  in  den  Schriften  des  Theo- 
phrastus  Bombastus  von  Hohenheim,  genannt  Paracelsus  (1493-1541), 21  und, 
theologisch  diabolisiert,  in  den  Predigten  des  Bergmannsgeistlichen  und  Luther- 
Vertrauten Johannes  Mathesius  (1504-1565). 22 

Was  jedoch  konnte  den  Elbingeroder  Amtmann  zu  seiner  erwahnten  individu- 
ellen  Grenzziehung  zwischen  »Realitat«  und  »Aberglauben«  bewogen  haben,  die 
fiir  uns  heutige  Menschen  gerade  deshalb  so  irritierend  ist,  weil  wir  eben  nicht  nur 
jene  sagenhaften  Eisenkisten,  sondern  ebenso  die  numinosen  Hohlengeister  in 
das  Reich  des  Aberglaubens  verweisen  wiirden?  Wie  kann  ein  Mensch  des  frii- 
hen Barockzeitalters,  der  mit  seiner  kritischen  Haltung  gegeniiber  jener  volkskul- 
turellen  Uberlieferung  eine  scheinbar  »proto-rationalistische«  Einstellung  an  den 


18  Georg  Agricola,  Vom  Bergkwerck  xij  Biicher  darin  alle  Empter/  Instrument/  Ge- 
zeuge/  vnnd  alles  zu  disem  handel  gehorig/  mitt  schonen  figuren  vorbildet/  vnd  klarlich 
beschriben  seindt,  Basel  1557  (Reprint  nach  dem  Original,  Hannover  1985),  S.  clxxxi. 

19  Vgl.  hierzu  Heilfurth,  Bergbau,  wie  Anm.  11,  S.  113 f. 

20  Die  Berggeistberichte  Agricolas  sind  bald  von  einem  breiteren  Publikum  rezipiert 
worden.  Auch  Sebastian  Munster  ubernimmt  in  seiner  Cosmographie,  die  noch  zu  Lebzei- 
ten  Agricolas  imjahre  1550  erschienen  ist,  dessen  Berichte  und  differenziert  die  Berggeister 
in  die  klein  teiifelin  oder  bergmenlin  und  diejenigen,  die  schedlich  sind.  Vgl.  Heilfurth,  Berg- 
bau, wie  Anm.  11,  S.  115f. 

21  Vgl.  ebd.,  S.  118ff. 

22  Vgl.  ebd.,  S.  12 Iff. 


Die  »Hohlwelten«  des  Harzes  335 

Tag  legt,  auf  einmal  doch  durchdrungen  sein  vom  Glauben  an  numinose  Hohlen- 
gespenster?  Zur  Beantwortung  dieser  Frage  reicht  es  nicht,  auf  Gerhard  Heilfurth 
zu  verweisen,  den  groBen  vergleichenden  Volkskundler  des  Bergbaues,  der  in  be- 
zug  auf  abgeschiedene  Schauplatze  unter  Tage  feststellt,  „die  Unberechenbarkeit 
der  Naturkrafte,  die  Dunkelheit  mit  ihren  unheimlichen  Gerauschen  von  tropfen- 
dem  Wasser,  pfeifendem  Luftzug,  knisterndem  Gestein,  in  dem  Gefahren  drohen, 
die  geheimnisumwitterte  Montansphare  iiberhaupt  lassen  ein  Fluidum  des  Unge- 
wohnlichen  und  Erregenden  entstehen,  aus  dem  Vorahnungen,  Tabus,  aberglau- 
bische  Vorstellungen  erwuchsen.  Sie  konnten  sich  zu  Phantasiegebilden  ver- 
schiedenster  Art  verdichten,  in  denen  die  Angst  Gestalt  annahm  und  schauervol- 
le  Geschichten  in  Vorzeichen  feste  Form  gewannen".23  Auch  reicht  nicht  der 
Verweis  auf  einen  Erklarungsansatz  von  Thomas  Sokoll,  demzufolge  gewisse  ani- 
mistische  Vorstellungen  die  Herausbildung  eines  Gespensterglaubens  in  der  frii- 
hen  Neuzeit  befordert  haben.24  Heilfurth  und  Sokoll  bieten  zwar  grundsatzliche 
Erklarungsansatze  dafiir,  warum  sich  um  unterirdische  »Hohlwelten«  iiberhaupt 
Gespenstergeschichten  zu  ranken  beginnen  und  numinose  Wesen  selbst  von 
Fachgelehrten  als  reale  Gegebenheiten  angesehen  werden  konnten.  Sie  erklaren 
damitjedoch  nicht,  warum  ein  Gelehrter  bereits  Mitte  des  17.  Jahrhunderts  be- 
stimmte  Erzahliiberlieferungen  der  culture populaire  (Muchembled)  als  Dichtung 
und  Wahrheit  vermengende  »Sagen«25  zu  identifizieren  und  dennoch  an  Hohlen- 
geister  zu  glauben  vermochte. 

Zum  Versuch  einer  Beantwortung  dieser  Frage  sei  auf  den  zwei  bis  drei  Genera- 
tionen  alteren  lutherischen  Pfarrer Johannes  Letzner  (1531-1613)  aus  Hardegsen 
verwiesen.  Letzner,  der  sich  neben  seinem  geistlichen  Amt  besonders  intensiv  der 
Historiographie  zuwidmete  und  als  einer  der  beriihmtesten  niedersachsischen 


23  Gerhard  Heilfurth,  Der  Bergbau  und  seine  Kultur:  Eine  Welt  zwischen  Dunkel  und 
Licht,  Zurich/Freiburg  im  Breisgau  1981,  S.  208. 

24  Sokoll  konstatiert,  daB  „ganz  allgemein  fur  die  Menschen  friiherer  Epochen  die  fur 
das  ,aufgeklarte'  BewuBtsein  der  Moderne  gelaufige  scharfe  und  eindeutige  Trennung  zwi- 
schen belebter  und  unbelebter  Natur  nicht  gait.  Nicht  nur  Mensch  und  Tier  -  auch  die  Blu 
me  am  Wegesrand,  der  Weiher  hinter  der  Kirche  oder  der  groBe  Berg  auf  der  anderen  Seite 
des  Tals  mochten  mit  Geist  und  Leben  erfiillt  sein.  Den  Hintergrund  solcher  ,animistischen' 
Vorstellungen  bildet  der  Glaube  an  die  Einheit  der  gesamten  Natur,  das  Bild  von  der  Natur 
als  der  einen  Mutter,  durch  deren  SchoB  die  Menschen  wie  alle  iibrigen  Wesen  in  einem  un- 
endlichen  Kreislauf  kommen  und  gehen  und  aus  dem  sich  alles  speist  und  nahrt".  Thomas 
Sokoll,  Bergbau  im  Ubergang  zur  Neuzeit,  Idstein  1994,  S.  25. 

25  Zur  »Sage«  als  einem  Erlebnis-  und  Geschehnisbericht,  der  den  Anspruch  auf  Wahr- 
heit erhebt  und  dabei  in  besonderer  Weise  das  Menschliche  mit  dem  Mythischen  verbin- 
det  bzw.  „die  Beziehung  zur  Transzendenz  des  menschlichen  Daseins  evident"  macht  sowie 
sein  spezifisches  Gewicht  durch  einen  Wahrheitskern  erhalt,  vgl.  Heilfurth,  Bergbau,  wie 
Anm.  11,  S.  24. 


336  Ralf  Kirstan 

Chronisten  des  16.  Jahrhunderts  anzusprechen  ist,26  berichtet  in  seinen  Werken 
ebenfalls  iiber  die  Hohlen  des  Harzes.27  Zwar  macht  er  in  seinen  Ausfiihrungen 
zur  Baumannshohle  ausschlieBlich  natiirliche  Ursachen  fiir  das  Verloschen  von 
Fackeln  innerhalb  dieser  Hohle  namhaft  und  weiB  von  dort  existierenden  Ge- 
spenstern  im  Gegensatz  zum  Elbingeroder  Amtmann  nichts  zu  berichten;28  al- 
lein,  es  glaubt  auch  Letzner  an  die  Existenz  von  Gespenstern  und  iibernatiirlichen 
Erscheinungen  an  dunklen  Orten  dieser  Art.  Das  wird  zum  Beispiel  daran  deut- 
lich,  daB  erden  Bericht  alter  Leute,  es  solle  im  Turm  derBurg  Scharzfeld  desnachts 
viel gerumpels  droben  sein,  keineswegs  fiir  abwegig  gehalten,  sondern  dadurch  iiber- 
priift  hat,  daB  er  dieses  Orts-  wenn  auch,  wie  erzugibt,  ergebnislos  -  manniche Nacht 
verharret.29  Dabei  scheint  Letzners  Geisterglaube  maBgeblich  beeinfluBt  zu  sein 
durch  das  Neue  Testament,  genauer  gesagt:  durch  Epheser  6,  12.  Denn  in  einem 
seiner  Manuskripte  teilt  er  seinen  Lesern  mit:  Es  sindt  zwar  die  bosen  geister  undhelli- 
schen  teuffel nicht  alle,  noch  stets  hin  in  der  helle  [...],  sondern  wie  s.  Paulus  schreibt,  sindt 
auch  die  bosen  geister  alhie  bei  uns  auff  erden  undalhie  in  dieser  welt  unter  dem  himel,  die 
auch  in  der fins terniss  dieser  welt  herschen,  welchs  dan  auff  zweierlei  meinung  kan  verstan- 
den  werden.  Dann  die  bosen  geister  durch  die  finsternis  des  unglaubens  in  den  gottlosen  und 
unbusfertigen  menschen  hertzen  also  wohnen  [...].  Darnach,  das  auch  gleichwol  die  bosen 
geister  alhie  in  dieser  welt  an  sonderbaren,  ihnenzu  ihren  anschlegen  wolgelegenen  unddien- 
lichen  ortern,  speluncken,  hoelen,  gruben,  grundlosen  tieffen  sumpffen  undpfulen  ihre  wo- 
nung  haben.30  Auch  diesen  AuBerungen  ist  zu  entnehmen,  daB  Letzner  von  der 


26  Zu  Johannes  Letzner  besonders  unter  mentalitatsgeschichtlichem  Aspekt  vgl.  Ralf 
Kirstan,  Die  Welt  des  Johannes  Letzner:  ein  lutherischer  Landpfarrer  und  Geschichts- 
schreiber  des  16.  Jahrhunderts,  Diss.  phil.  (masch.)  Gottingen  2005.  Vgl.  auch  folgende  alte- 
re  Arbeiten:  Hans  Klinge,  Johannes  Letzner:  ein  niedersachsischer  Chronist  des  16.  Jahr- 
hunderts, Diss.  phil.  (masch.)  Gottingen  1951,  Bde.  1  und  2;  Ders.,  Johannes  Letzner  -  ein 
niedersachsischer  Chronist  des  16.  Jahrhunderts,  in:  Niedersachsisches  Jahrbuch  fiir  Lan- 
desgeschichte  24,  1952,  S.  36-96. 

27  Zur  heute  so  bezeichneten  Einhornhohle  vgl.  Gottfried  Wilhelm  Leibniz  Bibliothek 
(GWLB)  Hannover,  Ms.  XXIII,  611a  (Manuskript  des  Johannes  Letzner:  Entwurfsfassung 
der  Chronik  des  Stifts  Walkenried,  entstanden  1594/1595), /o/.  35v-36v  -  zur  Baumannshoh- 
le vgl.  Staatsarchiv  Munster,  Msc.  VII,  13  (Manuskript  desjohannes  Letzner:  Sammelhand- 
schrift,  enthaltend  verschiedene  Fragmente  seiner  Braunschweigisch-Liineburgischen  und 
Gottingischen  Chronik;  Entstehungszeitraum:  1593-1606),  fol.  78v-79r. 

28  Offtmals  treibet  auch  das  einverschlossene  wetter,  windt  und  innerliche  schwebende  dunst  die 
lichter  aus;  wan  man  dan  kein  fewr gezeug  hette,  kondt  man  auch  kein  licht  haben,  noch  sich  wider  her- 
ausfinden.  StA  Munster,  Msc.  VII,  13,  wie  Anm.  27,  fol.  79r. 

29  Zu  dieser  Stelle  vgl.  Johannes  Letzner,  Dasselische  vnd  Einbeckische  Chronica, 
Erffurdt  1596,  6.  Buch,  1.  Teil,  S.  60r. 

30  Herzog-August-Bibliothek  Wolfenbuttel,  Cod.  Guelf.  46.1  Extrav.  (Manuskript  des 
Johannes  Letzner,  Hildesheimer  Chronik  III.  Braunschweigisch-Liineburgische  und  Got- 
tingische  Chronik  II.  Fragment,  Ende  16./Anfang  17.Jh.),/o/.  113v-114r. 


Die  »Hohlwelten«  des  Harzes  337 

Existenz  „boser  Geister"  iiberzeugt  ist.  Diese  sieht  er,  wenn  sie  denn  nicht  in  der 
Holle,  sondern  auf  Erden  sich  aufhalten,je  nach  metaphorischem  oder  aberlitte- 
ralem  Verstandnis  des  in  Epheser  6,  12  sich  findenden  Wortes  »Finsternis«31  so- 
wohl  in  der  moralischen  „Finsternis"  gottloser  Menschenherzen  als  auch  in  der 
realen  Finsternis  von  speluncken,  hoelen,  gruben,  grundlosen  tieffen  silmpffen  undpfiilen 
ihren  Wohnsitz  haben:  Wie  schon  bei  besagtem  Amtmann  begegnet  auch  hier  die 
Vorstellung,  bose  Geister  konnten  sowohl  in  Geistes-  als  auch  in  leiblicher  Gestalt 
existieren  und  wiirden  insbesondere  Hohlen  aufgrund  der  darin  herrschenden 
Finsternis  zu  bevorzugten  Aufenthaltsorten  erwahlen.  Diese  Geister  werden  von 
Letzner  jedoch  theologisch  diabolisiert  -  seine  Parallelisierung  von  »bosen  Gei- 
stern«  und  »hollischen  Teufeln«  deutet  es  an  -  und  in  einer  auf  den  Bergmanns- 
geistlichen  Johannes  Mathesius  zuruckfiihrbaren  und  biblisch  abgesicherten  lu- 
therischen  Tradition  als  Ausgeburten  der  Holle  betrachtet.32  Vor  diesem  Hinter- 
grund  laBt  sich  moglicherweise  auch  die  aus  heutiger  Sicht  eigentiimlich 
anmutende  Grenzziehung  des  Elbingeroder  Amtmanns  zwischen  Wahrheit  und 
Aberglauben  erklaren:  Die  Existenz  von  Geistern  in  unterirdischen  Hohlen  kann 
fur  einen  gebildeten  und  dem  Schriftprinzip  verpflichteten  Lutheraner  wie  den 
Amtmann33  nicht  zuletzt  aus  dem  neutestamentlichen  Brief  des  Paulus  an  die 
Epheser  als  sichererwiesengelten;  nicht  so  jedoch  gewisse  Vorstellungen  des  »ge- 
meinen  Mannes«  iiber  unermeBlich  groBe  und  von  greulichen  Hunden  bewachte 
Eisenkisten  in  unterirdischen  »Hohlwelten«:  Vorstellungen  dieser  Art  werden  we- 
derdurch  Paulus  noch  durch  andere  Stellen  derBibel  gedeckt,  von  Luther  zudem 


31  Vgl.  Epheser  6,12:  „Denn  wir  haben  nicht  mit  Fleisch  und  Blut  zu  kampfen,  sondern 
mit  Machtigen  und  Gewaltigen,  namlich  mit  den  Herren  der  Welt,  die  in  dieser  Finsternis 
herrschen,  mit  den  bosen  Geistern  unter  dem  Himmel." 

32  Seine  diabolisierten  Geister  sieht  Letzner  allerdings  in  der  Regel  als  singular  auftre- 
tende  »truculenti«  agieren.  Beispiele  hierzu  siehe  bei:  Kirstan,  wie  Anm.  26,  S.  142-149. 
Letzners  Schriften  scheinen  keine  Anhaltspunkte  dafiir  zu  bieten,  daB  er  »htillische«  Geister 
auf  Erden  in  pluraler  Form  bzw.  in  Gruppen  auftreten  sieht. 

33  Seit  1343  gehorte  Elbingerode  als  braunschweigisches  Afterlehen  den  Grafen  von 
Wernigerode  bzw.  deren  Erben,  den  Grafen  von  Stolberg.  Erst  im  Jahre  1653  nahmen  die 
braunschweigischen  Herzoge  das  Amt  wieder  in  eigenen  Besitz,  nachdem  sie  den  Grafen  de- 
ren Rechte  in  Elbingerode  nach  und  nach  immer  mehr  entzogen  hatten.  Vgl.  Berent  Schwi- 
nekoper,  Art.  »Elbingerode«,  in:  Handbuch  der  historischen  Statten  Deutschlands,  Bd.  11: 
Provinz  Sachsen-Anhalt,  Stuttgart  1975,  S.  llOf.  Da  nun  die  Grafen  von  Stolberg- Wernigero- 
de ihr  Territorium  bereits  1538  der  lutherischen  Reformation  zugefiihrt  hatten  (vgl.  Monika 
Lucke,  Jorg  Bruckner,  Das  Kirchenregiment  der  Grafen  zu  Stolberg  und  die  Anfange  der 
Konsistorien  in  den  stolbergischen  Harzgrafschaften  im  16.Jahrhundert,  in:  Christof  Romer 
[Hg.],  Evangelische  Landeskirchen  der  Harzterritorien  in  der  friihen  Neuzeit,  Wernigerode/ 
Berlin  2003,  S.  39-58,  hier  S.  42,  44),  ist  davon  auszugehen,  daB  auch  jener  Elbingeroder 
Amtmann,  der  im  Jahre  1651  fur  die  »Topographia  Germaniae«  einen  Bericht  iiber  die  Bau- 
mannshohle  verfaBt  hat,  von  lutherischer  Konfession  war. 


338  Ralf  Kirstan 

als  »Illusionen«  des  Teufels  verworfen  und  sind  daher  aus  Sicht  gebildeter  Zeitge- 
nossen  als  unglaubwiirdig  abzulehnen. 

Ahnliche  Differenzen  bestehen  auch  hinsichdich  der  Vorstellung,  daB  die  Bau- 
mannshohle und  die  heute  so  bezeichnete34  Einhornhohle  einstmals  Aufenthalts- 
orte  des  my thischen  Einhorns  gewesen  und  daher  Fundstatten  fur  Skelett-Uberre- 
ste  dieses  Tieres  seien.  Allerdings  sorgt  diese  Frage  im  16.  und  17.  Jahrhundert 
nicht  allein  nur  zwischen  dem  „gemeinen  Mann"  und  humanistisch  gebildeten 
Akademikern  fur  Dissens,  sondern  auch  bei  den  Akademikern  untereinander.  In 
beiden  Hohlen  finden  sich  alte  Knochen  in  groBer  Zahl,  welche  jiingeren  Gra- 
bungsberichten  zufolge  von  kleinen  Wirbeltieren,  prahistorischen  Hohlenbaren, 
Bisons  und  Wolfen,  aber  auch  von  Menschen  aus  dem  Neolithikum  sowie  der 
Bronze-  und  Eisenzeit  stammen.3SJedoch  wurde  teilweise  noch  bis  zu  Beginn  des 
19.  Jahrhunderts  an  der  Vorstellung  festgehalten,  es  handele  sich  bei  diesen  Kno- 
chen um  Uberreste  sagenumwobener  Einhorner.  Dabei  war  es  nicht  nur  der  »ge- 
meine  Mann«,  oder-  wie  Letzner  es  formuliert  -  die  albern  bewrinnen  auffden  dorf- 
fern,36  die  eine  solche  Deutung  anboten:  Auch  der  bereits  von  uns  erwahnte  Stu- 
diosus  von  Alvensleben  glaubt  im  Jahre  1656  in  der  Baumannshohle  Reste  des 
legendaren  Einhorn  erblickt  zu  haben,37  und  noch  1702  berichtet  der  Historiker 
und  Orientalist  Hermann  von  der  Hardt  in  den  Acta  eruditorum,  er  habe  an  den 


34  Erst  Mitte  des  18.  Jhs.  erscheint  erstmals  der  Name  „Einhornloch".  Friiher  hieB  sie 
Scharzfelder  Hohle  (und  ahnlich)  oder  „Die  Zwerglocher"  -  Bezeichnungen,  die  nach  1800 
ungebrauchlich  wurden.  Vgl.  Friedrich  Reinboth,  Die  Darstelhmgen  der  Einhornhohle  bei 
Scharzfeld  von  der  friihwissenschaftlichen  Zeit  bis  zur  Gegenwart,  in:  Harz-Zeitschrift,  30. 

Jg.,  1978,  S.  45-63,  hier  S.  47,  61. 

35  Zur  Einhornhohle  vgl.  folgende  Veroffentlichungen:  Ralf  Nielbock,  Die  Tierkno- 
chenfunde  der  Ausgrabungen  1987/1988  in  der  Einhornhohle  bei  Scharzfeld,  in:  Archao- 
logisches  Korrespondenzblatt  19,  1989,  S.  217-230,  hier  S.  226ff.;  Stephan  Veil,  Die  Archao- 
logisch-Geowissenschaftlichen  Ausgrabungen  1987/1988  in  der  Einhornhohle  bei  Scharz- 
feld, Ldkr.  Osterode  am  Harz,  in:  Archaologisches  Korrespondenzblatt  19,  1989,  S.  203- 
215,  hier  S.  212.  -  Zur  Baumannshohle  vgl.  Ralf  Nielbock,  Die  Suche  nach  dem  diluvialen 
Menschen  -  oder:  Die  Erforschungsgeschichte  der  Einhornhohle,  in:  Die  Kunde  N.F.  53, 
2002,  S.  57-65,  hier  S.  61,  wonach  bei  einer  in  den  Jahren  1881/82  durch  den  hannoverschen 
Amtsrat  Carl  Struckmann  durchgefiihrten  Grabung  vor  allem  in  der  sog.  Blauen  Grotte  der 
Einhornhohle  neben  Artefakten  und  Geratschaften  auch  menschliche  Knochen  des  Neo- 
lithikums  sowie  der  Bronze-  und  Eisenzeit  gefunden  worden  seien.  -  Zu  Knochenfunden 
von  Hohlenbaren  in  Baumannshohle  und  Einhornhohle  vgl.  Stephan  Kempe,  Wilfried  Ro- 
sendahl,  Doris  Doppes,  The  Making  of  the  Cave  Bear  -  Die  wissenschaftliche  Entdeckung 
des  „Ursus spelaeus",in:  Mitteilungen  derKommission  fur  Quartarforschung  der  Osterreichi- 
schen  Akademie  der  Wissenschaften  14,  2005,  S.  89-106. 

36  GWLB  Hannover,  Ms.  XXIII,  611a,  wie  Anm.  27,  fol.  36r. 

37  Was  sonsten  von  dem  Einhorn,  welches  allhier gefunden  worden,  ausgesprenget  wird,  hat  unser 
Fiihrer  uns  dessen  uberflussig  hin  und  wieder  in  Felsen  steckend  gezeiget  [...].  Burger,  Des  halli- 
schen  Superintendenten,  wie  Anm.  5,  S.  178. 


Die  »Hohlwelten«  des  Harzes  339 

Wanden  und  in  den  Felsen  jener  Hohle  Stiicke  des  gegrabenen  Einhorns  gese- 
hen.38  Erst  mit  Anbruch  der  Eriihaufklarung  begann  man,  naturphilosophische 
Erklarungsansatze  den  alten  Deutungen  entgegenzustellen:  Der  in  welfischen 
Diensten  stehende  Naturforscher  und  Universalgelehrte  Gottfried  Wilhelm  Leib- 
niz (1646-1716)  gibt  sich  in  seiner  1691  als  Manuskript  fertiggestellten  und  1749 
posthum  erschienenen  Schrift  „Protogaea"  iiberzeugt,  dafl  die  Horner  des  Einhorns, 
die  einst  verschiedentlich  in  den  Museen  fremdartiger  Dinge  prangten  und  die  auch  heute 
noch  die  Augen  des  Volkes  verblilffen,  von  Fischen  des  siidlichen  Oz.ea.ns  stammen.  Daher 
miisse  man  wohl  annehmen,  daB  das  fossile  Einhorn,  das  auch  in  unserer  Gegend 
vorkommt,  gleichen  Ursprungs  gewesen  ist.39  Auf  diesem  Hintergrund  iiberrascht  es 


38  Stephan  Kempe,  Boris  Dunsch  et  al.,  Die  Baumannshohle  bei  Riibeland/Harz  im 
Spiegel  der  wissenschaftlichen  Literatur  vom  16.  bis  zum  18.Jahrhundert:  Lateinische  Quel- 
lentexte,  in:  Braunschweiger  Naturkundliche  Schriften  7  (2004),  S.  171-215,  hier  S.  206.  - 
Beim  „gegrabenen  Einhorn"  {unicornu  fossile)  handelt  es  sich  nach  friihneuzeitlicher  Vorstel- 
lung  um  sehr  alte  Knocheniiberreste  von  Einhornern,  die  im  Erdreich  zu  finden  sind  und  ge- 
rade  in  Tropfsteinhohlen  oftmals  in  versinterter,  d.  h.  in  mit  Kalkablagerungen  uberzogener 
und  somit  „versteinerter"  Form  vorkommen.  Davon  zu  unterscheiden  ist  das  unicornu  verum. 
Hierbei  handelt  es  sich  nach  friihneuzeitlicher  Auffassung  um  rezentes,  aus  der  Gegenwart 
stammendes  Knochen-  oder  Hornmaterial  vom  Einhorn.  Zu  dieser  Kategorie  wurde  von 
den  Zeitgenossen  beispielsweise  auch  der  StoBzahn  des  Narwals  gerechnet,  bevor  in  der 
Friihaufklarung  Naturforscher  wie  Leibniz  darauf  aufmerksam  zu  machen  begannen,  daB 
als  Lieferanten  und  Trager  solcher  Horner  durchaus  nicht  Einhorner,  sondern  Meerestiere 
in  Frage  kommen. 

39  Gottfried  Wilhelm  Leibniz,  Protogaea,  iibersetzt  von  Wolf  von  Engelhardt,  Stuttgart 
1949,  S.  127.  -  Leibniz  vertrat  im  Rahmen  seiner  geogonischen  Spekulationen  die  Ansicht, 
daB  es  in  Niedersachsen  -  u.  a.  im  Rahmen  der  Sintflut  -  mehrfach  zu  Uberflutungen  durch 
das  Meer  gekommen  sei;  diese  hatten  nicht  nur  oberflachenformend  gewirkt,  sondern  auch 
walroBahnliche,  zum  aktiven  Schwimmen  fahige  Tiere  bis  ins  spatere  Niedersachsen  gespiilt. 
Vgl.  hierzu  v.  a.  einen  Brief  von  Leibniz  an  Wilhelm  Ernst  Tentzel  aus  demjahre  1696:  Caeter- 
um  cum  spolia  hujusmodi  [d.  h.  Funde  groBer  fossiler  Knochen;  R.  K.]  saepius  in Europa  sint  depre- 
hensa,  deliberandum  erit,  verisimiliusne  sit  esse  ab  animali  incola,  an  per  diluvium  advecto  ex  longin- 
quo:  [.  .  .]  sin  ab  advecto,  an  ideo  statim  talia  omnia  ad  Noachicum  diluvium  sint  referenda.  Magnam 
partem  harum  regionum  aliquando  fuisse  mersam,  multa  sunt  indicia  [...].  Et  ipsa  scriptura  sacra  fa- 
vente  multo  majores  haud  dubie  mutationes  globus  terrae  passus  est[.  .  .].  (Ubersetzung  R.  K. :  Weil 
im  iibrigen  Uberreste  dieser  Art  haufiger  in  Europa  entdeckt  worden  sind,  wird  zu  iiberlegen 
sein,  ob  es  wahrscheinlicher  ist,  daB  sie  von  einem  einheimischen  Tier  stammen  oder  von  ei- 
nem  durch  Uberflutung  aus  weiter  Feme  herbeigeschwemmten:  [.  .  .]  wofern  aber  von  einem 
herbeigeschwemmten,  ist  zu  iiberlegen,  ob  deswegen  sofort  alle  solcherart  beschaffenen 
Uberreste  auf  die  Flut  Noahs  zu  beziehen  sind.  DaB  ein  groBer  Teil  dieser  Regionen  dereinst 
iiberflutet  gewesen  ist,  darauf  gibt  es  viele  Hinweise  [...].  Und  ohne  Zweifel  hat  die  Erdkugel 
um  vieles  groBere  Umformungen  erfahren,  was  mit  der  Heiligen  Schrift  durchaus  in  Uberein- 
klang  steht.)  Gottfried  Wilhelm  Leibniz:  Samtliche  Schriften  und  Briefe,  Reihe  I,  Bd.  12,  be- 
arb.  von  Wolfgang  Bungies,  Berlin  1990,  Brief  Nr.  413,  S.  638ff.,  hier  S.  639,  Z.  11-17.  Vgl. 
ebenso  Hans-Joachim  Waschkies,  Leibniz'  geologische  Forschungen  im  Harz,  in:  Herbert 


340  Ralf  Kirstan 

freilich,  daB  schon  der  Theologe  Johannes  Letzner,  ein  Mann  des  16.  Jahrhun- 
derts,  den  Berichten  iiber  Einhornfunde  in  den  Harzhohlen  mit  Skepsis  begeg- 
net:  Berichtet  er  doch  bereits  an  der  Wende  vom  16.  zum  17.  Jahrhundert,  man 
finde  in  der  Baumannshohle  auch  sonst  am  bodem,  wan  man  [?]  einschlecht,  grewliche 
grosse  zflhne,  audi  ander  gebein  in  grosser  mennige  [.  .  .],  die  von  den  landtstreichern  und 
leutbetriegern  (die  sich  dan  in  dieser  hoele  vielmals  finden  lassen)  den  eintfaltigen  und  al- 
bern  bawren  weibern  auffdem  lande  voreinhorn  angeschlagen  und  verkaufft  werden.  Was 
[?]  es  aber  vor  zahn  oder gebein  sein,  kan  niemandt  eigentlich  und genau  [?]  berichten.  Der 
eine  sagt  davon  dieses,  der  ander  ein  anderst.  Gotte  allein  ist  bewust,  von  was  creatur  diese 
zahn  und  gebein  sein  mugen.i0  Dieses  Zitat  aus  einem  von  Letzners  Manuskripten 
beweist  deutlich  seine  Skepsis  gegeniiber  der  Einhorn-Theorie.  Leutbetrieger  seien 
diejenigen,  die  die  Knochen  als  Einhorn  feilboten,  und  „einfaltig  und  albern"  die 
Bauersfrauen  von  den  Dorfern,  die  dies  glaubten.  Er  selbst  getraut  sich  ein  Urteil 
iiber  den  Ursprung  dieser  zahn  und  gebein  nicht  zu,  scheint  sich  jedoch  -  wie  seine 
Kritik  an  den  Bauerinnen  nahelegt  -  sicher  zu  sein,  daB  sie  auf  jeden  Fall  nicht 
von  Einhornern  stammten.  Auch  mit  Blick  auf  die  zweite  beriihmte  »Hohlwelt« 
des  Harzes,  die  sog.  Einhornhohle,  lehnt  er  die  Vorstellung  ab,  in  ihr  sich  finden- 
de  Knochen  stammten  von  Einhornern;  allerdings  wagt  erin  ihrem  Falle  eine  Zu- 
ordnung:  um  allerhandt  kleiner  und  grosser  menschen  gebein  handele  es  sich  dabei.41 
In  gleicher  Weise  lehnen  auch  der  Walkenrieder  Pfarrherr  und  Rektor  Heinrich 
Eckstorm  sowie  der  Elbingeroder  Amtmann  den  Gedanken  ab,  es  konne  sich  bei 
den  in  der  Baumannshohle  auffindbaren  Knochen  um  Einhorngebein  handeln. 
Der  sich  offensichtlich  auf  einen  lateinischen  Brief  Heinrich  Eckstorms  stiitzende 
Amtmann  beschreibt  die  Skeletteile  als  Knochen  und Beinlein,  so  theils  vermodert,  von 
unbekanten  Thieren,  welche  dem  gemeinen  Mann  fur  Einhorn  obtrudiretwiirden.4,2  Da- 
bei weisen  die  Worte  fur  Einhorn  obtrudiret  [=  aufgedrangt,  »angedreht«;  R.K.]  dar- 


Breger,  Friedrich  Niewohner  (Hgg.),  Leibniz  und  Niedersachsen:  Tagung  anlaBlich  des  350. 
Geburtstages  von  G.  W.  Leibniz,  Wolfenbiittel  1996,  Stuttgart  1999,  S.  187-210,  hier  S.  207 f.; 
Paolo  Rossi,  Die  Geburt  der  modernen  Wissenschaft  in  Europa,  Miinchen  1997,  S.  264 f. 

40  StA  Minister,  Msc.  VII,  13,  wie  Anm.  27,  fol.  78v. 

41  GWLB  Hannover,  Ms.  XXIII,  611a,  wie  Anm.  27,  fol.  36r. 

42  Diese  Stelle  stimmt  in  wesentlichen  Punkten  mit  folgender  Formulierung  aus  einem 
lateinischen  Brief  Heinrich  Eckstorms  iiberein:  Reperiuntur prceterea  passim  per  omnes  antri  cu- 
niculos  &  cauernas  omnis  generis  animalium  ossicula,  carie  & putredine  squalentia  & propemodum 
consumpta  [.  .  .] :  Ilia  enim,  cujuscunque  sint  animalis,  vel  quascunque  sceleti partes  referant,  indiscre- 
tim  pro  Unicornis  cornu  imperitis  hominibus  [.  .  .]  obtrudunt  [.  .  .]."  (Ubers.  R.  K.:  Man  findet 
auBerdem  ringsumher  in  alien  Gangen  und  Grotten  der  Hohle  Tierknochen  jeder  Art,  die 
von  Moder  und  Morschheit  ganz  bruchig  und  beinahe  schon  zerfallen  sind:  Jene  Knochen, 
von  welchem  Tier  auch  immer  sie  sein  mogen  oder  um  welche  Skeletteile  es  sich  bei  ihnen 
auch  immer  handeln  mag,  drehen  sie  [d.  h.  die  Handler]  den  ahnungslosen  Leuten  ohne  Un- 
terschied  als  Einhorn  an.)  Eckstorm,  wie  Anm.  10,  S.  222. 


Die  »Hohlwelten«  des  Harzes  341 

auf  hin,  daB  auch  der  Amtmann  die  Knochen  keineswegs  fur  Relikte  von  Einhor- 
nern  halt. 

Sollten  also  etwa  der  noch  zur  Zeit  der  lutherischen  Orthodoxie  amtierende 
Pfarrer  Letzner,  der  nur  eine  Generation  jiingere  Walkenrieder  Theologe  Hein- 
rich  Eckstorm  sowie  der  zur  Zeit  des  30jahrigen  Krieges  wirkende  Elbingeroder 
Amtmann  zumindest  hinsichtlich  des  Einhornglaubens  schon  iiber  ein  ahnlich 
„aufgeklartes"  Weltbild  verfiigt  haben  wie  der  »Wegbereiter«  der  deutschen  Auf- 
klarung  Gottfried  Wilhelm  Leibniz?  Diese  Frage  scheint  mir  zumindest  im  Falle 
Letzners  und  Eckstorms  verneint  werden  zu  miissen.  Denn  immerhin  wird  das 
Einhorn  auch  in  der  Bibel  erwahnt,  und  zwar  an  insgesamt  acht  Stellen  des  Alten 
Testaments.43  Als  lutherische  Geistliche  jedoch  diirften  sowohl  Letzner  als  auch 
Eckstorm  Anhanger  des  reformatorischen  Schriftprinzips  sola  scriptura  gewesen 
sein,  wonach  die  Bibel  -  als  verbal  inspiriert  iiber  jegliche  kirchliche  Lehrautori- 
tat  erhaben  -  wortwortlich  bzw.  litteral  zu  verstehen  ist  und  die  in  ihr  geschilder- 
ten  Handlungen  als  wahrhaftig  geschehene  Geschichte  anzusehen  sind.44  Diese 
Geschichte  ist  in  ihrem  Wahrheitsanspruch  absolut  und  darf  selbst  dann  nicht  be- 
zweifelt  werden,  wenn  sie  der  Erfahrung  oder  dem  menschlichen  Verstande  wi- 
derspricht.45  Angesichts  der  von  Letzner  solchermaBen  eingeforderten  Schrift- 
glaubigkeit  ist  nicht  davon  auszugehen,  daB  erund  Eckstorm  die  biblisch  verbiirg- 
te  Existenz  von  Einhornern  grundsatzlich  in  Zweifel  gezogen  hatten  -  zumal  auch 
Martin  Luther  dies  nicht  getan  hat.46  Vielmehr  scheint  die  Skepsis  gegeniiber  der 
Vorstellung,  bei  den  Fossilienfunden  in  den  Harzhohlen  handele  es  sich  um  Ein- 
horngebein,  anderen  Ursprungs  zu  sein:  So  konnte  es  beispielsweise  die  bei  anti- 
ken  Autoren  wie  Aristoteles,  Aelian  und  auch  Plinius  dem  Alteren  sich  findende 
Nennung  von  Indien47  oder  die  bei  Strabon  begegnende  Erwahnung  des  Kauka- 


43  4.  Mose  23,  22;  4.  Mose  24,  8;  5.  Mose  33,  17;  Hiob  39,  942;  Psalm  22,  22;  Psalm 
29,  6;  Psalm  92,  11;  Jesaja  34,  7. 

44  Vgl.  in  diesem  Zusammenhang  Letzner,  wie  Anm.  29,  1.  Buch,  S.  ()r:  Aus  dem  Grossen 
heiligen  Historien  Buch  der  Bibel  [...]. 

45  Letzner  erklart  die  Vernunft  [ratio)  in  Glaubensdingen  zu  einer  nerrin,  die  es  aus  Ach- 
tung  vor  Gott  und  seinem  Heiligen  Worte  zu  meistern  gelte.  StA  Munster,  Msc.  VII,  13,  wie 
Anm.  27,  fol.  418r.  Dabei  beruft  er  sich  auf  Luther,  welcher  mit guter gelegenheit  und grunde  der 
schrifft  [.  .  .]  erkleret  habe,  alle  vernunfft  und  spitzfiindigkeit  in  Gottes  sachen  und glaubens  articuln 
salt  und  must  [man]  gefangen  nehmen.  Stadtarchiv  Gottingen,  AB  III  4,1  (Manuskript  des  Johan- 
nes Letzner,  Braunschweig-Liineburgische  und  Gottingische  Chronica,  [=  „Das  Ander 
Buch";  =  „ Appendix  libri  tertii";  =  „Das  Dritte  Buch"],  Fertigstellung  nach  1603),  fol.  164v. 

46  Vgl.  Martin  Luther,  Predigt  auf  dem  Schlosse  zu  Wittenberg"  vom  23.  August  1532 
iiber  Kap.  15  des  Lukasevangeliums,  in:  D.  Martin  Luthers  Werke  (Weimarer  Ausgabe), 
Bd.  36,  Weimar  1909,  S.  270-286,  hier  S.  274:  „[.  .  .]  Und  ist  gleich  wie  ein  Einhorn,  von  welchem 
man  saget,  das  mans  nicht  kbnne  lebendig  fahen,  man  hetze  und  jeche  es,  wie  man  wolle,  erstechen, 
schiessen  und  tbdten  lesst  sichs  wol,  aber  fahen  lesset  sichs  nicht  [.  .  .] ." 

47  Indien  als  Verbreitungsgebiet  bzw.  Heimat  des  Einhorns  wird  z.  B.  bei  folgenden 


342  Ralf  Kirstan 

sus  als  Lebensraum  des  Einhorns  sein,  welche  den  in  der  antiken  Literatur 
durchaus  bewanderten  Letzner49  und  seinen  ebenfalls  humanistisch  gebildeten 
Zeitgenossen  Eckstorm50  jener  Deutung  der  albern  bewrinnen  auffden  dorffern  mit 
spottischer  Verachtung  begegnen  lieBen.  Immerhin  erwahnt  nur  Caesar  in  sei- 
nem  »Gallischen  Kriege«  (De  bello  Gallico,  6,  25-26)  als  Lebensraum  des  Ein- 
horns auch  das  Hercynische  Waldgebirge  in  Germanien  (welches  von  friihneu- 
zeidichen  Gelehrten  wie  zum  Beispiel  dem  Mediziner  Daniel  Sennert  immer 
wieder  mit  dem  Harz  identifiziert  worden  ist).51  Jedoch  ist  Caesar  im  16.  und 
17.  Jahrhundert  nur  in  wenigen  Fallen  als  Schulautor  genutzt  worden52  -  in  Me- 
lanchthons  Lehrplanen  fur  die  reformatorischen  Ratsschulen  ist  er  beispielsweise 
nicht  vertreten53  -  und  wurde  erst  im  19.  Jahrhundert  im  schulischen  Lektiire- 
kanon  fixiert.54  So  konnte  zum  Beispiel  noch  1627  Gerhard  Vossius  in  seinem 
dreibandigen  Werk  »De  hictoricis  Latinis«  klagen,  daB  Caesar  so  wenig  von  der 


klassischen  Autoren  genannt:  Aristoteles,  Historia  animalium,  2,  1,  499b  18-20;  Ders.,  De 
partibus  animalium,  3,  2,  663a  23:  nach  Pierre  Louis  ist  das  an  jener  Stelle  erwahnte  Tier 
»6pU(;«  ein  Fabelwesen,  „qui  a  donne  naissance  a  la  legende  des  licornes"  (Aristote,  Histoire 
des  animaux,  Tome  I,  Livres  ITV,  traduit  par  Pierre  Louis,  Paris  1964,  S.  40a  Anm.  4);  Plini- 
us,  naturalis  historia  8,  76  sowie  Aelianus,  De  natura  animalium  3,  41;  16,  20. 

48  Der  Kaukasus  als  Heimat  des  Einhorns  genannt  bei:  Strabon,  Geographika  15,  1,56. 

49  Johannes  Letzner  benutzte  zur  Abfassung  seiner  Werke  recht  haufig  griechische  und 
romische  Schriftsteller,  unter  anderem  auch  Aristoteles,  Strabon  und  Plinius  den  Alteren. 
Vgl.  Klinge,  1951,  wie  Anm.  26,  Bd.  1,  S.  130.  Wie  sehr  er  dabei  mit  der  »naturalis  historia« 
Plinius'  des  Alteren  vertraut  war,  zeigt  sich  beispielsweise  in  Herzog-August-Bibliothek  Wol- 
fenbiittel,  Cod.  Guelf.  159  Extrav.,  Vorbl.  13  sowie  Bl.  55T:  An  diesen  Stellen  fiihrt  Letzner 
Plinius  den  Alteren  im  Autorenverzeichnis  seiner  »Hardessischen  Chronica«  auf  und  nimmt 
explizit  Bezug  auf  das  7.  Buch  der  »naturalis  historia«. 

50  Alle  Vertreter  der  konfessionellen  Historiographie  des  16.  und  17.Jahrhunderts,  egal 
ob  protestantisch  oder  katholisch,  sind  durch  die  Schule  des  Humanismus  gegangen.  Vgl. 
Ulrich  Muhlack,  Geschichtswissenschaft  im  Humanismus  und  in  der  Aufklarung:  Die  Vor- 
geschichte  des  Historismus,  Munchen  1991,  S.  52 f. 

51  Zur  Physiognomie  des  Einhorns  teilt  Caesar,  bell.  Gall.,  6,  26  mit:  Est  bos  cervi  figura, 
cuius  a  media  fronts  inter  aures  unum  cornu  exsistit  excelsius  magisque  derectum  his  quae  nobis  nota 
sunt  cornibus:  ab  eius  summo  sicut  palmae  ramique  late  diffunduntur.  Eadem  est  feminae  marisque 
natura,  eadem  forma  magnitudoque  cornuum.  (Ubersetzung  R.  K.:  Es  existiert  ein  Rind  mit  der 
Gestalt  eines  Hirsches,  auf  dessen  Stirnmitte  zwischen  den  Ohren  ein  einzelnes  Horn  sich 
erhebt,  langer  und  gerader  als  die  Horner,  die  uns  bekannt  sind:  an  der  Spitze  verzweigt  es 
sich  so  wie  Hande  und  Zweige.  Das  weibliche  und  das  mannliche  Tier  haben  die  gleiche  Na- 
tur  sowie  die  gleiche  Form  und  GroBe  der  Horner.) 

52  Vgl.  Friedrich  August  Eckstein,  Lateinischer  und  Griechischer  Unterricht,  Leipzig 
1887,  S.  219. 

53  Vgl.  Michael  von  Albrecht,  Geschichte  der  rbmischen  Literatur  von  Andronicus 
bis  Boethius :  Mit  Beriicksichtigung  ihrer  Bedeutung  fur  die  Neuzeit,  Bd.  1,  Munchen  2 1994, 
S.  341. 

54  Vgl.  Andreas  Fritsch,  Die  Didaktik  des  Lateinunterrichts  in  der  Bundesrepublik 


Die  »Hohlwelten«  des  Harzes  343 

Jugend  gelesen  werde.55  Daher  scheint  es  durchaus  plausibel,  daB  Letzner,  Eck- 
storm  und  auch  der  Elbingeroder  Amtmann  der  Vorstellung  vom  Harz  als  Hei- 
mat  von  Einhornem  deswegen  abgeneigt  sind,  weil  sie  die  entsprechende  Stelle 
im  »bellum  Gallicum«  -  zumal  Letzner  die  Werke  Caesars  zur  Abfassung  seiner 
Schriften  auch  nicht  herangezogen  zu  haben  scheint56  -  gar  nicht  kannten.  Paral- 
lelen  zu  dem  Arzt  und  Iatrochemiker  Daniel  Sennert  und  dessen  1633  in  dritter 
Auflage  erschienener  Schrift  Epitome  naturalis  scientiae57  drangen  sich  auf:  Auch 
Sennert  auBert  erhebliche  Bedenken  gegeniiber  der  These,  daB  es  sich  bei  den 
Fossilien  vor  allem  des  Harzwaldes  bei  Elbingerode  -  in  ihm  ist  die  Baumanns- 
hohle  gelegen  -  urn  Einhornknochen  handele.58  Allerdings  scheinen  diese  Be- 
denken keiner  wie  auch  immer  gearteten  „proto-rationalistischen"  Einsicht  in  die 
Widersinnigkeit  des  Einhorn-Glaubens  zu  entspringen.  Denn  daB  Einhorner  exi- 
stieren  oder  existiert  haben,  wird  auch  von  Sennert  grundsatzlich  als  glaubhaft 
bezeichnet  und  nicht  in  Zweifel  gezogen.59  Skeptisch  stimmt  ihn  vielmehr  die  Tat- 
sache,  daB  die  vermeintlichen  Einhornknochenfunde  zuhauf  im  deutsch-mahri- 
schen  Raum60  gemacht  wiirden,  wo  es  doch  andere  Gebiete  gebe,  an  denen  die 


Deutschland  -  Versuch  eines  kurzen  Uberblicks,  in:  Forum  Classicum  2/1999,  S.  80-91,  hier 
bes.  S.  85 f.  Vgl.  auch:  Manfred  Fuhrmann,  Latein  und  Europa:  Geschichte  des  gelehrten  Un- 
terrichts  in  Deutschland  von  Karl  dem  Grofien  bis  Wilhelm  II.,  Koln  2001,  S.  169f.,  176. 

55  Vgl.  Eckstein,  wie  Anm.  52,  S.  219. 

56  Vgl.  Klinge,  1951,  wie  Anm.  26,  Bd.  1,  S.  130:  In  Klinges  Zusammenstellung  der  von 
Letzner  zur  Abfassung  seiner  Werke  und  Schriften  herangezogenen  Autoren  taucht  Caesar 
nicht  auf. 

57  Die  Erstauflage  dieses  Werkes  war  bereits  1618  mit  identischem  Wortlaut  erschienen. 
Vgl.  Daniel  Sennert,  Epitome  naturalis  scientiae,  Wittebergae  1618,  hier  S.  384 f. 

58  Sunt  qui putant  [sic!]  ossa  ista  ex  bestia  ilia  Monocerote  [.  .  .]  reliqua  esse,  carnibus  &  aliis 
mollioribus partibus  vetustate  consumtis  [sic!].  Verum  rationi  consentanea  non  est  haec  opinio.  [.  .  .] 
Probabilius  ergo  statuitur,  minerales  esse  istos  lapides.  (Ubersetzung  R.  K.:  Es  gibt  Leute,  die  glau- 
ben,  daB  diese  Knochen  von  jenem  Tier  Einhorn  nach  altersbedingter  Auflosung  des  Flei- 
sches  und  anderer  weicherer  Korperteile  iibriggeblieben  sind.  Aber  mit  der  Vernunft  in 
Ubereinklang  zu  bringen  ist  diese  Auffassung  nicht.  Mit  groBerer  Wahrscheinlichkeit  wird 
behauptet,  daB  es  sich  bei  diesen  „Steinen"  um  Mineralien  handelt.)  Daniel  Sennert, 
Epitome  naturalis  scientiae,  Wittebergae  31633,  S.  423  f. 

59  Ebd.:  monocerotes  degere  credibilius  est.  -  Vgl.  auch  ebd.:  Veritm  a  genuino  Monocerotis  cor- 
nu  facile  discerni  possunt  [sc.  die  Knochen,  die  vulgo  pro  cornu  monocerotis  venditantur;  R.  K.]. 
Nam  verum  unicornu  durum  & '  solidum  est,  ut  vix  radi,  multb  minus  teripossit.  (Ubersetzung  R.  K: 
Aber  vom  echten  Einhorn  konnen  sie  [d.  h.  die  Knochen,  die  gemeinhin  als  Einhorn  ver- 
kauft  werden]  einfach  unterschieden  werden.  Denn  echtes  Einhorn  ist  hart  und  fest,  so  daB 
es  kaum  geschabt  und  noch  viel  weniger  zerrieben  werden  kann.) 

60  Vgl.  ebd.:  in  Thuringia  & silva  Hercinia prope  Elbingrodam,  item  circa  Heidelbergam,  Hil- 
deshemium,  in  Misnia,  Silesia,  Moravia,  multisque  aliis  locis  (Ubersetzung  R.  K:  in  Thiiringen 
und  dem  Harzwalde  bei  Elbingerode,  ebenso  um  Heidelberg,  Hildesheim,  in  MeiBen,  Schle- 
sien,  Mahren  und  an  vielen  anderen  Orten). 


344  Ralf  Kirstan 

Existenz  von  Einhorngebein  glaubhafter  sei:  Et  cur  in  hisce potius,  quam  in  aliis  loch, 
in  quibus  monocerotes  degere  credibilius  est,  ista  cornua  inveniuntur?61  »Locis,  in  quibus 
monocerotes  degere  credibilius  est«:  »Gegenden,  von  denen  eher  anzunehmen 
ist,  daB  in  ihnen  Einhornerleben«  -  eine  entlarvende  Wendung:  Sie  legt  den  Ver- 
dacht  nahe,  daB  Sennert  bei  Abfassung  dieser  Stelle  an  Indien  und  den  Kaukasus 
als  die  von  den  Alten  iiberlieferten  Verbreitungsgebiete  des  Einhorns  gedacht 
hat.  Es  spricht  somit  einiges  dafiir,  daB  auch  Letzner  und  Eckstorm  hinsichtlich 
der  Einhomthematik  durchaus  nicht  Friihaufklarer  „avant  la  lettre"  waren,  son- 
dern  -  ebenso  wie  Daniel  Sennert  -  spathumanistisch  geschulte  und  mit  antiker 
Literatur  vertraute  Gelehrte,  die  sich  mit  Caesar  jedoch  nicht  intensiverbeschaf- 
tigt  hatten.  Daher  standen  sie  der  These  von  der  Harzregion  als  einstiger  Heimat 
von  Einhornern  skeptisch  gegeniiber,  obwohl  sie  freilich  grundsatzlich  an  die 
Existenz  dieser  mythischen  Tiere  glaubten. 

Unterschiede  zur  Hohlengeister-Thematik  fallen  ins  Auge:  Wahrend  die  Exi- 
stenz numinoser  Wesen  in  den  unterirdischen  »Hohlwelten«  des  Harzes  bei  aka- 
demisch  Gebildeten  des  16.  und  friihen  17.  Jahrhunderts  grundsatzlich  unstrittig 
gewesen  zu  sein  scheint  und  man  skeptische  Distanz  offenbar  nur  gegeniiber  bi- 
blisch  nicht  abgesicherten  volkskulturellen  Uberlieferungen  wahrte,  ergeben  die 
zeitgenossischen  AuBerungen  zur  Einhorn-Thematik  ein  differenzierteres  Bild: 
Hier  scheint  die  Linie  des  Dissenses  offensichtlich  sogar  durch  die  Gruppe  der 
humanistisch  Gebildeten  verlaufen  zu  sein.  Die  einen,  wie  zum  Beispiel  der  Su- 
perintendent Olearius,  der  Studiosus  von  Alvensleben  oder  der  Historiker  und 
Orientalist  Hermann  von  der  Hardt,  glaubten  an  das  Vorhandensein  von  fossilem 
Einhorngebein  in  den  Hohlen  des  Harzes  und  waren  sich  darin  mit  dem  traditio- 
nellen  Volksglauben  einig.  Andere,  wie  zum  Beispiel  die  Theologen  Letzner  und 
Eckstorm,  der  fur  Matthaeus  Merians  »Topographia«  arbeitende  Amtmann  von 
Elbingerode  sowie  der  Arzt  Daniel  Sennert,  waren  da  weitaus  skeptischer  und 
scheinen  a  prima  vista  naturphilosophische  Betrachtungsweisen  der  Eriihaufkla- 
rung  zum  Teil  schon  im  Ubergang  vom  16.  zum  17.  Jahrhundert  vorweggenom- 
men  zu  haben.  Erst  bei  genauerer  Analyse  stellt  sich  jedoch  heraus,  daB  dieser 
Eindruck  triigt:  Zutiefst  von  der  Verbalinspiration  derHeiligen  Schrift  iiberzeugt, 
diirfte  wohl  weder  ein  Johannes  Letzner  noch  ein  Heinrich  Eckstorm  grundsatzli- 
che  Zweifel  an  derbiblisch  verbiirgten  Existenz  von  Einhornern  gehabt  haben.  Es 
scheint  vielmehr  so,  als  habe  die  Kenntnis  der  Werke  von  beriihmten  antiken  Na- 
turforschern  sie  zu  der  Auffassung  gelangen  lassen,  nur  Asien  kame  als  Heimat  fiir 
das  Einhorn  in  Frage.  Die  Werke  des  romischen  Geschichtsschreibers  Caesar,  der 


61    Ebd. ;  Ubersetzung  R.  K. :  Und  warum  werden  diese  Knochen  eher  in  dieser  als  in  an- 
deren  Gegenden  gefunden,  von  denen  eher  anzunehmen  ist,  daB  in  ihnen  Einhorner  leben? 


Die  »Hohlwelten«  des  Harzes  345 

diese  These  gefahrdete  und  das  Einhorn  auch  in  den  Waldern  Germaniens  lokali- 
sierte,  scheinen  sie  dagegen  nicht  gekannt  zu  haben. 

Entscheidende  Anhaltspunkte  dafiir,  warum  sich  die  vermeintlichen  Einhorn- 
knochen  bei  den  Bauern  der  Harzregion  so  groBer  Beliebtheit  erfreuten,  liefert 
Heinrich  Eckstorm:  Uber  bestimmte  Krafte  (nescio  quas  vires)  sollen  sie  nach  An- 
gaben  derer,  die  mit  ihnen  handelten,  verfiigen  und  dabei  nicht  allzu  teuer  sein.62 
Diese  Krafte  bestanden  weitverbreiteten  friihneuzeitlichen  Vorstellungen  zufolge 
besonders  in  einer  Schutzfunktion  vor  Krampfen,  Epilepsie  und  Gift.63  Der  Arzt 
Daniel  Sennert  (1572-1637)  erwahnt  dariiber  hinaus  eine  Wunden,  Knochenbrii- 
che  und  Geschwiire  heilende  Wirkung  und  bezeichnet  fossiles  Einhorn  vor  allem 
auch  als  probates  Mittel  gegen  starke  Fieber,  Pest  und  Bauch-Koliken  bei  kleinen 
Kindern.64  Aber  nicht  nur  aufgrund  ihrer  vermeintlichen  Einhorn-Knochen  ge- 
nossen  die  Hohlen  des  Harzes  einen  besonderen  medizinischen  Ruf,  auch  in  an- 
derer  Hinsicht  zog  man  aus  ihnen  einen  therapeutischen  Nutzen.  So  laBt  der  El- 
bingeroder  Amtmann  iiber  die  Baumannshohle  verlauten:  Ubersolche  wunderbahre 
structur  dieser  erschrocklichen  Hohlen  [.  .  .]  befinden  sich  noch  andere  denckwiirdige  Sachen 
darinnen,  zumahl  bald  im  ersten  Gang  ein  Briinnlein  sehr  klaren  Wassers  ist,  welches  von 
vielen  fur  die  Schmertzen  deji  Blasensteins  taglich  nicht  ohne  Nutzen  gebrauchet  wird.65 
Neben  solchem  klaren  Quellwasser  als  Therapeutikum  gegen  Blasensteine  stellte 
die  Hohle  aber  auch  in  veterinarmedizinischer  Hinsicht  Arzneistoffe  zur  Verfii- 
gung:  Und  demnach[.  .  .]  das  Wasser  in  der  Hohlen  stets  von  obenherab  Tropffenweise  nie- 
derfdllet,  so  hdngen  sich  oben  an  die  Sterne  von  solchen  Tropffen,  in  Gleichnuji  der Eifizapf- 
fen,  lange  dunne  Steine,  gantz  weisser  Farben,  welche  mit  Verwunderung  in  grosser  menge 
herauji gebracht,  verkaufft,  zu  Pulver gestossen,  unddem  schadhafften  Viehe  in  die  Wunden 
mit  grossem  Nutzen  gestrewet  werden.66  An  diesem  Zitat  wird  deutlich,  daB  sich  im 


62  [.  .  .]  pro  Unicornis  cornu  imperitis  hominibus,  non  ita  magno  tamen precio  obtrudunt,  affin- 
gentes  ipsis  nescio  quas  vires.  Eckstorm,  wie  Anm.  10,  S.  222. 

63  Hermann  Guntert,  Art.  »Einhorn«,  in:  Handwtirterbuch  des  deutschen  Aberglau- 
bens,  Bd.  2,  Berlin /Leipzig  1929/1930,  Sp.  708-712,  hier  Sp.  709;  Jacques  le  Goff,  Ritter, 
Einhorn,  Troubadoure:  Helden  und  Wunder  des  Mittelalters,  Miinchen  2005,  S.  136;  Lise- 
lotte  Wehrhahn-Stauch,  Art.  »Einhorn«,  in:  Reallexikon  zur  deutschen  Kunstgeschichte, 
Bd.  4,  Stuttgart  1958,  Sp.  1504-1544,  hier  Sp.  1505.  -  Der  Glaube  an  die  Heilkraft  von  Ein- 
horngebein  war  verbreitet,  obwohl  weder  Galen  noch  Hippokrates  noch  Dioskurides  als 
»Doyen«  der  auch  der  friihneuzeitlichen  Medizin  zugrundeliegenden  humoralpathologi- 
schen  Lehre  dessen  therapeutischen  Wert  erwahnen.  Vgl.  ebd.,  Sp.  1508. 

64  Vgl.  Sennert,  wie  Anm.  58,  S.  423,  wo  es  zu  Horn  und  Knochen  des  Einhorns  heiBt: 
quae  ad  vulnera  &  ossafracta  glutinanda,  ulceraque  sananda  utilia  esse pradicantur.  Imprimis  autem 
cornua  ista  non  parvum  in  Epilepsia,  febribus  malignis,  peste,  aim  torminibus  in  infantibus,  aliisq; 
morbis  sanandis  habere  usum,  experientia  docuit  [...]. 

65  Merian,  wie  Anm.  1,  S.  32f. 

66  Ebd.,  S.  33. 


346  Ralf  Kirstan 

17.  Jahrhundert  urn  die  Harzhohlen  ein  eigener  Gewerbezweig  etabliert  hatte, 
welcher  von  der  Verarbeitung  derhangenden  Tropfsteine  lebte.  Diese  sogenann- 
ten  Stalaktiten  wurden  zu  Pulver  verarbeitet  und  den  Bauern  als  Wundmittel  fiir 
ihr  Vieh  verkauft  -  eine  Medizin,  der  auch  der  Amtmann  groBen  Nutzen  zuer- 
kennt  und  die  nach  Eckstorm  iiber  die  »Kraft  zum  Austrocknen«  (vim  exsiccandi) 
verfiigte.67  Obwohl  diese  AuBerung  vor  dem  Hintergrund  des  in  derfriihen  Neu- 
zeit  popularen  und  im  folgenden  noch  anzusprechenden  medizinischen  Konzep- 
tes  der  Vier-Safte-Lehre  zu  sehen  ist,68  konnte  sie  als  Hinweis  aufzufassen  sein  auf 
eine  moglicherweise  entzundungshemmende  Wirkung  des  Stalaktiten- Pul vers: 
Bestand  dieses  doch  aus  nichts  anderem  als  Kalk,  der  -  einmal  gebrannt  -  als 
Calciumoxid  (Branntkalk)  eine  desinfizierende,  bakterizide  und  somit  ent- 
zundungshemmende Wirkung  hatte.  Bereits  Letznerberichtet  iiber  eine  derartige 
Verarbeitung  von  Tropfsteinen  zu  Arznei;  dabei  gibt  er  zu  erkennen,  daB  sie  auch 
einen  starken  asthetischen  Reiz  auf  ihn  ausiiben:  Beschreibt  er  sie  doch  als  lang 
und  kurtz,  gros  und  klein,  gantz  reinlich  und  subtiel,  mit  feinen  natiirlichen  und  schonen 
blumen  hangend.6®  Jedoch  sind  es  im  medizinischen  Sinne  nicht  nur  positive 
Aspekte,  die  friihneuzeitliche  Autoren  mit  unterirdischen  »Hohlwelten«  in  Ver- 
bindung  brachten.  Auch  als  Orte  von  Gefahren  fiir  die  Gesundheit  wurden  sie 
gesehen.  Dabei  ist  es  nicht  nur  der  felsige,  zerkliiftete  und  zuweilen  auch  Sicher- 
heitsvorkehrungen  wie  das  Anseilen  erfordernde  Untergrund  70  oder  die  zahlrei- 


67  Ruricolae  eum  [den  Tropfstein;  R.  K.],  quod  vim  exsiccandi  habeat,  in pulvisculum  redactum 
sauciorum  jumentorum  vulneribus  vel  vlceribus  inspergunt.  (Ubers.  R.  K. :  Die  Landbewohner 
streuen  ihn  [den  Tropfstein]  in  zu  Pulver  zerstoBener  Form  in  die  Wunden  oder  Geschwiire 
verletzter  Nutztiere,  weil  er  die  Kraft  zum  Austrocknen  besitzen  soil.)  Eckstorm,  wie 
Anm.  10,  S.  222. 

68  Das  auf  die  antiken  Arzte  Hippokrates  und  Galen  zuriickfuhrbare  und  noch  bis  ins 
19.  Jahrhundert  hinein  verbreitete  medizinische  Konzept  der  Vier-Safte-Lehre  (Humoralpa- 
thologie)  definiert  Krankheit  als  eine  Storung  des  labilen  Gleichgewichts  der  vierim  Korper 
vorhanden  geglaubten  Safte  Blut,  Schleim,  schwarze  Galle  und  gelbe  Galle.  Dabei  man  man 
jedem  Saft  eine  bestimmte  Guialitat  zu:  Blut  gait  als  warm  &  feucht,  Schleim  als  kalt  & 
feucht,  schwarze  Galle  als  kalt  &  trocken,  gelbe  Galle  als  warm  &  trocken.  Vgl.  hierzu  Regi- 
na  Hell,  Der  Saftebegriff  in  den  Schriften  Thomas  Sydenhams  (1624-1689),  Diss.  med. 
(masch.),  Tubingen  2002,  S.  35.  Heilung  im  medizinischen  Sinne  nun  bedeutete  die  Wieder- 
herstellung  des  natiirlichen  Gleichgewichts  dieser  vier  Safte.  Das  glaubte  man  dadurch  er- 
reichen  zu  konnen,  daB  man  -  das  Prinzip  des  contraria  contrariis  verfolgend  -  einer  aus  dem 
UberschuB  eines  Saftes  resultierenden  Erkrankung  mit  Mitteln  begegnete,  die  jeweils  anta- 
gonistische  Guialitaten  aufwiesen:  Beispielsweise  heilte  man  eine  schwarende  und  somit 
durch  einen  lokalen  UberschuB  an  den  Saften  Blut  oder  Schleim  »feuchte«  Wunde  am  be- 
sten  durch  die  Gabe  eines  »austrocknenden«,  d.  h.  von  seiner  Qualitat  her  »trockenen«  The- 
rapeutikums. 

69  StA  Minister,  Msc.  VII,  13,  wie  Anm.  27,  fol.  78  v. 

70  Wenn  man  viel  hundert  Schritt  darin  fortgangen,  und gekrochen,  trifft  man  einen  spitzigen  Fel- 


Die  »Hohlwelten«  des  Harzes  347 

chen,  ein  hoffmmgsloses  Verirren  begiinstigenden  Kammern,71  welche  eine  Hoh- 
le  aus  zeitgenossischer  Sicht  immer  auch  zu  einem  grausamen72  finstere[n]  und  un- 
freundtliche[n]73  Orte  machten.  Auch  andere  Bedrohungen  fur  die  Gesundheit 
konnten  in  ihr  lauern.  So  schreibt  Letzner  iiber  die  heute  so  genannte  Einhorn- 
hohle:  In  dieserhoele  ist esfast halt,  so spilret  und vernimptman  auch  daselbstkein  bosege- 
wiirm,  doch  aber  ist  diese  hoele  sine  acre  incluso  nicht,  die  iederman  ohn  schaden  nicht  wol 
erleiden  mag.7i  Dieses  Zitat  gibt  mit  seiner  Erwahnung  eines  schadigenden  »aer 
inclusus«  (d.  h.  „eingeschlossene  Luft")  einen  Hinweis  darauf,  daB  Letzner  ein  An- 
hanger  der  sogenannten  Miasmen-Theorie  war,  die  in  der  zeitgenossischen  arztli- 
chen  Diskussion  eine  wichtige  Rolle  spielte.75  Miasmen  wurden  mit  einer  Verun- 
reinigung  oder  Verderbnis  der  Luft  in  Verbindung  gebracht,  als  deren  Quelle 
Wetter- Anomalien,  Leichen  und  Kadaver,  Siimpfe,  stehende  Gewasser,  verrotten- 
des  Gemiise,  Exkremente,  aber  auch  -  in  unserem  Zusammenhang  besonders 
wichtig  -  Erdspalten,  Hohlen  und  dergleichen  mehrgalten.76  Sie  wurden  als  Aus- 
diinstungen  betrachtet,  die  untrennbar  mit  der  Luft  sich  vermischen,  sie  »infizie- 
ren«,  und  iiber  diesen  Weg  vom  Menschen  iiber  die  Atmung  oder  die  Hautporen 
aufgenommen  werden  konnen.  War  das  geschehen,  beeinfluBten  sie  das  labile 
Gleichgewicht  der  vier  nach  zeitgenossischer  Vorstellung  im  Korper  enthaltenen 
Hauptsafte  Blut,  Schleim,  gelbe  Galle  und  schwarze  Galle.  Da  man  in  der  friihen 
Neuzeit  jedoch  in  der  Regel  immer  noch  der  antiken,  auf  Hippokrates  und  Galen 
zuriickfiihrbaren  Lehre  der  Humoralpathologie  anhing,77  wonach  Krankheit  de- 
finiert  war  als  eine  Storung  des  labilen  Gleichgewichts  eben  dieser  vier  Kardinal- 
safte,  stellte  ein  Miasma  von  der  Art  des  in  der  Einhornhohle  vorhandenen  eine 
potentielle  Bedrohung  fiir  die  Gesundheit  dar,  ja  konnte  schlimmstenfalls  sogar 


sen  zwischen  zwo  Klufften  an,  das  Rofi  genant,  iiber  welchen  man  hiniiber  hutschen,  und  hernach  sich 
unterweilen  gar  mit  Stricken  hinunter  lassen  mufi  [...].  Merian,  wie  Anm.  1,  S.  32. 

71  [.  .  .]  wann  sich  einer  einmahl  in  den  unzehlich  vielen  Hohlen  verwirret,  unmbglich  ist,  sich 
wieder  heraufi  zufinden,  wie  man  dessen  Exempel  an  denen  darin  gefundenen  todten  Cbrpern  oder  sce- 
letis  hat  [.  .  .].  Ebd. 

72  Ebd. 

73  StA  Minister,  Msc.  VII,  13,  wie  Anm.  27,  fol.  79 r. 

74  GWLB  Hannover,  Ms.  XXIII,  611a,  wie  Anm.  27,  fol.  36 r. 

75  Noch  deutlicher  offenbart  Letzner  sein  Anhangen  an  die  Miasmen-Theorie,  wo  er 
von  der  bosen  faulen  und  gifftigen  lufft  der  pestilentz  spricht.  StA  Minister,  Msc.  VII,  13,  wie 
Anm.  27,  fol.  246 r. 

76  Charles-Edward  Amory  Winslow,  The  Conquest  of  Epidemic  Disease:  A  Chapter  in 
the  History  of  Ideas,  Princeton  21944,  S.  117;  Michael  Stolberg,  Homo  patiens:  Krankheits- 
und  Korpererfahrungin  der  Friihen  Neuzeit,  Koln  2003,  S.  158;  Mary  Lindemann,  Medicine 
and  Society  in  Early  Modern  Europe,  Cambridge  1999,  S.  179. 

77  Das  iatrochemische  Modell  des  Theophrastus  Bombastus  von  Hohenheim,  genannt 
Paracelsus,  spielte  demgegenuber  eine  untergeordnete  Rolle. 


348  Ralf  Kirstan 

spezifische  Krankheitsbilder  wie  das  der  Pest  hervorrufen.78  Fur  Johannes  Letz- 
ner  stellten  unterirdische  »Hohlerden«  also  auch  insofern  ein  gesundheitliches 
Risiko  dar,  als  sie  miasmatische  Diinste  enthalten  konnten,  die  -  einmal  vom  Or- 
ganismus  aufgenommen  -  Veranderungen  im  Saftehaushalt  des  Korpers  bewir- 
ken  und  zum  Entstehen  von  unter  Umstanden  todlichen  Krankheiten  fiihren 
konnten.79  Ahnlich  verhalt  es  sich  auch  mit  dem  von  Letzner  erwahnten  »bose  ge- 
wiirm«.  Unter  »Gewiirm«  diirfte  er  dabei  als  neuhochdeutscher  Autor  des  16. 
Jahrhunderts  ein  Collectivum  verstanden  haben,  dessen  Bedeutungsumfang  sehr 
weit  gezogen  ist  und  in  der  Verwendung  Luthers  „alles,  was  da  kreucht  und 
schleicht"  umfaBt;  es  bedeutet  nicht  allein  den  heutigen  »Wurm«,  sondern  alle 
kriechenden  Tiere,  fur  die  die  Vulgata-Bibel  den  Begriff  des  »reptile«  einsetzt.80 
Zwar  vermochte  Letzner  derartige  Kriechtiere  in  der  Einhornhohle  nicht  zu 
entdecken;  jedoch  deutet  allein  schon  seine  Erwahnung  dieser  Tierkategorie  im 
Zusammenhang  seiner  Hohlenbeschreibung  darauf  hin,  daB  erin  unterirdischen 
»Hohlwelten«  durchaus  mit  ihrem  Vorhandensein  rechnete.  Auf  was  jedoch 
spielt  Letzner  mit  seiner  Formulierung  »bose  gewiirm«  konkret  an?  Was  versteht 
er  unter  Kriechtieren,  die  in  Hohlen  leben  und  dazu  noch  »bose«  sind?  Eine  Ant- 
wort  auf  diese  Fragen  ist  moglicherweise  im  Werke  des  von  uns  bereits  erwahnten 
Georg  Agricola  zu  finden.  Dieser  weiB  am  Ende  des  sechsten  Buches  seiner 
»Zwolf  Biicher  vom  Berg-  und  Hiittenwesen«  von  einem  Tier  aus  der  gating  der 
vorgifftige  Ameissen  zu  berichten,  welches  vast  klein,  vnnd  den  spinnen  gleich  sei.  Die- 
ses Tier,  genandt  Solifuga,  darumb  das  es  den  tagfleuhet,  sieht  Agricola  in  Rekurs  auf 
den  spatantiken  romischen  SchriftstellerSolinus  haufig  in  sardinischen  Silbergru- 
ben  vorkommen;  es  kreucht gantz still  vndheimlich,  vn  bringt  denen  darauffes sitzet  von 
wegejrer  vnforsichtigkeit,  ein pestilentz  in  bussen  [=  in  den  Busen;  R.  K.].81  Zwar  muB 


78  Vgl.  hierzu  vor  allem  Andrew  Wear,  Medicine  in  Early  Modern  Europe,  1500-1700,  in: 
Lawrence  I.  Conrad,  Michael  Neve,  Vivian  Nutton,  Roy  Porter,  Andrew  Wear  (Hgg.),  The 
Western  Medical  Tradition  800  BC  to  AD  1800,  Cambridge  1995,  S.  215-362,  hierS.  263. 

79  Fragwiirdig  erscheint  auf  diesem  Hintergrund  der  Versuch  von  Reinboth  und  Vladi, 
den  von  Letzner  erwahnten  „aer  inclusus"  mit  irgendwelchen  realen,  moglicherweise  von 
den  Speiseabfallen  der  Knochengraber  oder  dem  Geleucht  herriihrenden  schlechten  Gerii- 
chen  in  Verbindung  zu  bringen  -  zumal  beide  Autoren  konstatieren,  daB  die  Wetter  in  der 
Einhornhohle  einwandfrei  seien.  Vgl.  zu  deren  beider  Erklarungsansatz  Friedrich  Rein- 
both,  Firouz  Vladi,  Johannes  Letzners  Beschreibung  der  Steinkirche  und  der  Einhornhohle 
bei  Scharzfeld,  in:  Harz-Zeitschrift  32  (1980),  S.  77-91,  hier  S.  86  Anm.  48.  Wenn  Letzner  mit 
seiner  Formulierung  tatsachlich  auf  irgendwelche  sinnlich  wahrnehmbaren  Diinste  anspie- 
len  sollte,  dann  wohl  am  ehesten  auf  die  auch  vom  Elbingeroder  Amtmann  erwahnten  Diin- 
ste und  Nebel,  die  sich  in  der  Hohle  durch  zu  hohe  Luftfeuchtigkeit  gebildet  hatten. 

80  Vgl.  Eintrag  »Gewiirm  (Gewiirme)«  in:  Deutsches  Worterbuch  von  Jacob  Grimm 
und  Wilhelm  Grimm,  bearb.  von  Hermann  Wunderlich  et  al.,  4.  Bd.,  I.  Abt.,  4.  Teil,  Leipzig 
1949  =  Bd.  7,  Miinchen  1984,  Sp.  6814-6828,  hier  Sp.  6816ff. 

81  Agricola,  Vom  Bergkwerck,  wie  Anm.  18,  6.  Buch,  S.  clxxx. 


Die  »Hohlwelten«  des  Harzes  349 

es  nicht  genau  dieses  bei  Agricola  erwahnte  Tier  gewesen  sein,  welches  Letzner 
im  Sinn  hatte,  als  er  die  Formulierung  „bose  gewiirm"  verwendete;  immerhin 
heiBt  es  bei  Agricola  auch:  Aber  in  vnsern  grube  ist  nicht  die  gattug  der  vorgifftige 
Ameissen  [.  .  .].82  Dennoch  aber  ist  diese  Stelle  aus  dem  Werke  des  Bergbau-Ge- 
lehrten  hochst  erhellend  fiir  das  Verstandnis  jener  Letznerschen  Formulierung: 
Zeigt  sich  daran  doch  exemplarisch,  daB  im  16.  Jahrhundert  gelehrte  Laien  und 
Bergbaufachleute  gleichermaBen  unterirdische  »Hohlwelten«  immer  auch  als  na- 
tiirliche  Lebens-  und  Riickzugsraume  von  wunderlichen,  fiir  den  Menschen  ge- 
fahrlichen  Insekten  und  Kriechtieren  angesehen  haben.  Daneben  waren  die 
Hohlen  des  Harzes  jedoch  auch  verrufen  und  gefiirchtet  als  Schlupforte  fiirLand- 
fahrer  und  anderes  »Gelichter«.  Denn  es  berichtet  der  Chronist  Letzner  iiber  die 
Einhornhohle  ferner:  Man  sagt,  das  sich  offtmals  bose  verdechtige  leut,  die  anderstwo 
keinen guten  stern  und  windt  haben,  auch  aus  alien  wassern  am  tage  nicht  trincken  miigen, 
sich  in  diese  hoele  als  in  das  buben-  und  wolffs  geleide  verbergen  und  verstecken  sollen, 
welchs  ich  nicht  ungerne geleube,  denn  als  ich  und  meine  domaligen  geferten  anno  1583,  den 
27.Junii,83  diese  hoele  visitirten,  haben  wir fewr,  frisch  gespaltet  holtz,  rinden  vom  brott, 
die  schwarten  vom  speck  und  andere  frische  urkunden  mher  daselbst  mit  verwunderung, 
auch  nicht  mit  geringem  schrecken  funden.84 

Trotz  eines  derartigen  ihnen  von  den  Zeitgenossen  beigemessenen  Gefahren- 
potentials  scheinen  die  Hohlen  des  Harzes  dennoch  auch  im  16.  und  17.  Jahrhun- 
dert immer  wieder  neugierige  Besucher  angezogen  zu  haben.  Darauf  deutet  nicht 
nur  die  Formulierung  des  Elbingeroder  Amtmanns  hin,  es  „versamlen  sich  ge- 
meiniglich  der  jenigen/  so  den  Ort  zu  besehen  willens/  eine  zimliche  Gesell- 
schafft  [.  .  .]".85  Es  zeigt  sich  auch  an  folgender  Mitteilung  Letzners  zur  sogenann- 
ten  Einhornhohle:  In  der  aller  hinder sten  [Hohle;  R.  K.]  werden  viel fiirnemer  leut  na- 
men,  in  demfelse  mit  kollen  und  rotel geschrieben,  mit  gewisser  iarzael  und  tage  zeit,  wann 
solche  leut  da  gewesen,  funden86  Offensichtlich  waren  die  Harz-Hohlen  bereits  im 
16.  Jh.  eine  Art  „touristischer"  Anziehungspunkt,  derspeziell  »furneme  leut«,  d.  h. 
auBeres  Ansehen  besitzende87  Angehorige  der  Oberschicht,  zur  Besichtigung 
reizte.88  Diese  haben  sich  dann,  des  Schreibens  und  Lesens  kundig,  durch  Kohle- 


82  Ebd. 

83  Diese  Datumsangabe  nach  julianischem  Kalender  entspricht  dem  4.  Juli  nach  dem 
heute  gebrauchlichen  gregorianischen  Kalender. 

84  GWLB  Hannover,  Ms.  XXIII,  611a,  wie  Anm.  27,  fol.  36r. 

85  Merian,  wie  Anm.  1,  S.  32. 

86  GWLB  Hannover,  Ms.  XXIII,  611a,  wie  Anm.  27,  fol.  35v. 

87  Vgl.  Eintrag  »fiirnehm«  in:  Deutsches  Worterbuch  von  Jacob  Grimm  und  Wilhelm 
Grimm,  bearb.  vonjacob  Grimm,  Karl  Weigand,  Rudolf  Hildebrand,  4.  Bd.,  I.  Abt.,  1.  Half- 
te,  Leipzig  1878  =  Bd.  4,  Miinchen  1984,  Sp.  774-776,  hier  Sp.  775. 

88  Auch  Letzner  war  nach  eigener  Angabe  bei  seiner  am  27.  Juni  1583  veranstalteten 


350  Ralf  Kirstan 

und  Rotelinschriften  in  den  Hohlen  zu  »verewigen«  versucht,  so  daB  selbst  noch 
in  heutiger  Zeit  im  Schillersaal  der  Einhornhohle  (=  dritte  Hohle)  teilweise  bis  in 
das  15.  Jahrhundert  zuriickreichende  Inschriften  zu  finden  sind.89  Fiir  Besichti- 
gungen  der  Baumannshohle  zu  „touristischen"  Zwecken  scheint  sogarbereits  Mit- 
te  des  17.  Jahrhunderts  eine  bestimmte  Ordnung  eingerichtet  worden  zu  sein:  Seit 
1649  erfolgten  Fiihrungen  durch  den  eigens  dafiir  vom  Herzog  mit  einem  Privileg 
ausgestatteten  Valtin  Wagner.90 

Welche  Vorstellungen  zur  Entstehung  solcher  unterirdischen  »Hohlwelten« 
hatte  man  aberim  16.  und  17.  Jahrhundert?  Auch  hierbei  gilt  es  zwischen  Erkla- 
rungsansatzen  des  »gemeinen  Mannes«  einerseits  und  denen  von  akademisch  ge- 
bildeten  Theologen  und  Angehorigen  der  Oberschicht  andererseits  zu  unter- 
scheiden.  Der  »gemeine  Mann«  scheint  -  das  zumindest  ergibt  eine  Befragung 
der  im  Umfeld  der  Einhornhohle  siedelnden  Landbevolkerung  durch  den  Chro- 
nisten  Letzner  -  davon  iiberzeugt  gewesen  zu  sein,  diese  Hohle  sei  von  Zwergen 
erschaffen  worden:  Die  benachbarten  und  der  gemeine  man  halten  und  nennen  diese 
vielbenandte  hoele  vor  zwerglocher,  wissen  davon  sonst  nichts  mher  zuberichten.91  Im  Ge- 
gensatz  dazu  vertreten  andere,  offensichtlich  geschichtlich  gebildete  und  daher 
den  literaten  hoheren  Schichten  zuzurechnende  Zeitgenossen  die  Ansicht,  die 
Hohlen  seien  in  den  Wirren  der  Volkerwanderungszeit  von  Menschenhand 
kiinstlich  erschaffen  worden:  Andere  haltens  dafiir,  das  fur  alters,  als  die  Gothen,  Hun- 
nen,  Wenden  und  andere  barbarische,  frembde  und  tirrannische  volcker  die  lande  mit  heeres 
kraft  durchzfigen,  so  gar  grewlich  getobet,  gewutet  und  gantz  unmenschlich  gehandelt  und 
mit  dem  armen  volck  umbgangen,  das  daher  die  leut  aus  grosser forcht  und  angst  solche  hoe- 
len  gesucht,  gemachet  und  erweitert  und  darin  sich  mit  den  ihren  so  wol  und  gut  sie  ver- 
mocht,  bis  das  ungewitter  furiiber  gewesen,  versteckt  und  auffgehalten  haben?2  Letzner 
spielt  hiermit  wahrscheinlich  u.  a.  auf  Johannes  Mathesius  an,  der  1571  in  einem 
Buch  iiber  Bergwerke  und  Metalle  beziiglich  der  Baumannshohle  die  Ansicht  ver- 
treten hat,  sie  sei  von  Menschen  gegraben  worden.93  SchlieBlich  erwahnt  Letzner 
noch  einen  dritten  Erklarungsansatz,  der  von  „etzlichen"  vertreten  werde  und 
einmal  mehr  zeigt,  wie  sehr  die  Bibel  in  der  friihen  Neuzeit  als  historiographi- 
sches  Werk  betrachtet  wurde,  das,  einem  Geschichtswerk  gleich,  wahrhaftig  sich 


Besichtigung  der  Einhornhohle  in  Begleitung  zweier  Adliger.  Vgl.  Reinboth,  Vladi  wie 
Anm.  79,  S.  86. 

89  Vgl.  ebd.,  S.  85  Anm.  45;  vgl.  auch  Karl  Burger,  Die  Baumannshohle:  Geschichte  ei- 
nes  Harzer  Naturdenkmals,  in:  Zeitschrift  des  Harz-Vereins  fiir  Geschichte  und  Altertums- 
kunde,  63.  Jg.,  1930,  S.  82-106,  S.  88  Anm.  7. 

90  Vgl.  ebd.,  S.  106. 

91  GWLB  Hannover,  Ms.  XXIII,  611a,  wie  Anm.  27,  fbl.  36v. 

92  Ebd. 

93  Vgl.  hierzu  Kempe,  Reinboth,  wie  Anm.  1,  hier  S.  35f. 


Die  »Hohlwelten«  des  Harzes  351 

ereignet  habende  Geschehnisse  berichtet:  Etzliche  meinen  und  haltens  auch  dafiir, 
das  diese  und  dergleichen  hoelen  und  locher  in  der  sindtflut  also  wurden,  und  die  menschen 
domals,  iung  und  alt  zugleich,  mit  bergen  und  steinfelsen  bedeckt  und  also  umbkomen  sein 
sollen.9i  Diesem  „tektonischen"  Erklarungsansatz  gemaB  erschuf  die  Sintflut  die 
unterirdischen  Hohlen,  indem  sie  Berge  und  Steinfelsen  aufeinandertiirmte.  Da- 
mit  hatte  man  zugleich  eine  Erklarung  fur  das  Vorhandensein  von  alten,  aus  heu- 
tiger  Sicht  prahistorischen  menschlichen  Knochen  in  den  unterirdischen  »Hohl- 
welten«  des  Harzes:  sterbliche  Uberreste  von  Zeitgenossen  Noahs  waren  es,  die 
damals  zur  Zeit  des  ersten  Bundes  unter  den  von  der  Sintflut  in  Bewegung  gesetz- 
ten  Bergen  und  Felsen  begraben  worden  waren.  Letzner  nimmt  damit  wahr- 
scheinlich  Bezug  auf  Heinrich  Eckstorm,  der  in  einer  1589  abgefaBten  und  1620 
publizierten  „Epistola  de  specu  Bumanni  vulgo  Bumannsholl"  offenbar  als  erster 
eine  Art  „Uberdeckungs-Hypothese"  im  Hinblick  auf  die  Entstehung  von  Hohlen 
formuliert  hatte.95 

Zusammenfassend  kann  festgestellt  werden,  daB  es  im  16.  und  17.  Jahrhundert 
je  nach  Schichtzugehorigkeit  und  Bildungsniveau  durchaus  abweichende  Vorstel- 
lungen  zum  Thema  »Hohlerden«  geben  konnte.  Zwar  war  es  fiir  alle,  fiir  den  „ge- 
meinen  Mann"  wie  fiir  humanistische  Gelehrte  gleichermaBen,  ganz  selbstver- 
standlich,  daB  unterirdische  »Hohlerden«  immer  auch  natiirliche  Riickzugsorte 
von  Gespenstern  und  numinosen  Wesen  waren  -  eine  Vorstellung,  die  insbeson- 
dere  in  lutherischen  Gebieten  durch  das  Neue  Testament  befordert  worden  zu 
sein  scheint.  Dennoch  aber  begegnet  auch  schon  in  jener  Zeit  bei  gebildeten 
Zeitgenossen  ein  gewisses  »kritisches«  BewuBtsein,  das  nicht  jeden  Bericht  des 
»gemeinen  Mannes«  iiber  phantastische  Vorkommnisse  in  Hohlen  fiir  bare  Miin- 
ze  nimmt:  Allerdings  scheint  eine  derartige  Grenzziehung  zwischen  Realitat  und 
Aberglauben  nicht  aus  irgendeiner  „proto-rationalistischen"  Einstellung  erfolgt 
zu  sein;  vielmehr  diirfte  sie  gewissen  Anschauungen  Luthers  geschuldet  sein  so- 
wie  dem  Versuch,  die  Welt  mit  der  zu  den  phantastischen  Berichten  des  »gemei- 
nen  Mannes«  freilich  keine  Aussagen  treffenden  Bibel  zu  erklaren.  Im  Gegensatz 
dazu  laBt  sich  der  Glaube  an  das  Vorkommen  von  Einhorngebein  in  den  Hohlen 
des  Harzraumes  nicht  so  einfach  einer  spezifischen  Gruppe  oder  Schicht  zuord- 
nen:  Die  Vorstellung,  daB  es  sich  bei  »prahistorischen«  Knochenfunden  in  den 
Harz-Hohlen  um  das  beriihmte  unicornu  fossilehandeln  miisse,  war  nicht  nurbeim 
gemeinen  Volke  verbreitet,  sondern  teilweise  auch  in  akademischen  Kreisen. 
Zweifel  an  dieser  Anschauung  scheinen  bis  zum  Beginn  der  Aufklarung  haufig 
nicht  aus  irgendeiner  Einsicht  in  die  Widersinnigkeit  des  Einhornglaubens  er- 
wachsen  zu  sein,  sondern  aus  folgenden  Griinden:  Erstens  aus  spathumanisti- 


94  GWLB  Hannover,  Ms.  XXIII,  611a,  wie  Anm.  27,  fol.  36v. 

95  Vgl.  Kempe,  Reinboth,  wie  Anm.  1,  hier  S.  35. 


352  Ralf  Kirstan 

scher  Lektiire  antiker  griechischer  und  romischer  Naturforscher,  welche  als  Hei- 
mat  des  Einhorns  den  asiatischen  Raum  bezeichnen;  zweitens  aus  der  relativ 
untergeordneten  Rolle  von  Caesar  als  Schulautor  und  einem  daraus  resultieren- 
den  geringen  Bekanntheitsgrad  von  Caesars  »Bellum  Gallicum«,  einem  Werk, 
das  jedoch  als  einzige  der  iiberlieferten  antiken  Schriften  die  Behauptung  enthalt, 
daB  auch  der  Hercynische  Wald  Lebensraum  von  Einhornern  sei.  Dariiberhin- 
aus  war  das  Verhaltnis  gerade  der  gebildeten  hoheren  Schichten  zu  unterirdi- 
schen  »Hohlerden«  ein  durchaus  ambivalentes:  einerseits  fiirchtete  man  sie  als 
Orte  mit  einem  hohen  Potential  an  Gesundheitsgefahren  (Miasmen,  „bose"  Tie- 
re),  andererseits  schatzte  man  sie  als  Lieferant  von  wichtigen  Arzneistoffen,  ja 
entwickelte  ein  geradezu  touristisches  Interesse  an  ihnen.  Bildungs-  und  schicht- 
abhangig  sind  in  der  friihen  Neuzeit  ebenso  die  Theorien  zur  Entstehung  von 
Hohlen:  Wahrend  der  »gemeine  Mann«  glaubte,  die  Harzhohlen  seien  von  Zwer- 
gen  erschaffen  worden,  begegnet  bei  literaten  Angehorigen  hoherer  Schichten 
die  Auffassung,  sie  seien  in  der  Volkerwanderungszeit  durch  Menschenhand  ge- 
formt  worden  oder  aber  das  Produkt  der  als  reales  historisches  Ereignis  aufgefaB- 
ten  Sintflut. 


In  der  Bastille  gewesen  zu  sein,  ist  eine  Empfehlung. 

Abenteurer  und  ehemalige  Bastille-Haftlinge 
am  hannoverschen  Hof  um  1700 

Von  Gerd  van  den  Heuvel 


Will  man  ein  einzelnes  Ereignis  benennen,  das  auch  heute  noch  den  epochalen, 
grundstiirzenden  Charakter  der  Franzosischen  Revolution  in  der  historischen 
Wahrnehmung  einer  breiteren  Offentlichkeit  verkorpert,  dann  steht  der  Sturm 
auf  die  Bastille  am  14.Juli  1789  zweifellos  an  ersterStelle,1  noch  vor  der  Erklarung 
der  Abgeordneten  des  Dritten  Standes  zur  Nationalversammlung,  der  Deklarati- 
on  derMenschen-  und  Biirgerrechte,  der  Hinrichtung  Ludwigs  XVI.  oder  derja- 
kobinischen  Terrorherrschaft.  In  ihrer  doppelten  Funktion  als  Verkorperung  der 
iiberwundenen  Willkiirherrschaft  des  Ancien  Regime  und  (mit  der  Erstiirmung 
durch  das  Volk)  des  verheiBungsvollen  Beginns  einer  neuen,  unter  der  Leitidee 
derFreiheit  stehenden  Epoche  der  Menschheitsgeschichte  erfiillt  die  Bastille  alle 
Voraussetzungen,  um  als  Kollektivsymbol  das  Selbstverstandnis  der  franzosi- 
schen Nation  bis  heute  zu  pragen  und  dariiber  hinaus  weltweit  als  Metapher  fur 
revolutionare  Entschlossenheit  und  die  Befreiung  von  ungerechter  Herrschaft 
Verwendung  zu  finden.  Die  gewaltsame  Eroberung  der  Pariser  Stadtfestung  am 
14. Juli,  die  nachfolgende  Schleifung  imjahre  1790,  die  jahrlichen,  mobilisieren- 
den  Gedenktage  wahrend  der  Revolution,  die  Errichtung  einer  Freiheitsstatue  auf 
dem  Bastille-Platz  wahrend  derjulimonarchie  und  schlieBlich  die  Erhebung  des 
14.  Juli  zum  franzosischen  Nationalfeiertag  (1880)  markieren  nur  einige  Etappen 
revolutionarer  Memoria,  mit  denen  der  Fall  des  Pariser  Kerkers  als  Griindungs- 
mythos  des  modernen  Frankreich  institutionalisiert  wurde.2 


1  Vgl.  Winfried  Schulze,  Der  14.  Juli  1789.  Biographie  eines  Tages,  Stuttgart  1989; 
Ders.:  Der  14.  Juli  1789,  in:  Andreas  Anderhub,  Berthold  Roland  (Hrsg.),  Die  Bastille:  Sym- 
bolik  und  Mythos  in  der  Revolutionsgraphik  [Ausstellungskatalog  Landesmuseum  Mainz], 
Mainz  1989,  S.  11-21. 

2  Hans-Jurgen  Lusebrink,  Rolf  Reichardt,  Die  „Bastille".  Zur  Symbolgeschichte  von 
Herrschaft  und  Freiheit,  Frankfurt/M.  1990.  Treffender  lautet  der  Titel  in  der  englischen 
Ubersetzung:  The  Bastille:  a  history  of  a  symbol  of  despotism  and  freedom,  London  1997. 


354  Gerd  van  den  Heuvel 

Mit  seinen  zahlreichen  Studien  zur  Geschichte  und  Funktion  des  koniglichen 
Sondergefangnisses  im  kollektiven  BewuBtsein  Frankreichs  hat  Rolf  Reichardt 
gezeigt,  dass  die  Bastille  als  Symbol  von  Despotismus  und  Freiheit  nicht  nur  in 
der  Nachgeschichte  von  1789  ihre  Wirkung  entfaltete,  sondern  bereits  im  Ancien 
Regime  als  steinernes  Zeugnis  absolutistischer  Willkiirherrschaft  fest  in  der  Vor- 
stellungswelt  breiter  Bevolkerungsschichten  verankert  war,  ja  nur  aus  dieser  Vor- 
geschichte  erklarbar  wird,  warum  ein  vor  der  Revolution  weitgehend  seiner  Funk- 
tion als  Staatsgefangnis  verlustig  gegangenes,  1789  lediglich  noch  mit  einigen 
Geisteskranken  und  gewohnlichen  Kriminellen  besetztes  Gemauer  diese  iiberra- 
gende  Bedeutung  gewinnen  konnte.3 

I. 

Seit  dem  friihen  17.  Jahrhundert  war  die  Bastille  alles  andere  als  ein  norm  ales  Ge- 
fangnis  gewesen.  Zur  Zeit  des  Kardinals  Richelieu,  vor  allem  aber  unter  Ludwig 
XIV.  diente  die  Stadtfestung  als  Herrschaftsinstrument  einer  allmachtig  erschei- 
nenden  Monarchie  sowohl  gegen  rebellische  Adlige,  Verschworer  und  Spione  als 
auch  gegen  Protestanten,  aufmiipfige  Literaten  oder  andere  Kritiker  des  Sonnen- 
konigs.  Zu  den  Personen,  die  durch  konigliche  Siegelbriefe,  die  lettres  de  cachet,  oh- 
ne  konkrete  Begriindung  und  ohne  Gerichtsverfahren  inhaftiert  wurden,  zahlten 
aber  nicht  nur  solche  im  weitesten  Sinne  politische  Gefangene,  sondern  auch  An- 
gehorige  der  oberen  Gesellschaftsschichten,  deren  Lebenswandel  die  Familien- 
ehre  diskreditierte  und  die  auf  Antrag  ihrer  Verwandten  in  der  Bastille  landeten. 
Diese  gerauschlose,  auf  der  Basis  des  Gottesgnadentums  unmittelbar  vom  Konig 
in  vaterlicher  Fiirsorge  gehandhabte  Form  der  Sozialdisziplinierung,  bei  der  of- 
fentliches  Aufsehen  durch  einen  GerichtsprozeB  vermieden  und  die  Anonymitat 
des  Inhaftierten  gewahrt  wurde,  gait  als  nicht  ehrenriihrig  und  war  ein  probates 
Mittel,  auch  hochrangige,  allzu  sehr  iiber  die  Strange  schlagende  Mitglieder  der 
Hofgesellschaft  fiir  eine  gewisse  Zeit  aus  dem  Verkehr  zu  Ziehen.  Die  Bastille  wur- 
de in  diesem  Sinne  auch  als  annexe  de  Versailleshezeichnet}  So  verbrachte  derspa- 
tere  Marschall  von  Richelieu,  GroBneffe  des  beriihmten  Kardinals  und  Ersten 


3  Rolf  Reichardt,  Bastille,  in:  Handbuch  politisch-sozialer  Grundbegriffe  in  Frankreich 
1680-1820,  hrsg.  von  R.  Reichardt  u.  E.  Schmitt  in  Verbindung  mit  G.  van  den  Heuvel  und 
A.  Hofer,  Heft  9,  Miinchen  1988,  S.  7-74;  Ders.,  Prints:  Images  of  the  Bastille,  in:  Robert 
Darnton/ Daniel  Roche  (Hrsg.),  Revolution  in  Print.  The  Press  in  France  1775-1800,  Berke- 
ley 1989,  S.  223-251;  Ders.:  Die  Bildpublizistik  zur  „Bastille"  1715  bis  1880,  in:  Die  Bastille, 
wie  Anm.  1,  S.  23-70. 

4  Vgl.  Claus  Sussenberger,  Grossneffe  des  Kardinals  und  Liebling  der  Frauen.  Mar- 
schall von  Richelieu  1696-1788,  in:  Ders.,  Die  Klaviere  des  Henkers.  Lebenswege  zwischen 
Bastille  und  Guillotine,  Frankfurt/New  York  1997,  S.  97-152,  hier  S.  103. 


Abenteurer  und  Bastille-Haftlinge 


355 


Abb.  1: 

Constantin  de  Renneville, 

Franzbsische  Inquisition, 

Pag.  1,  Ansicht  der  Bastille. 


Ministers  Ludwigs  XIII.,  be- 
reits  als  knapp  Fiinfzehnjahri- 
ger  einige  Zeit  in  der  Bastille, 
vordergriindig,  weil  er  das  ehe- 
liche  Beilager  mit  der  ihm  an- 
getrauten  Nichte  des  Pariser 
Erzbischofs  verweigerte,  tat- 
sachlichjedoch,  weil  ermit  sei- 
ner 1 1  Jahre  alteren  Taufpatin, 
der  von  ihrem  Gemahl  gelang- 
weilten  Herzogin  von  Bur- 
gund  und  Savoyen,  zugleich 
Dauphine  und  damit  kiinftige 
Konigin  von  Frankreich,  im 
Bett  erwischt  worden  war.  Die 
daraufhin  von  seinem  Vater 
beantragte  und  vom  Konig  ge- 
wahrte  Unterbringung  seines 
SproBlings  in  der  Bastille  ge- 
staltete  sich  mit  Dienstperso- 

nal,  einem  eigenen  geistlichen  Erzieher  sowie  je  einem  Sprach-  und  Mathematik- 
lehrer  recht  komfortabel,  war  allerdings  mit  der  Auflage  verbunden,  seine  Ge- 
mahlin  zweimal  wochentlich  in  der  Bastille  zwecks  Schwangerung  zu  empfangen. 
Das  gewiinschte  Ergebnis  blieb  jedoch  aus,  Richelieu  wurde  bald  entlassen,  be- 
wahrte  sich  in  der  koniglichen  Armee  und  setzte  im  iibrigen  sein  gewohntes  Le- 
ben  des  hocharistokratischen  Haudegens  und  amourosen  Abenteurers  fort.  Die 
Bastille  sah  er  noch  zweimal  von  innen:  Zunachst  wegen  eines  Duells,  danach, 
weil  er  dem  Regenten  Philipp  von  Orleans  zwei  seiner  Matressen  streitig  gemacht 
hatte,  denen  aber  auch  wahrend  der  Kerkerhaft  ihres  Geliebten  ein  regelmaBiger 
Besuchsverkehr  in  der  Bastille  gestattet  wurde.5 


i>asSdifafi,u.>0£?niJJiamfoit?&0i  li.ivtfelpj'ruik 


5    Vgl.  ebd.  und  Francois  Ravaisson-Mollien  (Hrsg.),  Archives  de  la  Bastille,  T.  XII,  Pa- 


356 


Gerd  van  den  Heuvel 


Abb.  2: 

Constantin  de  Renneville, 
Inquisition  francoise, 
Pag.  27:  Verhaftung  Rennevilles 
um  4  Uhr  morgens. 


Prasentierte  sich  die  Bastille 
auf  diese  Weise  als  relativ  lax 
gefiihrte  und  wenig  erfolgrei- 
che  Erziehungsanstalt  fur  hoch- 
aristokratische  Libertins,  zu  de- 
ren  Wohlergehen  in  der  Haft 
die  Staatskasse  z.  B.  auch  die 
Kosten  fiir  Prostituierte  iiber- 
nahm,6  so  wurde  die  offentliche 
Wahrnehmung  des  Staatsge- 
fangnisses  seit  dem  friihen  18. 
Jahrhundert  vor  allem  durch 
gedruckte,  in  groBer  Auflage 
verbreitete  Berichte  entlassener 
oder  geflohener  Gefangener  ge- 
pragt,  die  mit  Enthiillungsge- 
schichten  iiberihre  grausamen  Haftbedingungen  europaweit  Aufmerksamkeit  er- 
regten.  Den  groBten  literarischen  Erfolg  landete  Rene-Auguste  Constantin  de 
Renneville,  ein  franzosischer  Protestant  und  Doppelagent,  der  wahrend  des  Spa- 
nischen  Erbfolgekrieges  von  1702  bis  1713  in  der  Bastille  inhaftiert  gewesen  war. 
1715  klagte  er  in  einem  beinahe  500  Seiten  starken  Band  die  unmenschlichen 
Haftbedingungen  in  der  Bastille  an.  23  Kupferstiche  illustrierten  die  Beschrei- 
bung  des  Kerkers,  die  einzelnen  Etappen  von  Rennevilles  eigener  Leidensge- 
schichte  von  der  Verhaftung  bis  zur  Einzelhaft  in  den  fensterlosen  Verliesen  der 
Festung7  sowie  das  Schicksal  von  Mitgefangenen.   Seine  Schrift  L'Inquisition 


ris  1881  (Nachdruck  Genf  1975),  S.  77-85. 

6  Sussenberger,  GroBneffe  des  Kardinals,  wie  Anm.  4,  S.  116  Anm. 

7  Vgl.  Abb.  1-4. 


Abenteurer  und  Bastille-Haftlinge 


357 


Abb.  3: 

Constantin  de  Renneville, 

Inquisition  francoise, 

Pag.  171:  Renneville  wild 

in  ein  Zimmer  mit  zwei 

verwahrlosten  Gefangenen 

gestofien,  die  ihn  aus 

seiner  Ohnmacht  retten. 


frangoise  ou  I'Histoire  de  la  Ba- 
stille, die  gleichzeitig  auch 
in  englischer  und  deutscher 
Ubersetzung  publiziert  wur- 
de,8  verglich  die  Zustande  in 
diesem  Staatsgefangnis  mit 
der  portugiesisch-spanischen 
Inquisition  in  Goa,  ja  hielt 
letztere  noch  fur  milde  gegen- 
iiber  der  Willkiirherrschaft  in 
der  Bastille.  Die  Gefangenen 
wiirden  vom  Gefangnisper- 
sonal  bestohlen,  die  medi- 
zinische  Versorgung  sei  kata- 

strophal,  am  schlimmsten  seijedoch  die  Habgierund  Grausamkeit  des  Komman- 
danten  Bernaville,  der  die  vom  Konig  fur  jeden  Insassen  gezahlten  Verpflegungs- 
gelder  zum  groBten  Teil  unterschlage,  ihnen  schlechtes  Essen  vorsetze  und  seine 
Rachsucht  auslebe,  indem  er  die  Gefangenen  grundlos  in  die  beriichtigten  cachots, 
die  unterirdischen  Verliese,  sperren  lasse.  Er  selbst,  Renneville,  habe  dort  im Jah- 
re  1709  lange  Zeit  bei  Wasserund  Brot  zugebracht,  auf  verfaultem  Stroh  liegend 


8  Rene-Auguste  Constantin  de  Renneville,  L'Inquisition  frangoise  ou  l'histoire  de  la 
Bastille,  Amsterdam  1715;  engl.:  The  French  inquisition:  or,  The  history  of  the  Bastille  in  Pa- 
ris, the  state-prison  in  France:  in  which  is  an  account  of  the  manner  of  the  apprehending  of 
persons  sent  thither:  and  of  the  barbarous  usage  they  meet  with  there.  [.  .  .]  Translated  from 
the  original  printed  in  Amsterdam,  London  1715;  deutsch:  Entlarvte  Franzosische  Inquisiti- 
on oder  Geschichte  der  Bastille,  Teil  1,  Niirnberg  1715. 


358 


Gerd  van  den  Heuvel 


Abb.  4: 

Constantin  de  Renneville, 

Inquisition  frangoise, 

Pag.  466:  Renneville  in  einem 

von  Ratten  bevolkerten 

unterirdischen  cachot. 


und  von  unzahligen  Ratten 
gequalt,  weil  ihm  Komplizen- 
schaft  beim  Ausbruch  eines 
anderen  Haftlings,  des  Abbe 
de  Bucquoy,  vorgeworfen  wor- 
den  war.  Die  Anprangerung 
dieser  skandalosen  Institution, 
so  fiihrte  Renneville  weiter 
aus,  habe  universelle  Bedeu- 
tung  und  diene  alien  Men- 
schen,  denn  er  habe  wahrend 
seiner  elfjahrigen  Haftzeit  An- 
gehorige  aller  Lander  und 
Kontinente,  aller  Hautfarben  und  jeden  Standes  in  dieser  schauderhaften  Hdhle 
kennengelernt,  Europaer,  Asiaten  und  Afrikaner,  einfache  Arbeiter  und  Pralaten, 
Schuhputzerund  Minister,  Greise  und  Kinder,  Kriminelle  und  Unschuldige.9  Pa- 
thetisch  warnte  erarglose  Auslander,  die  nichtsahnend  Frankreich  und  besonders 
Paris,  die  lieblichste  Stadt  der  Welt  besuchten,  dass  die  Stadt  in  ihren  Grenzen  die  Ba- 
stille undBicetre  beherbergt,  das  Fegefeuer  und  die  Nolle  dieser  Welt,  wo  auch  unschuldige 
Auslander  leicht  landen  kdnnen.10 

Renneville  hatte  das  Thema  seines  Lebens  gefunden.  Er  vermarktete  sein 
Schicksal  als  Bastille-Haftling  in  einer  Sammlung  von  Gedichten,  verfaJSt  in  den 


9  Vgl.  ebd.  (frz.  Ausgabe),  Preface,  S.  Xllf.  u.  XVIIf. 

10  Ebd.,  S.  XVIII. 


Abenteurer  und  Bastille-Haftlinge  359 

Greueln  der  Pariser  Bastille11  und  in  drei  weiteren  Banden,  denen  noch  ein  Buch 
iiber  die  Praktiken  der  katholischen  Inquisition  in  Indien  folgte.12  Sein  Bericht 
iiber  die  Haftjahre  besteht  zum  einen  aus  detaillierten  Aufzeichnungen,  die  Aus- 
kunft  geben  iiber  sein  alltagliches,  zumindest  bis  1709  recht  ertraglich  anmuten- 
des  Leben  in  der  Bastille  mit  Vier-Gange-Menus,  gutem  Wein,  geraumigen,  im 
Winter  ausreichend  geheizten  Raumlichkeiten  und  zahlreichen  sozialen  Kontak- 
ten  der  Haftlinge  untereinander,  zum  anderen  aus  zumeist  von  anderen  kolpor- 
tierten  Horrorgeschichten  iiber  die  Behandlung  widerspenstiger  Haftlinge  und 
allgemeinen  Anklagen  gegen  das  Gefangnisregime  unterdem  GouverneurBerna- 
ville,  Schilderungen,  die  dazu  angetan  waren,  Schauder  beim  Leser  iiber  die  Un- 
geheuerlichkeit  des  Staatsgefangnisses  und  die  Unertraglichkeit  der  einzelnen 
Schicksale  zu  erwecken.  Die  Bastille,  so  resiimierte  Renneville,  ist  ein  sozialer  Tod, 
der  einen  in  jedem  Augenblick  den  natiirlichen  Tod herbeisehnen  lafSt.  Von  zehn  Gefange- 
nen  stiirben  drei,  drei  begingen  Selbstmord,  drei  wiirden  wahnsinnig  und  nur  ei- 
ner  konne  von  Gliick  sagen,  wenn  er  durch  Zufall  mit  klarem  Verstand  entlassen 
werde.13 

Dem  publizistischen  Erfolg  Rennevilles  hatte  bereits  ein  weiterer  Gefangener 
vorgearbeitet,  dessen  Lebensgeschichte  noch  abenteuerlicher  war  als  die  des  pro- 
testantischen  Doppelagenten,  zumal  ihm  etwas  gelungen  war,  was  eigentlich  als 
unmoglich  gait:  die  Flucht  aus  der  Bastille. 

Jean-Albert  d'Archambaud,  Comte  und  Abbe  de  Bucquoy,  hatte  sich  in  der 
Nacht  vom  4.  auf  den  5.  Mai  1709  in  einer  halsbrecherischen  Aktion  aus  einem 
der  Gefangnistiirme  abgeseilt  und  sich  gliicklich  ins  Ausland  gerettet,  zunachst  in 
die  Schweiz,  dann  nach  Holland,  schlieBlich  nach  Deutschland.  Einen  ersten  Be- 
richt iiber  den  abenteuerlichen  Ausbruch  veroffentlichte  er  unter  Mithilfe  der 
Madame  Du  Noyer,  einer  erfolgreichen  Herausgeberin  von  Skandal-  und 
Klatschgeschichten,14  bereits  1710  unter  zwei  unterschiedlichen  Titeln  in  Frank- 
furt.15 Wirklich  bekannt  wurde  sein  Husarenstiick  jedoch  in  einer  breiteren 
Offentlichkeit  durch  weitere  Ausgaben  seines  Lebens-  und  Fluchtberichts,  den 
Madame  Du  Noyer  im  Jahre  1719  in  Form  eines  fiktiven  Briefwechsels  zweier 


11  R.-A.  Constantin  de  Renneville,  Recueil  de  poesies  chretiennes  composees  dans  les 
horreurs  de  la  Bastille  de  Paris,  Den  Haag  1715. 

12  Der  letzte  Band  erschien  postum  1724. 

13  La  prison  de  la  Bastille  est  une  mort  civile,  qui  fait  desirer  la  mart  naturelle  a.  chaque  instant. 
Constantin  de  Renneville,  Inquisition,  S.  LXXIII. 

14  Vgl.  Dictionnaire  de  biographie  francaise,  T.  12,  1970,  Sp.  284-286. 

15  Marguerite  Petit  Du  Noyer /Jean-Albert  d'Archambaud,  comte  de  Bucquoy,  L'Evasi- 
on  de  lAbbe  de  Bucquoy  hors  de  la  Bastille:  ou  evenemens  des  plus  rares,  Francfort  1710; 
Diess.,  L'Evasion  de  l'abe  de  Busquoit  hors  de  la  Bastille  en  forme  de  letres,  melee  de  cir- 
constances  curieuses,  qui  regardent  en  particulier  cette  prison  et  de  plusieurs  reflexions  cri- 
tiques, morales  et  politiques.  [.  .  .],  Francfort  1710. 


360 


Gerd  van  den  Heuvel 


edsr  *        |l 


U3a/titf±  zuSarij- 


TlttUti 


Abb.  5: 
Bucquoy, 
Die  so  genannte  Hfille 


Frontispiz. 


Damen,  die  sich  iiber 
die  Abenteuer  des  Gra- 
fen  austauschten,  so- 
wohl  auf  Franzosisch 
als  auch  in  deutscher 
Ubersetzung  und  ei- 
ner  zweisprachigen  Pa- 
rallelausgabe  auf  den 
Markt  warf.16  Ahnlich 
wie  von  Constantin  de 
Renneville,  der  im  zweiten  Band  seiner  Inquisition  frangoise  iiber  den  erfolgreichen 
Fluchtversuch  berichtete,  wird  die  Bastille  von  Bucquoy  als  Hoik  der  Lebendigen 


16  Diess.,  Evenement  des  plus  rares,  ou  l'histoire  du  sieur  abbe  comte  de  Bucquoy,  singu- 
lierement  son  evasion  du  Fort  l'Eveque  et  de  la  Bastille,  avec  plusieurs  de  ses  ouvrages,  vers  et 
prose,  et  particulierement  la  game  des  femmes,  o.  O.  1719;  Diess.,  Die  so  genannte  Holle  der 
Lebendigen:  das  ist  die  Welt-beruffene  Bastille  zu  Paris,  woraus  sich  der  bekannte  Abt,  Graf 
von  Buquoy,  durch  seine  kluge  und  hertzhafften  Anschlage  gliicklich  mit  der  Flucht  befreyet 
und  errettet;  nebst  ietzt-genannten  Abts  Lebens-Lauff,  in  einer  wahrhafften  Beschreibung 
vorgestellet,  und  anietzo  aus  dem  Frantzosischen  iibersetzet;  deme  zugleich  eine  Nachricht 
von  der  Bastille  und  ihren  Befehlshabern  mit  beygefuget  ist,  o.O.  1719;  Evenement  des  plus 
rares,  ou  l'Histoire  du  Sr.  abbe  comte  de  Bucquoy,  singulierement  son  evasion  du  Fort- 
l'Eveque  et  de  la  Bastille,  l'allemend  a  cote,  revue  et  augmentee.  2e  edition,  avec  plusieurs  de 


Abenteurer  und  Bastille-Haftlinge  361 

geschildert,  wo  Marc-Rene  de  Voyer  d'  Argenson,  Generallieutenant  der  Pariser 
Polizei,  und  Charles  Le  Fourniere  de  Bernaville,  seit  dem  12.  November  1708 
Gouverneur  des  Gefangnisses,  als  Teufel  herrschen  und  in  einem  Kupferstich 
auch  als  solche  iiber  der  Bastille  schwebend,  dem  Abgrund  der  Hollen,  dargestellt 


II. 

Constantin  de  Renneville  und  den  Grafen  Bucquoy  verband  nicht  nurdas  Schick- 
sal  der  Haft  in  der  Bastille  und  die  Rolle  als  Kronzeugen  fur  die  unmenschlichen 
Zustande  im  beriihmtesten  franzosischen  Kerker,  beiden  Autoren  war  auch  ge- 
meinsam,  dass  sie  bald  nach  ihrer  Entlassung  bzw.  Flucht  Zugang  zum  kurfiirstli- 
chen  Hof  Georg  Ludwigs  in  Hannover  erlangten,  der  nach  seiner  Thronbestei- 
gung  als  Georg  I.  in  England  weiterhin  die  prominenten  Bastille-Opfer,  aber 
nicht  nur  diese  beiden,  protegierte  und  finanziell  unterstiitzte.  Eine  solche  Fiirsor- 
ge  erstaunt  auf  den  ersten  Blick,  lieBen  doch  Herkunft  und  Lebenslauf  der  beiden 
Enthiillungsautoren  keineswegs  die  personlichen  Voraussetzungen  erkennen,  die 
normalerweise  gefordert  waren,  um  an  einem  der  ersten  Hofe  Deutschlands  Be- 
achtung  und  Unterhalt  zu  finden. 

R.-A.  Constantin  de  Renneville,18  geboren  um  1650,  entstammte  eineraltadeli- 
gen  Familie  des  Anjou,  hatte  wie  seine  zwolf  alteren  Briider  die  Militarlaufbahn 
eingeschlagen  und  war  -  wohl  um  1689/90  -  als  Vertrauter  des  Intendanten  von 
Rouen,  Michel  de  Chamillart,  zum  Steuer-  und  Domanendirektor  [directeur  des 
aides  et  domaines)  in  Carentan  (Normandie)  berufen  worden.  Angeblich,  um  in 
Frieden  sein  protestantisches  Bekenntnis  ausiiben  zu  konnen,  das  er  erst  kurz  zu- 
vor  angenommen  hatte,  wahrscheinlich  jedoch  als  franzosischer  Agent,  der  Ver- 
sailles mit  geheimen  Informationen  versorgen  sollte,  siedelte  Renneville  1699  mit 
seiner  Familie  nach  Holland  iiber,  wurde  aber  bereits  zwei  Jahre  spater  von  sei- 
nem  Gonner,  dem  inzwischen  zum  Finanz-  und  Kriegsminister  aufgestiegenen 
Michel  de  Chamillart,  nach  Versailles  zuriickgerufen.  Neben  der  Zusage  einer 
jahrlichen  Pension  von  1.000  livres  stellte  ihm  der  Minister  die  nachste  freiwer- 


ses  ouvrages  vers  et  proses,  et  particululierement  [sic]  la  «Game  des  femmes»,  chezjean  de  la 
Franchise,  rue  de  la  Reforme,  a  l'Esperance,  a  Bonnefoy,  1719.  -  Eine  Neuausgabe  der  franzo- 
sischen Fassung  erschien  1866  u.d.T.  L'Histoire  du  sieur  abbe-comte  de  Bucquoy,  singuliere- 
ment  son  evasion  du  For  l'Eveque  et  de  la  Bastille,  par  Madame  du  Noyer,  Paris  1866  (Nach- 
druck  Saint-Jean  d'Aulps  1989). 

17  Vgl.  Abb.  5. 

18  Das  Folgende  nach  Biographie  universelle,  ancienne  et  moderne,  T.  37,  Paris  1824, 
S.  357-359,  und  Alexis  Guerin,  L'Etoile  aventuriere  ou  la  vie  de  PAbbe  de  Bucquoy,  Saint- 
Jean  dAulps  1998,  passim. 


362  Gerd  van  den  Heuvel 

dende  Stelle  im  Finanzministerium  in  Aussicht.  Dem  erhofften  Aufstieg  folgte  der 
jahe  Fall,  dessen  nahere  Umstande  im  Dunkeln  bleiben.  Sei  es,  dass  Renneville 
iiberfiihrt  wurde,  in  den  Niederlanden  nicht  nur  fur  Frankreich,  sondern  als  Dop- 
pelagent  gearbeitet  zu  haben,  sei  es,  dass  er  als  Bauernopfer  bei  einer  Hofintrige 
gegen  den  zwar  honorigen,  aber  inkompetenten  Minister  Chamillart  herhalten 
muBte,  sei  es,  dass  einige  Frankreich-kritische  Gedichte  Rennevilles,  die  dem  Hof 
zugespielt  wurden,  ausschlaggebend  fur  das  plotzliche  MiBtrauen  gegen  ihn  wa- 
ren:  Constantin  de  Renneville  wurde  am  16.  Mai  1702  auf  Befehl  des  Kanzlers 
Colbert  de  Torcy  verhaftet,  in  die  Bastille  gebracht  und  dort  bis  nach  dem  Frie- 
densschluB  von  Utrecht  festgehalten.  Die  weiteren  Stationen  seines  Lebensweges 
nach  derEntlassung  am  16.Juni  1713  sind  nurpunktuell  zu  ermitteln.  Am  4.  Janu- 
ar  1714  berichtet  Kurfiirstin  Sophie  an  Leibniz  in  Wien,  dass  man  die  Ankunft  des 
pauvre  Constantin  in  Begleitung  eines  anderen  ehemaligen  Bastille-Haftlings,  des 
Pere  de  Brandebourg  (iiber  dennoch  zu  reden  sein  wird),  in  Hannover  erwarte.19  Im 
September  1714  trifft  Renneville  im  Haag  mit  dem  hannoverschen  Kurfiirsten 
Georg  Ludwig  zusammen,  der  auf  dem  Weg  nach  England  ist,  um  gemaB  der  Suk- 
zessionsakte  von  1701  dort  als  Georg  I.  die  Krone  zu  iibernehmen.  Wahrschein- 
lich  folgt  Renneville  dem  Monarchen  nach  London.  Denn  nach  Rennevilles  eige- 
nen  Angaben  wurde  dort  von  gedungenen  Schergen  ein  Mordanschlag  auf  ihn 
veriibt,  den  er  mit  Gliick  heil  iiberstanden  habe.  Ob  dieser  angeblich  von  der 
franzosischen  Krone  initiierte  Anschlag  tatsachlich  stattgefunden  hat  oder  die 
Schilderung  Teil  der  Marketingstrategie  fur  seine  Bastille-Berichte  war,  muB  of- 
fenbleiben.  Wie  lange  Renneville  in  England  blieb  und  ob  er  noch  einmal  nach 
Hannover  kam,  bevor  er  eine  Offiziersstelle  im  Heer  des  Landgrafen  Karl  von 
Hessen-Kassel  antrat,  in  dessen  Diensten  er  am  13.  Marz  1723  starb,  ist  aus  den 
vorliegenden  Quellen  ebenfalls  nicht  ersichtlich.  In  jedem  Fall  scheint  Renne- 
ville sich  in  den  ersten Jahren  nach  seiner  Freilassung  der  Unterstiitzung  der  Kur- 
fiirstin Sophie  bzw.  ihres  Sohnes  erfreut  zu  haben.  Im  Georg  I.  gewidmeten  und 
mit  dessen  Portrat  als  Frontispiz  versehenen  ersten  Band  der  Inquisition  francoise 
bezeichnet  sich  Renneville  als  dessen  Untertan.20 

Ungewohnlich  und  hinsichtlich  des  Wahrheitsgehalts  nicht  in  alien  Einzelhei- 
ten  nachpriifbar  stellt  sich  auch  der  Lebenslauf  des  Grafen  Bucquoy  dar.21  1671 


19  Vgl.  Onno  Klopp  (Hrsg.),  Die  Werke  von  Leibniz,  Reihe  I,  Bd.  9,  Hannover  1873, 
S.  420  f. 

20  Im  Goldschnitt-Exemplar  der  Gottfried  Wilhelm  Leibniz  Bibliothek/Niedersachsi- 
sche  Landesbibliothek  (GWLB)  findet  sich  auf  der  letzten  Seite  eine  handschriftliche  Notiz, 
mit  der  sich  der  Autor  fur  die  Fehler  und  Eigenmachtigkeiten  des  Buchhandlers  entschul- 
digt.  Gleichzeitig  werden  im  gesamten  Band  die  offensichtlichen  Fehler  von  derselben  Hand 
interlinear  korrigiert. 

21  Guerin,  Bucquoy,  wie  Anm.  18. 


Abenteurer  und  Bastille-Haftlinge  363 

oder  1672  wahrscheinlich  in  Liittich  als  Sohn  eines  in  spanischen  Diensten  stehen- 
den  Offiziers  geboren,22  entstammte  Bucquoy  einer  zwar  alten,  aber  ins  Abseits 
geratenen  franzosischen  Adelsfamilie,  die  um  1650  wahrend  der  Fronde  auf  das 
falsche  Pferd,  namlich  auf  die  opponierenden  Prinzen  und  auf  Spanien  gesetzt 
hatte.  Seit  1682  Vollwaise,  wachst  Jean  Albert  d'Archambaud  comte  de  Bucquoy 
bei  einer  Pflegefamilie  in  Paris  auf,  geht  mit  13  Jahren  zum  Militar,  sucht  mit  18 
nach  einem  religiosen  Erweckungserlebnis  zunachst  Kontakt  zu  den  Jesuiten, 
wird  dann  aber  Kartausermonch  und  schlieBt  sich  endlich,  getrieben  von  dem 
Wunsch,  der  Welt  vollig  zu  entsagen,  den  Trappisten  an.  Nach  nur  vier  Monaten 
muB  der  ebenso  um  sein  Seelenheil  besorgte  wie  mitteilsame  Monch  jedoch  er- 
kennen,  dass  die  strengen  Ordensregeln,  insbesondere  das  Schweigegeliibde, 
liber  seine  Krafte  gehen.  Bucquoy  kehrt  nach  Paris  zuriick,  vagabundiert  einige 
Zeit  durch  Frankreich,  studiert  um  1690  amjesuitenseminarzu  Rouen  und  spielt 
-  zuriick  in  Paris  -  mit  dem  Gedanken,  in  Irland  fur  den  entmachteten  Stuartkonig 
Jakob  II.  zu  kampfen  oder  alternativ  in  der  Chinamission  der  Jesuiten  aktiv  zu 
werden.  Statt  in  die  weite  Welt  zu  gehen,  entscheidet  er  sich  jedoch  dafiir,  seine 
personliche  Sinnsuche  in  der  Heimat  fortzusetzen  und  eine  Gemeinschaft  von 
Geistlichen  zu  griinden,  die  es  sich  zur  Aufgabe  machen  soil,  die  Wahrheit  der 
christlichen  Religion  zu  beweisen.  Auch  dieses  Vorhaben  gibt  Bucquoy  nach  kur- 
zer  Zeit  wieder  auf,  um  kurz  vor  derjahrhundertwende  als  Ordensgeistlicher  eine 
Pfrunde  in  Noyen-sur-Seine  anzunehmen,  die  er  nach  allerlei  Querelen  mit  dem 
ortlichen  Grundherrn  drei  Jahre  spater  jedoch  wieder  quittieren  muB.  Im  Jahre 
1706  besinnt  sich  der  gescheiterte  Geistliche  erneut  seiner  militarischen  Talente 
und  faBt  den  EntschluB,  ein  Regiment  aufzustellen,  das  nicht  nur  ihn  reich  ma- 
chen, sondern  auch  dazu  beitragen  soil,  Frankreich  nach  der  verlorenen  Schlacht 
bei  Hochstedt  1704  wieder  auf  die  Beine  zu  helfen.  Zu  diesem  Zweck  unternimmt 
er  eine  Reise  nach  Burgund,  gerat  aber  dort  Ende  August/Anfang  September 
1706  ins  Visier  der  Polizei,  als  er  in  einem  Gasthof  vehement  eine  Bande  von  Salz- 
schmugglern  verteidigt,  die  gerade  vom  koniglichen  Militar  zerschlagen  worden 
war.  Wie  gewohnt  schwadronierend  gibt  er  zum  Besten,  dass  dieses  Gefecht  mit 
ihm  als  Chef  der  Salzschmuggler  anders  ausgegangen  ware.  Im  iibrigen  wettert  er 
gegen  die  verhaBte  Salzsteuer  (gabelle) ,  brandmarkt  den  ,Despotismus'  insgesamt 
und  entwickelt  ganz  nebenbei  noch  Plane  fur  eine  bessere  Staatsverfassung  und 


22  Die  Altersangaben  von  und  iiber  Bucquoy  variieren.  Wahrend  die  meisten  biographi- 
schen  Lexika  das  Geburtsdatum  1650  angeben,  macht  Guerin,  Bucquoy,  wie  Anm.  18,  S.  25, 
eine  Geburt  um  1671/72  wahrscheinlich.  Bucquoy  selbst  bezeichnet  sich  in  einer  Schrift 
vom  16.  Juli  1738  als  iiber  neunundsiebzig-jahrig,  was  ein  Geburtsdatum  um  1659  bedeuten 
wiirde.  Vgl.  Jean-Albert  dArchambaud,  comte  de  Bucquoy,  A  s.  Exe.  Mr.  Le  G.  M.  de  R.  ou 
a  la  faveur  d'un  nouveau  trait  de  l'audace  du  maitre  compagnon  jardinier  d'Herrenhausen 
[.  .  .],  Herrenhausen  1739.  Vgl.  dazu  unten  S.  383. 


364  Gerd  van  den  Heuvel 

ein  alternatives  Regierungsprogramm.  Die  ortlichen  Behorden  verhaften  ihn  um- 
gehend  als  vermeintlichen  Anfiihrer  der  Bande.  Vom  Gefangnis  im  burgundi- 
schen  Sens  wird  er  z weeks  weiterer  Untersuchung  der  Angelegenheit  nach  Paris  in 
das  Fort  l'Eveque,  eine  Nebenstelle  der  Bastille  gebracht.  Aber  auch  dort  halt  es 
den  umtriebigen  Abenteurernurein  paarTage.  MitHilfe  eines  selbstgelegten  Feu- 
erslaBt er  seine  ZellentiirinFlammen  aufgehenund  seilt  sich  anschlieBendmit  ei- 
nem  aus  Laken  gefertigten  Strickiiberfiinf  odersechs  Etagen  in  die  Freiheit  ab.  Es 
gelingt  Bucquoy,  bis  zum  Friihjahr  1707  unerkannt  im  Untergrund  zu  leben, 
schlieBlich  wird  er  aber  Anfang  Mai  in  La  Fere,  etwa  100  km  nordostlich  von  Pa- 
ris, aufgegriffen  und  im  dortigen  Gefangnis  inhaftiert,  ohne  dass  man  um  seine 
Identitat  weiB.  Abermals  beweist  der  hyperaktive  Graf  seinen  unbandigen  Frei- 
heitsdrang,  als  ihm  Anfang  Juni  im  dritten  Anlauf  der  Ausbruch  aus  dem  Kerker 
gelingt,  indem  er  mit  einer  verwegenen  Kletterei  beim  Hofgang  die  Gefangnis- 
mauer  iiberwindet  und  den  angrenzenden  modrigen  Wassergraben  durch- 
schwimmt.  Hier  endet  dann  allerdings  die  Flucht.  Bucquoy  wird  von  den  herbei- 
geeilten  Wachen  gestellt  und  umgehend  in  das  vermeintlich  ausbruchsichere,  be- 
riihmte  Staatsgefangnis  der  Hauptstadt,  die  Bastille,  gebracht.  Dort  bemiiht  sich 
die  Pariser  Polizei,  Naheres  iiber  seine  Identitat  in  Erfahrung  zu  bringen.  Man  halt 
ihn  fur  einen  Abenteurer  und  Gliicksritter,  der  seine  adlige  Herkunft  nur  vorspiele,23 
moglicherweise  fiir  einen  Spion  oder  Mann  mit  dunklen  Absichten,  den  man  am 
besten  bis  zum  FriedensschluB  in  der  Bastille  vergessen  sollte.24 

Auch  dort  hat  der  Abbe  und  Comte  de  Bucquoy  nicht  die  Absicht,  seinen 
sprunghaften  und  abwechslungsreichen  Lebenswandel  als  geduldigerHaftling  zu 
verstetigen.  Durch  allerlei  Finessen  und  das  Simulieren  von  Krankheiten  und  Ge- 
brechen  gelingt  es  ihm,  in  die  verschiedensten  Zellen  derFestung  zu  gelangen,  bis 
er  im  Friihjahr  1709  in  ein  Turmzimmer  verlegt  wird,  das  fiir  den  Ausbruchver- 
such  geeignet  erscheint.  Zweckdienliche  Feilen  zum  Durchsagen  der  Fenstergit- 
ter  hatte  Bucquoy  wohl  gleich  bei  seiner  Einlieferung  mitgebracht.  Zusammen 
mit  zwei  weiteren  Zelleninsassen  gliickt  ihm  die  Flucht  aus  der  Festung.  Die  bei- 
den  anderen  Ausbrecher  werden  jedoch  sofort  wieder  gefaBt;  ein  weiterer  Mit- 
haftling  muB  zuriickbleiben,  weil  er  aufgrund  seiner  Korperfiille  nicht  durch  die 
Fensteroffnung  paBt  -  was  nicht  unbedingt  fiir  eine  schlechte  Ernahrungslage  der 
Gefangenen  in  dieser  „Holle  der  Lebendigen"  spricht. 


23  Cet  homme  n'a  aucunes  manures  de  qualite;je  crois  que  s'il  n'est pas  espion,  il  a  de  mauvaises 
affaires sur  les  bras.  [.  .  .]  On  croit  ici que  e'est  un  aventurier,  chevalier d'industrie  [.  .  .].  M.Jourdieu, 
Pariser  Polizeilieutenant  an  M.  d'Ormesson,  Intendant  von  Soissons.  D'Argenson  an  Pont- 
chartrain,  26.  Juli  1707.  Vgl.  Ravaisson-Mollien,  Archives,  wie  Anm.  5,  T.  XI,  S.  326f. 

24  Jepense  done  que  ce prisonnier  est  un  de  ceux  que  Von  doit  outlier  a  la  Bastille,  jusqu'd  lapaix. 
D'Argenson  an  Pontchartrain,  26.  Juli  1707.  Ebd.,  S.  337. 


Abenteurer  und  Bastille-Haftlinge  365 

Bucquoy  irrt  zunachst  einige  Zeit  in  der  Schweiz25  und  in  Siiddeutschland  um- 
her,  geht  dann  aber  nach  den  gescheiterten  Friedensgesprachen  zwischen  Frank- 
reich  und  den  Niederlanden  in  Geertruidenberg  (1710) 26  nach  Holland,  um  im 
diplomatischen  Umfeld  weiter  gegen  Frankreich  zu  arbeiten.27  Im  August  1711 
gelangt  Bucquoy  an  der  Seite  des  Generals  Matthiasjohann  von  der  Schulenburg, 
Bruder  der  kurfiirstlichen  Matresse  Ehrengard  Melusine,  der  fiinf  Jahre  spater  als 
Feldmarschall  der  Republik  Venedig  bei  der  Verteidigung  von  Korfu  gegen  die 
Tiirken  zu  Ruhm  gelangen  sollte,  zunachst  an  den  sachsischen  Hof  in  Dresden, 
wenig  spater  dann  nach  Hannover.  Kurfiirstin  Sophie  ist  von  dem  possirlichen  abt 
von  calitet,  [.  .  .]  der  ihmer schreyt  undt[.  .  .]  recht gutte  sachen  [sagt],  sogleich  angetan. 
Er  ist  aus  der  Bastille  ausgerissen,  da  er  stundenlang  von  erzellen  kan  ohne  aufhoren,  so  be- 
richtet  sie  ihrerNichte,  derRaugrafin  Luise  in  Frankfurt.28  Auch  Sophies  jiingster 
Sohn  kann  die  besondere  Begabung  des  Fliichtlings  bestatigen:  Niemals  zuvor habe 
ich  einen  Menschen  mit  einem  derartigen  RedefluJS  gesehen,  so  schreibt  Herzog  Ernst 
August  an  seinen  Freund  Karl  Dietrich  von  Wendt.29Damit  sind  die  ausschlagge- 
benden  Vorziige  des  Neuankommlings  bereits  benannt:  Er  besitzt  Unterhaltungs- 
wert  als  wortreicher  Interpret  seiner  eigenen  Biographie,  und  er  bietet  Gesprachs- 
stoff,  um  sich  mit  anderen  iiber  den  ungewohnlichen  Zeitgenossen  auszutau- 
schen.  Als  eine  der  ersten  erfahrt  Liselotte  von  der  Pfalz,  deren  Leben  am 
franzosischen  Hof  als  Schwagerin  Ludwigs  XIV.  im  wesentlichen  aus  derbriefli- 
chen  Verbreitung  und  Entgegennahme  von  Klatsch  und  Tratsch  besteht,  von  der 
Ankunft  des  Bastille-Fliichtlings,  der  den  Bastille-Kommandeurblamiert  hat  und 
nach  dem  die  franzosische  Polizei  weiterhin  fahndet.  Sie  selbst  hat  den  Namen 
noch  nie  gehort  und  kann  kaum  glauben,  dass  man  aus  der  Bastille  entkommen 
kann:  die  fenster seindt  klein,  die  thilrm  abscheulich  hoch;  diefenstern  seindt  alle gegittert; 
es  ist  also  nicht  zu  begreiffen,  wie  er  es  mufi  gemacht  haben.  In  jedem  Fall  begliick- 
wiinscht  sie  ihre  Tante,  etwas  Abwechslung  und  Unterhaltung  durch  diesen 
Abenteurer  zu  erhalten,  dessen  sonderlichen,  extrovertierten  und  iiberspannten 


25  Dort  verfaBt  er  mit  Widmung  fur  den  englischen  Botschafter  seine  Reflexions  d'un 
prisonnier  de  la  Bastille  sur  la  vie  de  ce  monde.  Vers,  Bern  [ca.  1710]. 

26  Vgl.  Georg  Schnath,  Geschichte  Hannovers  im  Zeitalter  der  neunten  Kur  und  der 
englischen  Sukzession  1674-1714,  Bd  3,  Hildesheim  1978,  S.  709-716. 

27  Vgl.  Guerin,  Bucquoy,  wie  Anm.  18,  S.  267-274. 

28  Vgl.  Sophies  Brief  vom  27.  August  1711  in:  Eduard  Bodemann  (Hrsg.),  Briefe  der  Kur- 
fiirstin Sophie  an  die  Raugrafinnen  und  Raugrafen  zu  Pfalz,  Leipzig  1888  (Neudruck  Osna- 
briickl966),Nr.  360,  S.  321. 

29  A  mon  retour  j'ais  trouve  icy  le  general  Choulenbourg,  qui  a  ammene  un  sertain  abbe,  qui  s'est 
sauve  de  la  Bastille.  Je  n'ais  jamais  veu  un  telflus  de  bouche,  qu'a  sethomme.  Vgl.  Erich  Graf  Kiel- 
mansegg  (Hrsg.),  Briefe  des  Herzogs  Ernst  August  zu  Braunschweig- Luneburg  an  Johann 
Franz  Diedrich  von  Wendt  aus  denjahren  1703  bis  1726,  Hannover /Leipzig  1902,  Nr.  Ill 
(29.  August  1711),  S.  252. 


366  Gerd  van  den  Heuvel 

Charakter  Sophie  offensichtlich  in  ihrem  nicht  iiberlieferten  Brief  angedeutet  hat- 
te:  Ich  habe  allezeit  hdren  sagen:  ein  nar  allezeit  mehr  verstandt  hatt,  alJS  ein  sot  [Dumm- 
kopf];  dieser  abbe  mufi  ein  rar  personage  sein.30  In  Begleitung  Schulenburgs  wohnt 
Bucquoy  den  Kronungsfeierlichkeiten  fur  Karl  VI.  in  Frankfurt  bei,  nachdem  er 
zuvor  Kurfiirstin  Sophie  als  Unterhalter  in  die  wildtnuf  von  der  Gher  [Gohrde]  be- 
gleitet  hatte.31 

Fiir  den  rar personnage  interessierte  sich  auch  Leibniz.  Denn  auch  in  die  Rolle 
des  Philosophen  vermochte  Bucquoy  zu  schliipfen.  Bereits  in  der  Bastille  hatte  er 
sich  seiner  Kontakte  zum  beriihmtesten  Historiker  des  Benediktinerordens,  Jean 
Mabillon,  und  zu  dem  Cartesianer  Nicolas  Malebranche  geriihmt  und  sich  mit 
Akademie-Preisschriften,  einem  vollig  neuen  philosophischen  System  und  seiner 
eingehenden  Beschaftigung  mit  Konfuzius  gebriistet.32  Leibniz  wechselte  einige 
Briefe  mit  dem  Bastille-Fliichtling33  und  war  sich  nicht  zu  schade,  die  metaphysi- 
schen  Spekulationen  des  Grafen,  speziell  dessen  Versuch  eines  Gottesbeweises, 
im  November  1711  einer  relativ  moderaten  und  wohlwollenden  Kritik  zu  unterzie- 
hen.34  Spatere  Eskapaden  Bucquoys  am  hannoverschen  Hof  veranlaBten  Leibniz 
dann  allerdings  eher  zu  ironischen  Stellungnahmen.35 

Der  Abbe  de  Bucquoy  war  nicht  der  erste  und  sollte  nicht  der  letzte  ehemalige 
Bastille-Gefangene  gewesen  sein,  der  in  Hannover  Anteilnahme  erregte  und  Auf- 
nahme  fand.  Bereits  imjahre  1702  warderlangjahrige  schottische  Leibniz-Korre- 
spondent  Thomas  Burnett  of  Kemney,  ein  seit  Mitte  der  1690er  Jahre  gern  gese- 
hener  Gast  und  Unterhalter  an  den  kurfurstlichen  Hofen  in  Berlin  und  Hanno- 
ver,36 wahrend  seiner  Frankreichreise  in  Paris  als  angeblicher  Spion  verhaftet 
und  in  die  Bastille  gesperrt  worden.  Er  war  zu  Beginn  des  Spanischen  Erbfolge- 
krieges  den  Polizeibehorden  als  ein  etwas  zu  lauthals  politisierender  und  in  reli- 


30  Vgl.  Eduard  Bodemann  (Hrsg.),  Aus  den  Briefen  der  Herzogin  Elisabeth  Charlotte 
von  Orleans  an  die  Kurfiirstin  Sophie  von  Hannover,  Bd  1-2,  Hannover  1891,  Bd  2,  Nr.  769 
(Brief  vom  11.  September  1711),  S.  284. 

31  Ich  bin  fro,  dafi  general  Schullenburg  E.  L.  den  abbeBouquoy  zugefiihrt  hatt,  denn  ich  weifi, 
daji  er E.  L.  divertirt,  welches  E.  L.  in  Dero  wildtnufs  von  der  Gher  woll  von  nbthen  haben.  Elisabeth 
Charlotte  an  Sophie  am  5.  Dezember  1711;  vgl.  ebd.,  Nr.  777,  S.  296. 

32  Vgl.  Ravaisson-Mollien,  Archives,  wie  Anm.  5,  T.  X,  S.  329f. 

33  GWLB:  LBr.  127. 

34  Vgl.  Patrick  Riley,  Leibniz'  unpublished  Remarks  on  the  Abbe  Bucquoi's  Proof  of 
the  Existence  of  God  (1711),  in:  Studia  leibnitiana,  15,  1983,  215-220. 

35  Vgl.  untenS.  372 f. 

36  Vgl.  seine  Korrespondenz  mit  Leibniz  in  den  Banden  der  Akademie-Ausgabe:  Gott- 
fried Wilhem  Leibniz,  Samtliche  Schriften  und  Briefe,  Erste  Reihe:  Allgemeiner,  politischer 
und  historischer  Briefwechsel,  Darmstadt  u.a.  1923ff.  (im  Folgenden:  LAA).  Der  erste  iiber- 
lieferte  Brief  der  Korrespondenz  mit  Burnett  of  Kemney  datiert  vom  12.  Marz  1695  (LAA  I, 
UN.  218). 


Abenteurer  und  Bastille-Haftlinge  367 

giosen  Fragen  sich  ereifernder  Auslander  aufgefallen  und  hatte  sich  in  Pariser  Ca- 
fes besonders  verdachtig  gemacht,  als  er  seiner  tiefen  Trailer  iiber  den  Tod  des 
englischen  Konigs  Wilhelm  III.,  eines  Erzfeindes  Ludwigs  XIV.  und  seiner  Hege- 
monialbestrebungen,  Ausdruck  gab.37  Burnett  war  weder  ein  Verschworer  noch 
ein  Abenteurer,  sondern  ein  wohlhabender,  literarisch  interessierter,  ansonsten 
hypochondrischer,  in  seinen  Briefen  an  Leibniz  zumeist  iiber  seine  Krankheiten 
lamentierender  Adliger,  der  seine  Zeit  mit  Bildungsreisen  kreuz  und  quer  durch 
Europa  zubrachte.  Als  Cousin  des  einfluBreichen  anglikanischen  Bischofs  Gil- 
bert Burnet  besaB  erin  den  Augen  der  franzosischen  Regierung  auch  seinen  Wert 
als  Geisel  und  Informationsquelle  fur  Interna  der  englischen  Politik,38  wobei  letz- 
teres  sich  als  vollige  Fehleinschatzung  erwies. 

Sobald  die  Verhaftung  Burnetts  bekannt  wurde,  setzte  Kurfiirstin  Sophie  alle 
Hebel  in  Bewegung,  um  seine  Freilassung  zu  erwirken.  Im  Auftrag  und  im  Na- 
men  von  Sophie  und  der  preuBischen  Konigin  Sophie  Charlotte  intervenierte 
Leibniz  iiber  Mittelsmanner  am  franzosischen  Hof  zugunsten  von  Burnett,  in  Ver- 
sailles wurde  Elisabeth  Charlotte  von  Orleans,  Sophies  Nichte,  eingespannt,  in 
Paris  der  danische  Gesandte  bemiiht,39  und  nach  gut  einem Jahr  erhielt  der  redse- 
lige  Schotte  dank  dieser  Bemiihungen  die  Freiheit  wieder.  Seine  Dankesschuld 
gegeniiber  seinen  fiirstlichen  Befreierinnen,  so  empfahl  ihm  Leibniz,  sollte  er  ab- 
tragen,  indem  er  alles  im  Detail  aufschrieb,  was  ihm  in  der  Bastille  widerfahren 
war.  Ob  er  diesem  Wunsch  nachkam,  wissen  wir  nicht,  aber  im  Jahre  1704  weilte 
Burnett  fur  langere  Zeit  am  Hof  inLietzenburgundkonnte  dort  die  lange  Geschich- 
te  erzahlen,  was  er  in  diesem  Gefdngnis  erlitten  hatte.i0  Burnetts  knappe  Angaben,  die 
er  Leibniz  gegeniiber  zu  seiner  Haftzeit  machte,  beinhalten  die  wesentlichen 
Schlagworte,  mit  denen  auch  in  Deutschland  der  ministerielle  Despotismus  in 
Frankreich  und  sein  Symbol,  die  Bastille,  wahrgenommen  wurde:  Inhaftierung 
ohne  Anklage,  fortwahrende  Verhore,  ein  korruptes,  die  Gefangenen  schikanie- 
rendes  Gefangnisregime,  Entlassung  ohne  Erklarung  oder  Entschuldigung.  Die 
Bastille,  so  Burnett,  sei  ein  Ort,  wo  es  weder  eine  regulare  noch  eine  irregulareju- 
stiz  gebe.  Es  bedilrfte  eines  dicken  Buches  und  einiger  Monate,  um  nur  einen  Teil  dessen 
aufzuschreiben,  was  mir  in  mehrals  einemjahr  widerfahren  ist.il  Aber  auch  diese  Erfah- 


37  Vgl.  die  Berichte  in  Ravaisson-Mollien,  Archives,  wie  Anm.  5,T.  X,  S.  422 f. 

38  Folglich  empfahl  der  englische  Botschafter  in  Frankreich,  franzosische  Staatsbiirger 
in  London  zu  verhaften,  um  Burnett  freizubekommen.  Vgl.  ebd.,  S.  423. 

39  Vgl.  die  Briefe  Sophies  an  Leibniz  vom  16.  und  30.  September  und  vom  27.  Novem- 
ber 1702  sowie  Leibniz'  Briefe  an  den  franzosischen  Mittelsmann  de  La  Rosiere  vom  29. 
September  und  30.  Dezember  1702  (LAA  I,  21;  im  Druck). 

40  Brief  Burnetts  an  Leibniz  vom  5.  November  1703  (GWLB:  LBr.  132  Bl.  132-133). 

41  Ilfaudroit  un  grand  lime  et  quelques  mois pour  ecrire  un  bon  part  seulement  du  traitement  que 
j'ay  eu  pendant  plus  d'un  anne  [sic].  (Brief  an  Leibniz  vom  25.Januar  1704.  Ebd.,  Bl.  136-137). 


368  Gerd  van  den  Heuvel 

rung  konnte  Burnetts  Bild  des  Sonnenkonigs  nicht  verdunkeln.  Er  war  sicher,  dass 
Ludwig  XIV.  in  keiner  Weise  iiberdie  millionenfachen  Unregelmafiigkeiten  und  Mijistan- 
de  in  diesem  Gefdngnis  unterrichtet  war.42 

Burnetts  Urteil  bestatigte  das  Bild  der  Bastille  als  monstroser  Institution  einer 
ungebandigten  Willkurherrschaft,  wie  es  schon  Jahre  zuvor  durch  andere  Ge- 
wahrsleute  am  hannoverschen  Hof  verbreitet  worden  war.  So  brandmarkte  der 
Numismatiker  und  Leibniz-Korrespondent  Andreas  Morell,  ein  reformierter 
Schweizer,  der  als  Antiquar  und  Vorsteher  des  koniglichen  Miinzkabinetts  in  Pa- 
ris nach  der  Aufhebung  des  Edikts  von  Nantes  die  Pariser  Festung  mehrmals  von 
innen  gesehen  hatte,  bevor  er  1692  iiber  die  Schweiz  nach  Deutschland  emigrier- 
te,  die  Bastille  sarkastisch  als  normale  franzosische  Vergiitung,  als  payement 
frangois.43  Und  Elisabeth  Charlotte  von  Orleans  konnte  die  stets  von  Geheimnis 
und  Stillschweigen  umgebene  Verhaftungspraxis  bestatigen:  Wenn  jemandts  in  die 
bastille  gesetzt  [wird],  weifS  es  kein  mensch  weder  bey  hoffnoch  in  der  statt.44 

Aber  auch  die  Verwendung  des  beriihmten  Staatsgefangnisses  als  Verwahr- 
und  Besserungsanstalt  fur  allzu  eigensinnige,  renitente  oder  kriminelle  Mitglieder 
des  Hochadels  sorgte  fur  Gesprachsstoff  in  derhofischen  Gesellschaft  an  derLei- 
ne,  sei  es,  dass  Liselotte  von  der  Pfalz  iiber  Bastille-Strafen  wegen  verbotenen  Du- 
ellierens  berichtete,45  sei  es,  dass  sie  vom  jungen  Due  d'Estrees  erzahlte,  der  in 
Haft  gekommen  sei,  weil  ersich  mitt  seine  eygenen  laquayen  sternsvoll  gesoffen  und[. .  .] 
heiifeer  in  Paris  angezjindt  hatte.46  Und  all  diese  Skandal-Historchen  wurden  noch 
iibertroffenen  vom  geheimnisumwitterten  Mann  mit  der Maske,  dem  1703  verstor- 
benen  Bastille-Haftling,  dessen  Anonymitat  auf  koniglichen  Befehl  unter  Andro- 
hung  der  Todesstrafe  durch  das  Tragen  einer  Samtmaske  gewahrt  wurde  und  iiber 
den  Liselotte  von  der  Pfalz  den  ersten  uns  bekannten  Bericht  in  einem  Brief  an  ih- 
re  Tante  Sophie  in  Hannover  verfaBte.47  Von  Voltaire  als  Mann  mit  der  eisernen 


42  Brief  an  Leibniz  vom  5.  November  1703,  wie  Anm.  40:  [Le  Roi]  n'est  aucunement  in- 
forme  des  millions  des  desordres  et  abus  dans  ces  prisons. 

43  Brief  an  Leibniz  vom  17.  (27.)  Marz  1696  (LAA  I,  12  N.  321,  S.  498).  Morell  berichtet 
iiber  M.  Keller  de  Zurich,  fondeur  du  Roy  dans  I'arsenal  de  Paris,  quia  receu  le  payement  francois,j'en- 
tends  la  bastille. 

44  Brief  an  Kurfiirstin  Sophie  vom  10.  Oktober  1711.  Vgl.  Bodemann,  Briefe  Elisabeth 
Charlotte,  wie  Anm.  30,  Bd  2,  Nr.  772,  S.  288). 

45  Brief  an  Kurfiirstin  Sophie  vom  4.  Marz  1699.  Vgl.  Bodemann,  Briefe  Elisabeth  Char- 
lotte, wie  Anm.  30,  Bd.  1,  Nr.  374,  S.  360. 

46  Brief  an  Kurfiirstin  Sophie  vom  21.  September  1700  (ebd.,  Nr.  428,  S.  416).  Zu  den 
Eskapaden  des  Due  d'Estrees  vgl.  auch  Ravaisson-Mollien,  Archives,  wie  Anm.  5,  T.  X, 
S.  279-285. 

47  Bodemann,  Briefe  Elisabeth  Charlotte,  wie  Anm.  30,  Bd  2,  Nr.  772  (10.  Oktober  1711): 
[.  .  .]  ein  mensch  ist  lange  in  der  bastille  gesejien,  der  ist  masquirt  drin  gestorben;  er  hatte  alji  zwey  mous- 
quetirer  auffbeyder  seydt,  im  fall  er  die  masque  abthet,  ihngleich  niederzu  schiefien.  Erhatt  masquirt ge- 


Abenteurer  und  Bastille-Haftlinge  369 

Maske  weiter  dramatisiert  und  ausgeschmiickt,48  sollten  sein  Schicksal  und  das 
Ratsel  seiner  Identitat  Romanschriftsteller  und  Filmindustrie  bis  heute  mit  Stoff 
fur  alle  moglichen  Spekulationen  versorgen. 

In  welcher  Funktion  die  Bastille  auch  immer  wahrgenommen  wurde:  sie  war 
als  diistere  Zwingburg,  um  die  sich  Geriichte,  Legenden  und  Schauergeschichten 
rankten,  ein  unerschopflicher  Gesprachsgegenstand.  Jede  diesbeziigliche  Neuig- 
keit  wurde  begierig  aufgegriffen  und  ehemalige  Insassen,  die  als  Augen-  und  Oh- 
renzeugen  etwas  iiber  das  konigliche  Sondergefangnis  zu  berichten  wuBten, 
konnten  sich  der  wohlwollenden  Aufmerksamkeit  in  Hannover  gewiB  sein.  Der 
bereits  1709  aus  der  Bastille  geflohene  Abbe  de  Bucquoy  bildete  gleichsam  die 
Vorhut  fur  eine  Reihe  weitererHaftlinge,  die  nach  dem  Spanischen  Erbfolgekrieg 
wieder  auf  freien  FuB  gesetzt  worden  waren  und  in  Hannover  vorsprachen. 

Zusammen  mit  Constantin  de  Renneville  kam  -  wie  bereits  erwahnt  -  imjanu- 
ar  1714  der  Pater  Florentin  de  Brandenbourg  nach  Hannover.49  Der  aus  Dinant 
bei  Namur  gebiirtige  Graf  war  in  jungenjahren  in  den  Kapuzinerorden  eingetre- 
ten,  hatte  aber  sein  Leben  keineswegs  in  klosterlicher  Abgeschiedenheit  und  Ent- 
haltsamkeit  zugebracht.  Seine  Wanderschaft  fiihrte  ihn  durch  Deutschland,  Itali- 
en  und  Spanien,  wo  ernach  eigenen  Angaben  stets  Zugang  zu  einfluBreichen  Per- 
sonlichkeiten  an  den  Fiirstenhofen  erlangt  hatte.  Aus  Spanien  kommend  war  er 
im  Sommer  1702  auf  dem  Weg  in  die  Niederlande  bei  Poitiers  der  franzosischen 
Polizei  aufgefallen  und  Anfang  September  unter  dem  Vorwurf  der  Spionage  fur 
Osterreich  sowie  wegen  unsittlichen  Lebenswandels  in  Versailles  verhaftet  und 
in  die  Bastille  iiberstellt  worden.  In  seinem  Gepack  fand  man  einige  Biindel  Lie- 
besbriefe  verschiedener  Frauen  und  eine  ganze  Reihe  von  ihm  verfaBter  Gedich- 
te,  zumeist  pornographischen  Inhalts.  Uber  seine  Liebesaffaren  legte  er  eine  der- 
artige  Mitteilsamkeit  an  den  Tag,  dass  die  ihn  verhorenden  Beamten  angewiesen 
wurden,  seine  diesbeziiglichen  Aussagen  nicht  weiter  in  die  Protokolle  aufzuneh- 
men,  da  man  dergleichen  nicht  in  den  Akten  haben  wollte.50  In  der  Bastille  stellte 
sich  der  Kapuzinerpater  seinen  Mitgefangenen  als  Prince  vor,  bestand  auf  der  An- 


fien  undt geschlaffen.  Es  mufe  doch  etwafe  rechts  gewefeen  sein,  denn  man  hatt  ihn  sonst  sehr  woll  tractirt, 
wall  logirt  undt  alles  geben  was  er  begehrt  hatt.  Er  hatt  masquirt  communicirt,  war  sehr  devot  undt  hatt 
continuirlich  gelefien.  Man  hatt  sein  leben  nicht  erfahren  konnen,  wer  der  mensch  gewejien. 

48  Francois  Marie  Arouet  de  Voltaire,  Siecle  de  Louis  XIV,  in:  (Euvres  completes  de 
Voltaire,  nouvelle  edition,  T.  14,  Paris  1878  (Reprint  Nendeln/ Liechtenstein  1967),  S.  427f. 
Zu  den  Legenden  um  den  „Mann  mit  der  eisernen  Maske"  und  den  verschiedenen  Deutun- 
gen  seiner  Identitat  vgl.  Franz  Funck-Brentano,  L'homme  au  masque  de  velours  noir  dit  le 
masque  de  fer,  in:  Revue  historique,  56,  1894,  S.  253-303. 

49  Das  Folgende  nach  Ravaisson-Mollien,  Archives,  wie  Anm.  5,  T.  X,  S.  429-473  und 
Guerin,  Bucquoy,  wie  Anm.  18,  S.  165-180. 

50  Ravaisson-Mollien,  Archives,  wie  Anm.  5,  T.  X,  S.  436. 


370  Gerd  van  den  Heuvel 

rede  Monseigneur  und  prahlte  im  iibrigen  auch  dort  mit  seinen  Eroberungen  hoch- 
adliger  Frauen,  unter  ihnen  Maria  Mancini,  Fiirstin  Colonna,  Nichte  Mazarins, 
die  kurzzeitig  auch  Geliebte  des  hannoverschen  Kurfiirsten  Ernst  August  wah- 
rend  seiner  Italienreisen  gewesen  war,  darunter  aber  auch  die  Grafin  Martinitz, 
Gattin  des  kaiserlichen  Botschafters  beim  Papst.  Die  bedeutendste  Affare,  mit  der 
er  sich  briistete,  war  jedoch  das  Verhaltnis  zur  Witwe  des  aufgrund  generationen- 
iibergreifenderlnzucht  korperlich  wie  geistig  degenerierten  und  impotenten  spa- 
nischen  Konigs  Karl  II.,  der  er  nicht  nur  als  Beichtvater  gedient  hatte.  Als  Leibniz 
1716  diese  Geschichte  iiber  den  ehemaligen  Monch  horte,  der  inzwischen  die 
Kutte  abgelegt  hatte  und  zum  Protestantismus  iibergetreten  war,  stellte  er  in  ei- 
nem  Brief  an  die  englische  Kronprinzessin  Caroline  von  Wales  scherzhaft  die 
Frage,  ob  der  galante  ehemalige  Kapuziner  nach  nunmehrigem  Wegfall  des 
Beichtgeheimnisses  nicht  Auskunft  dariiber  geben  konne,  warum  die  spanische 
Konigin  nicht  durch  diesen  oder  andere  Seitenspriinge  Europa  vor  dem  Spani- 
schen  Erbfolgekrieg  bewahrt  hatte.51 

1710  war  Ludwig  XIV.  willens,  Brandenbourg  freizulassen,  wenn  ein  Kapuzi- 
nerkloster  sich  bereit  erklarte,  den  Ordensbruderin  sicheren  Gewahrsam  zu  neh- 
men.  Da  sich  kein  Kloster  fand,  das  diese  Biirde  schultern  wollte,  blieb  der  Pater 
unter  offenbar  recht  komfortablen  Umstanden  in  der  Bastille,  denn  der  Konig  gab 
die  Anweisung,  fur  ihn  die  Miihsal  des  Gefangnisses  so  weit  eben  mdglich  zu  mildern.52 
Die  Freilassung  erfolgte  im  Juni  1713. 

Genauso  wie  der  Abbe  de  Bucquoy  war  Florentin  de  Brandenbourg  ein  gern- 
gesehener  Gast  an  der  koniglichen  Tafel  in  Hannover  und  Herrenhausen,  wenn 
sich  Georg  I.  -  wie  z.  B.  1716  -  in  seinen  Stammlanden  aufhielt.  Er  bezog  in  Han- 
nover eine  konigliche  Pension,  die  Sophie  Charlotte  von  Kielmansegg,  geb.  von 
Platen-Hallermund,  ihm  vermittelt  hatte,53  und  trug  sich  1716  mit  dem  Gedan- 
ken,  Georg  I.  nach  England  zu  begleiten.  Ob  er  diesen  Schritt  auf  die  Insel  tat,  ist 
nicht  bekannt.54 

Die  illustre  Gesellschaft  von  Welt  und  Halbwelt,  die  sich  zu  Beginn  des  18. 
Jahrhunderts  am  hannoverschen  Hof  tummelte,  wurde  komplettiert  durch  einen 
weiteren  erwahnenswerten  Abenteurer,  der  zwar  nicht  in  der  Bastille  gesessen 
hatte,  aber  mit  Sicherheit  dort  gelandet  ware,  wenn  die  franzosische  Polizei  seiner 

51  S'il  luy  etoit  permis  depuis  qu'il  a  quitte  le  metier  de  rompre  le  sceau  de  la  confession,  il  nous 
pourroit  dire,  si  la  Reine  d'Espagne  n'a  pas  etc  tentee  d'e'pargner  une  grande  guerre  a  I'Europe par  un 
peccadillo,  comme  quelquesuns  le  voudroient peutetre  nommer.  Brief  vom  11.  September  1716;  vgl. 
Klopp,  Werke  von  Leibniz,  wie  Anm.  19,  Bd  11,  S.  182-186,  hier  S.  185. 

52  Ravaisson-Mollien,  Archives,  wie  Anm.  5,  T.  X,  S.  473. 

53  Klopp,  Werke  von  Leibniz,  wie  Anm.  19,  Bd.  11,  S.  185. 

54  Je  ne  say  s'il  accompagnera  Sa  Mte  en  Angleterre.  Leibniz  an  Caroline  von  Wales,  Septem- 
ber 1716;  vgl.  Klopp,  Werke  von  Leibniz,  wie  Anm.  19,  Bd  11,  S.  189. 


Abenteurer  und  Bastille-Haftlinge  371 

hatte  habhaft  werden  konnen.  Louis-Armand  de  Lorn  d'Arce,  baron  de  Lahontan 
hatte  als  franzosischer  Offizier  von  1683  bis  1693  in  Kanada  gelebt  und  u.  a.  am 
Kampf  gegen  Englanderund  Irokesen  teilgenommen,  war  1693  aber  wegen  eines 
Streits  mit  dem  franzosischen  Gouverneur,  der  ihn  als  Verrater  und  Deserteur  ver- 
folgen  LieB,  nach  Portugal  geflohen  und  iiber  weitere  Exilstationen  schlieBlich 
1707  an  den  hannoverschen  Hof  gelangt,  wo  erbis  zu  seinem  Tode  im  April  1716 
lebte.55  Mit  Lahontan  gelangte  ein  franzosischer  Dissident  nach  Hannover,  den 
die  literarische  Verarbeitung  seiner  Erlebnisse  in  Nordamerika  beriihmt  machen 
und  dessen  Schriften  eine  lange  Wirkungsgeschichte  haben  sollten.  Mit  seinem 
Ende  1702  publizierten  Reisebericht,56  vor  allem  aber  durch  den  1704  erschiene- 
nen  fiktiven  Dialog  zwischen  ihm  selbst  und  dem  Huronen  Adario57  -  beide 
Schriften  wurden  etwa  gleichzeitig  auch  ins  Englische  iibersetzt  -  pragte  Lahon- 
tan nachhaltig  den  Topos  vom  ,guten  Wilden',  dessen  natiirliche  Freiheit,  Tugend 
und  Nachstenliebe  er  in  scharfen  Kontrast  zu  Despotismus,  Unterwiirfigkeit  und 
Gewinnsucht  in  Europa  und  vor  allem  in  Frankreich  setzte.  Die  zivilisationskriti- 
schen  Aufklarungsphilosophen,  alien  voran Jean-Jacques  Rousseau  und  Guillau- 
me-Thomas  Raynal,  waren  stark  beeinfluBt  von  Lahontans  Werken,  in  denen  ei- 
ne harmonische  Eingeborenengesellschaft  ohne  individuelles  Eigentum,  ohne 
Priester  und  ohne  kodifizierte  Gesetze  verherrlicht  wurde.58 

III. 

Das  von  Norbert  Elias  konstatierte  Charakteristikum  der  hofischen  Gesellschaft, 
der  permanente  Konkurrenzkampf  um  Rang  und  Prestige,59  war  auch  fiir  die  von 


55  Vgl.  Real  Quellet,  Lahontan:  Les  dernieres  annees  de  sa  vie;  ses  rapports  avec  Leib- 
niz, in:  Revue  d'histoire  litteraire  de  la  France,  87,  1987,  S.  121-131;  Ders.  (Hrsg.),  Sur  La- 
hontan. Comptes  rendus  et  critiques  (1702-1711),  Quebec  1983. 

56  Louis-Armand  de  Lorn  d'Arce,  baron  de  Lahontan,  Nouveaux  voyages  de  Mr.  le  Ba- 
ron de  Lahontan,  dans  L'Amerique  septentrionale,  qui  contiennent  une  relation  des  diffe- 
rens  Peuples  qui  y  habitent  [.  .  .].  T.  1,  La  Haye  1703.  T.  2  u.d.T.:  Memoires  de  lAmerique 
septentrionale,  ou  la  suite  des  voyages  de  Mr.  le  Baron  de  Lahontan  [...],  La  Haye  1703.  Bei- 
de Teile  erschienen  November  1702. 

57  Ders.,  Suite  du  voyage  de  lAmerique  ou  Dialogues  de  Monsieur  le  Baron  de  Lahon- 
tan et  d'un  sauvage,  dans  lAmerique.  Contenant  une  description  exacte  des  mceurs  et  des 
coutumes  de  ces  peuples  sauvages,  Amsterdam  1704. 

58  Vgl.  Urs  Bitterli,  Die  , Wilden'  und  die  ,Zivilisierten'.  Die  europaisch-iiberseeische 
Begegnung,  Miinchen  1976,  bes.  S.  234-238  u.  420-425;  Werner  Krauss,  Zur  Anthropologie 
des  18.  Jahrhunderts.  Die  Fruhgeschichte  der  Menschheit  im  Blickpunkt  der  Aufklarung, 
Berlin  1978. 

59  Norbert  Elias,  Die  hofische  Gesellschaft.  Untersuchungen  zur  Soziologie  des  Konig- 
tums  und  der  hofischen  Aristokratie,  4.  Aufl.,  Darmstadt  und  Neuwied  1979,  S.  152f. 


372  Gerd  van  den  Heuvel 

keinerHof-  und  Rangordnung60  erfaBten  Abenteurer  eine  Grundbedingung  ih- 
rer  sozialen  Existenz.  Folglich  war  das  tagliche  Miteinander  dieser  Figuren  am 
hannoverschen  Hof  keineswegs  von  Harmonie  gepragt.  Jeder  der  Gestrandeten 
suchte  das  einzige  in  Prestigechancen  ummiinzbare  soziale  Kapital,  iiber  das  er 
neben  seiner  adligen  Herkunft  verfiigte:  seine  auBergewohnliche,  mit  Eloquenz 
vorgetragene  und  immer  wieder  mit  neuen  Anekdoten  angereicherte  Lebensge- 
schichte,  moglichst  exklusiv  seinen  fiirstlichen  Gonnern  zu  Gehor  zu  bringen  und 
damit  bei  Hofe  seine  Stellung  zu  behaupten.  So  berichtet  der  jiingere  Herzog 
Ernst  August  von  einem  andauernden  Streit  des  hugenottischen  Fliichtlings  de 
Boncoeur,  der  1686  ebenfalls  in  der  Bastille  gesessen  hatte,  mit  dem  Abbe  de 
Bucquoy,  in  dessen  weiterem  Verlauf  eine  regelrechte  Priigelei  zu  befiirchten 
sei.61  Als  derselbe  Boncoeur  wenig  spater  im  Beisein  des  Kurprinzen  sich  auch 
mit  dem  englischen  Sondergesandten  Thomas  Harley  in  die  Haare  geriet,  ver- 
mochte  Georg  August  die  Streithahne  nur  auseinanderzubringen,  indem  er  kur- 
zerhand  die  Tafel  aufhob.62  Und  Lahontan  beschwerte  sich  Anfang  1714,  von 
Leibniz  in  einem  Brief  (wohl  an  die  Kurfiirstin  Sophie)  in  einem  Atemzug  mit 
dem  Abbe  de  Bucquoy  genannt  worden  zu  sein.63  Leibniz,  der  im  fernen  Wien 
von  Sophie  iiber  die  Distanzierung  des  Barons  Lahontan  vom  Grafen  Bucquoy 
unterrichtet  worden  war,  schiitzte  Unverstandnis  fur  diese  Haltung  vor  angesichts 
der  Tatsache,  dass  beide  oft  gemeinsam  an  der  Tafel  des  Kurfursten  sitzen  und  ihre  Un- 
terhaltungen  das  Wohlgefallen  eines  derart  geistreichen  Fiirsten  wie  Seiner  Kurfiirstlichen 
Hoheit  finden.64  Der  oft  genug  selbst  als  geschatzter  Gesprachspartner  zum  Hofe 
bestellte  Universalgelehrte  kannte  die  Charaktere  derbeiden  Protagonisten  wohl 
zur  Geniige,  um  sich  die  Rivalitat  um  den  Platz  des  Spitzen-Abenteurers  ausma- 
len  zu  konnen,  aber  er  belieB  es  bei  diesem  leisen  Spott  und  beteuerte  fadenschei- 
nig,  in  Wien  nicht  genug  Neuigkeiten  iiber  den  hannoverschen  Hof  erhalten  zu 
haben,  um  beurteilen  zu  konnen,  ob  sich  die  beiden  inzwischen  vielleicht  zerstrit- 
ten  hatten.65  Dass  dem  so  war  und  der  Indianerfreund  mit  dem  Bastille-Opfer 


60  Zur  hannoverschen  Rangordnung  von  1696  vgl.  Schnath,  Geschichte  Hannovers, 
wie  Anm.  26,  Bd  2,  1976,  S.  384. 

61  Brief  vom  17.  April  1712;  vgl.  Kielmansegg,  Briefe  des  Herzogs  Ernst  August,  wie 
Anm.  29,  Nr.  121,  S.  270. 

62  Ebd.  Nr.  136  (24.  August  1712),  S.  293. 

63  Sophie  an  Leibniz,  4.  Januar  1714.  Klopp,  Werke  von  Leibniz,  wie  Anm.  19,  Bd  9, 
1873,  S.  420f.,hierS.  421. 

64  Je  ne  say  pourquoy  M.  de  la  Hontan  ne  veut pas  etre  en  compagnie  de  M.  I'Abbe  Bouquoy  dans 
ma  lettre,  puisqu'il  est  souvent  dans  sa  compagnie  a  la  table  de  Mgr.  I'Electeur,  et  que  leurs  entretiens 
donnent  de  la  satisfaction  a  un  prince  aussi  spirituel  que  S.A.E.  Brief  vom  31.  Januar  1714;  vgl. 
ebd.,  S. 425-428,  hierS.  426. 

65  Ebd. 


Abenteurer  und  Bastille-Haftlinge  373 

wohl  in  permanenter  Fehde  um  Aufmerksamkeit  und  Zuspruch  bei  Hofe  lag,  ist 
auch  in  einer  Druckschrift  dokumentiert.  Mit  Datum  vom  16.  April  1713  erschien 
ein  anonymes,  sechzehnseitiges  Pamphlet,66  in  dem  sich  scheinbar  Bucquoy  iiber 
die  Verleumdungen  gegen  seine  Person  durch  den  Irokesen  beschwerte.  Offen- 
kundige  Absicht  der  Flugschrift,  die  moglicherweise  aus  dem  Umfeld  Lahontans 
kam  und  deren  Konfiszierung  Bucquoy  bei  der  hannoverschen  Regierung  bean- 
tragte,67  war  es  jedoch,  alle  Verriicktheiten  und  peinlichen  Auftritte  des  geltungs- 
siichtigen  Hoflings  detailliert  auszubreiten.  Wenig  spaterbestatigte  auch  Herzog 
Ernst  August  d.J.  die  erbitterte  Feindschaft  derbeiden  Abenteurer:  Herr Lahontan 
ist  aus  Holland  zuriick,  so  berichtete  eram  13.  August  1713,  erhat  Oberwasser,  denn  der 
Abbe  de  Bucquoy  ist  noch  krank,  seitdem  er  in  Pyrmont  war.68 

Florentin  de  Brandenbourg  und  Rene-Auguste  Constantin  de  Renneville,  iiber 
deren  Ankunft  in  Hannover  Sophie  in  ihrem  Brief  vom  4.  Januar  1714  berichtet 
hatte,  kannte  Leibniz  zu  diesem  Zeitpunkt  noch  nicht,  aber  er  war  sich  sicher  -  so 
kann  man  in  seinem  Antwortschreiben  aus  Wien  zwischen  den  Zeilen  lesen  -, 
dass  nach  der  bislang  an  derLeine  gezeigten  Vorliebe  fur  ehemalige  Bastille-Haft- 
linge auch  diese  beiden  den  richtigen  Aufenthaltsort  gefunden  hatten.  Es  ist  eine 
Empfehlung,  in  der  Bastille  gewesen  zu  sein,  so  begliickwiinschte  Leibniz  die  83jahri- 
ge  Kurfurstin  zu  ihren  neuen  Mitgliedern  der  Tafelrunde,  aber  derbereits  in  Han- 
nover befindliche  Abbe  de  Bucquoy,  so  bemerkte  er,  sei  aus  derBastille  doch  ruhm- 
reicherals  die  anderen  herausgekommen.69  Bei  allerlronie  und  und  trotz  des  leicht  pi- 
kierten  Tons,  in  dem  sich  Leibniz  iiber  seine  momentanen  Stellvertreter  als 
Gesprachspartner  der  alten  Kurfurstin  auslieB,  entsprach  seine  Feststellung,  mit 
einer  Bastille-Vergangenheit  empfehle  man  sich  fur  den  Zugang  zum  kurfiirstli- 
chen  Hof  in  Hannover,  durchaus  der  Realitat.  Als  ,Edel-Dissidenten'  mit  dem 
Ausweis,  im  beriihmtesten  franzosischen  Kerker  gesessen  zu  haben,  konnten  sich 
die  ehemaligen  Bastille-Haftlinge  der  besonderen  Aufmerksamkeit  des  Kurfiir- 
sten  und  seiner  Familie  gewiB  sein. 

Uber  Art  und  Umfang  der  finanziellen  Unterstiitzung  der  Abenteurer  am  han- 
noverschen Hof  lassen  sich  nur  unzureichende  Angaben  ermitteln.  Lahontan  er- 
hielt  in  denjahren  1714  und  1715jeweils  gut  90  Reichstaler  fur  den  Unterhalt  von 


66  [Anonym],  LAnti-Buquoit  on  plainte  de  l'abbe  Buquoit  aux  Allies.  Le  10.  dAvril 
1713.  a  Hanover. 

67  Handschriftliche  verfaBte  Eingabe,  dem  Exemplar  des  „Anti-Buquoit"  in  der  GWLB 
beigebunden. 

68  Mr.  la  Honton  est  enfin  revenu  de  Hollande  et  brille  autant  qu 'il  a  toutjourfa.it;  il  a  le  haut  du 
pave,  car  l'abbe  de  Bucoit  est  ancore  malade  depuis  Pirmont.  Kielmansegg,  Briefe  des  Herzogs 
Ernst  August,  wie  Anm.  29,  Nr.  163,  S.  326. 

69  C'est  une  recommendation  d'avoir  ete  a  la  Bastille;  mais  il  me  semble  que  M.  I'Abbe  Bouquoy  en 
est  sorti plus  glorieusement  que  les  autres.  Leibniz  an  Sophie,  31.  Januar  1714,  wie  Anm.  64. 


374  Gerd  van  den  Heuvel 

immerhin  sechs  Pferden,  die  er  in  Herrenhausen  untergestellt  hatte.70  Kurfiirstin 
Sophie  vermachte  ihm,  ebenso  wie  dem  Abbe  de  Bucquoy,  testamentarisch  60 
Reichstaler,71  und  nach  Lahontans  Tod  im  April  1716  wurden  dessen  Schwester 
als  Gnaden  Geschenck  200  Rt.  ausgezahlt.72  1720  bedankt  sich  Bucquoy  fur  ein 
Neujahrsgeschenk  des  englischen  Konigs  in  Hohe  von  200  Reichstalern.73  Der 
Comte  de  Brandenbourg  erscheint  1716  mit  einem  praesent  von  200  Rt.  in  den  Kam- 
merrechnungen;74  seine  Pension,  die  Leibniz  erwahnt,75  ist  dort  nicht  nachweis- 
bar.  Man  kann  angesichts  dieser  wenigen  Belege  allerdings  davon  ausgehen,  dass 
wegen  fehlender  ordentlicher  Etats,  eines  unvollstandigen  Kassen-  und  Rech- 
nungswesens  sowie  der  gangigen  Praxis  zahlreicher  fiirstlicher  Privat-  und  Ge- 
heimkassen76  langst  nicht  alle  Zuwendungen  in  den  staatlichen  Rechnungsbii- 
chern  dokumentiert  sind.  Zudem  diirften  sich  die  Exilanten  auch  andere  Geld- 
quellen  erschlossen  haben.  So  spottete  Herzog  Ernst  August  d.  J.  im  Mai  1712, 
Bucquoy  wiirde  den  Hof  wohl  bald  verlassen,  weil  er  alien  Wein,  den  er  bei  Hofe 
erhielte,  verkaufe,  um  mit  dem  Geld  seine  hochfliegenden  Plane  zu  verwirkli- 
chen.77 

Was  fiihrte  nun  diese  Ex-Haftlinge  an  die  Leine  und  welche  Motive  standen 
hinter  der  Entscheidung  des  Kurfiirsten/ Konigs,  ihnen  nicht  nur  Aufenthalt  und 
Unterhalt  zu  gewahren,  sondern  sie  an  die  nur  wenigen  zugangliche  und  auf 
der  Prestigeskala  der  hofischen  Gesellschaft  weit  oben  angesiedelte  Hoftafel  zu 
bitten? 

Den  ehemaligen  Haftlingen  muBte  Hannover  als  gutgewahlter  Asylort  er- 
scheinen,  stand  Georg  Ludwig  doch  nicht  nur  als  Kurfiirst  an  der  Spitze  der 
Frankreich  feindlichen  Reichsfiirsten,  sondern  bot  als  designierter  englischer 
Konig  ihnen  angesichts  des  absehbaren  Todes  von  Queen  Anne  auch  die  Aus- 
sicht,  bald  auf  ungleich  hoherer  Ebene  Gehor  zu  finden,  ihr  Auskommen  zu  si- 
chern,  moglicherweise  sogarpolitischen  EinfluB  zu  gewinnen.  Der  sich  selbst  als 
Reformator  des  Menschengeschlechts  verstehende  Abbe  de  Bucquoy,  so  berichtete 
Leibniz  1716  der  Kronprinzessin,  setze  auf  den  englischen  Konig,  um  seine 


70  Niedersachsisches  Hauptstaatsarchiv  Hannover  (HStA)  Hann.  76  c  A  Nr.  240,  S.  552. 

71  Vgl.  ebd.,  Nr.  238,  S.  267. 

72  Ebd.,  Nr.  240,  S.  552. 

73  Vgl.  Guerin,  Bucquoy,  wie  Anm.  18,  S.  322. 

74  HStA  Hann.  76  c  A  Nr.  240,  S.  553. 

75  Vgl.  oben  Anm.  53. 

76  Vgl.  Gerd  van  den  Heuvel,  Niedersachsen  im  17.  Jahrhundert,  in:  Christine  van  den 
HEUVEL/Manfred  von  Boetticher  (Hrsg.),  Geschichte  Niedersachsen,  Bd  3,1,  Hannover 
1998,  S.  192. 

77  Kielmansegg,  Briefe  des  Herzogs  Ernst  August,  wie  Anm.  29,  Nr.  126  (28.  Mai  1712), 
S.  278. 


Abenteurer  und  Bastille-Haftlinge  375 

hochtrabenden  Plane  zu  verwirklichen,  obwohl  sich  dieser  wenig  geneigt  zeige, 
ihn  ernst  zu  nehmen.78 

Von  Seiten  des  Kurfiirsten  konnen  hinter  der  freundlichen  Aufnahme  der  ,Op- 
fer  des  Despotismus',  die  in  franzosischen  Kerkern  geschmachtet  hatten,  geflohen 
oder  nach  ihrer  Haftentlassung  als  unliebsame  Personen  aus  Frankreich  ausge- 
wiesen  worden  waren  und  durch  Europa  irrten,  durchaus  politische  Motive  ver- 
mutet  werden.  Ihre  Leidensgeschichten  in  den  Klauen  eines  als  unmenschlich 
geschilderten  Polizei-  und  Justizapparates  waren  geeignet,  Frankreich  als  Gegner 
von  Kaiser  und  Reich  im  Spanischen  Erbfolgekrieg  moralisch  zu  diskreditieren, 
quasi  den  kriegslegitimierenden  Manifesten  fur  den  gerechten  Krieg79  noch  die 
lebenden  Beweise  fur  die  Willkurherrschaft  und  moralische  Verwerflichkeit  des 
Gegners  hinzuzufiigen.  Kurfiirst  Georg  Ludwig,  der  sich  seit  1709  vehement  ge- 
gen  einen  von  England  angestrebten  und  zunehmend  auch  von  den  Vereinigten 
Niederlanden  befiirworteten  KompromiBfrieden  mit  Ludwig  XIV.  stemmte,  den 
FriedensschluB  von  Utrecht  ablehnte  und  bis  zuletzt  fur  eine  konsequentere  Ein- 
dammung  der  bourbonischen  Expansionsbestrebungen  eintrat,80  kam  die  Mog- 
lichkeit,  sich  in  der  Offentlichkeit  als  Beschiitzer  franzosischerjustizopfer  prasen- 
tieren  zu  konnen,  sicherlich  nicht  ungelegen.  So  honorierte  er  vor  seiner  Uber- 
fahrt  nach  England  die  Verdienste  von  Bucquoys  Co-Autorin  Madame  Du  Noyer, 
die  sich  auch  in  ihren  anderen  Publikationen  als  eifrige  Propagandistin  der  han- 
noverschen  Thronfolge  gezeigt  hatte,  mit  einer  Goldmedaille.81  Kurzfristig,  zwi- 
schen  1710  und  1714,  blieb  der  propagandistische  Erfolg  der  ,Asylpolitik'  auf 
miindliche  und  briefliche  Kommunikationskanale  angewiesen,  nach  1714  aber, 
als  der  hannoversche  Kurfiirst  die  Thronfolge  in  GroBbritannien  angetreten  hatte 
und  Renneville  ebenso  wie  Bucquoy  ihre  Bastille-Memoiren  herausbrachten,  in 
denen  sie  nicht  mit  Lob  fiir  die  Liberalitat  des  englischen  Konigs  sparten,  trugen 
sie  mit  ihren  Schriften  dazu  bei,  den  im  weiteren  18.  Jahrhundert  gelaufigen  Ge- 
gensatz  von  ,englischer  Freiheit'  und  ,franzosischem  Despotismus'  mit  zu  pragen, 
einen  im  Zeitalter  der  Aufklarung  gangigen  Topos  der  politischen  Philosophie 
und  Publizistik,  der  von  Voltaire,  Montesquieu  und  anderen  aufgegriffen  und  po- 
pularisiert  wurde.82  Zudem  leisteten  Renneville  und  Bucquoy  mit  ihren  ankla- 


78  //  [l'abbe  de  Bucquoy]  se  met  quelquesfois  sur  ses  grands  chevaux,  et  donne  le pion  a  tout  le 
monde.  II  se  plaint  que  le  Roy  ne  I'ecoute  pas  assez  serieusement,  car  il  voudroit  etre  le  Re'formateur  du 
genre  humain,  et  croit  que  le  Roy  pourroit  seconder  ses  grands  desseins,  s'il  en  avoit  envie.  Leibniz  an 
Caroline  von  Wales,  September  1716,  Klopp,  Werke  von  Leibniz,  wie  Anm.  19,  Bd  11,  S.  189. 

79  Konrad  Repgen,  Kriegslegitimation  in  Alteuropa.  Entwurf  einer  historischen  Typolo- 
gie,  in:  Historische  Zeitschrift  241,  1985,  S.  27-49. 

80  Schnath,  Geschichte  Hannovers,  wie  Anm.  26,  Bd  3  ,  S.  709-738. 

81  Guerin,  Bucquoy,  wie  Anm.  18,  S.  312. 

82  Vgl.  dazu  Gerd  van  den  Heuvel,  Der  Freiheitsbegriff  der  Franzosischen  Revolution. 


376  Gerd  van  den  Heuvel 

genden,  die  Bastille  damonisierenden  Illustrationen  zur  Franzosischen  Inquisition 
bzw.  zur  Hblle  der Lebendigen  nicht  nur  einen  Beitrag  zum  „Krieg  der  Bilder"83  im 
propagandistischen  Gefecht  der  feindlichen  Staaten,  sondern  forderten  auch 
nachhaltig  „die  weitere  mystifizierende  Ausdeutung  und  politisch-symbolische 
Aufladung  der  Bastille"84  im  18.  Jahrhundert. 

Der  Abbe  de  Bucquoy  machte  sich  schon  vor  der  mehrsprachigen  Neuauflage 
seiner  Lebenserinnerungen  im  Jahre  1719  wahrend  der  laufenden  Friedensver- 
handlungen  in  Utrecht  als  politischer  Pamphletist  gegen  Frankreich  niitzlich  oder 
glaubte  zumindest,  seinen  Gastgebern  damit  zu  dienen.  Es  gibt  kein  Mittel,  ihn  zu- 
riickzuhalten,  so  berichte  Herzog  Ernst  August  1712  iiber  die  Abreise  Bucquoys 
nach  Holland.  Ergeht  nach  Utrecht,  um  den  Gesandten  Ratschldge  zu geben.  Danach  will 
er  wohl  den  Prinzen  Eugen  aufsuchen,  um  auch  ihnzu  beraten.85  Auch  der  franzosischen 
Regierung  waren  die  Aktivitaten  Bucquoys  in  den  Niederlanden  nicht  verborgen 
geblieben.  Die  Anstrengungen  Bucquoys,  die  englischen  Gesandten  fur  seine  Pla- 
ne gegen  Frankreich  zu  gewinnen,  nahm  man  sarkastisch  zur  Kenntnis:  Man  kann 
nur  hoffen,  dass  unsere  Feinde  ihn  zu  ihrem  Chefberater  machen,  so  lautete  der  Kom- 
mentar  des  Ministers  Pontchartrain.86 

In  Holland  veroffentlichte  Bucquoy  Ende  1712  eine  Flugschrift,87  in  der  jeder 

Studien  zur  Revohitionsideologie,  Gottingen  1988,  S.  60-81;  Ders.,  Art.  Liberte,  in:  Hand- 
buch  politisch-sozialer  Grundbegriffe,  wie  Anm.  3,  Heft  16-18,  1996,  S.  85-121,  hier  S.  92f.; 
vgl.  jetzt  auch  Hans-Christof  Kraus,  Englische  Verfassung  und  politisches  Denken  im  An- 
cien  Regime,  Miinchen  2006,  bes.  S.  71-258. 

83  Wolfgang  Cillessen  (Hrsg.),  Krieg  der  Bilder.  Druckgraphik  als  Medium  politischer 
Auseinandersetzung  im  Europa  des  Absolutismus  [Ausstellungskatalog],  Berlin  (Deutsches 
Historisches  Museum)  1997. 

84  Rolf  Reichardt,  Zur  visuellen  Dimension  geschichtlicher  Symbole  am  Beispiel  der 
Bastille,  in:  Rudolf  Schlogel,  Bernhard  GiESEN,Jiirgen  Osterhammel  (Hrsg.),  Die  Wirklich- 
keit  der  Symbole.  Grundlagen  der  Kommunikation  in  historischen  und  gegenwartigen  Ge- 
sellschaften,  Konstanz  2004,  S.  303-338,  hier  S.  307. 

85  Iln'y  a  plus  de  moien  de  le  tenir.  II  va  a  Utregt  donner  des  avis  a  mesieurs  les  pleniponsie[r]s.  De 
la  il  ira,  a  se  [=ce]  que  je  crois,  en  donner  au  Prince  Eugene.  Kielmansegg,  Briefe  des  Herzogs 
Ernst  August,  wie  Anm.  29,  Nr.  134  (7.  August  1712),  S.  289. 

86  [.  .  .]  je  crois  que  Von  doit  souhaiter  que  les  ennemis  le prennent pour  chefde  leur  conseil.  Pont- 
chartrain an  den  comte  du  Luc,  18.  Marz  1711.  Vgl.  Ravaisson-Mollien,  Archives,  wie  Anm. 
5,  T.  XI,  S.  350. 

87  [Jean-Albert  dArchambaud,  comte  de  Bucquoy],  Le  Leurre  de  l'Europe,  ou  la  Re- 
nonciation  du  due  dAnjou,  avec  quelques  avis  aux  Allies,  ou  on  les  exhorte  surtout  a  porter 
la  guerre  a  la  France  en  dedans.  En  forme  de  lettre.  o.  O.  u.  J.  Das  Exemplar  der  GWLB  ent- 
halt  unter  dem  Titel  den  gedruckten  Hinweis:  „NB.  Cete  Brochure  imprimee  a  la  Haie  en 
1711.  est  comme  L'image  de  tout  cequi  se  passe  aujourd'hui  en  Europe.*  Da  ebd.,  S.  16,  die 
Schlacht  von  Denain  (24.  Juli  1712)  erwahnt  wird,  ist  die  Flugschrift  wohl  eher  auf  die  zweite 

Jahreshalfte  1712  zu  datieren.  Sie  erschien  auch  in  englischer  Ubersetzung:  The  bait  of 
Europe:  or,  the  Duke  of  Anjou's  renunciation;  with  an  advice  to  the  allies,  to  carry  the  war 


Abenteurer  und  Bastille-Haftlinge  377 

FriedensschluB,  der  Frankreichs  Eroberungen  der  letzten  Jahrzehnte  nicht  riick- 
gangig  machte,  kategorisch  abgelehnt  wurde.  Bucquoy  rief  dazu  auf,  den  Krieg 
ins  Innere  Frankreichs  zu  tragen,  die  Bourbonen  zu  stiirzen  und  -  wie  er  pathe- 
tisch  formulierte  -  das  Herz  anzugreifen  und  die  Mauer  niederzureifen.&8  Sich  selbst, 
der  sich  mit  ebensoviel  Mut  und  Fleifi  wie  Glilck  aus  den  geheimen  Kammern  des  Fort 
L'Eveque  und  der  Bastille  befreit  habe,  sah  er  an  der  Spitze  der  Rebellion.  Drohend 
verband  er  sein  Exil  mit  dem  kommenden  Umsturz.  So  wie  das  Romische  Reich 
nur  aus  dem  Innern  heraus  habe  kollabieren  konnen,  proklamierte  er,  konne  man 
nur  mit  Hilfe  der  Exilfranzosen  nach  Paris  und  Madrid  gelangen.89 

Allerdings  ware  Bucquoy  dem  Wirrwarr  seiner  Lebensentwiirfe  untreu  gewor- 
den,  wenn  er  nicht  bald  darauf,  verstarkt  aber  nach  dem  Tode  des  Sonnenkonigs, 
seine  Fiihler  auch  nach  Frankreich  ausgestreckt  und  die  Moglichkeiten  fur  eine 
Riickkehrin  seine  Heimat  sondiert  hatte.90  Der  Regent  lehntejedoch  die  Repatri- 
ierung  des  rastlosen  Grafen  dankend  ab:  Mein  sohn  [.  .  .]  sagt,  erhette  narren  genung 
Mr,  so  ihnplagen  schrieb  Elisabeth  Charlotte  von  Orleans  an  ihre  Nichte  Luise  En- 
de  1717.91 

Der  eher  in  den  Sommer  1789  als  insjahr  1712  passende  Aufruf,  die  Mauer  nie- 
derzureifien,  verfehlte  als  eine  schwache  Stimme  unter  vielen  seine  Wirkung;  die 
politischen  Weichen  waren  bereits  in  eine  andere  Richtung  gestellt.  Bucquoy 
konnte  als  Schlachtenbummler  des  Friedenskongresses  (wenn  dieses  schiefe  Bild 
hier  erlaubt  ist)  gegen  die  Einigung  der  Seemachte  mit  Frankreich  und  Spanien 
ebensowenig  ausrichten  wie  die  kaiserliche  oder  hannoversche  Diplomatie.  Spa- 
testens  nach  AbschluB  des  Friedensvertrages  am  11.  April  1713  kehrte  er  nach 
Herrenhausen  zuriick;  jedenfalls  wird  sein  dortiger  Aufenthalt  (als  in  diejahre 
gekommener  Galan  stellte  er  vergeblich  der  Grafin  Cosel,  der  Matresse  Augusts 
d.  Starken  nach)  im  Mai  von  Sophies  jiingstem  Sohn  Ernst  August  erwahnt.92 

Als  politischer  Akteur  war  Bucquoy  am  hannoverschen  Hof  von  eher  zweifel- 
haftem  Nutzen,  aber  es  gab  eine  andere  Rolle,  die  er  -  und  mit  ihm  andere  auf  ein 

into  the  heart  of  France,  London  1713. 

88  [  J.-A.  d'Archambaud,  comte  de  Bucquoy],  Le  Leurre  de  PEurope,  wie  Anm.  87,  S.  8. 

89  Ebd.,  S.  32. 

90  Vgl.  Guerin,  Bucquoy,  wie  Anm.  18,  S.  3 1 4 f f . 

91  Brief  vom  2.  Dezember  1717.  Wilhelm  Ludwig  Holland  (Hrsg.) ,  Briefe  der  Herzogin 
Elisabeth  Charlotte  von  Orleans,  Bd  3  (1716-1718),  Tubingen  1874  (Nachdruck  Hildesheim 
1988),  Nr.  869,  S.  142.  -  Dass  sich  Bucquoy  intensiv  urn  eine  Riickkehr  nach  Frankreich  be- 
miihte  und  Elisabeth  Charlotte  von  Orleans  dafiir  einzuspannen  suchte,  zeigen  auch  deren 
Briefe  an  den  hannoverschen  Oberstallmeister  Christian  Friedrich  von  Harling.  Vgl.  Hanne- 
lore  Helfer  (Hrsg.),  Liselotte  von  der  Pfalz  in  ihren  Harling-Briefen,  Teil  1,  Hannover  2007, 
S.  400  und  406. 

92  Kielmansegg,  Briefe  des  Herzogs  Ernst  August,  wie  Anm.  29,  Nr.  154  (17.  Mai  1713), 
S.  316. 


378  Gerd  van  den  Heuvel 

bewegtes  Leben  zuriickblickende  Gliickritter  -  besser  und  zur  groBeren  Zufrie- 
denheit  ihrer  Gonner  ausfiillten.  Um  die  Position  gestrandeter  Dissidenten  wie 
Renneville,  Brandenbourg,  Bucquoy,  Boncceur  oder  Lahontan  bei  Hofe  zu  verste- 
hen,  ist  es  hilfreich,  diese  Einzelbeipiele  fiir  einen  Moment  hintanzustellen  und  ei- 
nen  Blick  auf  die  Rolle  des  Abenteurers  im  hofischen  Europa  des  17.  und  18.  Jahr- 
hunderts  zu  werfen. 

IV. 

„Dasein  heiBt  eine  Rolle  spielen"  -  so  iibertitelte  Claus  SiiBenberger  1996  seinen 
einleitenden  Essay  zu  sieben  brillanten  Kurzbiographien  von  Abenteurern,  Gliicks- 
rittern  und Maitressen  an  den  europaischen  Fiirstenhofen  der  friihen  Neuzeit,93  die 
zeigen,  dass  die  Ansammlung  von  Abenteurern  im  Spatherbst  der  „goldenen  Ta- 
ge  von  Herrenhausen"94  keine  singulare  Erscheinung  war.  Die  Rolle,  mit  der  die- 
se Personen  ihr  Leben  ausfiillten,  scheint  auf  den  ersten  Blick  so  gar  nicht  zu  pas- 
sen  zur  festgelegten  Ordnung  der  Standegesellschaft,  in  der  jeder  seinen  ange- 
stammten  oder  zugewiesenen  Platz  hatte,  in  der  soziale  Range  durch  Herkunft 
festgelegt  und  durch  Kleidung,  Ehrenkodexund  Zeremoniell  sicht-  und  erfahrbar 
gemacht  wurden.  Aber  gerade  als  Gegenbild  zur  gesellschaftlichen  Normalitat 
gewannen  diese  Lebenslaufe  in  derZurschaustellung  ihren  sozialen  Sinn.  Eine  ih- 
rer Normen  und  Statuszuweisungen  gewisse  Gesellschaft  „[erlaubt  sich]  den  Lu- 
xus  des  vereinzelten  farbigen  Abweichlertums"  und  findet  ihr  Wohlgefallen  „an 
dem  unterhaltsamen  Aufriihrer,  der  zwar  Plane  zur  Weltverbesserung  Schmieden 
darf,  sich  dann  aber  mit  der  Erregung  von  Anekdotenstoffen  zufrieden  gibt".  Als 
„schillernde  Nebenfigur  im  Regelsystem  des  hofischen  Milieus"  fallt  der  Aben- 
teurer  aus  dessen  Verhaltenskodex,  versichert  aber  gleichzeitig  in  seiner  AuBen- 
seiterrolle  und  mit  seiner  unkonventionellen  Lebensfiihrung  die  hofische  Gesell- 
schaft ihrer  eigenen  Normen. 

Die  Rolle  des  unterhaltsamen  Abenteurers  war  vielfaltig  ausfiillbar,  wenn  der 
Person  nur  „gewisse  Elemente  von  Glanz,  Mobilitat,  gesellschaftlicher  Gewieft- 
heit,  aber  auch  von  Regelwidrigkeit,  Provokation,  vielleicht  auch  von  Vagabun- 
dentum  und  Internationalitat  zu  eigen  waren,  oder  ihr  wenigstens  zugemessen 
werden  konnten".  Eine  weitere,  nicht  unabdingbare,  aber  den  Zugang  zum  Hof 
im  friihen  18.Jahrhundert  erleichternde  Voraussetzung  fiir  den  gesellschaftstaug- 
lichen  Abenteurer  war  die  adlige  Herkunft95  oder  zumindest  die  glaubhafte  Be- 


93  Claus  Sussenberger,  Abenteurer,  Glucksritter  und  Maitressen.  Virtuosen  der  Lebens- 
kunst  an  europaischen  Hofen,  Frankfurt/ M.,  New  York  1996. 

94  Sohnath,  Geschichte  Hannovers,  wie  Anm.  26,  Bd  3,  S.  766. 

95  Die  Definition  des  Abenteurers  „als  sozialerTyp  [.  .  .],  dessen  spezifisches  Verhaltnis 
zur  Adelsgesellschaft  vor  allem  durch  die  Kompensation  der  fehlenden  Voraussetzungen 


Abenteurer  und  Bastille-Haftlinge  379 

hauptung,  von  Stand  zu  sein.  Mit  der  ersten  Mitteilung  iiberBucquoy,  den possirli- 
chen  abt,  der  ihmer schreyt,  versicherte  Sophie  ihre  Nichte,  dass  er  von  calitet  sei.  Alle 
ehemaligen  Bastille-Haftlinge  und  Abenteurer,  die  eine  Zeit  lang  am  hanno- 
verschen  Hof  Unterschlupf  fanden,  waren  Adlige.  Und  noch  etwas  anderes  war 
ihnen  gemeinsam:  alle  waren  gebiirtige  Franzosen,  Reprasentanten  der  kulturel- 
len  Fiihrungsmacht  der  Zeit  und  somit  in  Habitus  und  Sprache  mit  den  Paradig- 
men  der  hofischen  Umgangsformen  vertraut;  zumindest  reichte  es  fur  die  Anfor- 
derungen,  die  deutsche  Fiirstenhofe  in  dieser  Beziehung  stellten.  Gerade  an  den 
Fiirstenhofen  des  Alten  Reichs,  die  um  1700  in  der  Regel  franzosische  Sprachin- 
seln  in  einermundartlich  gepragten  Umgebung  waren,  vermochten  sich  diese  du- 
biosen  Vertreter  des  franzosischen  Adels  relativ  leicht  zurechtzufinden  und  mit 
ihrer  Konversation  zu  brillieren.  Mit  einigem  Recht  ist  die  Vermutung  geauBert 
worden,  dass  sie  „oft  schon  allein  deshalb  erfolgreich  operieren  konnten,  weil 
dort  [an  den  Fiirstenhofen]  der  Kredit  der  franzosischen  Sprache  und  Kultur  so 
hoch  war,  daB  man  auch  auf  jene  hereinfiel,  die  aus  diesem  Kredit  nur  bares  Kapi- 
tal  fiir  sich  herausschlagen  wollten."96 

Die  Motive,  aus  denen  heraus  die  exilierten  Franzosen  Aufnahme  fanden, 
mochten  am  Ende  des  Spanischen  Erbfolgekrieges  auch  von  politischen  Oppor- 
tunitatserwagungen  gepragt  sein;  der  Humus,  auf  dem  diese  Gestalten  abervoral- 
lem  gediehen,  bisweilen  langfristig  Wurzeln  schlugen  und  ihr  Auskommen  finden 
konnten,  war  die  Langeweile  einer  zu  MiiBiggang  und  Nichtstun  verdammten, 
nach  Unterhaltung  und  Abwechslung  gierenden  Hofgesellschaft.  Kurfiirst  Georg 
Ludwig  war  1714  zunachst  garnicht  davon  angetan,  dass  zwei  weitere  ehemalige 
Insassen  der  Bastille,  Constantin  de  Renneville  und  Florentin  de  Brandenbourg, 
nach  Hannover  kommen  wollten.  Doch  Neugierde  und  die  Aussicht  auf  lebhafte 
Unterhaltung  wischten  in  den  Augen  der  Kurfiirstin  Sophie  alle  Bedenken  vom 
Tisch,  denn,  so  lautete  ihr  durchschlagendes  Argument,  on  dit  que  ceux-cy  ont  beau- 
coup  d'esprit,97  frei  iibersetzt:  sie  haben  was  zu  erzflhlen.  Das  Schlimmste,  was  man 
der  Serenissima  des  hannoverschen  Hofes  antun  konnte,  war,  ihr  Leute  vorzustel- 
len,  die  einsilbig,  wenig  geistreich  und  langweilig  waren.  Eloquente  Besuchermit 


von  Geburt  und  Stand  [.  .  .]  gekennzeichnet  war",  grenzt  den  Personenkreis  unnotig  ein  und 
verkennt,  dass  diese  Existenzen  nicht  zuletzt  genuine  Produkte  der  aristokratischen  Gesell- 
schaft  des  Ancien  Regime  waren.  Vgl.  die  zitierte  Definition  in  Annett  Volmer,  Vom  ewigen 
Buhlen  um  Gunst  oder:  Kulturvermittlung  als  Abenteuer  -  Timoleon-Alphonse  Gallien  de 
Salmorenc,  in:  Das  Achtzehnte  Jahrhundert,  24,  2000  (Abenteuer  und  Abenteurer  im  18. 
Jahrhundert),S.  139-149,  hier  S.  139. 

96  Edward  Reichel,  Der  Abenteurer  und  sein  Jahrhundert.  Eine  Figur  „ganz  oben"  und 
„tief  unten"  in  der  Gesellschaft  und  Literatur  des  Rokoko,  in:  Romanische  Forschungen,  98, 
1986,  S.  367-377,  hier  S.  368  Anm.  3. 

97  Sophie  an  Leibniz,  4.  Januar  1714,  Klopp,  Werke  von  Leibniz,  wie  Anm.  19,  Bd  9,  S.  421. 


380  Gerd  van  den  Heuvel 

auBergewohnlichen  Ideen  konnten  stets  ihrer  Gastfreundschaft  gewiB  sein,  auch 
wenn  dies  zu  erheblichen  politischen  Belastungen  fiihrte,  wie  im  Fall  von  John 
Toland,  der  wegen  religionskritischer  Schriften  im  Streit  mit  der  anglikanischen 
Kirche  die  Insel  verlassen  muBte,  1702  in  Hannover  und  Berlin  empfangen  wur- 
de,  in  GroBbritannien  jedoch  nicht  gerade  als  der  geeignete  Umgang  fur  die  Er- 
bin  der  englischen  Krone  angesehen  wurde.98 

Der  tagliche  Kampf  gegen  den  von  Wolfgang  Lepenies  sozial  in  der  hofischen 
Gesellschaft  verorteten  Temperamentszustand  derMelancholie,"  gegen  eine  aus 
der  Langeweile  erwachsene  depressive  Gemiitsstimmung,  eroffnete  diesen  mit 
dem  Milieu  des  Hofes  vertrauten  Randfiguren  des  Adelsstandes  eine  Biihne,  auf 
dersie  ihre  Rolle  spielen  konnten  -je  ungewohnlicher,  abwechslungsreicher  und 
exaltierter  desto  besser.  Ein  schlechter  Leumund  und  selbst  die  vor  versammelter 
Hofgesellschaft  in  Hannover  verlesene  Auskunft  des  franzosischen  Ministers 
Pontchartrain,  Bucquoy  habe  in  der  Bastille  gesessen,  weil  er  ein  Betrilger,  Schuft 
und Liigner  \n\A  zudem  gar  nicht  derjenige  sei,  als  der  er  sich  ausgebe,100  konnen 
dessen  Stellung  nicht  erschiittern.  In  Verletzung  der  hofischen  Etikette  ereifert 
sich  der  Abbe  de  Bucquoy  bei  Tisch  iiber  alle  MaBen,  wird  laut,  springt  auf,101 
und  geht  sogar  so  weit,  den  General  von  der  Schulenburg,  der  ihn  bei  Hofe  einge- 
fiihrt  hat,  zum  Duell  zu  fordern.  Weder  flegelhaftes  Benehmen  noch  die  schlech- 
ten  Tischmanieren  noch  das  verbotene  Duell,  zu  dem  man  sich  auBerhalb  Kur- 
hannovers  im  Hildesheimischen  verabredet,  fiihren  zur  Verweisung  Bucquoys 
aus  der  Residenz.  Vielmehr  treibt  der  Kurfiirst,  als  er  von  den  beabsichtigten  Eh- 
renhandeln  erfahrt,  die  Komodie  auf  die  Spitze,  indem  er  einige  Soldaten  los- 
schickt,  die  den  Abbe  in  eine  Uniform  stecken,  ihm  den  ersten  Sold  aushandigen 
und  ihn  dann  als  angeblichen  preuBischen  Zwangsrekrutierten  nach  Hannover 
zuriickbringen.102  Der  Hof  hat  seinen  SpaB,  einige  Briefe  werden  um  die  neue 
Anekdote  bereichert,  die  Ernst  August  gleich  zweimal  an  seinen  Korrespondenz- 
partner  weitergibt.  Der  iiberrumpelte  und  zunachst  seine  Auslieferung  an  Frank- 
reich  fiirchtende  Bucquoy  stimmt  schlieBlich  in  das  Gelachter  ein  und  muB  wi- 
derwillig  seine  Rolle  als  Hofnarr  hinnehmen,  als  der  er  auch  expressis  verbis  von 


98  Zur  Diskussion  der  hannoverschen  Regierung  und  Diplomatic,  ob  es  opportun  sei,  J. 
Toland  in  Hannover  zu  empfangen,  vgl.  die  entsprechenden  Stellungnahmen  in  LAA  I,  20 
und  21. 

99  Wolfgang  Lepenies,  Melancholie  und  Gesellschaft,  Frankfurt/M.  1969,  S.  46-78. 

100  Nous  avons  eu  une  comedie  asse  plesante  a  table.  Mme  [Elisabeth  Charlotte  von  Orleans] 
s'est  informe  de  Mr.  de  Pontchartrin,  pourquoy  l'on  avoit  mis  Mr.  de  Bucoi  a  la  Bastille,  a  quoy  il  a 
repondu:  parcequ'il  est fourbe,fripon  et  imposteur.  L'on  mande  ausi  qu'il  n'est  pas  veritable  Bucoi.  L'on 
luy  a  lu  tout  sla  en plenne  table.  Kielmansegg,  Briefe  des  Herzogs  Ernst  August,  wie  Anm.  29, 
Nr.  125,  S.  276. 

101  Ebd.,  Nr.  127  (11.  Juni  1712),  S.  280. 

102  Ebd.,  Nr.  157  (14.  Juni  1713),  S.  319;  Nr.  158  (20.  Juni  1713),  S.  321. 


Abenteurer  und  Bastille-Haftlinge  381 

der  Hofgesellschaft  tituliert  wird.103  Um  sich  iiber  ihn  lustig  zu  machen  und  „die 
etwas  stumpfe  und  dumpfe  Stimmung  dieses  Hofes" 104  aufzuheitern,  taugt 
Bucquoy  allemal.  Als  er  Kurfiirstin  Sophie  ein  von  ihm  geschossenes  Rebhuhn 
zum  Geschenkmacht,  revanchiert  sich  die  82jahrige  mit  dem  Bild  eines  als  Cupi- 
do  verkleideten  Affen,  was  sehr gut  zu  diesem  alten  Liebhaber pafit,  wie  Sophie  jiing- 
ster  Sohn  anmerkte. 105  Wirfilhren  ein  sehr  ruhiges  Leben  in  Herrenhausen,  so  berichtet 
Ernst  August  an  seinen  Freundjohann  Franz  Diedrich  von  Wendt,  nur  der  Abbe  de 
Bucquoy  weckt  uns  auf.106  14  Tage  spater  gibt  er  erneut  dem  Grundgefiihl  nervto- 
tender  Langeweile  Ausdruck:  Wenn  man  in  Hannover  kurze  Briefe  schreibt,  hat  man 
immer  die  gute  Ausrede,  dass  es  nichts  zu  berichten  gibt. 107 

Ob  das,  was  die  Abenteurer  bei  Hofe  zum  Besten  geben,  der  Wahrheit  ent- 
spricht,  ist  weniger  wichtig  als  der  Unterhaltungswert  ihrer  Darbietungen.  Als  Ge- 
org  Ludwig  im  September  1714  auf  dem  Weg  zur  englischen  Krone  Constantin  de 
Renneville  in  Holland  trifft,  fragt  er  ihn,  ob  Bucquoy  tatsachlich  dieses  bewegte 
Leben  gefiihrt  habe,  in  der  Bastille  gewesen  und  daraus  geflohen  sei.108  Renne- 
ville kann  als  Mithaftling  im  GroBen  und  Ganzen  Bucquoys  Angaben  bestatigen. 
Drei  Jahre  lang  hatte  der  hannoversche  Kurfiirst  sich  also  die  ihm  im  Grunde  un- 
glaubwiirdig  erscheinenden  Geschichten  des  Bastille-Fliichtlings  angehort,  deren 
Wert  fur  ihn  offensichtlich  nicht  in  ihrer  Authentizitat  lag.  Angesichts  des  knap- 
pen  Angebots  an  Unterhaltungsmoglichkeiten  hatte  man  die  , daily  soap'  des 
schwadronierenden  Abenteurers  genossen,  gleichgiiltig  wie  weit  sich  Fiktion  und 
Realitat  in  den  Erzahlungen  mischten,  wenn  sie  nur  Zerstreuung  und  Abwechs- 
lung  versprachen.  Die  gleiche  Wertschatzung  in  ahnlicher  Rolle  erfuhr  auch 
Florentin  de  Brandenbourg,  der  ehemalige  Beichtvater  der  spanischen  Konigin. 
Leibniz  konnte  in  einem  Brief  an  Caroline  von  Wales  dessen  abenteuerliche  Be- 
richte  weder  bestatigen  noch  widerlegen,  muBte  dem  friiheren  Kapuziner  aber 
konzedieren,  dass  ervon  wendigem  Geist  ist,  der  den  Konig[Georg  I.]  zufriedenstellt.109 
Mit  welcher  Siiffisanz  Leibniz  dieses  Lob  aussprach,  erschlieBt  sich  aus  dem  Kon- 
text.  Im  Brief  davor  hatte  er  iiber  vergleichbare  Abenteurer  am  Wiener  Hof  be- 


103  Ernst  August  schreibt  aus  Pyrmont:  Je  vous  ecris  plus  sette  poste,  pour  vous  montrer  que 
j'ais  resu  vos  lettres,  que  pour pouvoir  vous  mander  quelque  chose  de  divertissan  d'icy,  ou  Von  ne  songe 
q'd  altera  la  selle,jusqu'd  I'abbe  de Bucoi  qui  s'en  mile  ausi,  mats  ilne  s'en  trouve pas  ancortrop  bien, 
parcequ'il  s'echauffe  trop  a  disputer  et parceque  quelques  malisieus  I'ont  regalle  du  titre  de  „Hofnarr". 
Ebd.,  Nr.  159  (1.  Juli  1713),  S.  321. 

104  Schnath,  Geschichte  Hannovers,  wie  Anm.  26,  Bd.  3,  S.  506. 

105  Kielmannsegg,  Briefe,  wie  Anm.  29,  Nr.  137  (4.  September  1712),  S.  293. 

106  Ebd.,  Nr.  126  (28.  Mai  1712),  S.  278. 

107  Ebd.,  Nr.  127  (11.  Juni  1712),  S.  280. 

108  Vgl.  Du  Noyer,  Histoire,  wie  Anm.  16,  1866,  Vorwort  zum  Nachdruck  1989,  S.  IX. 

109  [.  .  .]  qu'il  est  d'un  esprit  aise  [.  .  .]  qui  donne  du  contentement  au  Roy.  Klopp,  Werke  von 
Leibniz,  wie  Anm.  19,  Bd  11,  S.  189. 


382  Gerd  van  den  Heuvel 

richtet,  den  Marquis  de  Langallerie  und  den  Prince  de  Linange.110  Philippe  de 
Gentils  de  Lajonchapt  marquis  de  Langallerie  warbereits  im  Herbst  1711  in  Han- 
nover aufgetaucht  und  hatte  dem  Kurfiirsten  einen  Plan  verkaufen  wo  lien,  wie  der 
Spanische  Erbfolgekrieg  mit  einem  Schlag  siegreich  beendet  werden  konne.  Er 
warzwarbei  GeorgLudwigin  derGohrdenicht  vorgelassen  worden,111  hatte  aber 
immerhin  ein  Prasent  von  400  Reichstalern  aus  der  kurfiirstlichen  Kasse  erhal- 
ten.112  Auch  seinLeben  war  das  eines  rastlosen  Hasardeurs.  Als  franzosischerOf- 
fizier  wegen  permanenter  Besserwisserei  und  Streitlust  in  Ungnade  gefallen,  war 
er  1705  in  osterreichische  Dienste  gewechselt,  wurde  wenig  spater  General  einer 
litauischen  Armee  des  polnischen  Konigs  August  des  Starken,  verlieB  auch  die- 
sen  Posten,  konvertierte  1711  in  Holland  zum  Protestantismus  und  suchte  um  1716 
Kontakt  zum  Botschafter  der  Pforte  in  den  Niederlanden,  mit  dem  Plan,  an  der 
Spitze  einer  tiirkischen  Armee  in  Italien  einzufallen,  den  Papst  als  Feind  Jesu 
Christi  an  die  Tiirken  auszuliefern  und  Rom  dem  deutschen  Kaiser  zu  iibergeben. 
Langallerie  endete  1717  als  kaiserlicher  Gefangener  im  ungarischen  Raab  durch 
Verhungern.113  Dem  ebenfalls  1716  in  Wien  anwesende  Prinz  von  Linange,  der, 
wie  Leibniz  berichtete,  nach  tausenden  Schurkereien  in  Frankreich  sich  in  Holland  als 
Abgesandter  derPiraten  von  Madagaskar  vorgestellt  hatte,  war  es  in  Wien  gelungen,  als 
Wegbereiter  des  Messias  geniigend  Verriickte  zu  finden,  die  ihm  Geld gaben.lu 

V. 

Die  von  Leibniz  geschilderten  Falle  zeigen,  dass  sich  unter  der  ansehnlichen  Zahl 
der  entwurzelten  Aristokraten  in  Hannover  keineswegs  die  skurrilsten  Vertreter 
dieser  Spezies  befanden  und  andere  Hofe,  alien  voran  der  Kaiserhof  in  Wien, 
noch  groBere  Anziehungskraft  fur  Gliicksritter,  Scharlatane  und  Projektemacher 
aller  Art  besaBen.  In  Hannover  verlieren  sich  nach  1716  die  Spuren  der  meisten 
ehemaligen  Bastille-Haftlinge,  bis  auf  einen,  den  Grafen  Bucquoy,  der  -  von  Ge- 
org  I.  und  nach  1727  auch  von  dessen  Sohn  Georg  II.  finanziell  unterstiitzt  -  mit 
Unterbrechungen  noch  25Jahre  an  derLeine  leben  und  hierauch  seine  letzte  Ru- 
hestatte  finden  sollte. 

Bucquoy  bleibt  nach  derUbersiedlung  des  Hofes  nach  London  in  Herrenhau- 
sen  zuriick,  in  einem  Nebengebaude  des  Schlosses,  wo  der  Graf  in  den  oberen 
Raumlichkeiten  untergebracht  ist  und  im  ErdgeschoB  ein  Schreiber  der  konigli- 


110  Brief  vom  11.  September  1716,  ebd.,  S.  183f. 

111  Schnath,  Geschichte  Hannovers,  wie  Anm.  26,  Bd  3,  S.  720. 

112  HStA,  Harm.  76  c  A  Nr.  236,  S.  523,  13.  Dezember  1711. 

113  Vgl.  Dictionnaire  de  biographie  francaise,  T.  15,  1982,  Sp.  1094-1096. 

114  Leibniz  an  Caroline  von  Wales,  11.  September  1716.  Klopp,  Werke  von  Leibniz,  wie 
Anm.  19,  Bd  11,  S.  184. 


Abenteurer  und  Bastille-Haftlinge  383 

chen  Gartenverwaltung  mit  der  Witwe  eines  Paukenschlagers  der  koniglichen 
Leibgarde  wohnt.115  Die  Querelen  dieser  Hausgemeinschaft  sind  noch  in  einer 
Reihe  von  franzosischsprachigen  Druckschriften  dokumentiert,  mit  denen  sich 
Bucquoy  in  den  1730er  Jahren  quasi  offentlich  iiber  seine  Mitbewohner  bei  den 
zuriickgelassenen  Geheimen  Raten  in  Hannover  beschwert.116  Zunachst  nimmt 
der  Graf  jedoch  seine  intensive  Reisetatigkeit  wieder  auf,  unter  anderem  nach 
Briissel,  Frankfurt  und  Leipzig.  Vor  allem  aber  sucht  er  Kontakt  zum  anderen 
Zweig  des  Welfenhauses,  dem  Hof  in  Wolfenbiittel.  Fiireinigejahre  gewinnt  erei- 
nen  neuen  Gonnerin  Herzog  Ludwig  Rudolf,  demjiingeren  Sohn  Anton  Ulrichs, 
der  die  Nebenresidenz  Blankenburg  innehat.  Bucquoy  agiert  weiter  als  umtriebi- 
ger,  politisierender,  theologische  wie  philosophische  Banalitaten  publizierender, 
Gelegenheitsgedichte  verfassender  und  in  alle  moglichen  Rollen  schliipfender 
Abenteurer,  bis  es  schlieBlich  „auch  fiirihn  ernst  wirdund  er  sich  mit  der  einzigen 
fur  ihn  giiltigen  Realitat  ins  Benehmen  setzen  muB  -  dem  Altwerden".117  Aber 
Bucquoy  ware  nicht  Bucquoy,  wenn  er  nicht  auch  diesen  letzten  Lebensabschnitt 
in  adaquater  Weise  fiir  sein  qualitativ  wie  quantitativ  geschrumpftes  Publikum 
und  die  Nachwelt  gestaltet  und  stilisiert  hatte.  Bis  zuletzt  bestatigt  er  die  Charak- 
terisierung,  die  der  Chef  der  Pariser  Polizei  nach  der  Flucht  des  Grafen  aus  der  Ba- 
stille in  einem  Steckbrief  zu  Papier  gebracht  hatte:  Er  redet  viel,  spielt  den  Philoso- 
phen,  will  sich  in  seinen  Reden  als  Gelehrter  und  Mann  von  Stand  darstellen,  der  grojie 
Hochachtung  verdient.u&  Als  Einsiedler  von  Herrenhausen  -  so  der  Titel  einer  seiner 
Druckschriften119  -  kniipft  er  wieder  an  seine  monchische  Vergangenheit  an,  ver- 
liert  dabei  aberkeine  Minute  das  Ziel  aus  den  Augen,  Aufmerksamkeit  zu  erregen 
und  sein  Leben  bekanntzumachen.  So  bringt  er  1740  als  Textvorschlage  fiir  sei- 
nen Grabstein  eine  Kurzgefajite  Lebens-Beschreibung  des  Abts  und  Grafen  von  B in 

einigen  Grabschriften  zum  Druck,120  mit  mehr  als  einem  Dutzend  lateinischen, 


115  Das  Folgende  nach  Guerin,  Bucquoy,  wie  Anm.  18,  S.  312-330. 

116  [Jean-Albert  d'Archambaud,  comte  de  Bucquoy],  Le  Solitaire  d'Herrenhausen  en 
forme  de  supplique  a  leurs  Excellences  Messieurs  les  conseillers  prives  au  sujet  des  mauvai- 
ses  pratiques  de  Sch. . .  et  de  sa  femme  contre  sa  personne  etc.  Herrenhausen  ce  10.  Obre 
1738,  [Hannover]  1739;  Ders.,  A  S.  Exe.  Mr.  Le  G.  M.  de  R.,  ou  a  la  faveur  d'un  nouveau 
Trait  de  l'audace  du  Maitre  Compagnon Jardinier  d'Herrenhausen  Sch...  &  de  sa  femme, 
on  tache  de  repandre  un  plein  jour  sur  toute  leur  iniquite  precedente,  [1739]. 

117  Sussenberger,  Abenteurer,  wie  Anm.  93,  S.  21. 

118  II park  beaucoup,fait  le philosophe,  veutfaire  connaitre  dans  ses  discours  qu'il  est  homme  sa- 
vant et  de  qualite,  et  qu'il  merite  beaucoup  de  consideration.  Zitat  nach  Guerin,  Bucquoy,  wie 
Anm.  18,  S.  30. 

119  Vgl.  Anm.  122  und  dazu  die  biographische  Skizze  von  Wrampelmeyer,  Der  Einsied- 
ler von  Herrenhausen,  in:  Hannoverland,  1915,  3.  Heft,  S.  33-35. 

120  Gedruckt  im  Anhang  zu:  [Jean-Albert  dArchambaud,  comte  de  Bucquoy],  Diffe- 
rentes  Epitaphes  au  sujet  du  comte  de  Scarborough  [...]/  Verschiedene  Grabschriften,  wo- 


384  Gerd  van  den  Heuvel 

franzosischen  und  deutschen  Zwei-  und  Vierzeilern,  darunter  so  ,bedeutende'  wie 
diese: 

Der,  den  Hannover  liebt  und  qudlt,  ruht  hier.  0  Seltenheit! 
Es  bringt  sich  selber  um,  da  es  den  Tod  mir  drdut. 

In  Nieder-Sachsen  sucht  man  sich  an  ihm  zu  reiben, 
dock  der  ihm  Tort  gethan,  vermochte  nicht  zu  bleiben. 

Den  dieses  Grab  umschliefit,  war  kaum  in  Sachsen  kommen 
so  ward  sein  Rath  sofort  als  heilsam  angenommen, 
die  Grdfin  Cosel  selbst  hb'rt  ihn  gedultig  an, 
doch  wenn  sie  ihm  gefolgt,  sie  ware  besser  dran. 

Denjetzt  die  Erde  deckt,  gab  manchen  guten  Rath 
die  Coseln  folgte  nicht,  und  nun  ist  es  zu  spat. 

Am  anschaulichsten  und  klarsten  wird  die  Selbsteinschatzung  und  Lebensbi- 
lanz  des  ehemaligen  Haftlings  in  einem  Kupferstich,121  mit  dem  sich  der  Einsiedler 
von Herrenhausenhurz  vor  seinem  Tod  ins  Bild  setzte  und  auf  7,5  mal  10,5  cm  noch 
einmal  die  , Highlights'  seiner  Biographie  rekapitulierte:  Der  aus  dunklem  Ge- 
wolk  hell  angestrahlte,  im  Gestus  des  Philosophen  meditierende  Greis  sitzt  unter 
einem  alten  Baum,  im  rechten  Hintergrund  die  drei  Gefangnisse,  denen  er  als 
Ausbrecherkonig  entronnen  ist  (die  Bastilleflucht  wird  durch  den  Lichtstrahl  be- 
sonders  hervorgehoben),  im  linken  Hintergrund  vor  den  stilisierten  Garten  von 
Herrenhausen  die  konigliche  Tafel,  an  der  er  mit  der  Herrscherfamilie  speist.  Der 
Kupferstich  diente  als  Frontispiz  zu  einer  Gedichtsammlung  iiber  die  Nichtigkeit 
der  Welt m  und  war  mit  folgendem  erklarendem  Text  untertitelt: 

Dreymahl  sezt  Er  sich  in  Freyheit,  doch  Er  meint  Er  sey  erstfrey 
Wenn  Er  Fursten  dieser  Erden  sagen  darfwas  Warheit  sey 
Und  noch  mehr  wenn  Er  Allein  kan  sein  eigner  Kdnig  seyn. 

Jean-Albert  dArchambaud,  comte  de  Bucquoy  starb  am  1.  November  1740  in 
Herrenhausen  und  wurde  in  der  Krypta  der  katholischen  Clemenskirche  beige- 
setzt.  Ob  man  bei  der  Gestaltung  des  nicht  erhaltenen  Grabsteins  auf  Bucquoys 


zu  der  Graf  von  Scarborug  Gelegenheit  gegeben,  welcher  sich  an  seinem  Hochzeits-Tage  mit 
einem  Pistolen-SchuB  durch  den  Mund  ertodtet  hat.  o.  O.  1740. 

121  Vgl.  Abb.  6. 

122  [Jean-Albert  d'Archambaud,  comte  de  Bucquoy],  Le  Tableau  du  Solitaire  d'Herren- 
hausen  ou  ses  differents  sentiment  [sic]  sur  le  neant  des  choses  humaines.  Le  vers  allemand 
et  latin  uni  au  vers  francois.  Das  BildniB  des  Einsiedlers  zu  Herrenhausen  oder  verschiedene 
Gedanken  desselben  iiber  die  Nichtigkeit  der  Welt,  [Hannover  ca.  1740]. 


Abb.  6: 

Bucquoy, 

Le  Tableau  du  Solitaire 

d'Herrenhausen, 

Frontispiz 


Abenteurer  und  Bastille-Haftlinge  385 


Vorschlage  zuriickgriff,  ist 
nicht  bekannt.  Er  hinter- 
lieB  der  Gemeinde  einen 
NachlaB  im  Wert  von 
1000  Reichstalern. 


J    A  .  C  .  D  .  B 


VI. 


Auch  wenn  Bucquoy  seine  letzten  Lebensjahre  als  Einsiedler  von  Herrenhausen  rela- 
tiv  stationar,  sozusagen  als  , Abenteurer  im  Ruhestand'  verbrachte,  so  steht  seine 
Biographie  doch  stellvertretend  fur  die  einer  Vielzahl  unbekannter  oder  wenig  be- 
achteter  Gliicksritter,  welche  die  Fiirstenhofe  des  18.  Jahrhunderts  bevolkerten. 
Andere  Reprasentanten  dieser  Spezies  wie  Cagliostro  oder  Casanova  mogen  be- 
reits  zu  Lebzeiten  bekannter  und  als  Titelhelden  in  Literatur  und  Oper  in  der 


386  Gerd  van  den  Heuvel 

Nachwelt  beriihmter  geworden  sein,  doch  auch  fur  die  am  hannoverschen  Hof 
nach  1700  Gestrandeten  trifft  die  allgemeine  Charakterisierung  des  aventurier des 
18.  Jahrhunderts123  zu:  Er  lebt  ohne  gesichertes  Einkommen  und  ohne  einen  fe- 
sten  Platz  in  der  Gesellschaft;  er  steht  oder  stand  in  Konflikt  mit  gesellschaftlichen 
Normen  und  staatlichen  Gesetzen;  er  ist  mobil,  umtriebig,  stets  in  Bewegung,  sei 
es  aus  eigenem  Antrieb,  sei  es  als  Verfolgter;  er  ist  aufgrund  seiner  Sozialisation, 
Bildung  und  Erfahrung  in  der  Lage,  sich  den  Erfordernissen  verschiedener 
Milieus  anzupassen,  vom  Wirtshaus  bis  zum  Fiirstenhof.  Der  Abenteurer  ist  eine 
Figur  „ganz  oben"  und  „tief  unten"  in  der  Gesellschaft,124  ein  Mann,  dessen  Cha- 
raktermerkmale  der  Chef  der  Pariser  Polizei  in  der  Person  des  Abbe  de  Bucquoy 
in  durchaus  allgemeingiiltiger  Weise  so  beschrieb:  Er  wechselte  seinen  Stand  nach 
seinen  Bediirfnissen  und  Ansichten;  er  war  mal  Offizier,  mal  Trappist,  Seminarist,  Burger 
und  Pilger;  er  warfsich  sogar  manchmal  zum  Theologen  und  Philosophen  auf,  obwohl  er 
nach  seinem  eigenen  Eingestdndnis  weder  das  eine  noch  das  andere  studiert  hatte.  Er  ist  von 
einem  Abenteuer  zum  nachsten  geeilt  oder,  um  es  genauer  zu  sagen,  von  Hirngespinst  zu 
Hirngespinst;  man  kannfolglich  sagen,  dass  seine Lebensgeschichte  ein  Gewebe  von  Gaune- 
reien  und  Liigen  ist.125 

In  seiner  Ungebundenheit,  kosmopolitischen  Existenz,126  intellektuellen  Flexi- 
bilitat  und  religiosen  oder  moralischen  Indifferenz  verkorpert  der  Abenteurer 
den  Ausbruch  aus  den  auBerlich  starren  Normen  der  hofischen  Gesellschaft,  die 
dieses  ephemere  Abweichlertum  noch  nicht  als  gefahrlich,  sondern  als  exotisch, 
amiisant  und  unterhaltsam  empfindet.  Die  auBergewohnliche,  exaltierte  und 
normverletzende  Rolle  des  Abenteurers  konnte  diese  Gesellschaft  umso  leichter 
akzeptieren  und  goutieren,  als  auch  das  Regelsystem  des  Hofes,  die  Etikette,  auf 
Rollenspielen  beruhte  und  auch  hier  „das  Sein  sich  im  Scheinen"  ausdriickte.127 
„Dasein  heiBt  eine  Rolle  spielen":  Was  der  ansassigen,  hierarchisch  gegliederten 
Hofgesellschaft  nur  temporar  im  Karneval,  in  den  beliebten  Verkleidungen  der 
Wirtschaften  und  bei  Theaterauffiihrungen  gegeben  war,  der  spielerische  Rollen- 
wechsel,  die  kurzfristige  Imagination  einer  anderen  sozialen  Existenz,  verkorpert 


123  Vgl.  Suzanne  Roth,  Art.  Aventurier,  in:  Michel  Delon  (Hrsg.),  Dictionnaire  eu- 
ropeen  des  Lumieres,  Paris  2007,  S.  151-153. 

124  Reichel,  Der  Abenteurer  und  sein  Jahrhundert,  wie  Anm.  96. 

125  //  changea.it  d'etat  suivant  ses  besoins  et  ses  vues;  il  etait  tantot  capitaine,  religieux  de  la  Trap- 
pe,  seminarists,  bourgeois  etpelerin;  ils'erigeait  meme  quelquefois  en  theologien  et  enphilosophe,  quoi- 
que,  de  sonpropre  aveu,  iln'ait  jamais  etudie  ni  I'une  ni  I'autre  de  ces  sciences;  il  a  passe  d'aventure  en 
aventure,  ou pour parler plus  exactement,  de  chimere  en  chimere;  ainsi,  I'onpeut  dire  que  I'histoire  de  sa 
vie  est  un  tissu  de  friponneries  et  de  mensonges.  M.-R.  de  Voyer  dArgenson  an  L.  Phelypeaux  de 
Pontchartrain,  26.  Juli  1707.  Vgl.  Ravaisson-Mollien,  Archives,  wie  Anm.  5,  T.  XI,  S.  336. 

126  Gerd  van  den  Heuvel,  Cosmopolite,  Cosmopolitisme,  in:  Handbuch  politisch-so- 
zialer  Grundbegriffe,  wie  Anm.  3,  Heft  6,  1986,  S.  41-55. 

127  Reichel,  Der  Abenteurer  und  sein  Jahrhundert,  wie  Anm.  96,  S.  375. 


Abenteurer  und  Bastille-Haftlinge  387 

der  Abenteurer  mit  seiner  Biographie  in  Permanenz:  den  offenen,  von  Zufallen 
und  Rollenwechseln  gepragten  Lebensentwurf,  die  Alternative  zu  einem  von  star- 
ren  Umgangsformen  und  Eintonigkeit  gepragten  Alltag.  Er  ist  Projektionsflache 
und  Unterhaltungsmedium  einer  vom  Zwang  zur  Arbeit  freigestellten,  materiell 
sorglos  lebenden  Hofgesellschaft,  die  der  „gro6en  Krankheit  der  Epoche,  der 
Langeweile",128  zu  entfliehen  sucht. 

Der  Abenteurer  ist  zwar  eine  Randfigur  im  fiirstlichen  Machtzentrum;  seine 
Existenz  und  sein  bisweilen  enormer  sozialer  Erfolg  in  der  Sphare  des  Hofes  laBt 
aber  erkennen,  dass  die  historische  Realitat  der  hofischen  Gesellschaft,  ihr  Alltag 
und  ihre  Umgangsformen  auf  der  Basis  normativer  Vorgaben  der  zeitgenossi- 
schen  Zeremonialwissenschaft129  nur  unzureichend  beschrieben  werden  kon- 
nen.  In  der  breitgefacherten  neueren  Forschungsliteratur  zum  fruhneuzeitlichen 
Fiirstenhof 130  spielt  das  abweichende,  gleichwohl  akzeptierte  oder  gar  goutierte 
Sozialverhalten  der  aventuriers  so  gut  wie  keine  Rolle.  Eine  starkere  Beriicksichti- 
gung  des  hofischen  Alltags  jenseits  einer  von  Hofordnungen  vorgegebenen  und 
von  Etikette  wie  Zeremoniell  bestimmten  AuBendarstellung  vermag  hingegen 
dazu  beizutragen,  idealtypische  Beschreibungen131  des  Sozialsystems  Hof  diffe- 
renzierter  zu  betrachten. 

Gegen  Ende  des  18.  Jahrhunderts  wird  sich  die  Ein-  und  Wertschatzung  des 
Abenteurers  grundlegend  gewandelt  haben.  In  seinem  bekanntesten  Werk  Uber 
den  Umgang  mit Menschen  siedelt  Adolph  Freiherr  Knigge  den  aventurierim  Kapitel 
Leute  von  allerley  Lebensart  und  Gewerbe  auf  der  untersten  Stufe  der  sozialen  Hier- 
archie  an,  noch  hinter  den  kleinen  Kaufleuten,  Pferdehandlem,  Juden  und 
Bauern.132  Allerdings  unterscheidet  er  Abenteurer  von  unschddlicher  Art  und  die 
eigentlichen  Betriiger  und  Gauner.  Das  heraufziehende  biirgerliche  Zeitalter  mit  sei- 
nen  Idealen  der  Geradlinigkeit,  Ehrlichkeit,  Authentizitat  und  personlichen  Inte- 


128  Sussenberger,  Abenteurer,  wie  Anm.  93,  S.  19;  Rudolf  Vierhaus,  Hofe  und  hofische 
Gesellschaft  in  Deutschland  im  17.  und  18.  Jahrhundert,  in:  Ernst  Hinrichs  (Hrsg.),  Absolu- 
tisms, Frankfurt  1986,  S.  116-137,  hier  S.  131. 

129  Vgl.  Julius  Bernhard  von  Rohr,  Einleitung  zur  Ceremoniel-Wissenschaft  der  grossen 
Herren  [1729],  Ndr.  der  2.  Auflage  Berlin  1733,  hrsg.  und  kommentiert  von  Monika  Schlechte, 
Weinheim  1990;  Ders.,  Einleitung  zur  Ceremoniel-Wissenschaft  der  Privat-Personen  [1728], 
hrsg.  und  kommentiert  von  Gotthardt  Fruhsorge,  Weinheim  1990.  Daran  orientiert  z.  B.  An- 
dreas Gestrich,  Absolutismus  und  Offentlichkeit,  Gottingen  1994,  S.  156-168. 

130  Rainer  A.  Muller,  Der  Fiirstenhof  in  der  friihen  Neuzeit,  Miinchen  1995;  Klaus  Ma- 
LETTKE/Chantal  Grell,  Hofgesellschaft  und  Hoflinge  an  europaischen  Furstenhofen  in  der 
Friihen  Neuzeit  (15.-18.  Jh.),  Miinster/Hamburg/Berlin/London  2001. 

131  Volker  Bauer,  Die  hofische  Gesellschaft  in  Deutschland  von  der  Mitte  des  17.  bis 
zum  Ausgang  des  18.  Jahrhunderts,  Tubingen  1993. 

132  Adolph  Freiherr  Knigge,  Uber  den  Umgang  mit  Menschen  [1788].  Nachwort  von 
Wolf  Lepenies,  Zurich  2000,  Dritter  Teil,  7.  Kapitel,  S.  471-480. 


388  Gerd  van  den  Heuvel 

gritat  vermag  die  schillernde  Figur  des  Abenteurers,  des  gewandten  und  sich 
nach  Bedarf  wandelnden,  opportunistischen,  nirgendwo  wirklich  gebunden  so- 
zialen  Chamaleons,  nicht  mehr  in  seine  Vorstellung  von  einer  wohlgeordneten 
Gesellschaft  zu  integrieren.  Der  Sturm  auf  die  Bastille  beseitigt  nicht  nur  ein  Sym- 
bol absolutistischerWillkiir,  ermarkiert  auch  das  Ende  einer  nur  scheinbarfestge- 
fiigten  und  klar  gegliederten  standischen  Gesellschaftsordnung,  die  vielfaltiger, 
bunter  und  in  mancher  Hinsicht  auch  offener  war,  als  man  bisweilen  annimmt. 


Die  Industrialisierung  des  Konigreichs  Hannover 

in  der  offentlichen  Debatte  urn 

die  Gewerbereform 

Von  Daniel  Mohr 


Geht  es  um  den  ProzeB  der  Industrialisierung  im  Konigreich  Hannover,  so  setzt 
die  einschlagige  Literatur  dreierlei  meist  als  selbstverstandlich  voraus: 

1)  Die  Wirtschaftsstruktur  dieses  Staates  sei  iiberwiegend  agrarisch  und  dieser  in 
seiner  Entwicklung  deshalb  ruckstandig  gewesen. 

2)  Die  verschiedenen  hannoverschen  Regierungen  hatten  vorzugsweise  den 
Ackerbau  gefordert,  eine  Modernisierung  der  Gewerbe  oder  gar  Industriali- 
sierung des  Landes  hingegen  hatten  sie  nicht  gewollt. 

3)  Auch  in  der  offentlichen  Meinung  habe  die  Auffassung  vorgeherrscht,  Han- 
nover sei  ein  Agrarland  und  miisse  das  auch  in  Zukunft  bleiben. 

Im  folgenden  soil  deutlich  werden,  daB  diese  Thesen1  teils  nicht  zutreffen,  teils 
stark  zu  relativieren  sind.  Mittelpunkt  der  Untersuchung  ist  die  offentliche  Dis- 
kussion  um  die  Gewerbeverfassung.  Es  geht  allerdings  nicht  darum,  diese  voll- 
standig  und  ausfiihrlich  nachzuzeichnen,  sie  fungiert  vielmehr  als  Bindeglied  zwi- 
schen  den  oben  genannten  Fragestellungen. 

1)  Die  wirtschaftliche  Struktur  des  von  1815  bis  1866  bestehenden  Konigreichs 
ist  bis  heute  nur  liickenhaft  erforscht.  Das  diirfte  vor  allem  an  der  Unzulanglich- 
keit  des  zeitgenossischen  statistischen  Materials  liegen.2  In  diesem  ist  zwar  von 

1  Dezidiert  vertritt  sie  z.B.  Heide  Barmeyer.  Ihre  Begriindungen  sind  allerdings  in  vieler 
Hinsicht  unzureichend.  So  erfahrt  man  zwar,  daB  der  hannoversche  Gewerbeverein  sich  um 
die  Modernisierung  der  hannoverschen  Gewerbe  und  somit  letztlich  auch  um  die  Industriali- 
sierung bemiihte,  nicht  aber,  daB  dieser  Verein  von  der  Regierung  gelenkt  und  zu  einem  guten 
Teil  finanziert  wurde.  Auch  negiert  Barmeyer  publizistische  Beitrage,  deren  Verfasser  schon 
friih  dafur  eintraten,  die  Industrialisierung  des  Konigreichs  Hannover  zu  fordern.  Siehe  Heide 
Barmeyer,  Gewerbefreiheit  oder  Zunftbindung?  Hannover  an  der  Schwelle  des  Industrie- 
zeitalters,  in:  Niedersachsisches  Jahrbuch  fur  Landesgeschichte  46/47,  1974/75,  S.  231-262, 
S.  232-234. 

2  Erwahnenswert  sind  F.W.O.  Freiherr  von  Reden,  Das  Konigreich  Hannover  statistisch 


390  Daniel  Mohr 

Handwerksbetrieben  und  Fabriken  die  Rede,  nirgends  wird  aber  klar  zwischen 
beidem  differenziert.  Fur  lange  Zeitraume  liegen  iiberdies  gar  keine  Zahlen  vor. 
Ein  weiteres  Informationsdefizit  ergibt  sich  daraus,  daB  die  Akten  des  fur  Gewer- 
beangelegenheiten  zustandigen  hannoverschen  Innenministeriums  im  Zweiten 
Weltkrieg  zerstort  worden  sind.  Neuere,  wissenschaftlichen  Anspriichen  genii- 
gende  Studien  beschranken  sich  durchweg  auf  einzelne  Orte  und  zudem  haufig 
auf  spezielle  Fragestellungen.  So  geht  es  in  Wieland  Sachses  Beitrag  iiber  Got- 
tingen3 vornehmlich  um  die  Bevolkerungsentwicklung  und  weniger  um  wirt- 
schaftiiche  Strukturen.  Uber  diesen  „Umweg"  bestatigt  sich  allerdings,  daB 
Gottingen  selbst  in  der  Spatzeit  des  Konigreichs  alles  andere  als  eine  Industrie- 
stadt  war.  Noch  1860,  das  weist  Sachse  anhand  von  Einwohner-  und  Steuerlisten 
nach,  hatte  die  Universitatsstadt  eine  weitgehend  friihneuzeitliche  Bevolke- 
rungsstruktur.  Auch  die  iibrigen  Forschungsbeitrage  bestatigen  den  iiberwiegend 
agrarischen  Charakter  der  hannoverschen  Wirtschaft.  Eine  groBere  Anzahl  von 
Fabriken  entstand  nur  an  wenigen  Orten,  namentlich  in  der  Landeshauptstadt 
und  in  Osnabriick,  im  Handwerk  dominierte  noch  lange  der  traditionell  arbeiten- 
de  Kleinbetrieb.4 

Die  meisten  deutschen  Staaten  waren  im  fraglichen  Zeitraum  aber  auf  einem 
vergleichbaren  wirtschaftlichen  Entwicklungsstand,  weshalb  es  unangemessen 
ist,  von  einer  besonderen  Riickstandigkeit  Hannovers  zu   sprechen.5   Hinzu 


beschrieben,  zunachst  in  Beziehung  auf  Landwirthschaft,  Gewerbe  und  Handel,  1.  Abthei- 
lung:  Bodenbeschaffenheit,  Landwirthschaft,  Gewerbtatigkeit,  Hannover  1839  sowie  N.  N., 
Zur  Statistik  des  Konigreichs  Hannover,  Zehntes  Heft,  Gewerbestatistik  1861,  Hannover 
1864. 

3  Wieland  Sachse,  Zur  Sozialstruktur  Gottingens  im  18.  und  19.  Jahrhundert,  in:  Nieder- 
sachsisches Jahrbuch  fur  Landesgeschichte  58,  1986,  S.  27-54. 

4  Klaus  Assmann,  Zustand  und  Entwicklung  des  stadtischen  Handwerks  in  der  ersten 
Halfte  des  19.  Jahrhunderts,  dargestellt  am  Beispiel  der  Stadte  Liineburg,  Celle,  Gottingen 
und  Duderstadt,  Gottingen  1971,  S.  75-89;  Ulrich  Hagenah,  Landliche  Gesellschaft  im  Wan- 
del  zwischen  1750  und  1850  -  das  Beispiel  Hannover,  in:  Niedersachsisches  Jahrbuch  fur 
Landesgeschichte  57,  1985,  S.  161-206,  S.  192-194;  Johannes  Laufer,  Zwischen  Heimgewer- 
be  und  Fabrik.  Der  Strukturwandel  im  Textilgewerbe  im  sudlichen  Niedersachsen  im  19. 
Jahrhundert,  in:  Niedersachsisches  Jahrbuch  fur  Landesgeschichte  71,  1999,  S.  201-222.  Die 

einzige  Stadt,  die  schon  bei  der  Griindung  des  Konigreichs  industriell  gepragt  war  ist  Oste- 
rode.  Siehe  hierzu  Michael  Mende,  Bereits  vor  1800  .  .  .  als  eigentliche  Fabrikstadt  zu  be- 
trachten:  Osterodes  Sonderrolle  in  der  Industrialisierung  Hannovers,  in:  Niedersachsisches 
Jahrbuch  fur  Landesgeschichte  Niedersachsisches  Jahrbuch  fur  Landesgeschichte  66,  1994, 
S.  105-127. 

5  Sabine  Barnowski-Fecht,  Das  Handwerk  der  Stadt  Oldenburg  zwischen  Zunftbin- 
dung  und  Gewerbefreiheit  (1731-1861),  Oldenburg  2001  sowie  Ulrich  Moker,  Nordhessen 
im  Zeitalter  der  Industriellen  Revolution,  Koln/Wien  1977.  Ein  Uberblick  iiber  die  Entwick- 
lung" in  ganz  Deutschland  findet  sich  bei  Reinhard  Rurup,  Deutsche  Geschichte  im  19.  Jahr- 
hundert. 1815-1871,  Gottingen  1984,  S.  60-109. 


Die  Industrialisierung  des  Konigreichs  Hannover  391 

kommt,  daB  auch  im  Konigreich  friihzeitig  Strukturen  geschaffen  wurden,  welche 
fiir  die  spatere  industrielle  Entwicklung  von  Bedeutung  waren.  Zu  nennen  sind 
hier  insbesondere  die  Erweiterung  des  StraBennetzes  sowie  der  Bau  der  ersten  Ei- 
senbahnlinien.6  Seit  1850  nahm  die  Anzahl  der  Fabriken  auBerdem  merklich  zu, 
wenngleich  der  Anteil  der  dort  beschaftigten  Personen  im  Verhaltnis  zur  Gesamt- 
heit  der  Erwerbstatigen  gering  blieb.7 

2)  Im  Kurfiirstentum  Hannover  sowie  in  den  iibrigen  Teilen  des  spateren  Konig- 
reichs8 war  das  Handwerk,  wie  iiberall  im  alten  Reich,  ziinftig  organisiert  gewe- 
sen.  Mit  der  franzosischen  Besatzung  fand  diese  Gewerbeverfassung  ein  abruptes 
Ende.  In  Hildesheim,  Osnabriick  und  Ostfriesland  losten  die  neuen  Machthaber 
die  Ziinfte  auf,  in  Hannover  blieben  sie  zwar  formell  bestehen,  die  Mitgliedschaft 
in  einer  Zunft  war  aber  nicht  mehr  Voraussetzung  fiir  die  Niederlassung  als  Hand- 
werker.9  Diese  Gewerbefreiheit  war  allerdings  nur  von  kurzer  Dauer.  Nachdem 
1813  die  Besatzung  zu  Ende  gegangen  und  das  Konigreich  Hannover  gegriindet 
worden  war,  hob  die  neue  eingesetzte  Regierung  schon  nach  einem  Monat  das  so- 
genannte  Patentsteuergesetz  auf,  die  Rechtsgrundlage  fiir  die  erst  wenige  Jahre 
bestehende  Gewerbefreiheit.10 

Auf  dem  Gebiet  des  ehemaligen  Kurfiirstentums  bestand  alte  Zunftwesen  da- 
mit  weiterhin.  In  Hildesheim,  Osnabriick  und  Ostfriesland  stellte  man  es  1817 
bzw.  1819  per  ErlaB  wieder  her.  Diese  Erlasse,  die  sogenannten  Wiederherstel- 
lungsedikte,  erneuerten  iiber  weite  Strecken  den  alten  Rechtszustand,  gewahrten 
den  Handwerkern  bzw.  ihren  Kunden  an  zwei  Stellen  aber  mehr  Freiheit.  Zum  ei- 
nem hoben  sie  samtliche  Beschrankungen  der  Gesellenzahl  pro  Betrieb  auf,  zum 
anderen  erlaubten  sie  jedem  ziinftigen  Meister,  seine  Waren  und  Dienstleistun- 
gen  auch  auBerhalb  des  Zunftbezirks  anzubieten.  Handwerker,  welche  sich  wah- 
rend  der  Besatzungszeit  gegen  die  bloBe  Zahlung  einer  Gebiihr  niedergelassen 
hatten  (sog.  Patentmeister),  durften  ihr  Gewerbe  weiterfiihren,  jedoch  unter  er- 
heblichen  Einschrankungen.  Bestand  am  Wohnort  fiir  ihr  Handwerk  eine  Zunft, 


6  Ernst  Schubert,  Die  Veranderung  eines  Konigreichs,  in:  Bernd  Ulrich  Hucker/Ernst 
ScHUBERT/Bernd  Weisbrod  (Hrsg.),  Niedersachsische  Geschichte,  Gottingen  1993,  S.  374- 
386. 

7  Jorg  Jeschke,  Gewerberecht  und  Handwerkswirtschaft  des  Konigreichs  Hannover  im 
Ubergang  1815-1866,  Gottingen  1977,  S.  304-310. 

8  Bei  diesen  handelte  es  sich  um  die  Bistiimer  Hildesheim  und  Osnabriick  sowie  um 
Ostfriesland,  das  bis  1807  zu  PreuBen  gehort  hatte.  Das  Kurfiirstentum  Hannover  wurde 
1807  bzw.  1809  dem  Konigreich  Westfalen  angegliedert. 

9  Jeschke,  wie  Anm.7,  S.  29-31. 

10  Daniel  Mohr,  Auseinandersetzungen  um  Gewerbereformen  und  um  die  Einfuhrung 
der  Gewerbefreiheit  im  Konigreich  Hannover,  Gottingen  2001  (http.://webdoc. sub. gwdg. 
de./diss/2002/mohr),  S.  29  sowie  70-71. 


392  Daniel  Mohr 

so  muBten  sie  dieser  in  Osnabriick  und  Ostfriesland  (allerdings  unter  erleichter- 
ten  Bedingungen)  beitreten,  in  Hildesheim  konnten  sie  es.n  Die  Wiederherstel- 
lung  des  Zunftwesens  im  neu  gegriindeten  Konigreich  war  ein  Akt  konservativer 
Politik.  Man  restaurierte  weitgehend  den  alten  Rechtszustand,  trug  aber  den  wah- 
rend  der  Besatzung  geschaffenen  Fakten  Rechnung  und  liberalisierte  die  Gewer- 
beverfassung  auch  dariiber  hinaus  ein  wenig.  Mit  einer  grundlegenden  Reform 
hatte  das  nichts  zu  tun,  diese  war  offenbar  aber  auch  noch  nicht  beabsichtigt. 

Gar  keine  Erwahnung  in  den  Edikten  findet  das  Fabrikwesen.  Hier  blieb  es  im 
ganzen  Konigreich  noch  lange  bei  der  alten  Rechtspraxis,  wonach  der  Betrieb  ei- 
ner Fabrik  an  eine  Konzession  gebunden  war.  Das  ergab  sich  daraus,  daB  das  alte 
hannoversche  Gewerberecht  diese  Betriebsform  nicht  gekannt  hatte,  sie  mithin 
aus  dem  gegebenen  rechtlichen  Rahmen  fiel.  Folge  war,  daB  es  keine  allgemein 
verbindlichen  Richtlinien  fur  die  Zulassung  von  Fabriken  gab  und  die  Behorden 
hierbei  uneinheitlich  und  haufig  willkiirlich  verfuhren.  Wurde  das  Gesuch  um  ei- 
ne Konzession  verweigert,  so  ging  es  durchweg  um  den  Schutz  ziinftiger  Privilegi- 
en.  Kaum  strittig  hingegen  waren  die  Falle,  wo  die  geplante  Fabrik  mit  einem  un- 
ziinftigen  Gewerbe  konkurrierte  oder  es  um  eine  vollig  neue  Art  von  Produkten 
ging.  Im  anderen  Fall  fragten  die  zustandigen  Behorden  (die  Landdrosteien  sowie 
das  Innenministerium)  zum  einen,  ob  die  Verdienstmoglichkeiten  des  betreffen- 
den  Handwerks  im  Falle  einer  Fabrikgriindung  wirklich  beeintrachtigt  wiirden, 
zum  anderen,  inwieweit  in  der  geplanten  Fabrik  tatsachlich  ziinftige  Arbeiten  ver- 
richtet  werden  sollten.12 

Bei  dieser  Politik  blieb  es  bis  zum  Beginn  der  1830erjahre.  Eine  1830  im  Ent- 
wurf  vorgelegte  Gewerbeordnung13  hatte  die  geschilderte  Zulassungspraxis  ge- 
setzlich  festgeschrieben  und  auch  sonst  nur  das  schon  lange  geltende  Recht  besta- 
tigt.  So  sollte  das  Landhandwerk14  weiterhin  streng  beschrankt  bleiben,  auch  die 
Moglichkeit  von  Zunftschliissen 15  wollte  man  beibehalten.  Nur  einjahr  nach  Vor- 


11  Zum  Inhalt  der  Wiederherstellungsedikte  ebd.,  S.  71-87. 

12  Jeschke,  wie  Anm.  6,  S.  18-27  sowie  Mohr,  wie  Anm.  10,  S.  117. 

13  Dieser  Referentenentwurf  wurde  den  Landdrosteien  vorgelegt,  die  ihn  zur  Begutach- 
tung  an  die  Magistrate  der  Stadte  weiterleiteten.  Niemals  aber  entstand  eine  iiberarbeitete 
Version,  die  man  der  Standeversammlung  zur  Diskussion  bzw.  BeschluBfassung  vorgelegt 
hatte.  Genaueres  sowohl  zum  Inhalt  des  Entwurfs  als  auch  zum  gescheiterten  Gesetzge- 
bungsverfahren  ebd.,  wie  Anm.  10,  S.  87-98. 

14  In  den  meisten  Gebieten  des  Konigreichs  Hannover  unterlag  das  Landhandwerk 
weitgehenden  Beschrankungen.  Die  im  17.  und  18.  Jahrhundert  erlassenen  Gesetze  erlaub- 
ten  nur  den  Handwerkern  die  Niederlassung  auflerhalb  der  Stadte,  deren  Waren  und  Dienst- 
leistungen  die  Landbewohner  unbedingt  vor  Ort  brauchten.  Ebd.,  wie  Anm.  10,  S.  20-22. 

15  „ZunftschluB"  besagte,  daB  eine  Zunft  nur  eine  bestimmte  Anzahl  von  Mitgliedern 
aufnehmen  brauchte.  Im  Konigreich  Hannover  war  dies  eher  selten  der  Fall.  Auch  handelte 


Die  Industrialisierung  des  Konigreichs  Hannover  393 

lage  bzw.  Scheitern  des  Entwurfs  nahm  die  hannoversche  Gewerbepolitikaberei- 
ne  entscheidende  Wende.  Der  neue  Innenministerjohann  Caspar  von  der  Wisch 
(im  Amt  von  1831  bis  1848)  machte  sich  daran,  das  Gewerberecht  behutsam  zu 
vereinheidichen  und  zu  modernisieren.  So  bestimmten  die  Landdrosteien  fur  je- 
des  Handwerk  ein  einheitiiches  Meisterstiick  und  legten  zudem  verbindliche  Re- 
geln  fiir  die  Durchfiihrung  der  Meisterpriifung  fest.  Erstmals  iiberhaupt  einge- 
fiihrt  wurde  eine  obligatorische  Gesellenpriifung.  Wo  bereits  Gewerbeschulen 
(Vorlaufer  der  spateren  Berufsschulen)  bestanden,  verpflichtete  die  Landdrostei 
Liineburg  jeden  Lehrling  zum  Besuch  derselben.16  Auch  der  Gewerbebetrieb  in 
den  Flecken  fand  1840  zumindest  in  den  Landdrosteien  Hannover  und  Liineburg 
eine  einheitliche  Regelung.  War  es  bisher  in  vielen  Fallen  unklar  gewesen,  ob  die 
in  den  Flecken  ansassigen  Handwerker  als  Land-  oder  Stadthandwerker  anzuse- 
hen  seien,  so  wurden  sie  in  den  oben  genannten  Bezirken  nunmehr  den  stadti- 
schen  gleichgestellt.  Wer  in  einem  Flecken  das  Gemeinderecht  erworben  hatte, 
war  bei  der  Gewerbeausiibung  somit  von  alien  Beschrankungen  frei,  die  einem 
Landbewohner  hierbei  auferlegt  waren.17 

Fiir  die  industrielle  Entwicklung  diirften  die  bisher  geschilderten  MaBnahmen 
von  eher  geringer  Bedeutung  gewesen  sein.  Sie  sollten  Rechtssicherheit  schaffen 
bzw.  die  Kenntnisse  und  Fahigkeiten  der  traditionell  ziinftig  arbeitenden  Hand- 
werker verbessern.  Spatestens  ab  1833  unterstutzte  die  hannoversche  Regierung 
aber  auch  diejenigen,  welche  auBerhalb  des  traditionellen  Rahmens  gewerblich 
tatig  werden  wollten.  Auf  Initiative  der  Regierung  wurde  in  diesem  Jahr  ein  Ge- 
werbeverein18  gegriindet.  Seine  Aufgaben  bestanden  nach  dem  Griindungsmit- 
glied  Karl  Karmarsch  vor  allem  in  der  Forderung  der  technischen  Innovation, 
was  z.  B.  durch  die  Anschaffung  und  Sammlung  von  Musterexemplaren  bewdhrter  Ma- 
schinen,  Werkzeuge  und Produkte  ausldndischer Fabriken,  Pramierung  hervorragender  ge- 
werblicher  Leistungen,  Preisausschreibungen  zur  Forderung  von  Erfindungen,  [.  .  .]  und 
Vergabe  von  Reisestipendien  sowie  Darlehen  zur  Betriebsgrundung19  geschehen  sollte. 
Ein  nach  der  traditionellen,  im  jeweiligen  Zunftbrief  festgelegten  Art  arbeitender 
Handwerker  diirfte  sich  durch  dieses  Programm  kaum  angesprochen  gefiihlt  ha- 


es  sich  in  den  meisten  Fallen  nicht  um  ein  dauerhaft  verliehenes  Privileg,  sondern  um  eine 
voriibergehende  VerwaltungsmaBnahme.  Mohr,  wie  Anm.  10,  S.  43-44. 

16  Naheres  zu  Einrichtung,  Organisation  und  Effizienz  der  Gewerbeschulen  bei 
Jeschke,  wie  Anm.  7,  S.  190-200. 

17  Zu  den  Veranderungen  im  Gewerberecht  1831-1846  siehe  Mohr,  wie  Anm.  10,  S.  81-87. 

18  Jeschke,  wie  Anm.  7,  S.  170-177,  sowie  Mohr,  wie  Anm.  10,  S.  100-103.  Die  Akten  des 
bis  1940  bestehenden  Vereins  sind  nicht  erhalten,  so  daB  seine  Geschichte  nur  luckenhaft 
geschrieben  werden  kann. 

19  Vgl.  Karl  Karmarsch,  Die  deutschen  Gewerbsvereine,  in:  Deutsche  Vierteljahres- 
schrift,  1840,  4.  Heft,  S.  286ff.  Zitiert  nach  Jeschke,  wie  Anm.  7,  S.  174. 


394  Daniel  Mohr 

ben.  Der  Verein  forderte  aber  auch  die  gerade  erwahnten  Gewerbeschulen.  Au- 
Berdem  konnten  sich  ihm  die  lokalen  Gewerbevereine  anschlieBen,  deren  Mit- 
glieder  iiberwiegend  Handwerker  waren.  Fiir  sie  gab  er  sogar  eine  eigene  Zeit- 
schrift  {Monatsblatt  des  Gewerbevereins)  heraus,  die  iiber  technische  Neuerungen 
informierte.  Das  Blatt  war  eine  Erganzung  zu  den  Mittheilungen  des  Gewerbevereins 
fiir  das  Kdnigreich  Hannover,  welche  einen  hoheren  Kenntnisstand  voraussetzten. 
Der  Gewerbeverein  wollte  die  industrielle  Entwicklung  also  auf  zweierlei  Weise 
fordern.  Erstens  unterstiitzte  erjeden,  derunmittelbar  die  Griindung  einerFabrik 
oder  eines  vergleichbaren  Betriebes  plante.  Zweitens  ging  es  ihm  um  die  Mo- 
dernisierung  der  handwerklichen  Arbeit.  Letzteres  konnte  langerfristig  zur  Folge 
haben,  daB  viele  Meister  die  traditionelle  Handarbeit  aufgaben  und  durch  ma- 
schinelle  Produktion  ersetzten.  Wer  das  aber  tat,  gait  schnell  nicht  mehr  als  Hand- 
werker, sondern  als  Fabrikant. 

Spatestens  seit  Beginn  der  1830er  Jahre  forderte  die  hannoversche  Regierung 
also  nicht  mehr  nur  den  Ackerbau,  sondern  auch  das  Handwerk  sowie  die  noch  in 
den  Anfangen  steckende  Fabrikindustrie.  Zu  einer  gesetzlichen  Regelung  der  Zu- 
lassung  von  Fabriken  kam  man  jedoch  erst  Jahre  spater,  namlich  am  1.  Juli  1848. 
An  diesem  Tag  trat  die  Gewerbeordnung  in  Kraft,20  welche  die  gewerberechtli- 
chen  Verhaltnisse  im  Konigreich  endlich  halbwegs  vereinheitlichte.21  MaBgebli- 
che  Quellen  des  hannoverschen  Gewerberechts  waren  bisher  die  Zunftbriefe,  die 
von  Ortsobrigkeiten  und  Landdrosteien  erlassenen  Vorschriften  sowie  das  Ge- 
wohnheitsrecht  gewesen.  Zwar  griff  das  neue  Gesetz  nur  behutsam  in  die  lokalen 
und  regionalen  Rechtsverhaltnisse  ein,  schuf  aber  doch  einheitliche  Rahmenbe- 
dingungen.  So  gab  es  in  den  Landdrosteibezirken  Osnabriick  und  Stade  keine 
Beschrankungen  des  Landhandwerks,  in  den  anderen  gingen  diese  unterschied- 
lich  weit.  Die  Paragraphen  196  und  198  der  Gewerbeordnung  legten  nun  fest,  daB 
die  Vertreter  der  gangigsten  Handwerke  sich  auf  dem  Land  kiinftig  frei  niederlas- 
sen  durften,  die  iibrigen  hingegen  konzessionspflichtig  blieben.  Letzteres  gait 
jedoch  nicht  fiir  die  Landdrosteibezirke  Osnabriick  und  Stade,  in  denen  die  land- 
liche  Gewerbefreiheit  bestehen  blieb  (§  210).  Die  Paragraphen  222-224,  welche 
alle  Handelsbeschrankungen  fiir  Handwerksprodukte  aufhoben,  wurden  kurz 
vor  Inkrafttreten  der  Gewerbeordnung  suspendiert,  nachdem  sich  seitens  des 
ziinftigen  Handwerks  massiver  Widerstand  dagegen  geregt  hatte.  Obwohl  diese 
Beschrankungen  entweder  gar  nicht  mehr  bestanden  oder  faktisch  unwirksam 


20  Zur  Vorgeschichte  dieser  Gewerbeordnung  sowie  zu  den  teilweise  heftigen  Auseinan- 
dersetzungen,  welche  von  der  Vorlage  des  Entwurfs  am  24.2.1846  bis  zum  Inkrafttreten  iiber 
zwei  Jahre  spater  um  sie  gefiihrt  wurden,  siehe  Mohr,  wie  Anm.  10,  S.  104-149. 

21  Gewerbe-Ordnung  vom  1.  August  1847,  in:  Sammlung  der  Gesetze,  Verordnungen 
und  Ausschreiben  fiir  das  Konigreich  Hannover,  Hannover,  1848,  1.  Abt.,  Nr.  46,  S.  215-257. 


Die  Industrialisierung  des  Konigreichs  Hannover  395 

waren,22  hielt  die  Mehrheit  der  stadtischen  Handwerker  damals  verbissen  an  ih- 
nen  fest.23 

Eine  fur  das  ganze  Konigreich  einheitliche  Regelung  brachte  die  Gewerbeord- 
nung  fur  das  Fabrikwesen.  Zunachst  die  entsprechenden  Paragraphen  im  Wort- 
laut: 

§  190.  Die  Regel  des  freien  Gewerbebetriebes  in  den  Stddten  nach  ndherer  Bestimmung 
des  §782  gilt  auch  von  Fabriken. 

§  797.  Sollen  in  derFabrik  Waaren  erzeugt  werden,  ZM  deren  Verfertigung  eine  Zunft  in 
der  Stadt  ausschliefilich  befugt  ist,  so  muJS  der  Unternehmer  Mitglied  der  Zunft  sein  oder 
werden. 

§  792.  Kann  der  Unternehmer  wegen  mangelnder  Erfordernisse  nicht  Mitglied  der  Zunft 
werden,  oder greift  das  Unternehmen  in  die  Gewerberechte  mehrerer  Ziinfte  ein,  so  kann  die 
Erlaubnifi  zur  Fabrikanlage  nach  Anhorung  der  betreffenden  Ziinfte  unter  angemessenen 
Bedingungen  von  der  Obrigkeit  ertheilt  werden.  Die  Erlaubnifi  ist  nicht  zu  versagen,  wenn 
die  Obrigkeit,  nach  eingezogenen  Gutachten  von  Sachverstandigen,  sich  iiberzeugt,  daf>  der 
beabsichtigte  fabrikmdfige  Betrieb  sich  vom  Handwerksbetriebe  wesentlich  unterscheidet. 

§  793.  Die  Beschrdnkungen  der  beiden  vorhergehenden  §§.  gelten  nicht,  wenn  der  Unter- 
nehmer die  Erzeugnisse  der Fabrik  nur  im  Grofhandel  (§277)  verkauft. 

§  794.  Sie gelten  ferner  dann  nicht,  wenn  der  Fabrikunternehmer  nur  zunftige  Meister  be- 
schdftigt.24 

Auch  hier  bestatigte  die  Gewerbeordnung  weitgehend  die  bisherige  Rechts- 
praxis:  Man  wollte  die  Anlage  von  Fabriken  grundsatzlich  fordern,  sofern  keine 
ziinftigen  Privilegien  beriihrt  waren.  Paragraph  192  schloss  willkiirliche  Ent- 
scheidungen  zwar  nicht  aus,  die  gesetzliche  Regelung  diirfte  aber  fur  erheblich 
mehr  Rechtssicherheit  gesorgt  haben. 

Bei  dieser  Rechtslage  blieb  es  bis  1867,  dem  Jahr,  in  welchem  PreuBen  in  der 
(nunmehrigen)  Provinz  Hannover  die  Gewerbefreiheit  einfiihrte.  Zwei  Gesetzent- 
wiirfe,  welche  das  Anderungsgesetz  von  1848  aufheben  und  die  Gewerbeverfas- 

22  Belege  hierfiir  beijESCHKE,  wie  Anm.  7,  S.  118-124  sowie  W.  Heinrichs  (Hrsg.),  Die 
Gewerbeordnung  fur  das  Konigreich  Hannover,  Hannover  1853,  S.  18-20. 

23  Die  Suspension  erfolgte  durch  ein  sogenanntes  Anderungsgesetz,  das  am  15.7.1848  in 
Kraft  trat.  Es  betraf  noch  zahlreiche  andere  Bestimmungen,  insbesondere  die,  welche  die 
Verfassung  der  Ziinfte  regeln  sollten.  Hintergrund  des  ziinftigen  Protestes,  dem  sich  zahlrei- 
che Standevertreter  anschlossen,  war  die  48er  -  Revolution.  Wahrend  dieser  konstituierte 
sich  erstmals  eine  gesamtdeutsche  Handwerkerbewegung,  die  sich  unter  anderem  dem 
Kampf  gegen  alle  gewerbefreiheitlichen  Tendenzen  zum  Ziel  machte.  In  diesem  Sinne  inter- 
pretierte  man  auch  Teile  derhannoverschen  Gewerbeordnung.  Bis  zum  Ausbruch  der  Revo- 
lution hatte  es  zwar  auch  Widerspruch  gegeben,  dieser  hatte  sich  jedoch  in  Grenzen  gehal- 
ten.  Siehe  Mohr,  wie  Anm.  10,  S.  123-149. 

24  Vgl.  Gewerbe-Ordnung,  wie  Anm.  21. 


396  Daniel  Mohr 

sung  auch  dariiber  hinaus  liberalisieren  sollten,  kamen  zwar  in  der  Standever- 
sammlung  zur  Beratung,  erlangten  aber  nie  Gesetzeskraft.  Der  erste  aus  dem Jahr 
1858  sah  neben  der  Aufhebung  des  Anderungsgesetzes  auch  die  vollstandige  Frei- 
gabe  des  Landhandwerks  vor,  wollte  andererseits  die  Griindung  bestimmter  Fa- 
briken  aberwieder  vom  Erwerb  einerKonzession  abhangig  machen.  Auch  sollten 
die  Behorden  kiinftig  von  sehr  vielen  Bestimmungen  der  Gewerbeordnung  (z.B. 
auch  von  Meisterstiickund  Zunftzwang)  dispensieren  konnen.  Warum  dieses  Vor- 
haben  scheiterte,  ist  anhand  der  iiberlieferten  Dokumente  nicht  eindeutig  nachzu- 
vollziehen,  hangt  zweifelsohne  aber mit  der  Kritik  zusammen,  welche  der  Entwurf 
nach  seiner  Veroffentlichung  von  alien  Seiten  erfuhr.  Vorallem  die  geplante  Aus- 
weitung  derbehordlichen  Befugnisse  stieB  sowohl  bei  zunftigen  Handwerkern  als 
auch  bei  Befiirwortern  der  Gewerbefreiheit  auf  Ablehnung.25  Der  zweite,  der 
Standeversammlung  im  April  1866  vorgelegte,  Entwurf  sah  eine  Aufhebung  des 
Zunftzwanges  vor,  wollte  die  Ziinfte  als  Institutionen  aber  nicht  nur  erhalten,  son- 
dern  fordern.  Insbesondere  sollten  sich  auch  diejenigen,  welche  der  Zunft  ihres 
Gewerbes  fernblieben,  an  der  Finanzierung  bestimmter  ziinftiger  Aufgaben  betei- 
ligen.  Ein  stadtischer  Handwerker  hatte  zudem  spatestens  drei  Jahre  nach  seiner 
Niederlassung  das  Biirgerrecht  erwerben  miissen.  Bevor  dieser  Entwurf  jedoch 
Gesetz  werden  konnte,  horte  das  Konigreich  Hannover  auf  als  Staat  zu  existie- 
ren.26  Ein  knappes  Jahr  spater  erlieB  die  preuBische  Regierung  eine  Verordnung, 
welche  den  Zunftzwang  ohne  jede  Einschrankung  aufhob.27 

Zunachst  betrieb  Hannover  also  eine  betont  konservative  Gewerbepolitik,  de- 
ren  Ziel  der  Erhalt  der  agrarischen  und  kleingewerblichen  Struktur  des  Landes 
war.  1831  erfolgte  ein  Paradigmenwechsel:  Ziel  war  nun  die  Vereinheitlichung 
und  behutsame  Liberalisierung  der  Gewerbeverfassung,  die  Modernisierung  und 
Verbesserung  der  handwerklichen  Ausbildung  sowie  die  Hebung  des  techni- 
schen  Entwicklungsstandes.  Letzteres  implizierte  auch,  daB  man  Fabriken  nicht 
nur  im  Einzelfall  erlaubte,  sondern  deren  Entstehung  grundsatzlich  forderte. 
Ordnungsrahmen  fiir  die  Entfaltung  der  hannoverschen  Gewerbe  blieb  aber  die 
Zunftverfassung.  Ob  und  inwieweit  die  seit  1850  haufiger  zu  beobachtenden  Fa- 
brikgriindungen  eine  Folge  dieser  Politik  waren,  ist  mangels  aussagekraftiger 
Quellen  nicht  nachvollziehbar.28 


25  Zum  Entwurf  von   1858  sowie  den  darum  gefiihrten  Auseinandersetzungen  siehe 
Mohr,  wie  Anm.  10,  S.  164-187. 

26  Zum  Entwurf  von  1866  ebd.,  S.  201-217. 

27  Ebd.   S.  220-221. 

28  Insbesondere  sind  die  Akten  des  Gewerbevereins  nicht  erhalten  (Anm.  18). 


Die  Industrialisierung  des  Konigreichs  Hannover  397 

3)  Bereits  im  lS.Jahrhundert  hatte  es  eine  umfangreiche  Publizistik  zum  Thema 
„Ziinfte"  gegeben.29  Gegangen  war  es  in  dieser  vor  allem  um  zwei  Themen:  Er- 
stens  um  den  allgemeinen  Nutzen  oder  Schaden  der  Handwerkerkorporationen, 
zweitens  um  die  beidiesen  aus  staatlicher  Sicht  eingerissenen  MiBbrauche.30  Die 
meisten  Verfasser  sprachen  sich  fur  den  Erhalt  der  Ziinfte  aus,  weil  sie  in  ihnen  ei- 
nen  Garant  fur  gute  handwerkliche  Ausbildung  und  iiberdies  einen  wichtigen 
Ordnungsfaktor  sahen.  Gleichzeitig  wurde  jedoch  die  Abstellung  der  besagten 
MiBbrauche  angemahnt.  Andere  forderten  die  Aufhebung  der  Ziinfte,  weil  sie 
diese  zum  einen  (im  Hinblick  auf  die  MiBbrauche)  nicht  fur  reformierbar  hielten, 
zum  anderen,  weil  sie  sich  von  der  dann  unbegrenzten  Konkurrenz  eine  Verbes- 
serung  der  handwerklichen  Arbeit  erhofften.  Wie  in  ganz  Deutschland,  so  setzte 
sich  diese  Diskussion  im  19.  Jahrhundert  auch  im  Konigreich  Hannover  fort.  Im 
Kern  stritt  man  immer  noch  darum,  ob  die  Ziinfte  aufzuheben,  zu  reformieren 
oder  unverandert  beizubehalten  seien.  Hinzu  kamen  jedoch  andere  Fragen,  wie 
z.B.  die  des  landlichen  Handwerks  und  des  Heimatrechts.31  Die  Industrialisie- 
rung wurde  nur  in  wenigen  Beitragen  behandelt. 

Nur  ein  Verfasser  war,  soweit  es  um  Hannover  ging,  rundweg  dagegen.  Karl 
Hansemann,  ein  Pastor  aus  der  Landeshauptstadt,  schrieb  wortlich:  Dafi  unser 
durchso  viele  Umstandevorzugsweiseaufdie  Cultur  des Bodens  angewiesenes  Vaterlandje- 
mals  ein  bedeutender  Fabrikstaat  werde,  ist  nicht  zu  erwarten,  auch  wohl  nicht  zu  wiin- 
schen32  Die  Bewohner  von  Industriestaaten  seien  sehr  abhangig  von  der  Konjunk- 
tur,  auBerdem  wiirden  dort  Ausbildung  und  sittliche  Erziehung  der  Jugend  zu 
kurz  kommen.33  Auch  der  Verwaltungsbeamte  August  Petersen  schatzte  den 
volkswirtschaftlichen  Nutzen  von  Fabriken  und  Manufakturen  nicht  allzu  hoch 
ein.34  Ihn  interessierte  vor  allem,  ob  neue  Betriebsformen  dem  Staat  zusatzliche 


29  Siehe  hierzu  Mohr,  wie  Anm.  10,  S.  29-34. 

30  Zu  diesen  MiBbrauchen  zahlten  Gesetzgeber  und  Publizisten  z.B.  den  in  sehr  vielen 
Zunften  iiblichen  Brauch,  die  Kinder  von  Angehorigen  bestimmter  Berufsgruppen  (Z.B. 
Abdecker  und  Bader)  nicht  als  Lehrlinge  anzunehmen.  Ebenso  das  Schimpfen  oder  Schel- 
ten,  was  bedeutete,  daB  eine  Zunft  ihren  Mitgliedern  jeden  Umgang  mit  einem  Handwerker 
(er  mochte  aus  der  eigenen  oder  einer  anderen  Zunft  sein)  verbot.  Hintergrund  war  mei- 
stens,  daB  man  diesem  irgendein  unehrenhaftes  Verhalten  vorwarf.  Zu  den  seit  1530  im 
Reich  und  seinen  Territorialstaaten  erlassenen  Gesetzen  gegen  die  ZunftmiBbrauche  ebd., 
S.  22-29. 

31  Das  fur  die  Ziinfte  entscheidende  Privileg  war  der  sogenannte  Zunftzwang,  nach  dem 
das  jeweilige  Handwerk  innerhalb  der  Stadtgrenzen  nur  von  Zunftmitgliedern  ausgeiibt  wer- 
den  durfte.  Der  Eintritt  in  die  Zunft  wiederum  setzte  den  Erwerb  des  fur  Ortsfremde  Perso- 
nen  meist  kostspieligen  Biirgerrechts  voraus. 

32  Vgl.  Karl  Hansemann,  Gedanken  iiber  Belebung  inlandischer  Gewerbe,  in:  Hanno- 
versches  Magazin  1834,  S.  240ff.,  S.  259. 

33  Ebd.  S.  259-260. 

34  August  Petersen,  Beantwortung  der  jetzt  wichtigen  Frage,  ob  und  wie  dem  Land- 


398  Daniel  Mohr 

Steuereinnahmen  brachten  und  als  politisch  erwiinscht  eingeschatzt  werden 
konnten.  Immerhin  lobte  Petersen  das  preuBische  Fabrikwesen  und  stellte  klar, 
daB  er  auch  das  des  Konigreichs  Hannover  fiir  entwicklungsfahig  und  erweiterbar 
hielt.  Dies  setze  aber  beispielsweise  die  Verbesserung  der  Transportmoglichkei- 
ten,  den  Zugang  zu  den  notwendigen  Rohstoffen  sowie  zinsgiinstige  Kredite  fiir 
Untemehmensgriinder  voraus.  Nur  wo  diese  und  andere  Voraussetzungen  erfiillt 
seien,  diirfe  der  Staat  entsprechende  Genehmigungen  erteilen.35 

Petersen  beurteilte  die  Industrialisierung  also  immerhin  vorsichtig  optimi- 
stisch,  verkannte  dabei  allerdings  vollig  die  diesem  ProzeB  innewohnende  Eigen- 
dynamik.  Der  Gottinger  Rechtsprofessor  Ferdinand  Oesterley  erahnte  diese  im- 
merhin. Bei  Aufhebung  der  Ziinfte  befiirchtete  er  zwar  ein  Uberhandnehmen  der 
Fabriken  in  der  Produktion.  Andererseits  raumte  er  aber  ein,  daB  sie  vielfach  in 
der  Lage  seien,  Dinge  schneller,  billiger  und  gleichzeitig  besser  herzustellen.  Un- 
bedingt  forderungswiirdig  waren  daher  Fabriken,  die  mit  keinem  der  ziinftigen 
Handwerke  konkurrierten.  Doch  auch  wo  dies  der  Fall  war,  stand  der  Verfasser 
dem  Verbot  von  Fabrikgriindungen  ausgesprochen  skeptisch  gegeniiber.  Ein  sol- 
ches  sei  z.B.  sinnlos,  wenn  ein  Handwerk  an  einem  Ort  auch  ohne  die  Konkur- 
renz  einer  Fabrik  keine  reelle  Uberlebenschance  habe  oderwenn  die  produzierte 
Ware  gar  nicht  fiir  den  Absatz  in  der  naheren  Umgebung  bestimmt  sei.  Uberdies 
komme  es  haufig  vor,  daB  ein  Fabrikant  nur  am  Anfang  mit  einer  Zunft  konkurrie- 
re,  dann  aberzurHerstellung  andererGegenstande  iiberginge.36  Oesterley  sah  al- 
so, modern  gesprochen,  nicht  nur  die  Risiken,  sondern  auch  die  Chancen  des  Fa- 
brikwesens. 

Eindeutig  positiv  beurteilte  Eduard  Weinlig,  ein  Rechtsanwalt  aus  Soltau,  die 
Industrialisierung.  Vehement  widersprach  er  der  nach  wie  vor  verbreiteten  Auf- 
fassung,  Hannover  sei  ausschlieBlich  oder  ganz  iiberwiegend  ein  Agrarland.  Mit 
seiner  Infrastruktur  (Reichtum  an  Rohstoffen,  giinstige  geographische  Lage  fiir 
Handelsverkehr,  gut  ausgebaute  Verkehrswege)  erfiille  das  Konigreich  vielmehr 
alle  Voraussetzungen  fiir  die  Entwicklung  zu  einer  Industrieregion.  Dies  sei  sogar 
notwendig,  weil  nur  so  die  Entstehung  bzw.  das  Anwachsen  von  Armut  zu  verhin- 
dern  sei.  Der  bisherige  Mangel  an  industriell  produzierenden  Betrieben  habe 


baue,  den  technischen  Gewerben  und  dem  Handel  mehrere  Freiheiten  zu  geben  und  dieses 
mit  den  mannigfachen  Verhaltnissen  im  innern  Staatsleben  zu  vereinigen  ist?  in  besonderer 
Beziehung  auf  das  Konigreich  Hannover,  Gottingen  1831,  S.  165-166. 

35  Ebd.  S.  172.  Die  gleichen  Schwierigkeiten  sah  auch  Gustav  von  Gulich,  Ueber  den 
gegenwartigen  Zustand  des  Ackerbaus,  des  Handels  und  der  Gewerbe  im  Konigreiche  Han- 
nover, Hannover  1827,  S.  82-103.  Nach  seinen  Vorstellungen  sollte  sich  der  Staat  abermassiv 
fiir  den  Ausbau  des  Fabrikwesens  einsetzen. 

36  Ferdinand  Oesterley,  Ist  es  rathsam,  die  Zunftverfassung  aufzuheben?  Gottingen 
1833,  S.  3-91  sowie  S.  131-135. 


Die  Industrialisierung  des  Konigreichs  Hannover  399 

namlich  zweierlei  zur  Folge:  Erstens  miisse  das  Konigreich  Hannover  immer 
mehr  Waren  aus  dem  Ausland  importieren,  ohne  dort  andererseits  seine  Agrar- 
produkte  in  nennenswertem  Umfang  absetzen  zu  konnen.37  Zweitens  sah  Weinlig 
die  Gefahr  der  wachsenden  Landarmut  angesichts  stagnierender  Beschaftigungs- 
moglichkeiten  in  der  Landwirtschaft.38  DaB  die  Industrialisierung bisher  weit  hun- 
ter ihren  Moglichkeiten  zuriicklag,  fiihrte  er  vor  allem  auf  die  bestehende  Gewer- 
beverfassung  zuriick.  Diese  erschwere  jungen  Handwerkern  die  Niederlassung 
auf  unverantwortliche  Weise.  Auch  wenn  kein  ZunftschluB  bestehe,  wiirden  Ziinf- 
te  und  stadtische  Obrigkeiten  die  Anzahl  der  Meister  oft  nach  Gutdiinken  klein 
halten.  Unerwunschten  Bewerbern  verweigere  man  dann  einfach  die  Erteilung 
des  fur  eine  Betriebsgriindung  zwingend  erforderlichen  Biirgerrechts.  Beides  ver- 
urteilte  Weinlig  scharf.  Er  wo  lite  zwar,  wie  auch  Oesterley  und  Petersen,  den  ziinf- 
tigen  Ausbildungsgang  erhalten  wissen,  eine  Begrenzung  der  Meisterzahl  pro 
Handwerk  und  Ort  jedoch  hielt  er  fur  iiberfliissig  und  schadlich.  Erst  der  Abbau 
traditioneller  Konkurrenzbeschrankungen  sporne  die  Handwerker  an,  ihre  Pro- 
duktion  entsprechend  den  jeweiligen  Moglichkeiten  zu  modernisieren  und  ggf. 
auf  industrielle  Produktion  umzustellen.39 

Nach  1848  veranderte  sich  die  Diskussion  iiber  die  Ziinfte  dann  grundlegend. 
Insbesondere  spielten  das  Landhandwerk  und  die  MiBbrauche  keine  Rolle  mehr. 
Man  konzentrierte  sich  vielmehr  auf  das  Verhaltnis  zwischen  Handwerk  und  In- 
dustrie, stellte  insbesondere  die  Frage,  ob  eine  Organisationsform  wie  das  Zunft- 
wesen  angesichts  des  rasant  fortschreitenden  Fabrikwesens  iiberhaupt  noch  zeit- 
gemaB  sein  konnte.  Auch  wurde  jetzt  viel  starker  als  vorherBezug  auf  die  jeweils 
aktuelle  Politik  genommen.  SchlieBlich  mischten  sich  die  Vertreter  von  Hand- 
werk und  Ziinften  nunmehr  selbst  in  die  offentliche  Auseinandersetzung  ein. 
Diese  dauerte  bis  Ende  der  1860erjahre  fort,  demjahrzehnt,  in  welchem  die  deut- 
schen  Staaten  nach  und  nach  die  Gewerbefreiheit  einfiihrten.41  Im  Konigreich 
Hannover  beteiligten  sich  in  diesem  Zeitraum  drei  Gruppen  an  der  Diskussion 
um  die  Gewerbeverfassung:  Erstens,  wie  schon  vorher,  handwerksfremde  Perso- 


37  Eduard  Weinlig,  Was  driickt  das  hannoversche  Volk  und  wie  konnte  ihm  vielleicht 
geholfen  werden?,  Hamburg  1832,  S.  54. 

38  Eduard  Weinlig,  Versuch  einer  Beantwortung  der  Frage:  Wie  ist  der  immer  driik- 
kender  werdenden  Noth  der  Hauslingsfamilien  um  Obdach  und  Unterkommen  auf  eine 
griindliche  Weise  abzuhelfen?  In  besonderer  Beziehung  auf  das  Fiirstenthum  Luneburg,  in: 
Hannoversches  Magazin,  1830,  S.  188-199. 

39  Siehe  Weinlig,  wie  Anm.  37,  S.  304. 

40  Zwar  hatten  Handwerker  auch  vor  1848  haufig  Petitionen  an  die  Standeversammlung 
geschickt,  darin  war  es  aber  fast  ausschlieBlich  um  Belange  der  jeweiligen  Zunft  gegangen. 
Auch  ist  keine  dieser  Petitionen  nachweislich  gedruckt  oder  sonstwie  offentlich  gemacht 
worden.  Siehe  hierzu  Mohr,  wie  Anm.  10,  S.  98-100. 

41  Ubersicht  ebd.,  S.  212-213. 


400  Daniel  Mohr 

nen,  zweitens  traditionell  ziinftig  eingestellte  Handwerker,  drittens  Handwerker 
und  Fabrikanten,  die  in  den  lokalen  Gewerbevereinen  organisiert  waren  und  dem 
Zunftwesen  kritisch  bis  ablehnend  gegeniiberstanden. 

Ausloser  fiir  die  offentliche  Diskussion  waren  der  Beitritt  Hannovers  zum  Zoll- 
verein  1854,  die  Gesetzentwiirfe  zur  Anderung  der  Gewerbeordnung  1858  und 
1866  sowie  die  Einfiihrung  der  Gewerbefreiheit  im  Konigreich  Sachsen  1861.  Die 
lokalen  Gewerbevereine  pladierten  zunachst  fiir  eine  nachhaltige  Reform  des 
Zunftwesens.  Urn  1855/56,  also  kurz  nachdem  sich  Hannover  dem  Zollverein  an- 
geschlossen  hatte,  forderten  sie  die  Inkraftsetzung  der  Paragraphen  222-224  der 
Gewerbeordnung.  Besonders  wichtig  war  ihnen  dabei  §  224,  der  Handwerkern 
erlauben  sollte,  neben  selbst  hergestellten  auch  anderswo  erworbene  Gegenstan- 
de  zum  Kauf  anzubieten.  Kein  Handwerker  konne  sonst  noch  gegen  die  Konkur- 
renz  der  Fabriken  bestehen,  viele  verstieBen  deshalb  notgedrungen  gegen  das  bis- 
lang  geltende  Verbot.  1858  kritisierten  verschiedene  Gewerbevereine  die  geplan- 
te  neuerliche  Konzessionierung  von  Fabriken,  forderten  auBerdem  eine 
erhebliche  Lockerung  der  ziinftigen  Bestimmungen  zur  Arbeitsteilung  zwischen 
den  Berufen.  Immer  weniger  Handwerker  konnten  es  sich  leisten,  diese  Bestim- 
mungen zu  befolgen,  manche  waren  deshalb  bereits  aus  ihrer  Zunft  ausgetreten 
und  arbeiteten  nunmehrunterdem  Namen  „Fabrikant"  weiter.  1861  begriiBte  der 
Gewerbeverein  der  Residenzstadt  die  Einfiihrung  der  Gewerbefreiheit  in  Sach- 
sen. Auch  andere  Lokalgewerbevereine  forderten  nunmehr  die  Aufhebung  der 
Ziinfte.  Hauptargumente  waren  einmal  mehr  die  Industrialisierung  sowie  der 
Beitritt  zum  Deutschen  Zollverein.42 

Ziinfte  meldeten  sich  erstmals  1858  in  Petitionen  zu  Wort  und  kritisierten  den 
damals  vorgestellten  Gesetzentwurf.  Sie  nahmen  -  wie  kaum  anders  zu  erwarten 
-  vor  allem  AnstoB  an  zahlreichen  Ausnahmen,  die  kiinftig  von  ziinftigen  Bestim- 
mungen moglich  sein  sollten.  Teils  befiirchtet  man  willkiirliche  Entscheidungen 
der  Behorden,  teils  die  de  facto  Abschaffung  des  Zunftzwanges.43  1861  traten  Vor- 
stande  von  Ziinften  erstmals  mit  eigenen  Druckschriften  an  die  Offentlichkeit. 
Sie  verteidigten  darin  das  Zunftwesen  mit  den  altbekannten  Argumenten,  wobei 
der  groBte  Akzent  wieder  einmal  auf  die  Ordnungsfunktion  der  Ziinfte  sowie  die 
griindliche  Ausbildung  der  Handwerker  gelegt  wurde.  Bei  Einfiihrung  der  Ge- 
werbefreiheit befiirchteten  sie  dementsprechend  Ordnungsverlust  und  das  Uber- 
handnehmen  von  Pfusch.  AuBerdem  konnten  die  Handwerker  sich  dann  nicht 
mehr  gegen  die  Konkurrenz  der  Fabriken  behaupten.  Das  wiederum  ziehe  eine 
Verarmung  breiter  Bevolkerungsschichten  nach  sich.  Andererseits  traten  die 


42  Ebd.,  S.  156-159,  183-186  sowie  195-197.  Einige  Verfasser  sagen  explizit,  daB  die  Kon- 
kurrenz durch  industrielle  Produkte  seitdem  sehr  viel  groBer  geworden  sei. 

43  Ebd.,  S.  172-173  sowie  184-185. 


Die  Industrialisierung  des  Konigreichs  Hannover  401 

Zunftvorsteher  aber  fur  eine  maBvolle  Reform  der  Gewerbeverfassung  ein.  Insbe- 
sondere  forderten  auch  sie  die  Aufhebung  der  noch  bestehenden  ziinftigen  Han- 
delsbeschrankungen.  SchlieBlich  bestritten  sie,  daB  die  ziinftige  Gewerbeverfas- 
sung die  notwendige  Konkurrenz  im  Handwerk  verhindere.44  Noch  1866  erschie- 
nen  zwei  von  Zunftvertretern  verfaBte  Biicher,  die  vom  Grundsatz  her  die 
Vorziige  des  Zunftwesens  verteidigten.  Wahrend  in  dereinen  Schrift  sehrweitge- 
hende  Reformen  (z.B.  sogar  der  Verzicht  auf  den  Zunft-  und  Lehrzwang)  gefor- 
dert  wurden,  trauerten  die  Verfasser  der  anderen  dem  alten  Zunftwesen  extrem 
nach,  wohl  wissend,  daB  seine  Zeit  langst  vorbei  war.45  In  den  ziinftigen  Publika- 
tionen  erscheint  die  Industrialisierung  haufig  in  einem  doppelten  Licht:  Einer- 
seits  sah  man  durch  sie  den  selbstandigen  Handwerker  in  seiner  Existenz  be- 
droht,  andererseits  nahm  man  sie  als  gegeben  hin,  um  ihr  im  Einezlfall  auch 
Vorteile  abzugewinnen.  Fur  die  Verfasser  kam  es  ganz  auf  die  ,richtige'  Gewerbe- 
verfassung an.  Die  Gewerbefreiheit  setzten  sie  gleich  mit  dem  endgiiltigen  Nie- 
dergang  des  Handwerks,  die  mehr  oder  weniger  reformierte  Zunftverfassung  mit 
einem  fruchtbaren  Neben-  und  Miteinander  von  Handwerk  und  Industrie. 

Publikationen  von  handwerksfremden  Personen,  in  denen  es  um  die  Gewerbe- 
frage  und  insbesondere  um  die  Industrialisierung  geht,  sind  nach  1848  zweimal 
erschienen.  1858  setzte  sich  ein  ungenannter  Verfasser  mit  einer  Petition  von 
Zunftvorstehern  aus  Hannover  auseinander.  Diese  hatten  den  geplanten  Gesetz- 
entwurf  offenbar  heftig  kritisiert  und  sich  gegen  jede  Liberalisierung  der  Gewer- 
beverfassung ausgesprochen.  Der  Verfasser  widersprach  ihnen  scharf  und  be- 
hauptete,  daB  das  Handwerk  die  Konkurrenz  gegen  die  Fabriken  nur  bestehen 
konne,  wenn  man  die  Zunftverfassung  erheblich  lockere.  In  diesem  Zusammen- 
hang  lobte  er  den  Gesetzentwurf  ausdriicklich,  und  zwar  auch  die  zahlreichen 
darin  vorgesehenen  Ausnahmetatbestande.  Die  Industrialisierung  hatte  in  den 
Augen  dieses  Verfassers  ihren  Schrecken  verloren,  er  verband  mit  ihr  technischen 
Fortschritt  zum  Wohle  der  Menschen.46  Ebenso  argumentierte  der  Gottinger  Se- 
nator Berg,  dessen  Veroffentlichung  1861  erschien.  Seiner  Meinung  nach  profi- 


44  N.N.,  An  unsere  Handwerksgenossen  im  Konigreiche  Hannover.  Eine  Ansprache 
von  einer  Anzahl  Zunftgenossen  in  Liineburg,  Liineburg  1861  sowie  N.N.,  Vorstellungen  an 
Konigliches  Ministerium  des  Innern  zu  Hannover  von  Seiten  der  Ziinfte  und  Gilden  zu  Han- 
nover, Hildesheim,  Osnabriick  und  Liineburg,  Hannover  1861. 

45  N.N.,  Ein  Beitrag  zur  Gewerbefrage  unseres  Landes.  Von  den  Vorstanden  der  Aemter 
und  Gilden  zu  Osnabriick,  Osnabriick  1866  sowie  J.  L.  Gehrcke,  Ob  Zunft,  ob  Gewerbefrei- 
heit. Oder  Beitrage  zur  Reform  des  Gewerbewesens  im  Konigreich  Hannover.  Herausgege- 
ben  von  dem  engeren  Gilde  -  AusschuB,  Hildesheim  1866. 

46  N.N.,  Die  Gewerbeordnung  und  die  hannoverschen  Zunftvorsteher,  Hannover  1858. 
Die  besagte  Petition  ist  nicht  iiberliefert,  ihr  Inhalt  laBt  sich  anhand  der  Schrift  des  unge- 
nannten  Verfassers  aber  gut  rekonstruieren. 


402  Daniel  Mohr 

tierten  sogar  die  Handwerker  von  der  Industrialisierung.  So  bezogen  viele  ihre 
Rohstoffe  mittlerweile  maschinell  vorgearbeitet  und  konnten  eine  Arbeit  in  viel 
kiirzerer  Zeit  erledigen.  Auch  wiirden  Maschinen  dem  Menschen  v.  a.  besonders 
stumpfsinnige  oder  korperlich  harte  Arbeiten  abnehmen.  Wollte  der  Verfasser 
von  1858  die  Ziinfte  im  Sinne  des  geplanten  Anderungsgesetzes  reformieren,  so 
pladierte  Berg  dafiir,  sie  durch  ein  System  von  Gewerberaten  zu  ersetzen.  Die 
Niederlassung  als  Meister  sollte  nach  seiner  Vorstellung  erheblich  erleichtert 
werden.47 

Die  offentliche  Meinung  im  Konigreich  Hannover  war  langst  nicht  so  industrie- 
feindlich,  wie  dies  die  Forschung  bisher  angenommen  hat.  Die  Auffassung,  daB 
Hannover  ein  Agrarland  sei  und  bleiben  miisse,  war  in  der  ersten  Halfte  des  19. 
Jahrhunderts  zwar  noch  weit  verbreitet,48  stieB  aber  schon  damals  auf  zum  Teil 
heftigen  Widerspruch.  Nach  1850  wurde  sie  in  der  gewerbepolitischen  Diskussi- 
on  nicht  mehr  vertreten.  Spatestens  seit  dem  Beitritt  Hannovers  zum  Deutschen 
Zollverein  war  sogar  bei  den  Handwerkern  ein  Wandel  der  Mentalitat  zu  beob- 
achten.  Angesichts  der  wachsenden  industriellen  Konkurrenz  wuchs  der  Kreis 
derjenigen,  die  das  Zunftwesen  kritisch  sahen.  Seine  verbliebenen  Anhanger 
fiirchteten  zwar  die  Industrialisierung  und  sehnten  sich  manchmal  nach  vergan- 
genen,  vermeintlich  idealen  Zeiten.  Selbst  sie  forderten  aber  Reformen,  die  der 
veranderten  Wirklichkeit  Rechnung  tragen  sollten. 


47  F. A.  Berg,  Wird  der  goldene  Boden  des  Gewerbebetriebes  (Kunstfertigkeit  und  FleiB) 
durch  die  Einwirkung  der  Maschinenarbeit  und  Gewerbefreiheit  erhalten?  Gottingen  1861. 

48  U.a.  in  der  Debatte  um  Hannovers  Beitritt  zum  Deutschen  Zollverein.  Auch  hier  gab 
es  aber  Gegenstimmen.  Dazu  Hilde  Arning,  Hannovers  Stellung  zum  Zollverein,  Hannover 
1930,  S.  52-68  sowie  78-85;  ferner  N.N.,  Der  Zollverein  und  seine  hannoverschen  Geg- 
ner.Von  einem  Hannoveraner  im  Auslande,  Berlin  1852. 


Theanolte  Bahnisch  (1899-1973)  und  ihr  Beitrag 

zum  Wiederaufbau  Deutschlands  im  Rahmen 

der  Westorientierung  nach  1945 


Von  Nadine  Freund 


7.  Einleitung 

Undoubtly  an  extremely  talented  woman  and  one  of  Hannover's  most  colourful  characters, 
she  has  an  attractive,  if  at  times  overpowering,  personality.  [.  .  .]  She  is  not  above  personal 
intrigue  but  has  a  high  standard  of  official  integrity,1  urteilt  der  Verfasser  des  Beitrags 
im  „Who's  Who  in  Lower  Saxony",  einem  Personenleitfaden  der  britischen  Mili- 
tarregierung  von  1948/49  iiber  Theanolte  Bahnisch,  die  zu  dieser  Zeit  Regie- 
rungsprasidentin  in  Hannover,2  Vorsitzende  des  Frauenringes  der  britischen  Zo- 
ne,3 Herausgeberin  der  Zeitschrift  „Stimme  der  Frau"4  und  eine  der  Vizeprasi- 
dentinnen  des  Deutschen  Rates  der  Europaischen  Bewegung5  war. 


1  Andreas  Ropcke,  Who's  Who  in  Lower  Saxony.  Ein  politisch-biographischer  Leitfa- 
den  der  britischen  Besatzungsmacht  1948/49,  in:  Niedersachsisches  Jahrbuch  fiir  Landege- 
schichte,  Bd.  55,  1981,  S.  243-309,  hier  S.  258. 

2  Bahnisch  wurde  im  Marz  1946  zur  Regierungsvizeprasidentin,  im  September  1946  zur 
Regierungsprasidentin  ernannt  und  loste  damit  den  friiheren  Regierungsprasidenten  Wer- 
ner Ellinghaus  ab.  Sie  blieb  im  Amt  bis  1959,  als  sie  nach  Bonn  umzog  ran  dort  als  Staatsse- 
kretarin  fiir  Niedersachsen  beim  Bund  tatig  zu  werden. 

3  Der  Frauenring  der  britischen  Zone  entstand  1947  unter  weitgehend  identischer  Ziel- 
setzung  und  Fiihrung  wie  der  „Club  deutscher  Frauen  Hannover",  der  ersten,  1946  auf  regio- 
naler  Ebene  von  Bahnisch  gegriindeten  Frauenorganisation.  Hauptziel  des  Frauenringes 
war  die  Vermittlung  von  Wissen  rund  um  die  Rechte,  Pflichten  und  Moglichkeiten  der  Frau- 
en als  Biirgerinnen  im  Staat,  „staatsbiirgerliche  Erziehung"  genannt.  1949  gelang  Bahnisch 
der  ZusammenschluB  des  Frauenringes  der  britischen  Zone  mit  Frauenringen  e.  V.  in  den  an- 
deren  Westzonen  zum  zoneniibergreifenden  Verband  „Deutscher  Frauenring"  (DFR).  Der 
Deutsche  Frauenring  besteht  bis  heute.  Er  gehort  seit  1951  dem  International  Council  of  Wo- 
men (ICW)  als  Deutscher  Nationalrat  an. 

4  Unter  dem  Titel  „Die  Stimme  der  Frau"  erschien  die  Zeitschrift  erstmals  im  Mai  1946. 
Ab  Heft  16  des  Jahrgangs  1949/50  hieB  sie  nur  noch  „Stimme  der  Frau".  Im  FlieBtext  wird 
die  Zeitschrift  von  mir  im  Folgenden  durchgangig  als  „Stimme  der  Frau"  bezeichnet.  Die  bi- 
bliographischen  Angaben  orientieren  sich  am  Namen  der  jeweiligen  Ausgabe.  Die  Zeit- 


404  Nadine  Freund 

Blattert  man  weiter  im  alphabetisch  geordneten  Leitfaden,  der  den  Offizieren 
vor  Ort  die  Kontaktaufnahme  und  -pflege  mit  den  von  der  Britischen  Besatzungs- 
macht  fur  bedeutend  erachteten  niedersachsischen  Personlichkeiten  erleichtern 
sollte,  so  stoBt  man  auch  auf  den  dort  zu  Recht  als  aufiergewohnlicher  Theologe  von 
internationalem  Ruf  bezeichneten  Hannoveraner  Landesbischof  der  Evangeli- 
schen  Kirche,  Hanns  Lilje.6  Dieser  wiederum  hielt  fiir  die  Katholikin  Theanolte 
Bahnisch  anlaBlich  ihrer  Pensionierung  im  Jahr  1964  ein  iiberschaumendes  Lob 
bereit:  Gott  hat  die  hohen  intellektuellen  und  administrativen  Fdhigkeiten,  die  Sie  in  so 
vielen  wichtigen  offentlichen  Aufgaben  bewdhrt  haben,  mit  einer  solchen  Fiille  personlicher 
Gaben,  mit  so  viel  unmittelbar gewinnender  Natiirlichkeit  und  menschlicher  Kontaktfahig- 
keit  verbunden,  wie  es  nicht  eben  hdufig  ist.  Sie  haben  Sachlichkeit  und  Fraulichkeit  so 
glucklich  verbinden  kdnnen,  dafilhnen  -  was  ganzselten  ist  -  in  ihrer  offentlichen  Tdtigkeit 
so  gut  wie  keine  unzufriedene  Kritik  begegnet  ist?  Worauf  Lilje  damit  anspielt,  das  ist 
die  iiber  allejahre  ihres  Wirkens  wahrende  konfessions-  und  parteiiibergreifende 
Beliebtheit  Bahnischs,  ihre  Fahigkeit,  in  den  unterschiedlichsten  ideellen  Lagern 
iiberzeugend  ihre  Ideen  zu  vertreten  und  entschiedene,  einfluBreiche  Fiirspre- 
cher  zu  gewinnen.  Dementsprechend  liest  sich  die  Liste  der  100  prominentesten 
Mitglieder  der  Fiihrungsschicht  Niedersachsens8  in  besagtem  Who's  Who  in 
Ausziigen  wie  eine  Aufstellung  enger  Vertrauter  Bahnischs,  denn  vertreten  sind 
hier  neben  Bahnisch  und  Lilje  unter  anderem  Heinrich  Hellwege,  zu  dieser  Zeit 
Landrat  von  Stade  und  Landes-  sowie  Bundesvorsitzender  der  Deutschen  Partei 
(DP)  ,9  von  1955  bis  1959  Ministerprasident  Niedersachsens  und  somit  Vorgesetz- 


schrift  erschien  zunachst  in  zwei  Doppeljahrgangen  und  wechselte  iiber  eine  verlangerte 
Heftfolge  im  Jahrgang  1949/50  schlieBlich  in  Einzeljahrgange,  beginnend  mit  dem  3.  Jahr- 
gang,  1951. 

5  Zum  deutschen  Rat,  den  verschiedenen  anderen  Institutionen  in  der  Europaischen  Be 
wegung  und  ihren  Kongressen  vgl.  Frank  Niess,  Die  europaische  Idee.  Aus  dem  Geist  des 
Widerstands,  Frankfurt  am  Main  2001,  fiir  einen  kiirzeren  Uberblick  vgl.  Gerhard  Brunn, 
Die  europaische  Einigung  von  1945  bis  heute,  Lizenzausgabe  fiir  die  Bundeszentrale  fiir  po- 
litische  Bildung,  Bonn  2004,  S.  52-69. 

6  Ropcke,  wie  Anm.  1,  S.  288. 

7  Landesbischof  Dr.  Hanns  Lilje  an  Theanolte  Bahnisch,  Badgastein,  am  23.04.1964,  in: 
Stiftung  Archiv  der  deutschen  Frauenbewegung  (AddF),  Kassel,  SP  -1  [Sammlung  Theanolte 
Bahnisch  SP-1.]  Bei  der  Sammlung  SP-1  handelt  es  sich  um  Kopien  aus  dem  NachlaB  von 
Theanolte  Bahnisch  (im  Privatbesitz  von  Dr.  Orla  Maria  Fels). 

8  Bemerkenswert  ist,  wie  Ropcke  erwahnt,  daB  die  Regierungsprasidenten  von  Stade 
und  Liineburg  in  der  Auswahl  fehlen,  vgl.  Ropcke,  wie  Anm.  1,  S.  246. 

9  Vgl.  Ropcke,  wie  Anm.  1,  S.  278.  Beide  Amter  behielt  Hellwege  bis  1961,  von  1946- 
1948  war  er  Mitglied  des  Zonenbeirats,  von  1947-1952  und  1955-1963  Mitglied  des  Nieder- 
sachsischen Landtags.  Ab  1949  bis  1955  hatte  er  das  Amt  des  Bundesministers  fiir  Angele- 
genheiten  des  Bundesrates  inne,  danach  wurde  er  Niedersachsischer  Ministerprasident.  Im 
Dritten  Reich  hatte  sich  Hellwege  in  der  Bekennenden  Kirche  engagiert. 


Theanolte  Bahnisch  405 

ter  Bahnischs,  dann  Martha  Fuchs,10  zunachst  Erziehungsministerin,  spater  Kom- 
missarin  fiir  Fliichtlingswesen  (SPD) ,  die  von  Beruf  wegen,  aber  auch  in  der  nach 
1945  wieder  erstarkenden  biirgerlichen  Frauenbewegung  mit  Bahnisch  eng  zu- 
sammenarbeitete,  ferner  einer  der  maBgeblichen  Unterstiitzer  Bahnischs,  Adolf 
Grimme,11  fiihrenderPadagoge  im  Nachkriegsdeutschland,  christlicher  Sozialist, 
Kultusminister  Niedersachsens  bis  1948  und  anschlieBend  Direktor  des  NWDR. 
Im  gleichen  Atemzug  zu  nennen  ist  Hinrich  Wilhelm  Kopf,  der  als  Ministerprasi- 
dent  Niedersachsens 12  nicht  nur  Vorgesetzter,  sondern  ebenfalls  entschiedener 
Forderer13  der  ersten  weiblichen  Regierungsprasidentin  Deutschlands  war.  Au- 
Berdem  sind,  um  die  Auswahl  abzuschlieBen,  verzeichnet  der  den  Besatzungs- 
machten  auBerst  kritisch  gegeniiberstehende  SPD-Parteivorsitzende  Kurt  Schu- 
macher, der  Bahnischs  Politik  zwar  nicht  immer  gut  hieB,  sie  aber  immer  wieder 
protegierte  und  schlieBlich  Maria  Meyer- Sevenich,14  anfangs  kommunistisch  be- 
wegt,  dann  CDU-,  spater  SPD-  und  kurz  vor  ihrem  Tode  wieder  CDU-Mitglied, 


10  Vgl.  Ropcke,  wie  Anm.  1,  S.  273.  Fuchs'  politische  Karriere  begann  als  Mitglied  des 
Brandenburgischen  Provinziallandtages.  In  der  NS-Zeit  wurde  sie  von  der  Gestapo  verfolgt 
und  1944/45  im  Konzentrationslager  Ravensbriick  interniert.  Nach  Kriegsende  wurde  sie 
Ratsherrin  in  Braunschweig,  von  Mai  bis  November  1946  war  sie  Kultusministerin  des  Lan- 
des  Braunschweig.  Abjanuar  1947  war  sie  fiir  die  folgenden  l'/2jahre  als  Staatskommissarin 
fiir  Fliichtlingswesen  (mit  Ministerrang)  im  Land  Niedersachsen  tatig.  1949  iibernahm  sie 
den  Landesvorsitz  der  SPD  im  Bezirk  Braunschweig.  Sie  war  Mitglied  des  Niedersachsi- 
schen  Landtags  von  1947-1951  und  1954/55. 

11  Vgl.  Ropcke,  wie  Anm.  1,  S.  40/41.  Grimme  trug  wesentlich  dazu  bei,  daB  Bahnisch 
1945  ihren  Wirkungsort  Koln  verlieB,  um  nach  Hannover  zu  kommen  (Vgl.  AddF,  SP-1,  Kurt 
Schumacher  an  Theanolte  Bahnisch,  Hannover  am  16.  Dezember  1945).  Er  lobte  Bahnischs 
Engagement  in  der  Frauenarbeit  im  SPD-Parteivorstand  und  engagierte  sich  in  den  von  ihr 
initiierten  Veranstaltungen,  indem  erbeispielsweise  einfiihrende  Worte  zum  jeweiligen  Rah- 
menthema  sprach.  Vgl.  Grimme,  Adolf,  Rede  an  die  Frauen.  Ansprache  bei  einer  Tagung 
der  iiberparteilichen  und  iiberkonfessionellen  Frauenorganisationen  der  Britischen  Zone, 
in:  Denkendes  Volk,  1947a,  Heft  7.  Auch  bekam  Bahnisch  wiederholt  die  Moglichkeit,  ihre 
Gedanken  im  Frauenfunk  des  NWDR,  dessen  Leiter  Grimme  war,  zu  auBern. 

12  Vgl.  Ropcke,  wie  Anm.  1,  S.  282/283. 

13  1945  war  Bahnisch  zunachst  im  Gesprach  fiir  den  Posten  als  Kopfs  personliche  Refe- 
rentin,  Vgl.:  AddF,  Kassel,  SP-1,  Schumacher  an  Theanolte  Bahnisch  (wie  Anm.  11),  spater 
bat  er  Bahnisch  -  so  jedenfalls  ist  es  einem  Zeitungsartikel  zu  entnehmen  -  Regierungsprasi- 
dentin zu  werden.  Vgl.  Theanolte  Bahnisch  erzahlt.  Die  Entscheidung  fiir  Hannover,  in: 
Hannoversche  Presse,  Nr.  299,  23.  Dezember  1964. 

14  Vgl.  Ropcke,  wie  Anm.  1,  S.  302/303.  Sevenich  war  Mitbegriinderin  der  „Deutschen 
Aufbaubewegung"  (DAB),  die,  als  Gegenpol  zu  SPD  und  KPD,  Hort  einer  iiberkonfessionel- 
len christlichen  und  sozialen  Politik  werden  sollte.  Ende  1945  ging  die  DAB  in  die  CDU 
iiber.  Nachdem  Sevenich  1948  aus  der  CDU  ausgetreten  war,  trat  sie  1949  in  die  SPD  ein.  Ihr 
Austritt  aus  der  SPD  und  Wiedereintritt  in  die  CDU  kurz  vor  ihrem  Tod  erfolgte  vor  dem 
Hintergrund  der  neuen  Ostpolitik  der  SPD. 


406  Nadine  Freund 

von  den  jeweiligen  Parteigenossen  ob  ihrer  Wechsellaunen  immer  argwohnisch 
beaugt,  wenn  nicht  gar  gefiirchtet.15 

Sie  alle,  engagierte  und  tatkraftige  Personlichkeiten  aus  den  Bereichen  Bil- 
dung,  Politik  und  Verwaltung  standen  in  intensivem  Austausch  mit  und  in  freund- 
schafdichem  Kontakt  zu  Bahnisch,  die  ihrer  Partei,  der  SPD,  zwar,  anders  als  Se- 
venich,  immer  treu  geblieben  ist,16  sich  dennoch  nie  in  parteiliche  Schranken  hat 
weisen  lassen,  bei  ihren  Bestrebungen,  einerseits  am  Wiederaufbau  der  Wirt- 
schaft  und  Verwaltung  im  Land  Niedersachen  mitzuwirken,  andererseits  auf  kul- 
turpolitischer  Ebene  zu  einer  Renovatio  der  westdeutschen  Gesellschaft  ihren 
Beitrag  zu  leisten.  Dies  fiihrte  dazu,  daB  die  weit  iiber  die  Landes-  und  Zonen- 
grenzen  hin  bekannte  und  wohlgelittene  Bahnisch  in  der  eigenen  Partei  bald  auch 
erbitterte  Gegner  hatte:  Nicht  zuletzt  war  dies  auf  die  Anerkennung,  die  ihr 
machtvolle  Personlichkeiten  im  In-  und  Ausland  zollten,  zuriickzufuhren.  Vor  al- 
lem  Fritz  Heine,  Leiter  des  Presse-  und  Propagandasekretariats  der  SPD,  im 
Who's  Who  als  blinkered  political  dogmatist17  bewertet,  war  die  aus  Uberzeugung 
parteiiibergreifend  operierende  Regierungsprasidentin  ein  Dorn  im  Auge,  eben- 
so  der  Leiterin  des  SPD-Frauensekretariats  Hertha  Gotthelf,  der  kein  Einzelein- 
trag  im  Who's  Who  gewidmet  ist.  Im  Artikel  iiber  Bahnisch  aber  heiBt  es:  Her 
[Bahnischs]  greatest  interest  is  non-political  women's  organisations.  In  this  sphere  she  has 
frequently  clashed  with  Hertha  Gotthelf  of  the  SPD  zonal  Committee  and  their  feud  has  be- 
come legendary  in  Hannover.18 

Worin  lag  nun  die  Tatsache  begriindet,  daB  Theanolte  Bahnisch  einerseits  ein 
so  hohes  Ansehen  unter  den  Eliten  in  Politik,  Kultur  und  Wirtschaft  genoB,  wel- 
ches ihr  immer  wieder  ermoglichte,  im  Rahmen  ihrer  vielen  Positionen  und  Auf- 
gaben  divergierende  Interessen  auf  einen  Nenner  zu  bringen?  Warum  fiihrte  an- 
dererseits scheinbargerade  diese  Fahigkeit  dazu,  daB  sie  sich  fiir  einige  Genossen 
zu  einer  Art  Erzrivalin  entwickelte,  was  zwar  zu  erhitzten  Diskussionen  um  Bah- 
nisch im  Parteivorstand,  in  Ausschiissen  und  auf  den  Parteiversammlungen  fiihr- 
te, am  Ende  aber  doch  keine  greifbare  Sanktion  fiir  Bahnisch  nach  sich  zog? 

15  Beispielsweise  Herta  Gotthelf  auBert  sich  iiber  Meyer-Sevenich  in  Bezug  auf  eine  ge- 
plante  Unterhaltung  mit  Mary  Sutherland,  einer  Vertreterin  der  Militarregierung  dergestalt, 
daB  sie  nicht  wolle,  daB  Sevenich  wieder  zu  einer  politischen  Plattform  verholfen  werde,  ob~ 
wohl  sie  eine  hochintelligente  Frau  und  eine  gldnzende  Rednerin  sei.  Das  bedeutet  noch  nicht,  dafi  sie 
fiir  die  Partei  ein  Plus  ware.  Man  weifi  bei  ihrja,  was  sie  heute  tut,  aber  nicht,  was  morgen  bei  ihr  her- 
auskommen  wiirde" Archiv  der  sozialen  Demokratie  (AdSD),  Bonn,  Kurt  Schumacher,  Mappe 
174,  Herta  Gotthelf  an  Martha  Fuchs,  12.  November  1948. 

16  Wann  Bahnisch  erstmalig  in  die  SPD  eingetreten  ist,  ist  unklar:  Das  AdSD  in  Bonn 
verfiigt  lediglich  iiber  eine  Mitgliedskarte  aus  demjahr  1945,  es  ist  jedoch  anzunehmen,  daB 
Bahnisch  schon  in  den  20er  Jahren  Mitglied  der  SPD  war. 

17  Ropcke,  wie  Anm.  1,  S.  278. 

18  Ropcke,  wie  Anm.  1,  S.  258. 


Theanolte  Bahnisch  407 

Welche  Sozialisations-  und  Berufserfahrungen  der  Regierungsprasidentin  spiel- 
ten  dabei  eine  Rolle,  welche  personlichen  Kontakte  und  Wirkungskreise,  welches 
Verhalten  und  welche  Argumente?  Diesen  Fragen  soil  im  folgenden  nachgegan- 
gen  werden,  gestiitzt  auf  die  These,  daB  Bahnisch  mit  ihren  Ansatzen  und  Ideen, 
die  sie  im  Rahmen  ihrer  verschiedenen  Tatigkeiten  nicht  nur  den  deutschen  und 
britischen  Eliten  in  Politik,  Wirtschaft  und  Kultur,  sondern  der  gesamten  west- 
deutschen  Gesellschaft  publikumswirksam  unterbreitete,  die  Errichtung  einer 
deutschen  Demokratie  „westlicher"  Pragung  und  deren  Integration  in  europai- 
sch-transatlantische  Biindnisse  entscheidend  unterstiitzte,  indem  sie  namlich  da- 
zu  beitrug,  den  antikommunistischen  Grundkonsens,  die  „Basisideologie"  der 
jungen  deutschen  Republik,  in  der  Bevolkerung  zu  festigen  und  das  Interesse  an 
„Europa"  als  Kultur-,  Politik-  und  Wirtschaftsraum  zu  starken. 

Zunachst  soil,  um  dieser  These  zu  folgen,  ein  Einblick  in  die  Ausbildung,  Be- 
rufstatigkeit  und  das  politische  Engagement  Bahnischs  vor  1945  gegeben  werden, 
um  die  Fundamente  abzustecken,  auf  deren  Basis  die  Verwaltungsjuristin  1946 
den  Posten  als  Regierungsprasidentin  angetragen  bekam.19  Daran  anschlieBend 
werden  die  wesentlichen  Ziige  ihres  Wirkens  in  der  Sozialdemokratie,  im  Re- 
gierungsprasidium,  in  der  biirgerlichen,  iiberparteilichen  Frauenbewegung  -  be- 
sonders  auch  im  Unterschied  zur  SPD-internen  Frauenarbeit  -  und  in  der  Presse 
der  direkten  Nachkriegszeit  beleuchtet.  AbschlieBend  soil  mit  Blick  auf  das  Zu- 
sammenspiel  dieser  verschiedenen  Bereiche  die  integrations-  und  identifikations- 
fordernde  Komponente  und  damit  das  Potential  von  Bahnischs  Arbeit  fur  eine  in 
der  Re-orientierung  begriffene  Gesellschaft  herausgearbeitet  werden. 

Uber  die  ideellen  Grundlagen  von  Theanolte  Bahnischs  Handeln,  den  Platz  ih- 
rer Themen  und  Ideen  in  den  deutschen  und  internationalen  Nachkriegsdiskur- 
sen  und  die  mogliche  Wirkung  der  durch  Bahnisch  angestoBenen,  vertieften  und 
veranderten  Diskurse  auf  die  deutsche  Gesellschaft  ist  bisher  ebenso  wenig  ge- 
forscht  worden,  wie  iiber  die  Schnittmengen  der  verschiedenen  Wirkungsgebiete 
und  damit  die  Personen  und  Institutionen,  mit  denen  sich  Bahnisch  vernetzte. 
Neben  kiirzeren  biographischen  Darstellungen20  und  Zeitungsartikeln  sowie 


19  Neben  Ministerprasident  Kopf  strebte  auch  der  Kommandant  der  britischen  Armee 
fiir  den  Regierungsbezirk  Hannover,  Hume,  die  Einstellung  Bahnischs  an.  Dariiber  berichtet 
beispielsweise  die  Oxforder  Germanistikprofessorin  Helena  Deneke,  die  1946  im  Auftrag 
der  Militarregierung  eine  Reise  durch  Deutschland  unternahm.  Bodleian  Library,  UK,  Ox- 
ford, Special  Collections,  Papers  of  Helena  and  Marga  Deneke,  Box  Nr.  7,  Manuscript  ac- 
count of  H.  D.'s  visit  to  Germany  at  the  government's  invitation  ,to  try  interest  German  wo- 
men in  democracy',  1946-1952.  Aus  dieser  Reise  entstand  der  vielzitierte  Report:  National 
Council  of  Social  Service/Helena  DENEKE/Betty  Norris,  The  Women  of  Germany,  1947. 

20  Vgl.  z.B.  Dorothea  Bahnisch,  o.  V.,  in:  Internationales  Biographisches  Archiv  (Mun- 
ziger  Archiv),  29.  Juli  1961,  S.  2882. 


408  Nadine  Freund 

Meldungen,  die  die  Institution  Deutscher  Frauenring  (DFR)  und  seine  Vorlaufer 
behandeln,  sind  zur  Person  und  zum  Handeln  Bahnischs  vierkiirzere  Aufsatze  er- 
schienen,  die  alle  auf  Bahnischs  frauenpolitisches  Wirken  fokussieren.21  Drei 
Werke,  die  die  Re-education  Politik  der  Besatzungsmachte  in  Deutschland  the- 
matisieren,22  geben  erste  Aufschliisse  iiber  Bahnischs  zentrale  Funktion  in  der 
Frauenbewegung  und  -bildung.  Ihr  Handeln  in  der  SPD,  der  Europabewegung23 
und  als  Regierungsprasidentin  ist  bisher  jedoch  nicht  zum  Gegenstand  wissen- 
schaftlicher  Publikationen  geworden.  Ein  breiter  angelegter  Blick  auf  die  ver- 
schiedenen  Wirkungsgebiete  und  deren  Zusammenspiel  erscheint  deshalb  sinn- 
voll,  um  die  Vielschichtigkeit  ihres  Engagements  und  damit  die  Spanne  ihrer  Ein- 
fluBmoglichkeiten  in  der  deutschen  Nachkriegsgesellschaft  aufzuzeigen. 

Als  Quellengrundlagen  fur  dieses  Vorhaben  dienen  Zeitungsartikel  iiber  Bah- 
nisch  in  der  regionalen  und  iiberregionalen  Presse  der  40er  bis  60er  Jahre,  Akten 
des  Regierungsprasidiums  Hannover  und  des  niedersachsischen  Innenministeri- 
ums,  Akten  der  britischen  Militarregierung  in  Deutschland,  des  SPD-Parteivor- 
stands  sowie  Papiere  aus  dem  NachlaB  Theanolte  Bahnischs  und  die  friihen  Jahr- 
gange  der  Zeitschrift  „Stimme  der  Frau". 

2.  Kindheit  undjugend  als  ,Hohere  Tochter'  im  katholischen  Westfalen 

Ich  stamme  aus  einer  alten  westfdlischen  Bauernfamilie,  und  zwar  sowohl  vdterlicher-  wie 
mutterlicherseits2i  leitet  Theanolte  Bahnisch  einen  undatierten  Lebenslauf  ein, 
der,  mit  „Kurze  Lebensskizze"  iiberschrieben,  in  ihrem  PrivatnachlaB  iiberliefert 
ist.  Am  25.  April  1899  wurde  sie  als  Dorothea  Nolte  in  Beuthen/Oberschlesien 


21  Vgl.  Barbel  Clemens,  Theanolte  Bahnisch  (1899-1973).  WirFrauen  miissen  ein  kluges 
Herz  haben,  in:  Hiltrud  Schroeder  (Hrsg.),  Sophie  &  Co.  Bedeutende  Frauen  Hannovers, 
Hannover  1996,  S.  201-213;  Nadine  FREUND/Kerstin  Wolff,  Um  harte  Kerne  gegen  den 
Kommunismus  zu  bilden  .  .  ."  Die  staatsbiirgerliche  Arbeit  von  Theanolte  Bahnisch  in  der 
Zeitschrift  „Die  Stimme  der  Frau",  in:  Ariadne  -  Forum  fur  Frauen-  und  Geschlechterge- 
schichte  44,  2003,  S.  62-69;  Barbara  HENicz/Margrit  Hirschfeld,  Der  Club  deutscher  Frau- 
en in  Hannover,  in:  Annette  Kuhn  (Hrsg.),  Frauen  in  der  deutschen  Nachkriegszeit,  Bd.  2: 
Frauenpolitik  1945-1949,  Diisseldorf  1986,  S.  127-134;  Dies.,  „Wenn  die  Frauen  wiiBten,  was 
sie  konnten,  wenn  sie  wollten"  -  Zur  Griindungsgeschichte  des  Deutschen  Frauenrings,  in: 
Ebd,  S.  135-156. 

22  Vgl.  Pia  Grundhofer,  Auslanderinnen  reichen  die  Hand,  Hansel-Hohenhausen 
1999,  zugl.  Diss.  Uni  Trier  1995;  Denise  Tscharntke,  Re-educating  German  Women.  The 
work  of  the  Women's  Affairs  Section  of  British  Military  Government  1946-1951,  Frankfurt  a. 
M.  2003;  Christl  Ziegler,  Lernziel  Demokratie.  Politische  Frauenbildung  in  der  britischen 
und  amerikanischen  Besatzungszone  1945-1949,  Koln/Weimar/Wien  1997. 

23  Eine  tiefergehende  Analyse  dieser  Arbeit  ist  auch  in  diesem  Aufsatz  nicht  moglich, 
da  der  Aktenbestand  im  AdSD  Bonn  noch  nicht  komplett  ausgewertet  wurde. 

24  AddF  Kassel,  SPT,  Kurze  Lebensskizze,  verfaflt  von  Theanolte  Bahnisch,  o.  D. 


Theanolte  Bahnisch  409 

geboren,  wo  ihr  Vater  Franz  Nolte  einigejahre  lang  an  einem  Gymnasium  unter- 
richtete.  Um  1904  zog  die  Familie  nach  Westfalen.25  Thea,  wie  sie  von  der  Familie 
und  von  engen  Freunden  genannt  wurde,  wuchs  zusammen  mit  sechs  Geschwi- 
sterkindern  auf  und  besuchte  in  Warendorf  bei  Minister  die  katholische  Hohere 
Tochterschule,  danach  -  im  AnschluB  an  eine  Phase  des  Privatunterrichts  durch 
ihren  Vater-  ab  dem  16.  Lebensjahrdas  Lehrerinnenseminarin  Dortmund,  nicht 
untypisch  fur  ein  junges  Madchen  aus  bildungsbiirgerlichem  Haushalt.  Bereits 
nach  einem  halbenjahrbrach  sie  diese  Ausbildungjedoch  ab.26  Nachdem  ihr  Va- 
ter sie  im  Hausunterricht  weiter  bis  zur  Unterprimarreife  vorbereitet  hatte,  trat  sie 
1917  in  die  Studienanstalt  der  Ursulinen  inKoln  ein,  wo  sie  1919  das  Abiturableg- 
te.27  An  das  Studium  der  Rechtswissenschaften  in  Miinster28  schloB  sie  das  Ge- 
richtsreferendariat  an,  wahrend  dessen  sie  festgestellt  hatte,  daB  sie  im  Strafrecht 
nicht  ihre  berufliche  Zukunft  sah.  Deshalb  ersuchte  sie  nach  Beendigung  dieses 
ersten  Referendariats  die  Zulassung  zum  Regierungsreferendariat.  Das  war  nicht 
so  einfach,  denn  es  war  bis  dahin  iiberhaupt  noch  keine  Frau  zugelassen  worden.  Ich  [.  .  .] 
erreichte  in  hartndckigen  Verhandlungen  [.  .  .]  vorallem  in  einer  personlichen  Unterredung 
mit  [dem  preuBischen  Irmen-jMinister  Severing  die  Zulassung,29  schreibt  Bahnisch 
spater  dazu.  Man  kann  esja  mal  versuchen,30  soil  Severing  auf  das  entschiedene  und 
damit  erfolgreiche  Begehren  der  jungen  Frau  geantwortet  haben:  Sie  bekam  ei- 
nen  Referendariatsplatz  bei  der  Regierung  in  Miinster. 

3.  „Bollwerk  Preufeen"  und  sozialdemokratischer  Widerstand  in  Berlin 

1923  wurde  Dorothea  Nolte  als  Beamtenanwarterin  im  Berliner  Polizeiprasidium 
angestellt.  Sie  durchlief  dort  samtliche  Abteilungen  und  vertiefte  so  auch  ihre 
Kenntnisse  iiber  die  verschiedenen  Probleme  bei  der  Verwaltung  eines  Regie- 
rungsbezirks,  denn  der  Berliner  Polizeiprasident  fungierte  zu  dieser  Zeit  zugleich 


25  Die  Angaben  in  den  Quellen  zum  Umzug  Bahnischs  variieren  leicht,  es  ist  daher  un- 
klar,  wann  der  Umzug  stattfand. 

26  AddFKassel,  SP-1,  Kurze  Lebensskizze,  verfaBt  von  Theanolte  Bahnisch,  o.  D. 

27  Staatsarchiv  (StA)  Hannover,  Nds.  50,  Ace.  75/88,  Nr.  1,  Lebenslauf  von  Theanolte 
Bahnisch,  o.  D. 

28  Vermutlich  lernte  sie  dort  den  „Reisedoktor"  Kurt  Schumacher  kennen,  der  sich,  zu- 
vor  Referendar  am  Berliner  Kammergericht,  zwecks  Abwicklung  seiner  Promotion  bei  dem 
Nationalbkonomenjohann  Plenge  im  Sommersemester  1920  in  Miinster  aufhielt.  Vgl.  Kurt 
Schober,  Der  junge  Kurt  Schumacher,  1895-1933,  Bonn  2000,  S.  115-124. 

29  AddF  Kassel,  SP1,  Kurze  Lebensskizze,  verfaBt  von  Theanolte  Bahnisch,  o.  D.  Dazu 
vgl.  auch:  Barbara  Groneweg,  Eine  Frau  im  bffentlichen  Leben,  Theanolte  Bahnisch  wurde 
60Jahre,  in:  Stuttgarter  Zeitung,  28.  April  1959. 

30  Marieluise  Schareina,  Regierungsprasident  Theanolte  Bahnisch  60  Jahre.  Ein  Frau  - 
die  ihren  Mann  steht,  in:  Die  Rundschau,  Nr.  96,  25. /26.  April. 1959. 


410  Nadine  Freund 

auch  als  Regierungsprasident  Berlins.  Im  Prasidium,  das  21.000  Mitarbeiter  be- 
schaftigte  und  nicht  nur  lokale  Zustandigkeiten  fiir  die  Viermillionenstadt,  son- 
dern  auch  politische  Polizeiaufgaben  fiirganz  PreuBen  wahrzunehmen  hatte,  wa- 
ren  ihr  Sozialdemokraten  wie  die  Polizeiprasidenten  Wilhelm  Richter,  Friedrich 
Zorbiegel  und  Albert  Grzesinski,31  Staatssekretar  Wilhelm  Abegg,  Innenminister 
Carl  Severing  und  schlieBlich  Ministerprasident  Otto  Braun  vorgesetzt.  Jene  re- 
prasentierten  in  ihren  amtlichen  und  politischen  Positionen  das  sozialdemokrati- 
sche  „Bollwerk  PreuBen"  im  zunehmend  demokratiedefizitaren  Reich.32  Die  An- 
warterin  war  also  wahrend  ihrer  Ausbildung  im  Prasidium  aus  nachster  Nahe 
konfrontiert  mit  den  politischen  Auseinandersetzungen  auf  institutionellerEbene 
zwischen  PreuBen  und  dem  Reich,  den  Bemuhungen  der  politischen  Polizei,  die 
demokratiefeindlichen  Parteien  zu  iiberwachen,  schlieBlich  mit  den  wiederholt 
den  Einsatz  der  preuBischen  Polizei  nach  sich  ziehenden  StraBenkampfen  zwi- 
schen Kommunisten  und  NSDAP-Anhangern. 

Auch  nach  ihrem  Assessorexamen  1926  und  der  Heirat  mit  dem  Kollegen  Al- 
brecht  Bahnisch  1927  blieb  sie  beim  Polizeiprasidium  beschaftigt,  nicht  ohne  sich 
vorher  die  schriftliche  Zusicherung  Grzesinskis  (mittlerweile  preuBischer  Innen- 
minister), eingeholt  zu  haben,  daB  die  Bestimmungen  beziiglich  des  „Doppelver- 
dienertums"  bzw.  „Beamtinnenzolibats"  auf  sie  nicht  angewendet  werden  wiir- 
den.33  Diesejahre  bewertet  sie  riickblickend,  aufgrund  derZusammenarbeit  und 
den  gemeinsamen  Interessen  mit  ihrem  Mann,  der  Regierungsrat  im  Innenmini- 
sterium  war,  als  besonders  wertvoll.34  Erst  1930,  als  Albrecht  Bahnisch  Landrat 
von  Merseburg  in  der  preuBischen  Provinz  Sachsen  wurde,  schied  seine  Ehefrau, 
die  nach  der  Hochzeit  ihren  Madchennamen  zum  Vornamen  hinzugezogen  hatte 
und  fortan  „Theanolte"  genannt  wurde,  mit  dem  Titel  „Regierungsrat"  aus  dem 
Dienst  aus.  Das  [.  .  .]  ist  mir  ungeheuer  schwer gef alien,  aber  mir  kam  der Himmel  selbst 
zur  Hilfe.  Als  ich  mein  Abschiedgesuch  schrieb,  wusste  ich,  dass  ich  ein  Kind  erwartete.35 
Als  1931  die  Tochter  Orla-Maria  geboren  wurde,  schien  alles  darauf  hinzudeuten, 
daB  den  Bahnischs,  abgesichert  nicht  zuletzt  durch  ein  groBziigiges,  representati- 
ves Amtshaus,36  ruhige  Familienjahre  fernab  der  GroBstadt  bevorstanden.  Doch 


31  Zwischen  zwei  Perioden  im  Amt  des  Berliner  Polizeiprasidenten  war  Grzesinski  von 
1926-1930  preuBischer  Innenminister. 

32  Vgl.  dazu:  Hans-Peter  Ehni,  Bollwerk  PreuBen?  PreuBen-Regierung,  Reich-Lander- 
Problem  und  Sozialdemokratie  1928-1932,  Bonn  1975. 

33  AddF  Kassel,  SP-1,  Kurze  Lebensskizze. 

34  Ebd. 

35  Ebd. 

36  Die  GroBziigigkeit  der  Privatraume  im  Dienstsitz  des  Merseburger  Regierungsprasi- 
denten  fuhrte  wahrend  Albrecht  Bahnischs  Regierungszeit  zu  erbitterten  Auseinanderset- 
zungen in  der  lokalen  Politik,  schlieBlich  sogar  zu  einer  Klage  gegen  Bahnischs  Vorganger 


Theanolte  Bahnisch  411 

in  der  kurzen  Zeit  bis  zur  Geburt  des  Sohnes  Albrecht  im  Marz  1933  hatten  sich 
die  Ereignisse  iiberschlagen:  Ob  Bahnischs  politischer  Weitblick  in  der  Retro- 
spektive  nicht  etwas  geschont  ist,  wenn  sie  schreibt:  Endejuni  32,  acht  Tage  nachdem 
Severing  vom  Militdr  aus  dem  Innenministerium  geholt  war,  beantragte  ich  beim  Oberver- 
waltungsgericht  Berlin  meine  Zulassung  als  Verwaltungsrechtsrat  [.  .  .]  [i]  ch  rechnete  von 
dem  Augenblick  ab  mil  einer  Naziregierung,37  sei  dahingestellt.  Fakt  ist,  daB  Landrat 
Bahnisch  am  8.  Marz  1933,  vier  Tage  vor  der  Geburt  seines  Sohnes,  seines  Amtes 
enthoben  und  die  vierkopfige  Familie  wenig  spater  gezwungen  wurde,  aus  der, 
wie  Theanolte  Bahnisch  selbst  schreibt,  ubergrqfien  Dienstwohnung38  in  eine  zwei- 
einhalb  Zimmerwohnung  in  Berlin  umzuziehen,  die  sogar  noch  als  frisch  gegriin- 
dete  Anwaltspraxis  fur  Verwaltungsrecht  mitgenutzt  wurde.39  Da  der  Zulauf  an 
Kunden  zu  den  neu  zugelassenen  Verwaltungsrechtsraten  Albrecht  und  Theanol- 
te Bahnisch  (Albrecht  hatte  nach  seiner  Amtsenthebung  den  gleichen  berufli- 
chen  Weg  wie  seine  Frau  gewahlt)  sich  erst  etablieren  muBte,  arbeitete  Theanolte 
nebenbei  als  Vertreterin  fur  Pressephotos,  Albrecht  zunachst  als  Sekretar,  dann 
als  Prokurist. 

Der  gemeinsamen  Anwaltspraxis  gait  jedoch,  wenn  man  Theanolte  Bahnischs 
Ausfiihrungen  glauben  darf,  immer  das  eigentliche,  vor  allem  politische  Interesse 
des  Paares:  Theanolte  Bahnisch  wollte  den  Praxisbetrieb  als  einen  Akt  des  politi- 
schen  Widerstands  verstanden  wissen,  da  sie  und  ihr  Mann,  so  berichtet  sie  nach 
1945,  vornehmlich  von  den  Nationalsozialisten  politisch  und  rassisch  Verfolgten 
gegen  ein  geringes  Entgelt  im  eigenen  Ermessen  der  Klienten  Unterstiitzung  und 
rechtlichen  Beistand  geleistet  hatten.  Im  Laufe  der  ndchsten  2Jahre  [.  .  .]  bin  ich  bei 
vielen  Gestapos  der  deutschen  Grofistadte  gewesen,  um  mich  nach  Verhafteten  und  in 's  KZ 
Verschleppten  zu  erkundigen  und  mich  fur  sie  einzusetzen.  Es  wird  manchen  merkwiirdig 
vorkommen,  aber  ich  habe  tatsachlich  wiederholt  Erfolge  gehabt.i0  Dies  war,  Bahnischs 
Aussagen  zufolge,  nur  einer  von  drei  Aspekten  ihres  Widerstandes  gegen  den  Na- 
tionalsozialismus.  Auch  publizistisch  habe  sie  sich  engagiert  und  1931  den  „Frei- 
heitsverlag"  gegriindet,  um  in  diesem  Schriften  gegen  den  Nationalsozialismus  zu 


Wilhelm  Guske  (ebenfalls  SPD,  ab  1930  Vorsitzender  der  Eisernen  Front  in  Koblenz  sowie 
Vizeprasident  der  Rheinprovinz) ,  der  den  Neubau  des  Gebaudes  in  Auftrag  gegeben  hatte, 
wegen  mutmaBlicher  Verschwendung  offentlicher  Gelder.  Diskussionen  um  Bader,  Tennis- 
platze  und  Gartenanlagen  iiberlagern  so  einen  im  Grunde  politischen  Konflikt,  den  Aufstieg 
neuer  Machthaber  und  die  Verdrangung  sozialdemokratischer  Beamter  aus  ihren  Positionen. 
Vgl.:  Geheimes  Staatsarchiv  preuBischer  Kulturbesitz,  Berlin-Dahlem  (StA  PK),  HA  I,  Rep. 
77,  Nr.  5176. 

37  Lebenslauf  von  Theanolte  Bahnisch,  o.  D.,  in:  HSTA,  Nds.  50,  Ace.  75/88,  Nr.  1. 

38  AddFKassel,  SP-1,  Kurze  Lebensskizze. 

39  Ebd. 

40  Ebd. 


412  Nadine  Freund 

publizieren.41  Anhand  von  Parallelquellen  nachvollziehen  laBt  sich  dieses  publi- 
zistische  Engagement  bis  dato  allerdings  nicht  -  oder  miiBte  man  doch  vielmehr 
sagen  „nicht  mehr"?  -  Ministerialrat  Carl  Spieker  habe  ihres  Erachtens  nach  per- 
sonlich  fiir  die  Vernichtung  der  Unterlagen,  die  die  Finanzierung  der  Presse- 
erzeugnisse  aus  dem  sozialdemokratischen  Widerstand  belegten,  gesorgt,42 
schreibt  Bahnisch  in  einem  Lebenslauf,  der  ihrer  Personalakte  beiliegt.  Wir  wis- 
sen  nicht,  ob  sie  damit  lediglich  zu  erklaren  versuchte,  warum  es  den  Nationalso- 
zialisten  nicht  gelungen  war,  die  Verantwortlichen  zu  fassen,  oder,  ob  sie  mit  ih- 
ren  Ausfiihrungen  ebenfalls  plausibel  machen  wollte,  weshalb  der  Name  Bah- 
nisch im  Zusammenhang  mit  dem  Widerstand  gegen  den  Nationalsozialismus  in 
der  entsprechenden  Literatur  nicht  zu  finden  ist.43  Ebenso  wenig  durch  Parallel- 
quellen zu  belegen  ist  bisher  die  Aussage  der  spateren  Regierungsprasidentin, 
daB  Ernst  von  Harnack,  bis  1932  sozialdemokratischer  Regierungsprasident  von 
Merseburg  und  damit  Vorgesetzter  des  Landrates  Bahnisch,  sie  1938  fiir  die  Wi- 
derstandsgruppe  Harnack/ Schulze-Boysen,  besserbekannt  als  „Die  Rote  Kapel- 
le",  als  Verbindungsfrau  geworben  habe.  Sie  brauchten  dringend jemanden,  um  wich- 
tige  Verbindungen  herzustellen,  eine Frau  sei  unauffalliger^  erklart  Bahnisch  1964  von 
Harnacks  Anliegen  an  sie  in  einem  Interview.  Keinesfalls  aber  konnen  diese 
Quellen-  und  Forschungsliicken  das  von  Bahnisch  erklarte  Engagement  widerle- 
gen,  zumal  Korrespondenzen  Bahnischs,  unter  anderem  mit  Adolf  Grimme,  der 
zu  dieser  Zeit  preuBischer  Kultusminister  war,  belegen,  daB  personliche  Kontakte 
zwischen  ihr  und  Protagonisten  des  sozialdemokratischen  Widerstands  gegen 
den  Nationalsozialismus  in  den  30er  Jahren  bestanden  haben.  Eine  genauere 
Klarung  der  Rolle  Bahnischs  im  Widerstand  steht  also  noch  aus.  Ihrer  Aussage 
zufolge  hat  sie  von  verschiedenen  Stadten  aus  bis  zum  Ende  des  Krieges  als  Ver- 
waltungsrechtsratin  ihre  Mandanten  betreut,  wobei  ihr  von  der  Gestapo  wieder- 
holt  mit  Gefangennahme  gedroht  worden  sei.4 


41  Ebd. 

42  HStA  Hannover,  Nds.  50,  Ace.  75/88,  Nr.  1,  Reg.  Pras.  Bahnisch,  Blatt  8/9:  undatier- 
ter  Lebenslauf  [vermutlich  1947]. 

43  Bisher  ergab  sowohl  die  Suche  in  den  Bestanden  der  Geheimen  Staatspolizei  im  Ober- 
bestand  „Reich"  des  Bundesarchivs  in  Berlin-Lichterfelde,  als  auch  in  den  einschlagigen  Pu- 
blikationen  zum  sozialdemokratischen  Widerstand  und  zur  „Roten  Kapelle"  keine  Resultate. 
In  der  Zentralkartei  des  Document  Center  ist  Bahnisch  nicht  enthalten.  Vgl.  AdSD  Bonn, 
Sammlung:  Personalia,  Theanolte  Bahnisch. 

44  Theanolte  Bahnisch  erzahlt.  Heimkehrerin  nach  Hannover.  Der  Weg  in  das  Regie- 
rungsprasidium,  in:  Hannoversche  Presse  Nr.  298  vom  22.  Dezember  1964. 

45  Vgl.  AdSD  Bonn,  Sammlung  Personalia,  Theanolte  Bahnisch,  Zum  Material  der  Lei- 
stungen  von  weiblichen  Mitgliedern  der  SPD  wahrend  der  Hitlerherrschaft,  o.  D. 


Theanolte  Bahnisch  413 

4.  „Vorreiterin" der  neuen  Volkspartei  SPD  -  Richtung Europa 

1945  lieB  sich  Bahnisch  mit  ihren  beiden  Kindern,  die  achtjahre  lang  bei  ihrer  al- 
teren  Schwester  im  Taunus  untergebracht  waren,  in  Koln  nieder.  Ihr  Mann  Al- 
brecht,  der  1939  zum  Kriegsdienst  eingezogen  worden  war,  war  vom  RuBland- 
feldzug  der  Wehrmacht  nicht  zuriickgekehrt.46  Sie  beantragte  und  erhielt  erneut 
die  Zulassung  als  Verwaltungsrechtsratin  und  schrieb  dariiber  spater,  sie  habe 
nun  in  dieser  Funktion  „Butterbrot-PG's"  (so  nannte  ich  der  Militdrregierung  die,  die 
um  ihrer  Existenz  willen  der  Partei  beigetreten  wareni7)  anstelle  von  Widerstandlern 
verteidigt.  Der  AnschluB  an  die  SPD,  den  sie  in  Koln  suchte,  gelang  ihr  jedoch 
nicht.  So  oft  bin  ich  noch  nie  einem  Mann  hinterhergelaufen,4&  schrieb  sie  an  Kurt  Schu- 
macher 1945  bezogen  auf  Robert  Gorlinger,  den  sozialdemokratischen  Nachfol- 
ger  Konrad  Adenauers  im  Amt  des  Kolner  Oberbiirgermeisters.  Gorlinger  hatte 
versucht,  Bahnisch  fur  den  Wiederaufbau  der  Frauenarbeit  in  der  SPD  zu  gewin- 
nen,  wozu  die  spatere  Prasidentin  des  Deutschen  Frauenringes  zu  dieser  Zeit  je- 
doch bemerkte:  das  liegt  miraber gar  nicht.  Ich  bin  Frauen  in  Massen  immeraus  dem  Weg 
gegangen.  Ihr  Wunsch,  mit  der  politischen  Problemlage  vor  Ort  und  den  damit  zu- 
sammenhangenden  Strategien  der  Partei  vertraut  gemacht  zu  werden,  blieb  uner- 
fiillt.  Vielleicht  ist  es  auf  diese  Enttauschung49  zuruckzufiihren,  daB  sie,  entgegen 
ihres  urspriinglichen  Plans,  Koln  schon  1946  wieder  verlieB,  um  nach  Hannover 
zu  Ziehen. 

Wiralle  hierkennen  ihre  Fdhigkeiten  und  wollen  Sie  besserverwendet  wissen  als  bisher,50 
hatte  ihr  Schumacher,  der  die  SPD  in  Hannover  seit  Mai  1945  wieder  aufbaute,  im 
Dezember  1945  mitgeteilt.  Wir,  damit  meinte  er  die  Parteigenossen,  die  sich,  wie 
Bahnisch,  als  politisch  unbelastet  eingestuit,  um  den  Wiederaufbau  der  Gesellschaft 
bemiihten.  Schumacher  hatte  Bahnisch  auf  Empfehlung  Adolf  Grimmes  eine 
Stelle  angeboten,  von  der  er  schrieb,  sie  sei  die  groBte  Vertrauensposition,  die  im 
Land  Niedersachsen  iiberhaupt  zu  vergeben  sei:  Sie  sollte  personliche  Referentin 
des  Sozialdemokraten  Hinrich  Wilhelm  Kopf,  zu  dieser  Zeit  Regierungsprasident 


46  Als  „Versprengter  der  Kampfgruppe  Matthieu"  wurde  Albrecht  Bahnisch  im  Februar 
1943  als  in  der  Nahe  von  Charkow  vermiBt  gemeldet.  Theanolte  Bahnischs  Versuche,  ihren 
Mann  zu  finden,  bleiben  ergebnislos.  1952  wird  er  fur  tot  erklart.  Vgl.  HStA,  Nds.  50,  Ace. 
75/88,  Nr.  1,  Reg.  Pras.  Bahnisch  Beschluss  des  Amtsgerichtes  Koln  19.  Dezember  1952,  AZ 
4  II  1027/52. 

47  Heimkehrerin  nach  Hannover,  wie  Anm.  44. 

48  AdSD  Bonn,  Kurt  Schumacher,  Nr.  126,  Theanolte  Bahnisch  an  Kurt  Schumacher, 
Koln-Klettenberg,  den  23.  Dezember  1945. 

49  Dieser  versuchte  sie  fur  den  Wiederaufbau  der  Frauenarbeit  in  der  Partei  zu  gewin- 
nen,  wahrend  sie  lieber  mit  der  allgemeinen  Problemlage  vor  Ort  vertraut  gemacht  werden 
wollte,  vgl.:  ebd. 

50  AddFKassel,  SPT,  Schumacher  an  Bahnisch,  wie  Anm.  11. 


414  Nadine  Freund 

in  Hannover,  werden.  Wie  Kopf  und  Grimme  gehorte  Bahnisch  zu  jenem  Fliigel 
der  SPD,  der  nach  1945  einer  Kooperation  mit  anderen  politischen  Lagern  gegen- 
iiber  sehr  aufgeschlossen  war,  das  Ziel  der  Wiederaufhahme  von  Beziehungen 
Deutschlands  mit  anderen  Landern  iiber  die  Parteilinie  setzte  und  in  diesem  Zu- 
sammenhang  im  Rahmen  des  angestrebten  Wiederaufbaus  Deutschlands  engen 
Kontakt  mit  den  Besatzern  suchte:  alles  in  allem  Wegbereiter  also  des  neuen  Kur- 
ses  der  Partei  „auf  dem  Weg  nach  Bad  Godesberg",  zur  groBen  Mittelstandspartei 
und  in  die  Europaische  Union.51  Auch  als  stellvertretende  Prasidentin  des  Deut- 
schen  Rates  der  Europaischen  Bewegung  versuchte  Bahnisch,  die  Europa-Bewe- 
gung  unter  den  Sozialdemokraten  und  im  Land  starker  zu  machen,  der  Parteivor- 
sitzende,  Schumacher,  stand  diesem  Treiben  seiner  Genossen  eher  skeptisch  ge- 
geniiber,  wollte  jedoch  einen  moglichen  EinfluB  der  Sozialdemokraten  auf  die 
Bewegung  nicht  verspielen,  weshalb  er  die  Europabegeisterten  in  der  SPD  ge- 
wahren  lieB.52  Gleichgesinnte  fand  Bahnisch  in  Genossen  wie  Otto  Suhr,  Max 
Brauer  und  Adolf  Ludwig,  mit  denen  sie  auch  zur  Konferenz  des  „Mouvement  so- 
cialiste  pour  les  Etats-Unis  d'Europe"  (MSEUE)  in  Briissel  reiste, 53  aber  beispiels- 
weise  auch  in  den  CDU-Politikern  Heinrich  von  Brentano54  und  Christine 
Teusch.55  Wie  auch  Adolf  Grimme  und  Heinrich  Albertz,  evangelischer  Pfarrer 
in  Celle  und  sozialdemokratischer  Fliichtlingsminister  in  Niedersachen,  strebte 


51  Dazu  vgl.  Kurt  Klotzbach,  Der  Weg  zur  Staatspartei.  Programmatik,  praktische  Poli- 
tik  und  Organisation  der  deutschen  Sozialdemokratie  1945  bis  1965,  Bonn  1982. 

52  Zur  gespaltenen  Stellung  der  SPD  gegeniiber  der  Europaischen  Bewegung  vgl.  Willy 
Albrecht,  Europakonzeptionen  der  SPD  in  der  Griindungszeit  der  Bundesrepublik.  Einige 
programmatische  Texte  aus  der  Zeit  der  ersten  Nachkriegsvorsitzenden  Schumacher  und 
Ollenhauer,  in:  Oliver  Mengersen  (Hrsg.),  Personen,  Soziale  Bewegungen,  Parteien,  Fest- 
schrift fur  Hartmut  Soell,  Heidelberg  2004,  S.  365-375  sowie  Detlef  Rogosch,  Sozialdemo- 
kratie zwischen  nationaler  Orientierung  und  Westintegration  1945-1947,  in:  Mareike  Ko- 
Nio/Matthias  Schulz  (Hrsg.),  Die  Bundesrepublik  Deutschland  und  die  europaische  Eini- 
gung  1949-2000.  Politische  Akteure,  gesellschaftliche  Krafte  und  internationale  Erfahrun- 
gen.  Festschrift  fur  Wolf  D.  Gruner  zum  60.  Geburtstag,  Wiesbaden  2004,  S.  287-310. 

53  Vgl.  Willy  Albrecht  (Hrsg.) ,  Die  SPD  unter  Kurt  Schumacher  und  Erich  Ollenhauer 
1946  bis  1963.  Sitzungsprotokolle  der  Spitzengremien,Bd.  2:  1948-1950,  Bonn  2003,  S.  123. 

54  Vgl.  AddFKassel,  SP-1,  Heinrich  v.  Brentano  an  Theanolte  Bahnisch,  Darmstadt,  24. 
April  1964.  Dort  schreibt  er:  Ich  denke  immer  wieder gerne  an  die  vorzugliche  Zusammenarbeit  mitlh- 
nen,  und  hoffe,  dass  wir  sie  wenigstens  im  Rahmen  der  europaischen  Bewegung  fortsetzen  kbnnen,  woun- 
sere  Vorstellungen,  Wunsche  undZieleja  vollig iibereinstimmen.  Brentano  war  zunachst  Mitglied  des 
Hessischen  Landtages  und  Fraktionsvorsitzender  der  CDU,  dann  Mitglied  des  Parlamentari- 
schen  Rates,  anschlieBend  Mitglied  des  Bundestages  und  spaterBundesauBenminister.  Ergilt 
als  einer  der  maBgeblichen  Wegbereiter  der  europaischen  Integration  von  deutscher  Seite. 

55  Christine  Teusch  wurde  1947  Kultusministerin  von  Nordhrein-Westfalen.  Gemein- 
sam  mit  Theanolte  Bahnisch  oblag  ihr  die  Leitung  der  kulturpolitischen  Sektion  im  deut- 
schen Rat  der  Europaischen  Bewegung"  und  dort  unter  anderem  die  Auswahl  deutscher  Be 
werber  fur  das  Europakolleg  in  Brugge. 


Theanolte  Bahnisch  415 

Bahnisch  eine  engere  Kooperation  zwischen  der  Sozialdemokratie  und  den  Kir- 
chen  an,  im  „christlichen  Sozialismus"  sah  sie  die  wiinschenswerte  Grundlage  fiir 
diejunge  Demokratie.56 

5.   „Eine  Briicke  zur  Bevolkerung":  Die  Regierungsprdsidentin  Bahnisch 

Im  Marz  1946  wurde  Bahnisch  zunachst  zur  Regierungsvizeprasidentin,  im  Sep- 
tember des  Jahres  dann  zur  Regierungsprasidentin  des  Bezirks  Hannover  er- 
nannt.  Dieses  Amt,  von  Barbel  Clemens  in  Anbetracht  der  schwierigen  Nach- 
kriegslage  wohl  nicht  zu  Unrecht  als  „Biirde  und  Herausforderung"  zugleich  be- 
zeichnet,57  iibte  sie  13  Jahre  lang  aus.58  Ihr  Amt  fiillte  sie  mit  groBem  Tatendrang 
aus,  widmete  sich,  gema.6  ihrem  Ziel,  die  in  der  politikwissenschaftlichen  Litera- 
tur  oft  als  „unbekannte  Behorde"  titulierte  Mittelinstanz  59  eine  Briicke  zur  Bevolke- 
rung60 sein  zu  lassen,  den  zentralen  Problemen  Fliichtlingselend  (eine  ihrerersten 
Amtshandlungen  war  die  Einrichtung  des  Jugenfliichtlingslagers  Poggenha- 
gen),61  Wohnraummangel,  Arbeitslosigkeit,  Krankheit  und  Mangelernahrung 
und  forderte  dabei  wiederholt  -  so  ist  aus  den  Protokollen  derBesprechungen  mit 
Kollegen  und  Vorgesetzen  zu  lesen  -  eine  unbiirokratischere  Zusammenarbeit 
der  Dezernate  sowie  eine  groBere  Freiheit  der  Regierungsprasidenten  bei  der 
Verteilung  von  Geldern,  vor  allem  in  Bezug  auf  den  sozialen  Wohnungsbau.62 
Landesweite  Achtung  in  der  Bevolkerung  erwarb  sie  sich  unter  anderem  mit  ihrer 
Aktion,  die  Generale  Clay  und  Robertson  auf  die  Notlage  der  Bevolkerung  auf- 
merksam  zu  machen,  indem  sie  diesen  ein  Tablett  mit  der  von  den  Alliierten  fest- 
gelegten  schmalen  taglichen  Nahrungsration  pro  Kopf  prasentierte.63  Ende  1946 
brach  sie  zu  ihrer  ersten  Nachkriegsreise  nach  GroBbritannien  auf,  im  Gepack 


56  AdSD  Bonn,  Kurt  Schumacher,  Mappe  174. 

57  Clemens,  wie  Anm.  21,  S.  202. 

58  Sie  verwaltete  den  Bezirk  also  nicht  nur  unter  der  Schirmherrschaft  Kopfs,  sondern 
auch  in  der  Amtsperiode  des  Ministerprasidenten  Heinrich  Hellwege,  DVP,  1955-1959. 

59  Uber  das  Regierungsprasidium  als  Behorde  existiert  kaum  Forschungsliteratur,  nicht 
mehr  aktuell  aber  aus  genanntem  Grund  noch  immer  sehr  niitzlich:  Friedrich  Fonk,  Die  Be- 
horde des  Regierungsprasidenten:  Funktionen,  Zustandigkeiten,  Organisation,  Berlin  1967. 

60  Schareina,  wie  Anm.  29. 

61  Vgl.  Use  Langner,  Regierungsprasident  Theanolte  Bahnisch,  in:  Die  Zeit,  21.  Febru- 
ar  1957,  Kopie  o.  Nr.  in:  Archiv  der  sozialen  Demokratie,  Sammlung  Personalia  -  Theanolte 
Bahnisch. 

62  HStA  Hannover,  Nds.  120  Hannover,  Ace.  176/91,  Nr.  27,  Protokoll  der  Dienstbespre- 
chung  mit  den  Regierungsprasidenten  im  Niedersachsischen  Ministerium  des  Innern,  Nie- 
dersachsisches  Ministerium  des  Innern,  Hann.,  26.  Juni  1952. 

63  Vgl.  Herbert  Wolf,  Herbert  Wolf  iiber  Theanolte  Bahnisch,  in:  Die  Stimme  der  Frau 
1,  1948/49,  H.  1. 


416  Nadine  Freund 

Arbeitsberichte  der  Wohltatigkeitsorganisationen,  Material  zur  weiblichen  Poli- 
zei,  zum  Schulwesen,  zur  Frauenarbeit,  zu  Fliichtlingsunterkiinften,  zur  Gesund- 
heitslage  und  zur  lokalen  Politik.  Damit  wollte  sie  eine  groBere  Unterstiitzung  der 
Labour  Regierung,  aber  auch  der  britischen  Wohlfahrtsorganisationen  fur  die  Be- 
volkerung  in  der  Region  erwirken.  Vom  British  National  Council  des  Internatio- 
nal Council  of  Women  eingeladen64  reiste  Bahnisch  in  einerDoppelfunktion:  Als 
eine  der  Vertreterinnen  der  neuen  deutschen  Frauenbewegung65  und  als  Regie- 
rungsprasidentin. Dieser  Einladung  nach  England  sollten  bald  weitere  folgen,  so 
auch  eine  der  Hansard  Society.66  Auch  auf  anderen  Ebenen  suchte  Bahnisch  iiber 
die  Region  Hannover  den  AnschluB  an  andere  Europaische  Lander:  Eng  arbeite- 
te  sie  beispielsweise  zusammen  mit  der  Professorin  Katharina  Petersen,67  Regie- 
rungsdirektorin  im  Niedersachsischen  Bildungsministerium  und  Initiatorin  der 
Hannover-Bristol-Society,68  die  im  Rahmen  eines  deutsch-britischen  Experten- 
zirkels  an  der  Hochschulreform  in  Deutschland  nach  dem  zweiten  Weltkrieg 
mitwirkte  sowie  mit  dem  bereits  mehrfach  erwahnten  Minister  fur  Bildung  und 
Kultur,  Adolf  Grimme,  der  den  Wiederaufbau  des  Volkshochschulwesens  in  der 
Region  vorantrieb  und  dabei  besonders  den  Personen-Austausch  mit  den  Nie- 
derlanden,  Schweden  und  GroBbritannien  unterstiitzte.  Die  Nahe  Hannovers  zu 
Biinde  und  Herford,  zwei  Sitzen  der  Militarregierung,  machten  es  Bahnisch 
leicht,  intensiven  Kontakt  zu  den  Briten  zu  halten. 

Besonderes  Augenmerk  legte  die  Regierungsprasidentin  bei  ihrer  Arbeit  auf 
die  Lage  derFrauen  im  Bezirk:  So  ordnete  sie  beispielsweise  an,  daB  die  regionale 


64  AddFKassel,  SP-1,  Auslandsreisen  der Frau  Regierungsprasident  Bahnisch,  o.  V.,o.  D. 

65  Mit  ihr  reisten  Agnes  von  Zahn-Harnack  und  Else  Ulich-Beil,  mit  denen  Bahnisch 
spater  den  Deutschen  Frauenring  griindete. 

66  StA  Hannover,  Nds.  50,  Ace.  75/88,  Nr.  1,  Regierungsprasidentin  Bahnisch  an  Mini- 
sterprasident  Kopf,  Hannover  den  03.  Januar  1949.  Die  Hansard-Society  ist  eine  1944  ge- 
griindete,  britische  Nicht-Regierungsorganisation,  welche  sich  die  Starkung  parlamentari- 
scher  Demokratie  zum  Ziel  setzt  und  die  Gesellschaft  zu  starkerer  Feilhabe  am  politischen 
Geschehen  bewegen  mochte.  Vgl.  www.hansardsociety.org.uk. 

67  Petersen  trat  am  01.  Januar  1946  ihren  Dienst  als  Regierungs-  und  Schulratin  im 
Obersprasidium  Hannover  an  und  wurde  am  19.12.1947  zur  Regierungsdirektorin  fur 
Volks-,  Mittel-  und  Sonderschulen  im  Niedersachsischen  Kultusministerium  ernannt.  Zu  ih- 
rem  Wirken  vor  1945  vgl.  Alexander  Hesse,  Die  Professoren  und  Dozenten  der  preuBischen 
Padagogischen  Akademien  (1926-1933)  und  Hochschulen  fur  Lehrerfortbildung  (1933- 
1941),  Weinheim  1995,  zu  ihren  Leistungen  nach  1945  vgl.  Inge  Hansen-Schaberg,  Riick- 
kehr  und  Neuanfang.  Die  Wirkungsmoglichkeiten  der  Padagoginnen  Olga  Essig,  Katharina 
Petersen,  Anna  Siemsen  und  Minna  Specht  im  westlichen  Deutschland  der  Nachkriegszeit, 
in:  Jahrbuch  fur  historische  Bildungsforschung,  Bd.  1,  1993,  S.  319-338,  hier  S.  328-331. 

68  Uber  die  Stadtepartnerschaft  hat  die  Stadt  Hannover  eine  Broschure  herausgegeben. 
Vgl.  Landeshauptstadt  Hannover/Klaus  Meyer,  Bristol  -  Hannover.  Wie  es  begann,  Han- 
nover 1988. 


Theanolte  Bahnisch  417 

Presse  unter  dem  Gesichtspunkt  der  Frauenbewegung  auszuwerten  sei,  69  enga- 
gierte  sich  fur  die  Entsendung  besonders  von  Mitarbeiterinnen  der  Verwaltung 
zu  Fortbildungskursen70  und  fungierte  selbst  als  Leiterin  solcherKurse.71  SchlieB- 
lich  erhielt  sie  Arbeitsberichte  von  den  Kreisinspektoren  und  Landraten,  die  den 
Themen  Frauenberufstatigkeit,  weibliche  Fliichtlinge,  Krankheitsbildern  bei 
Frauen  und  aus  sozialer  Not  resultierender  Delinquenz  von  Frauen  besondere  Be- 
achtung  zollen,72  was  auf  eine  dahingehende  Instruktion  von  Seiten  der  Regie- 
rungsprasidentin  schlieBen  laBt.  1948  unterbreitete  sie  den  Briten  einen  Plan  zur 
Errichtung  einer  Frauenverwaltungsschule,  nach  dem  Modell  der  in  den  bereits 
bestehenden  Verwaltungsschulen  in  Hahnenklee  und  Bodenforde  angebotenen 
Frauenkurse,  aus  dem  recht  unschwer  zu  erkennen  ist,  daB  Bahnisch  selbst  gem 
die  Rolle  der  Leiterin  einer  solchen  Schule  iibernehmen  wollte.  Der  Plan  stieB  auf 
reges  Interesse  bei  der  Militarregierung,  scheiterte  letztendlich  aber  an  finanziel- 
len  Mitteln.73 

6.  Engagement  im  Wiederaufbau  der  biirgerlichen  Frauenbewegung 

Die  Frauen  fordernde  Politik  im  Bezirk  erganzte  Bahnischs  frauenpolitisches  Wir- 
ken  auf  einer  weiteren,  mit  ihrem  Amt  als  Regierungsprasidentin  personell  wie 
organisatorisch  eng  verkniipftem  Ebene,  ihrer  Arbeit  fur  den  Wiederaufbau  der 
biirgerlichen  Frauenbewegung  in  Westdeutschland  nach  1945.  Mit  ihren  Ideen 
und  Planen  traf  Bahnisch  einen  Haupt-Nerv  des  britischen  Re-education-Kon- 
zeptes  fur  Deutschland,  da  in  diesem  den  Frauen  eine  zentrale  Rolle  zugedacht 
wurde:  In  einem  Rundschreiben  an  alle  Behorden  in  der  Besatzungszone  im 
April  1946  instruierte  die  Militarregierung:  German  women  should  be  encouraged 
to  take  an  active  interest  in  the  life  of  their  communities  and  in  their  civic  responsibility 
and  should  achieve  an  appropriate  education  to  that  end.74  Das  gesellschaftliche  Enga- 
gement von  Frauen  im  Rahmen  demokratisch  organisierter  Frauenverbande 
entsprach  dem  britischen  Erwachsenenbildungskonzept  der  „grassroots  demo- 
cracy", derEiniibung  demokratischer  Verhaltensweisen  auf  kleinsten  organisato- 

69  StA  Hannover,  Nds.  120  Hann.,  Ace  1/76  (13)  Nr.  38,  Der  Regierungsprasident  [Bah- 
nisch] an  Oberregierungsrat  Dr.  Paul,  Rechtsanwalt  Dr.  Voges,  Regierungsrat  Westermann, 
Regierungsinspektor  Gutmann,  Hannover  am  5.  Mai  1947. 

70  National  Archives  (NA),  UK,  London,  FO  1050/1593. 

71  NA,  UK,  London,  FO  371/70717,  Proposal  for  a  school  for  education  of  Women  in  Ci- 
tizenship, Theanolte  Bahnisch,  o.  D.  [vermutlich  September  1948] 

72  Vgl.:  Stadtarchiv  Hannover,  R  15,  217,  Der  Regierungsprasident  an  die  Hauptstadt 
Hannover,  die  Stadt  Hameln  und  die  Landrate  des  Bezirks,  Einladung  zur  internationalen 
kommunalpolitischen  Konferenz  in  Norderney  1950,  Hann.  28.  Juni  1950. 

73  StA  Hannover,  Hann.  180,  Hann.  g.  Nr.  169. 

74  I.  A.  &C.  Division  Mil.  Gov.  Instruction  No.  78,zitiertin:  Ziegler,  wie  Anm.  22,  S.  17. 


418  Nadine  Freund 

rischen  und  lokalen  Nenner.  Mit  der  Forderung  solcher  Unternehmungen  hatte 
die  Militarregierung  ab  1946  Offiziere  betraut,  die  einzig  fur  den  Bereich  „Wo- 
men's  Affairs"  zustandig  waren:  Sie  stellten  neu  oder  wieder  gegriindeten  Frauen- 
verbanden  Material  zur  Verfiigung,  planten  Konferenzen,  auf  denen  sich  Mitglie- 
der  der  verschiedenen  Verbande  austauschen  konnten,  arrangierten  Besuche  von 
prominenten  Vertreterinnen  derFrauenbewegung  aus  GroBbritannien  und  ande- 
ren  europaischen  Landern  in  Deutschland  sowie  Gegenbesuche  deutscher  Frau- 
en  in  GroBbritannien.75  Im  Zuge  des  sich  verscharfenden  Kalten  Krieges  forder- 
ten  diese  Offiziere  bald  -  entgegen  ihres  urspriinglichen  Planes  -  die  Griindung 
einer  zonenweiten  Frauenorganisation,  die  eine  Front  gegen  den  von  der  Sowjeti- 
schen  Militaradministration  kontrollierten  kommunistischen  Frauenverband, 
den  Demokratischen  Frauenbund  Deutschlands  (DFD)  76  bilden  sollte.77  Dieser 
war  am  8.  Marz  1947  offiziell  in  der  sowjetischen  Besatzungszone  gegriindet  wor- 
den.  Schon  1945  war  allerdings  von  der  sowjetischen  Militarregierung  die  Bil- 
dung  von  Frauenverbanden  bei  den  Parteien  verboten  und  die  Zusammenfiih- 
rung  allerin  der  sowjetischen  Besatzungszone  existierenden  Frauenverbande  un- 
ter  dem  Dach  eines  Zentralen  Frauenausschusses  vorbereitet  worden.  Die 
Westmachte  befiirchteten  durch  den  schnell  wachsenden  DFD  eine  kommunisti- 
sche  Beeinflussung  der  Frauen  auch  in  Westdeutschland,  zumal  der  DFD  bald 
auch  in  den  westlichen  Besatzungszonen  politische  Arbeit  betrieb  und  Griindun- 
gen  vornahm.78  Ein  schnelles  Handeln  schien  also  geboten:  In  Bahnischs  im  Juni 
1946  gemeinsam  mit  den  Genossinnen  Anna  Mosolf,  Katharina  Petersen,  Anita 
Prejawa  und  derKommunistin  Elfriede  Paul79  gegriindeten  iiberparteilichen  und 


75  Die  Einladung  von  Protagonistinnen  deutscher  Frauenorganisationen  diente  nicht 
zuletzt  der  sogenannten  „Projection  of  Britain":  Zuriick  in  Deutschland  sollten  die  ausge- 
wahlten  Multiplikatorinnen  von  ihren  Erfahrungen  mit  Land  und  Leuten  berichten  und  bri- 
tische  Ansatze  in  Frauen-  und  Wohlfahrtsarbeit  in  Deutschland  popular  machen.  Theanolte 
Bahnisch  wurde  diesem  Ansinnen  der  Besatzungsregierung  in  vielfacher  Hinsicht  gerecht: 
Sie  berichtete  in  Versammlungen  von  ihrer  Reise,  bewarb  britische  Frauenorganisationen  in 
der  von  ihr  herausgegebenen  Zeitschrift  „Stimme  der  Frau"  und  motivierte  weitere  Frauen, 
nach  GroBbritannien  zu  reisen.  Inwiefern  sie  praktische  Anregungen  auch  in  ihrer  Arbeit 
im  Deutschen  Frauenring  umzusetzen  versuchte,  ist  beim  gegenwartigen  Stand  der  For- 
schung  noch  nicht  eindeutig  zu  beantworten.  Dazu  vgl.  Tscharntke  sowie  Ziegler,  beide 
wie  Anm.  22. 

76  Vgl.  Corinne  BouilloT/Elke  Schuller,  „Eine  machtvolle  Frauenorganisation"  - 
oder:  „Der  Schwamm,  der  die  Frauen  aufsaugen  soil".  Ein  deutsch-deutscher  Vergleich  der 
Frauenzusammenschliisse  in  der  Nachkriegszeit,  in:  Ariadne  11,  1995,  H.  27,  S.  47-55. 

77  NA,  UK,  London,  FO  1036/52.  Political  developments  leading  to  the  Deutscher  Frau- 
enkongreB  Pyrmont. 

78  Vgl.  Bouillot/Schuller,  wie  Anm.  76. 

79  Dr.  med.  Elfriede  Paul  (KPD)  war  Ministerin  fur  Wiederaufbau  in  Niedersachsen. 
Wahrend  des  Nationalsozialismus  war  sie  in  der  Widerstandsbewegung  „Rote  Kapelle"  en- 


Theanolte  Bahnisch  419 

iiberkonfessionellen  „Club  deutscher  Frauen  Hannovers"  sahen  die  Briten  eine 
vielversprechende  Organisationsform,  weshalb  sie  sowohl  die  Konstituierung 
des  Frauenringes  der  britischen  Zone  in  Bad  Pyrmont  im  Juni  1947  unter  Bah- 
nisch, als  auch  die  des  Deutschen  Frauenringes  1949  als  iiberparteilichen  und 
iiberkonfessionellen  Dachverband  von  Frauenorganisationen  aller  Westzonen 
unterstiitzten  und  seine  Organisationsform  als  Leitmodell  in  den  Westzonen/der 
Bundesrepublik  propagierten.  Auch  die  US-amerikanische  Militarregierung 
sprang  1947  auf  den  Zug  der  Frauen-Re-education  auf  und  „kopierte"  die  institu- 
tionellen  Einrichtungen  der  Briten  in  Bezug  auf  die  „Women's  Affairs"  fiir  den  ei- 
genen  Apparat  weitgehend.80  Ihren  Beitrag  zur  Etablierung  des  DFRleistete  sie, 
indem  sie  unter  anderem  die  Raumlichkeiten  fiir  die  Griindungstagung  organi- 
sierte.  Neben  deutschen  Reprasentantinnen  von  42  Frauenausschiissen,  -organis- 
ationen  und  -vereinen,  deren  Zahl  auf  240  geschatzt  wird,  kamen  viele  weitere 
prominente  Gaste  zur  Griindungs-Konferenz  des  Deutschen  Frauenringes:  Ver- 
treterinnen  von  europaischen  und  amerikanischen  Frauenvereinen,  Offiziere  der 
drei  Westmachte  und  deutsche  Politiker.81 

Hatte  Bahnisch  dem  Gedanken  derFrauenbildung  1945  noch  Unmut  entgegen 
gebracht,  so  fiihlte  sie  sich  1946  scheinbarin  derPflicht.  Zum  zehnjahrigenjubi- 
laum  des  DFR  1959  erklarte  sie,  mittlerweile  Ehrenprasidentin  des  Verbandes, 
mit  Blickauf  die  Verhaltnisse  imjahr  1946:  Ich  beobachtete  starke  Versuche  kommuni- 
stischer Frauen,  sich  diese  Tatsache  [daB  2/3  der  Wahler  Frauen  waren]  zu  nutze  zu  ma- 
rten und  die  Frauen  in  iiberparteilich  getarnten,  aber  unter  kommunistischer  Fiihrung  ste- 
henden  Gruppen  zusammenzuschlieJSen.  Diese  Gefahrfur  die  deutschen  Frauen  war  um  so 
grofier  als  sie  ja  seit  1933  durch  Hitler  von  jeder  Tatigkeit  im  offentlichen  Leben  ausge- 
schlossen  waren  und  deshalb  politisch  vdllig  ahnungslos  den  kommunistischen  Versuchen 
ausgeliefert  waren.  Es  gab  nur  eine  Mbglichkeit,  dieser  Gefahr  zu  begegnen:  die  deutschen 
Frauen  wieder  in  eigenen  Verbanden  zusammenzuschliejien  und staatsbiirgerlich  aufzukla- 
ren.82  Unter  „staatsbiirgerlicher  Aufklarung"  verstand  Bahnisch,  Frauen  dazu  zu 
befahigen,  eigenverantwortlich  politisch  zu  handeln:  Demokratie  zu  leben  durch 
die  Wahrnehmung  des  Wahlrechts,  durch  die  Mitarbeit  in  Vereinen,  Verbanden 
und  Parteien,  durch  Prasenz  und  Artikulation  der  eigenen  Ideen  und  Interessen 
in  der  Offentlichkeit.  Die  Arbeit  von  Frauen  in  Frauenverbanden  begriff  sie  als 
„vorpolitisches  Feld",  das  Frauen  aller  Berufs-  und  Altersgruppen  fiir  die  „eigent- 


gagiert.  Schon  1946  ging  Paul  in  die  Sowjetische  Besatzungszone,  das  Verhaltnis  zwischen 
ihr  und  Bahnisch  zerbrach  im  Zuge  des  sich  verstarkenden  Ost-West-Konflikts. 

80  Vgl.  Tscharntke,  wie  Anm.  22,  S.  139/140  sowie  Ziegler,  wie  Anm.  22,  S.  136-138 

81  Vgl.:  Henicz/Hirschfeld,  Wenn  die  Frauen  wiissten,  wie  Anm.  21,  S.  135. 

82  Theanolte  Bahnisch,  Vom  Wiederaufbau  der  Frauenarbeit  nach  dem  Zusammen- 
bruch  1945.  Vortrag  zum  lOjahrigen  Bestehen  des  Deutschen  Frauenrings,  in:  Madchenbil- 
dung  und  Frauenschaffen  10,  1960,  H.  4,  S.  162-180,  hier  S.  162/163. 


420  Nadine  Freund 

liche"  politische  Arbeit  in  Parteien  und  Parlamenten  schulen  sollte.  Dabei  sah 
sich  die  1899  geborene  Bahnisch  als  „Fackeltragerin"  derldeen  aus  der  Vorkriegs- 
frauenbewegung,  die  sich  in  der  Weimarer  Republik  an  Figuren  wie  Gertrud  Ball- 
mer (1873) ,  Agnes  von  Zahn-Harnack  (1884) ,  Else  Ulich-Beil  (1886)  und  Dorothee 
von  Velsen  festmachen  laBt,  in  die  jiingere  Generation. 

Vermutlich  aus  ihrer  Zeit  in  Berlin  verfiigte  Bahnisch  iiber  Kontakte  zu  diesen 
leitenden  Personen  der  Frauenbewegung,  insbesondere  zu  Agnes  von  Zahn-Har- 
nack, der  Schwester  des  schon  erwahnten  Ernst  von  Harnack  und  Tochter  des 
Theologen  Adolf  von  Harnack,  einer  der  zentralen  Figuren  des  deutschen  Kultur- 
protestantismus83  im  19.  Jahrhundert.  Dort,  im  liberal-protestantischen  Milieu, 
hatte  die  biirgerliche  Frauenbewegung,  an  deren  Ideen  Bahnisch  nach  1945 
wieder  ankniipfte,  ihre  Wurzeln,  hier  war  der  Gedanke  entstanden,  die  „miitterli- 
chen  Krafte"  derFrauen  nicht  langernurim  Rahmen  derbiirgerlichen  Kleinfami- 
lie  zur  Entfaltung  kommen  zu  lassen,  sondern  die  dem  Begriff  „Miitterlichkeit" 
zugrunde  liegende  Trias  Empathie  -  Fiirsorglichkeit  -  Sittlichkeit  zu  einer  Kate- 
gorie  gesamtgesellschaftlicher  Relevanz  werden  zu  lassen,  was  wiederum  bedeu- 
tete,  Prasenz  und  Engagement  von  Frauen  in  der  Offentlichkeit,  vor  allem  im 
Wohlfahrts-  und  Bildungssektor  zu  forcieren  und  in  diesem  Zuge  auch  verstarkte 
Rechte  zur  Mitsprache,  das  Wahlrecht  eingeschlossen,  zu  fordern.  Frauen  waren 
berufen,  ihren  Beitrag  zur  Hebung  derbiirgerlichen  Gesellschaft  durch  individu- 
elles  Bildungs-  und  Leistungsstreben  zu  erbringen  und  der  Berufsarbeit  des  Man- 
ner die  „Miitterlichkeit"  als  Profession  zur  Seite  stellen.84 

Die  Regierungs-  und  Schulratin  sowie  spatere  Mitbegriinderin  der  Gewerk- 
schaft  Erziehung  und  Wissenschaft,  Anna  Mosolf,  mit  der  Bahnisch  ab  1948  auch 
die  „Stimme  der  Frau"  herausgab,  forderte  als  eines  der  Griindungsmitglieder  des 
Club  deutscher  Frauen  in  Hannover  1946  in  diesem  Sinne  die  brachliegenden  miit- 
terlichen  Krdfte85  zu  nutzen,  um  die  Nachkriegsnot  zu  iiberwinden,  Frauen  staats- 
biirgerlich  zu  bilden,  den  WiederanschluB  an  die  Frauen  in  der  Welt  zu  finden 
und  zur  Wiedererweckung  eines  gesunden  Nationalstolzes  beizutragen.86  Jenen 


83  Als  Kulturprotestantismus  wird  erne  Stromung  des  Neuprotestantismus  definiert,  die 
einen  kirchenfeindlichen  Liberalismus  ebenso  ablehnte  wie  den  kirchlichen  Konfessionalis- 
mus,  sondern  danach  strebte,  dass  Kirche  und  moderne  Kultur  im  Sinne  einer  kulturellen 
Hebung  dergesamten  Gesellschaft  eine  gewinnbringende  Verbindung  eingehen.  Vgl.  dazu: 
Hans  M.  Muller,  Kulturprotestantismus.  Beitrage  zu  einer  Gestalt  des  modernen  Christen- 
tums,  Giitersloh  1992. 

84  Vgl.  Gisa  Bauer,  Kulturprotestantismus  und  friihe  biirgerliche  Frauenbewegung"  in 
Deutschland.  Agnes  von  Zahn-Harnack  (1884-1950),  Leipzig  2006. 

85  Club  deutscher  Frauen:  Protokoll  der  ersten  Kundgebung,  o.  O.,  o.  J.,  abgedruckt  in: 
Kuhn,  wie  Anm.  21,  S.  224-226,  hier  S.  224/225. 

86  Vgl.:  „Club  deutscher  Frauen"  in  Hannover,  in:  Neuer  Hannoverscher  Kurier,  7.  Juni 
1946,  S.  6. 


Theanolte  Bahnisch  421 

Zielen  fiihlten  sich  auch  die  aus  dem  Club  deutscher  Frauen  1947  beziehungswei- 
se  1949  entstandenen  Organisationen  „Frauenring  der  britischen  Zone"  und 
„Deutscher  Frauenring"  (DFR)  verbunden.  Die  Griindung  des  DFR  1949  in  Pyr- 
mont  bedeutet  fur  Bahnisch  den  Vorsitz  einer  westdeutschlandweiten  Frauenor- 
ganisation,  die  sich  zum  Ziel  gesetzt  hatte,  Dachorganisation  aller  dem  Gedanken 
der  staatsbiirgerlichen  Frauenbildung  nahestehenden  Frauenorganisationen  zu 
werden.  Dem  Griindungsvorstand  gehorten  auBerdem  an:  Gabriele  Strecker 
(CDU),  Marie-Elisabeth  Liiders  (LDPD),  Else  Ulich-Beil  und  Agnes  von  Zahn- 
Harnack. 

Seine  zentrale  Aufgabe  sah  der  DFR,  dessen  Arbeit  so  strukturiert  war,  daB  je- 
weils  ein  Landesverband  einen  Arbeits-AusschuB  bildete,  in  seinem  staatsbiirger- 
lichen AusschuB,  der  vor  allem  Vortragsreihen  und  Kurse  zu  den  Themenkom- 
plexen  Frauenbewegung,  Demokratie,  „Deutschland  in  Europa"  sowie  „Recht 
und  Verwaltung"  organisierte  und  dabei  mit  den  Zentralen  fur  Heimatdienst 
(heute  Zentralen  fur  politische  Bildung)  zusammenarbeitete.  Ein  weiteres  wichti- 
ges  Arbeitsgebiet  des  DFR  war  die  „gesamtdeutsche  Arbeit",  in  deren  Rahmen 
„Aufklarungsarbeit  iiber  den  Osten"  geleistet  und  Pressearbeit  nach  Ostdeutsch- 
land  betrieben,  aber  auch  im  Rahmen  der  „Packchenhilfe  Ost"87  dauernde  -  be- 
ziehungsweise  wahrend  der  Berlin-Blockade88  verstarkte  -  materielle  Prasenz  des 
Westens  gezeigt  wurde.  Der  RechtsausschuB  des  DFR  sorgte  unter  anderem  fur 
die  Berufung  von  Frauen  an  das  Bundesverfassungsgericht89  und  engagierte  sich 
im  Rahmen  derjuristentage90  und  in  Zusammenarbeit  mit  dem  deutschen  Juri- 


87  Ute  Gerhard  schreibt,  der  DFR  habe  in  manchen  Ortsringen  bis  in  die  siebziger  Jahre 
hinein  regelmaBig  „Zonenpakete"  gepackt  und  wertet  dies  als  Bestandteil  der  Aufklarung  iiber 
den  Kommunismus  im  Rahmen  der  staatsbiirgerlichen  Bildung.  Vgl.  Ute  Gerhardt,  „Fern 
von  jedem  Suffragettentum."  Frauenpolitik  in  Deutschland  nach  1945,  eine  Bewegung  der 
Frauen?  in:  Irene  Bandhauer-Schoffmann/ Claire  Duchen  (Hrsg.),  Nach  dem  Krieg.  Frauen- 
leben  in  Europa  nach  dem  Zweiten  Weltkrieg,  Herbolzheim  2000,  S.  175-200,  hier  S.  191. 

88  Vgl.  Frauen  des  Westens  helft  den  Berliner  Miittern  und  Kindern,  o.  V.,  in:  Die  Stim- 
me  der  Frau  1,  1948/49,  H.  3,  S.  3. 

89  Mit  maBgeblichem  Engagement  des  Deutschen  Frauenringes  gelang  1951  die  Beru- 
fung von  Erna  Scheffler  an  das  Bundesverfassungsgericht,  die,  als  Halbjiidin  von  den  Natio- 
nalsozialisten  verfolgt,  von  ihrer  Position  als  Amtsgerichtsratin  in  Berlin  zunachst  „beur- 
laubt"  worden,  dann  mit  Berufsverbot  belegt  worden  war.  1948  wurde  sie  Verwaltungsge- 
richtsratin,  spater  Verwaltungsgerichtsdirektorin  am  Verwaltungsgericht  Diisseldorf.  Mit 
einem  Referat  zum  Thema  „Gleichstellung  von  Mann  und  Frau"  empfahl  sie  sich  auf  dem 
Juristentag  1950  als  Bundesverfassungsrichterin.  Bis  1961  war  Scheffler  Richterin  am  BVG. 

90  1950  war  Theanolte  Bahnisch  Vorsitzende  der  Biirgerlich-Rechtlichen  Sektion  auf 
dem  deutschen  Juristentag.  Vgl.  Verhandlungen  des  38.  deutschen  Juristentages  in  Frank- 
furt am  Main  1950,  hrsg.  von  der  standigen  Deputation  des  deutschen  Juristentages,  Tubin- 
gen 1951.  Erna  Scheffler  hielt  das  Eingangsreferat  zum  Thema  „Gleichberechtigung".  Vgl. 
Ebd.,  B3  -  B27. 


422  Nadine  Freund 

stinnenbund,  aber  auch  durch  Eingaben  und  Gutachten  fur  eine  Erweiterung  der 
Rechte  von  Frauen  in  Staat,  Beruf  und  Familie.  Dem  internationalen  AusschuB 
gelang  schlieBlich  1951  die  Aufhahme  des  DFR  als  Rechtsnachfolger  des  Bund 
deutscher  Frauen  (BDF)  in  den  International  Council  of  Women  (ICW),91  dermit 
beratender  Stimme  an  den  General versammlungen  der  Vereinten  Nationen  (UN) 
teilnahm.  Die  Selbstdefinition  des  ICW  als  Internationaler  Verband  von  Frauen- 
vereinen  „westlicher  Denkungsart"92  verdeutlichte  die  gewollte  Abgrenzung  von 
der  Internationalen  Demokratischen  Frauenfoderation  (IDFF),  der  der  ostdeut- 
sche  Verband  DFD  angehorte. 

7.    tiberparteiliche  versus  partei-interne  Frauenarbeit 

Die  Griindung  und  maBgebliche  Unterstiitzung  des  DFR  durch  die  Westmachte 
geschah  sehr  zum  Leidwesen  weiter  Teile  der  SPD-internen  Frauenbewegung  um 
Herta  Gotthelf,  die  als  Mitglied  des  Parteivorstandes  ebenfalls  von  Hannover  aus 
frauenpolitische  Arbeit  betrieb  93  und  auf  britische  Unterstiitzung  fiir  ihre  Frauen- 
arbeit innerhalb  der  Partei  hoffte.  Sie  neidete  der  Organisation  Bahnischs  die  ide- 
elle  wie  finanzielle  Unterstiitzung  durch  die  Briten,  die  Papierzuteilungen  fiir  die 
Publikation  von  Zeitschriften,  die  Sendezeit  im  Frauenfunk  der  Rundfunkanstal- 
ten,  die  Platze  in  internationalen  Austauschprogrammen  und  nicht  zuletzt:  die 
Mitglieder.  Trotz  wiederholter  Protestschreiben  Gotthelfs  an  die  Militarregie- 
rung,  in  denen  sie  kritisierte,  daB  die  iiberparteiliche,  vermeintlich  unpolitische 
Frauenorganisation  DFRgegeniiberdervonihrals  „politisch"  definierten  Frauen- 


91  Gegriindet  1888  war  der  ICW  eine  der  ersten,  international  operierenden  Frauen- 
organisationen. 

92  In  ihrer  Funktion  als  Vizeprasidentin  des  ICW  schrieb  Bahnisch  1964  in  einem  Brief 
an  den  Atomminister  a.  D.  (CSU)  und  Prasidenten  der  Bundesvereinigung  der  Arbeitgeber- 
verbande  (VDA)  Dr.  Siegfried  Balke,  um  Spendengelder  aus  der  chemischen  Industrie  ein- 
zuwerben:  „DerI.C.W[.  .  .]  ist  die  mafigebende  iiberparteiliche  und  uberkonfessionelle  Frauenorga- 
nisation in  der  Welt  mitjetzt  58  angeschlossenen  National  Councils  westlicher Denkungsart.  [.  .  .]  Um 
harte  Kerne  gegen  den  Kommunismus  zu  bilden,  haben  voir  in  den  letztenjahren  zahlreiche  Neugriin- 
dungen  in  Asien,  Afrika  und  Sudamerika  vorgenommen.  [.  .  .]  Unser  Ziel  ist  die  staatsbiirgerliche  Er- 
ziehung  der  Frauen,  um  ihnen  politische  Einsichten  zu  vermitteln  und  sie  dazu  zu  bringen,  verantwort- 
lich  im  bffentlichen  Leben  mitzuwirken.  Denn  wir  denken  an  die  Zukunft  unserer Kinder,  die  wir  mit- 
gestalten  a>o/fe?2.  "(AddFKassel,  SP-1,  Theanolte  Bahnisch  an  Prof.  Dr.  Balke  am  20.  Oktober 
1964.) 

93  Zur  Bedeutung  Herta  Gotthelfs  vgl.  Karin  Gille,  „Kennen  sie  Herta  Gotthelf?"  Eine 
Parteifunktionarin  im  Schatten  von  Elisabeth  Selbert,  in:  Bartmann,  Sylke/ Gille,  Karin/ 
Haunss,  Sebastian  (Hrsg.):  Kollektives  Handeln:  politische  Mobilisierung  zwischen  Struktur 
und  Identitat;  Beitrage  der  wissenschaftlichen  Tagung  der  Promotionsstipendiatinnen  und 
Promotionsstipendiaten  der  Hans-Bockler-Stiftung  vom  20.  bis  23.  Mai  2001  in  Oer-Erken- 
schwick,  Diisseldorf  2002,  S.  221-238. 


Theanolte  Bahnisch  423 

arbeit  innerhalb  der  Parteien  bevorzugt  wurde,  hatte  Gotthelf,  die  eine  Zusam- 
menarbeit  mit  „den  Biirgerlichen"  dezidiert  ablehnte,  keinen  Erfolg.  Der  Arger 
iiber  Bahnisch  gipfelte  darin,  daB  Fritz  Heine  sich  als  erklarter  Verteidiger  Gott- 
helfs  schlieBlich  an  Duncan  Wilson  (Political  Division)  wand,  um  Klarung  in  der 
Angelegenheit  zu  erwirken.94  Daraufhin  definierte  Robertson,  der  britische 
Oberbefehlshaber,  in  dessen  Hande  das  Schreiben  schlieBlich  gelangt  war,  nach 
Riicksprachen  mit  den  Officers  in  Deutschland,  in  einem  Schreiben  an  Paken- 
ham,  dem  Leiter  der  German  Section  im  Foreign  Office,  unmiBverstandlich  seine 
und  damit  Bahnischs  Position:  At  the  risk  of  being  misunderstood  [.  .  .]  by  the  S.P.D. 
headquarters,  we  should  [.  .  .]  back  the  non-party  form  of  organisations  represented  by  the 
Frauenring  under  the  leadership  ofFrau  Baehnisch.  Such  an  organisation  is  by  no  means 
non-political.  Frau  Baehnisch  herself  is  an  energetic  S.P.D.  -  Member  and  Regierungsprasi- 
dentin  ofRB  [Regierungsbezirk,  N.F.]  Hannover.  Unterstreichend  fiigt  er  hinzu:  The 
most  successfull  type  of  political  indoctrination  will  be  fairly  indirect  and  must  be  carefully 
mixed  with  non-political  interests  and  activities?5  Versuche  Pakenhams  Gotthelf  vom 
Nutzen  der  Mitarbeit  in  der  iiberparteilichen  Frauenbewegung  zu  iiberzeugen, 
scheiterten:  Sie  blieb  bei  der  Meinung,  gerade  Uberparteilichkeit  ermogliche  den 
Kommunisten  die  Unterwanderung  von  westdeutschen  Frauenverbanden.  Um 
den  Kommunisten  die  Angriffsflache  zu  nehmen,  miisse  man  diese  Verbande 
auflosen.  Bahnisch  dagegenbekraftigte  ihre  Position,  die  Gefahr  einer  Unterwan- 
derung bestiinde  nur,  weil  sich  die  SPD-Frauen  aus  der  iiberparteilichen  Arbeit 
heraushielten.  Ich  habe  keine  Lust,  ein  zweites  33  zu  erleben  und  werde  all  meine  Krdfte 
einsetzen,  [.  .  .]  um  es  zu  verhindern  schrieb  Bahnisch  an  Gotthelf  und  fuhrfort:  Was 
ich  iibernommen  habe  ist  eine  hochwichtige  staatspolitische  Aufgabe  undes  ist  tiefbedauer- 
lich,  dass  sie  auf  ihrem  so  unendendlich  wichtigen  Posten  diese  Notwendigkeit  verken- 
nen.  Sie  uberlassen  die  Majoritdt  der  Frauen  vollig  sich  selbst  und  das  kann  und  will  ich 
nicht  tun.96 

Das  gemeinsame  Ziel  der  Bekampfung  des  Kommunismus  vor  Augen,  schie- 
nen  die  Positionen  derbeiden  SPD-Politikerinnen  unvereinbar,  was  sich  maBgeb- 
lich  auf  ein  unterschiedliches  Verstandnis  von  „Politik"  zuriickfuhren  laBt:  Wah- 
rend  Herta  Gotthelf  (SPD-)  parteilich  gebundene,  ideologisch  eindeutig  festge- 
legte  Frauen  als  Garantinnen  des  demokratischen  Neubeginns  ansah,  die 
Frauenfrage  deshalb  als  Teil  des  Aufbaus  einer  sozialdemokratischen  Gesell- 
schaft  behandelt  wissen  wollte  und  Bahnischs  Bemiihungen  als  „gehobenes  Ge- 


94  NA,  UK,  London,  FO  371/70711,  Fritz  Heine  an  Duncan  Wilson,  Hannover,  24.  Juni 
1949. 

95  NA,  UK,  London,  FO  371/70711,  General  Sir  Brian  Robertson  an  Rt.  Hon.  Lord  Pa- 
kenham,  29.  April  1948. 

96  AdSD  Bonn,  SPD  PV,  alter  Bestand,  Frauenbiiro,  0244A,  Theanolte  Bahnisch  an 
Herta  Gotthelf,  Hannover,  29.  April  1947. 


424  Nadine  Freund 

sellschaftsspiel"  oder  „Kaffeekranzchen"  abtat,  lag  das  Verstandnis  von  „Politik", 
dem  die  britische  Militarregierung  und  Bahnisch  anhingen,  bedeutend  naher  an 
unserem  heutigen,  erweiterten  Politikbegriff,  nach  dem  all  das  „politisch"  ist,  was 
der  Proklamation  und  Verhandlung  von  Interessen  im  offentlichen  Raum  dient. 
Es  beinhaltete  die  Uberzeugung,  daB  deutsche  Frauen  in  der  Nachkriegszeit  zu- 
nachst  durch  Verhandlung  ihrer  Ideen  in  einem  raumlich,  thematisch  wie  perso- 
nell  begrenzten  Rahmen  demokratisches  Denken  und  Handeln  (Argumentieren, 
Diskutieren,  Abstimmen,  Einbringen)  iiben  und  erlernen  sollten,  ohne  Ein- 
schrankung  durch  parteiliche  Bindung  oder  ideologische  Festlegung,  sondern  al- 
lein  ausgehend  von  personlichen  Erfahrungen,  Noten  und  Wiinschen.  DaB  die 
Briten  von  diesem  Konzept  der  staatsbiirgerlichen  Frauenbildung  nicht  abriicken 
wiirden,  miiBte  auch  Gotthelf  klar  geworden  sein,  unmiBverstandlich  hatte  man 
ihr  deutlich  gemacht,  daB  die  einzige  Moglichkeit,  ihren  EinfluBspielraum  zu  ver- 
groBern  iiber  die  Beteiligung  an  der  Arbeit  des  Deutschen  Frauenringes  gefiihrt 
hatte. 

Versuche,  von  Seiten  der  SPD-Politikerinnen  um  Gotthelf,  den  Genossinnen 
die  Mitarbeit  in  Bahnischs  Organisation  schlichtweg  zu  verbieten,  scheiterten. 
Der  Zulauf  zum  Deutschen  Frauenring  wuchs,  auch  aus  den  Reihen  der  SPD. 
Schumacher  sollte  ein  Machtwort  sprechen,  verlangte  Herta  Gotthelf.  Der  Partei- 
vorsitzende  sprach  auf  dem  Frankfurter  Parteitag  am  2.  Juni  1947,  doch  was  er 
sprach,  war,  wohl  nicht  unbeabsichtigt,  verschieden  auslegbar:  Die  Zugehorigkeit 
zu  einer  eigenstandigen  Frauenpartei  oder  einer  eindeutig  von  der  Politik  einer 
gegnerischen  Partei  bestimmten  Organisation  lieBe  sich  zwar  mit  der  Mitglied- 
schaft  in  der  SPD  nicht  vereinbaren.  Die  Tatigkeit  in  einer  anderen  Sonderorga- 
nisation  hinge  jedoch  vom  freien  personlichen  EntschluB  der  SPD-Mitglieder  ab, 
solange  daraus  eine  Beeintrachtigung  der  Arbeit  in  der  Partei  nicht  resultiere,  da 
die  Kraft  der  Funktionarinnen  in  erster  Linie  der  Partei  zur  Verfiigung  stehen  sol- 
le,  verkiindete  Schumacher.97  So  proklamierten  Bahnischs  Gegner,  basierend  auf 
diese  Ausfiihrungen,  fortan,  die  Mitarbeit  im  DFR  sei  nicht  erwiinscht,  wahrend 
ihre  Fiirsprecher  wenig  beeindruckt  entgegneten,  sie  sei  schlieBlich  auch  nicht 
verboten.98  Es  ist  anzunehmen,  daB  sich  Schumacher  zu  einer  eindeutigen  Aussa- 
ge  deshalb  nicht  durchrang,  weil  er  Bahnischs  Logik,  durch  eine  nicht  parteilich 
gebundene,  auch  praktische  Komponenten  (vor  allem  Wohlfahrtsleistungen)  ein- 
beziehende  Arbeit  von  „Parteilichkeiten"  abgeschreckte  Frauen  eher  ansprechen 
und  diese  somit  erfolgreich  vom  geschickt  agitierenden  kommunistischen  Frau- 


97  AdSD  Bonn,  SPD  PV,  alter  Bestand,  Mappe  0244A,  Auszug  aus  einer  Rede  Dr.  Schu- 
machers in  der  P.V.  Sitzung  in  Frankfurt  am  Main  am  2.  Juni  1947. 

98  Vgl.  AdSD  Bonn,  Biiro  Schumacher,  Frauenbiiro,  Korrespondenzen  Gotthelfs  mit 
den  verschiedenen  Parteibezirken,  passim. 


Theanolte  Bahnisch  425 

enverband  fernhalten  zu  konnen,  nicht  von  der  Hand  weisen  konnte.  Die  Be- 
kampfung  des  Kommunismus  und  der  Kommunisten,  die  er  wie  Bahnisch  als 
„rotlackierte  Nazis"  ansah,  war  schlieBlich  erklartes  Ziel  auch  Schumachers. 

Im  Juli  1951  nutzt  Herta  Gotthelf  die  Gelegenheit  anlaBlich  eines  Artikels  in 
der  „Times",  der  die  bevorstehende  SchlieBung  der  Women's  Affairs  Sections  the- 
matisiert,  das  Foreign  Office  zu  seinem  EntschluB  zu  begliickwiinschen,  in  der 
Uberzeugung,  daB  die  Unterstiitzung  der  iiberparteilichen  Frauenorganisationen 
in  Deutschland  damit  beendet  sei."  Entscheidende  Wegmarken,  die  bis  in  die 
Gegenwart  wirken,  waren  zu  dieser  Zeit  jedoch  gelegt:  Nora  Melle,  vorher  Leite- 
rin  des  Ausschusses  fiirgesamtdeutsche  Fragen  im  Deutschen  Frauenring  war  mit 
der  Fuhrung  des  „Informationsdienst  Frauenfragen"  betraut  worden,  den  die 
amerikanische  Militarverwaltung,  kurz  bevor  diese  sich  ebenfalls  aus  Deutsch- 
land zuriickzog,  ins  Leben  gerufen  hatte,  um  die  deutschen  Frauenvereine  und 
-initiativen  nach  dem  Abzug  der  Militarregierung  mit  Material  zu  versorgen.  Bah- 
nisch war  es  auBerdem  gelungen,  Dorothea  Karsten,  zuvor  Mitarbeiterin  im  Re- 
gierungsprasidium  Hannover  und  Leiterin  des  dem  DFR  untergliederten  „Ver- 
band  der  Frauen  in  sozialen  Berufen",  im  Bundesinnenministerium  als  Leiterin 
des  Referats  fur  Frauenfragen  zu  implementieren.  Auch  in  Verbraucherausschiis- 
sen  sowie  Handelsverbanden  war  der  DFR  beratend  tatig.  SchlieBlich  war  die 
Re-etablierung  des  Deutschen  Rotes  Kreuzes,100  das  freilich  eine  von  der  Sozial- 
demokratie  abweichende  soziale  Idee  vertrat  und  in  SPD-Kreisen  wegen  der 
kriegserhaltenden  Beteiligung  in  beiden  Weltkriegen  kritisch  beaugt  wurde,  nicht 
zuletzt  im  SchulterschluB  mit  dem  DFR  gesichert  worden.  Der  Frauenpolitik  in 
der  jungen  Republik  hatte  Bahnisch  mit  ihrer  iiberparteilich-antikommunisti- 
schen  Arbeit  so  nicht  zuletzt  institutionell  ihren  Stempel  aufgedriickt.  1952  zog 
sich  Bahnisch,  fast  mochte  man  meinen,  „nach  getaner  Arbeit"  zunachst  ein  Stuck 
weit  aus  der  Frauenbewegung  zuriick:  sie  legte  ihr  Amt  als  Prasidentin  des  DFR 
nieder,  in  Folge  beruflicher  Uberlastung.  Der  Frauenbewegung  blieb  sie  jedoch 
verbunden,  engagierte  sich  dahingehend  in  ihrem  Regierungsamt  und  bald  auch 
schon  auf  internationalem  Niveau,  als  Leiterin  des  Ausschusses  fiir  internationale 
Fragen  im  ICW,  1961  sogar  als  dessen  Vizeprasidentin. 


99  AdSD  Bonn,  SPD-PV  (alter  Bestand) ,  Nr.  0203  A,  Herta  Gotthelf  an  den  Herausgeber 
der  Times,  Bonn,  5.  Juli  1951. 

100  Bahnisch  selbst  war  Vorstandsmitglied  des  DRK-Kreisverbandes  Hannover  Stadt. 
Vgl.  Stadtarchiv  Hannover,  HR  15,  565,  Satzung  des  Deutschen  Roten  Kreuzes  Kreisver- 
band  Hannover  Stadt  vom  21.  April  1948. 


426  Nadine  Freund 

8.  Die  Zeitschrift  „Stimme  der  Frau" 

Theanolte  Bahnischs  Ziele  und  Werthorizonte  werden  greifbar  vor  allem  auch  in 
der  ab  Juni  1948  in  Hannover  erscheinenden  Zeitschrift  „Stimme  der  Frau":101 
Der  Inhalt  der  Zeitschrift  orientiert  sich  wie  der  der  anderen  in  Nachkriegs- 
deutschland  am  angenommenen  Bediirfnis  derFrauen  nach  Ratgeberartikeln  zur 
Bewaltigung  der  Nachkriegsnot  und  nach  Zerstreuung,  weshalb  Kurz-  und  Fort- 
setzungsgeschichten  sowie  Ratsel  geboten  werden.  Sie  bedient  aber-  und  das  un- 
terscheidet  sie  von  vielen  anderen  Frauenzeitschriften  ihrer  Zeit,  beispielsweise 
der  auflagenstarksten,  der  „Constanze",  -  den  kulturpolitischen  Anspruch,  den 
die  Besatzer  an  die  Nachkriegspresse  hegten:  In  der  „Stimme  der  Frau"  erschei- 
nen  Artikel  iiber  frauenpolitisches  Wirken  im  Bildungs-,  Wohlfahrts-  und  politi- 
schen  Bereich  in  Deutschland,  aber  auch  im  Ausland,  solche  iiber  Kunst  und  Kul- 
tur  sowie  iiber  Padagogik  und  zu  Rechtsfragen.  Im  Bereich  „Erziehung"  wird  oft 
eine  Briicke  zwischen  individueller  Verantwortung  der  Frauen  als  Erzieherinnen 
der  Kinder  und  der  gesamtgesellschaftlichen  VerfaBtheit  geschlagen,  beispiels- 
weise in  einem  Artikel,  der,  angeregt  durch  die  nationalsozialistischen,  gefiihls- 
verneinenden  Erziehungsmethoden,  betitelt  ist  mit  „Ein  Madchen  kann  nicht 
weinen"  und  dazu  anregt,  zu  einem  verstandnisvolleren,  gefiihlsbetonten  Erzie- 
hungsstil  zuriickzufinden.102 

Einer  allgemein  hohen  Wertschatzung  europaischer,  als  „abendlandisch"  de- 
klarierter  Kultur  in  den  Beitragen  der  Zeitschrift  steht  eine  deutliche  Abwertung 
des  Kommunismus  und  der  Sowjetunion,  zuweilen  auch  der  Slawen  gegeniiber. 
Als  zentral  fur  diese  Gegeniiberstellung  „Ost"  gegen  „West"  sind  die  in  der  Zeit- 
schrift umrissenen  Implikationen  des  Begriffes  „Weiblichkeit"  bzw.  „Miitterlich- 


101  Die  „Stimme  der  Frau"  erschien  zunachst  in  Hannover,  im  „Stimme  der  Frau"  -  Ver- 
lag,  ab  Marz  1949  im  Hamburger  Jahreszeiten-Verlag.  Der  Jahreszeiten-Verlag,  Bestandteil 
der  Ganske  Verlagsgruppe,  publiziert  die  Zeitschrift  noch  heute  unter  dem  1957  eingefiihr- 
ten  Titel  „Fur  Sie".  Auch  nach  dem  Wechsel  des  Verlages  blieb  Bahnisch  Herausgeberin  der 
Zeitschrift.  DaB  der  Jahreszeiten-Verlag  die  „Stimme  der  Frau"  1950  als  „modische  Frauen- 
zeitschrift  fur  alle  Fragen  in  Familie  und  Haushalt"  bewarb,  zeugt  von  der  deutliche  Feuille- 
tonisierung,  die  die  Zeitschrift  ab  1950  erfahrt.  (ADW-Zeitungskatalog  1950,  zitiert  in:  Syl- 
via Lott,  Die  Frauenzeitschriften  von  Hans  Huffzky  undjohn Jahr.  Zur  Geschichte  der  deut- 
schen  Frauenzeitschrift  zwischen  1933  und  1970,  Berlin  1984,  S.  387.  Die  Studie  stellt  einen 
gelungenen  Uberblick  iiber  den  Frauenzeitschriftenmarkt  in  dem  Zeitraum  dar  und  nimmt 
Stellung  zu  den  verschiedenen  Richtungen  derZeitschriften.)  Bei  einer  Auflage  von  105.000 
Exemplaren  1950  wird  der  weiteste  Leserkreis  der  „Stimme  der  Frau"  fiir  diese  Zeit  auf  1,2  % 
der  Bevolkerung  geschatzt.  (Angeben  des  Instituts  fiir  Demoskopie,  Allensbach,  nach  Lott, 
S.  400). 

102  Hansi  Kessler,  Ein  psychologisches  Problem  unserer  Generation.  Ein  Madchen  kann 
nicht  weinen,  in:  Die  Stimme  der  Frau  1,  1948/49,  H.  1,  S.  19. 


Theanolte  Bahnisch  427 

keit"  auszumachen.  Daran  wird  am  deutlichsten  greifbar,  wie  sich  die  von  Bah- 
nisch und  ihren  Mitstreiterinnen  vertretene  Forderung,  daB  Frauen  durch  ihre 
„Weiblichkeit"  auf  jeweils  individuelle  Weise  der  „Verfachlichung,  Technisierung, 
Entseelung  und  Vermassung"  dermodernen  Welt  entgegenwirken  sollten,  in  vie- 
lerlei  Hinsicht  gegen  die  kommunistische  Lehre  verwenden  lieB.  Denn  jene  po- 
stulierte  als  eine  hochgradig  wissenschafts-  und  technikorientierte  die  Gleichheit 
der  Geschlechter,  rief  die  Frauen  in  die  Fabriken  und  an  die  FlieBbander,  wollte 
die  wirtschaftliche  Sicherung  der  Burger  nicht  durch  Fiirsorge,  sondern  durch 
staadiche  Garantien  gewahrleistet  sehen  und  propagierte  das  „Kollektiv"  ge- 
geniiberdem  von  Bahnisch  im  Rahmen  humanistischerldeale  verteidigten  „Indi- 
vidualismus".  1950  zitiert  die  „Stimme  der  Frau"  demgemaB  die  sogenannte 
„Friedensresolution"  des  DFR,  mit  der  dieser  die  Notwendigkeit  der  deutschen 
Wiederbewaffnung  begriindete,  wie  folgt:  Wdhrend  die  Verwirklichung  des  ostlichen 
Weltbildes,  wie  sie  sich  heute  vollzieht,  zum  Untergang  des  Einzelnen  in  der  Masse,  und  da- 
mit  zur  Aufhebung  der persdnlichen  Verantwortungfiihrt,  vertreten  voir  den  Gedanken  der 
Freiheit  des  Einzelnen,  der  Verpflichtung gegeniiber  der sozialen  Not  undder  Verantwortung 
des  Individuums  vor  Gott.103  Die  Darstellung  des  „Ostens"  als  glaubensfern,  empa- 
thieunfahig,jageradezu  grausam  in  der  Zeitschrift  vollzieht  sich  nicht  zuletztiiber 
den  Focus  auf  die  deutsche  Schicksalsgemeinschaft  aus  Kriegsgefangenen, 
Spatheimkehrern,  (Ost)Fliichtlingen,  Kriegerwitwen  und  Waisenkindern,  deren 
Leid  nicht  als  Folge  deutschen  GroBmachtstrebens  dargestellt,  sondern  mit  dem 
als  „unmenschlich"  charakterisierten  Verhalten  RuBlands  nach  Niederlegung  der 
Kriegshandlungen  begriindet  wird. 

Mai  totalitarismustheoretisch,  mal  rassistisch  argumentierend  stellt  die  Zeit- 
schriftenberichterstattung  in  ihrer  demokratiepropagierenden  und  zugleich  kol- 
portierenden  Manier  eine  Art  Gleichzeitigkeit  des  Ungleichzeitigen  dar,  die  eine 
Analyse  der  Herkunft  und  Entstehung  der  verschiedenen  Argumentationsstran- 
ge,  denen  in  der  Zeitschrift  jeweils  eine  spezifisch  „weibliche  Komponente"  auf- 
gepfropft  zu  werden  scheint,  reizvoll  macht. 

Der  Diskurs  um  Weiblichkeit  in  westlicher  Pragung,  was  nicht  zuletzt  bedeutet, 
daB  Frauen,  wenn  iiberhaupt  berufstatig,  dann  doch  „schicke  Stenotypistinnen" 
und  eben  nicht  „tuchtige  Traktoristinnen"  sein  sollten,104  eine  gangige  Gegen- 

103  Aus  der  Frauenwelt.  Der  deutsche  Frauenring  fur  den  Frieden,  o.  V.,  in:  Die  Stimme 
der  Frau,  2.  Jg.  (1949/50),  H.  20,  S.  29. 

104  Diese  Gegeniiberstellung,  die  auch  in  anderen  Frauenzeitzeitschriften  dieser  Zeit 
nachzuvollziehen  ist  wird  beschrieben  von:  Budde,  Gunilla  Friederike,  „Tuchtige  Traktori- 
stinnen" und  „schicke  Stenotypistinnen".  Frauenbilder  in  den  deutschen  Nachkriegsgesell- 
schaften  -  Tendenzen  der  „Sowjetisierung"  und  „Amerikanisierung"?,  in:  Konrad  Ja- 
RAUSCH/Hannes  Siegrist  (Hrsg.),  Amerikanisierung  und  Sowjetisierung  in  Deutschland 
1945-1970,  Frankfurt  a.  M. /New  York  1997,  S.  243-273. 


428  Nadine  Freund 

iiberstellung  „West"  gegen  „Ost",  ist  als  Kernkomponente  der  Zeitschrift  auszu- 
machen,  er  pragt  als  ein  Leitmotiv  die  Zeitschriftenberichterstattung  auf  einer  Art 
Meta-Ebene  und  nimmt  dabei  als  ein  hochgradig  popularisierbares  Konstrukt  die 
Funktion  eines  in  der  Diskurstheorie  als  „Interdiskurs" 105  bezeichneten  Bild- 
raumes  ein,  der  zwischen  den  Spezialdiskursen  in  den  Feldern  Politik,  Wirt- 
schaft,  Kultur  etc.  durch  mannigfaltige  thematische  Ankniipfungspunkte  vermit- 
telt.  „Weiblichkeit"  scheint  dabei  nicht  langer  nur  mit  „Mannlichkeit"  unverein- 
bar  zu  sein,  sondern  auch  mit  dem  Kommunismus,  der,  so  suggeriert  die  „Stimme 
der  Frau",  die  Frauen  zum  Dienst  an  der  Waffe,  zu  schweiBtreibenden  „Mannerar- 
beiten"  und  zur  Abkehr  vom  Glauben  notigt. 

Der  Forderung  nach  gleicher  Rechtsgrundlage  fur  Frauen  in  Ehe,  Familie,  Be- 
ruf  und  Politik  steht  in  der  „Stimme  der  Frau"  die  Tradierung  herkommlicher 
Charakterzuschreibungen  der  Geschlechter  entgegen,  so  daB  im  gleichen  Atem- 
zug  „gleicher  Lohn  fur  gleiche  Arbeit"  gefordert,  das  Leben  der  vollberufstatigen, 
womoglich  alleinstehenden  Frau  aber  als  trostlos  gezeichnet  und  die  scheinbare 
Sehnsucht  aller  Frauen  nach  hauslicher  Warme  im  Kreise  einer  Familie  betont 
wird.106  Dieses  Gliick  scheint  durch  die  Annehmlichkeiten  komplettiert  zu  wer- 
den,  die  die  moderne  Haushaltsindustrie  bietet,  gekront  schlieBlich  durch  die 
Produkte  der  Mode-  und  Kosmetikindustrie.  Die  Aussage,  die  im  ersten  Heft  der 
Stimme  der  Frau  zu  lesen  ist,  der  zufolge  das  Mondane  fur  lange  Zeit  verschwun- 
den  sei,107  scheint  spatestens  1953  iiberholt:  Artikel  zur  Politik,  Wirtschaft,  Kultur 
werden  immer  seltener,  der  Hochglanz-  und  Werbeanteil  steigt  stetig,  wenn  die 
„Stimme  der  Frau"  auch,  anders  als  Ihre  Verlagsschwester  „Film  und  Frau",  eine 
Zeitschrift  fur  die  wirtschaftlich  etwas  schlechter  gestellten  Frauen  und  Familien 
bleibt. 

9.    Verschrdnkung  der  Handlungsf elder  und  vorldufiges  Fazit 
iiber  die  Arbeit  Bdhnischs  nach  7945 

Dass  sich  sowohl  Bahnischs  Arbeitsfelder  und  Mitstreiter  als  auch  die  Themen 
und  Diskurse  rund  um  beziehungsweise  in  der  „Stimme  der  Frau"  mit  denen  im 
DFR,  im  Regierungsprasidium,  im  Deutschen  Rat  der  Europaischen  Union  und 
in  der  SPD  zum  Teil  iiberschnitten,  zum  Teil  verschrankten  und  erganzten,  wird 
deutlich,  richtet  man  den  Blick  wieder  auf  diese  anderen  Wirkungsgebiete  Bah- 


105  Vgl.:  Jiirgen  Link,  Konturen  medialer  Kollektivsymbolik  in  der  BRD  und  in  den 
USA,  in:  Peter  Grzybek  (Hrsg.),  Cultural  Semiotics:  Facts  and  Facets  /  Fakten  und  Facetten 
der  Kultursemiotik,  S.  95-135,  Bochum  1991. 

106  Vgl.:  Eine  mit  sich  allein,  o.  V.,  in:  Stimme  der  Frau  3,  1951,  H.  2,  S.  6/7. 

107  Vgl.:Jorg  Schuddekopf,  Er,  Sie  oderbeide?Jorg  Schiiddekopf  an  die  Redaktion  Die 
Stimme  der  Frau,  in:  Die  Stimme  der  Frau  1,  1948/49,  H.  1,  S.  4. 


Theanolte  Bahnisch  429 

nischs  zuriick.  Einige  Beispiele  sollen  diese  Verworbenheit  illustrieren:  In  derBe- 
richterstattung  der  „Stimme  der  Frau"  treten  deutlich  die  Ideen  der  Europa-Bewe- 
gung,  der  iiberparteilichen  Frauenbewegung,  aber  auch  der  Sozialdemokratie 
und  der  christlichen  Kirchen  hervor.  Mit  den  Einnahmen  fur  die  Zeitschrift,  die 
auch  durch  die  dem  DFRuntergliederten  oder  affiliierten  Frauenorganisationen, 
wie  beispielsweise  dem  deutsch-evangelischen  Frauenbund,  vertrieben  wurde, 
wurden  Teile  der  Arbeit  des  DFR  finanziert.  Im  Regierungsprasidium  konnte 
Bahnisch  immer  wieder  ehrenamtliche  Mitarbeiterinnen  fur  den  Deutschen  Frau- 
enring  gewinnen  und  die  dort  zur  Verfiigung  stehenden  Raumlichkeiten  als  Ver- 
sammlungsort  fiir  den  Verband  nutzen.  Vorgesetzte  und  Forderer  Bahnischs,  al- 
ien voran  Kopf  und  Grimme,  aber  auch  ihre  Mitarbeiter  im  Regierungsprasidium 
nahmen  als  Redner  an  Versammlungen  des  DFR  teil.  Christine  Teusch,  mit  der 
Bahnisch  im  Deutschen  Rat  der  Europaischen  Bewegung  zusammenarbeitete,  lei- 
tete  bald  auch  den  Landesring  des  DFR  in  Nordrhein-Westfalen.  Viele  der  Perso- 
nen,  mit  denen  Bahnisch  auf  einem  ihrer  Wirkungsgebiete  zusammenarbeitete, 
ebneten  ihr  so  Kontakte  auf  anderen  Ebenen,  sorgten  fiir  einen  Input  von  neuen 
Ideen  und  profitierten  dabei  selbst  von  Bahnischs  Umtriebigkeit.  Eine  eingehen- 
de  Analyse  diskursiver  Strange  aus  dem  Quellenmaterial,  anhand  derer  aufge- 
schliisselt  werden  konnte,  aus  welchen  politischen  Lagern  und  Ideenschulen  die 
von  Bahnisch  vertretenen  Argumente  kamen  und  wie  diese  in  wiederum  andere 
Lager  weitergegeben  und  dabei  eventuell  transformiert  wurden,  ist  deshalb  nur 
sinnvoll  vor  dem  Hintergrund  einer  Analyse  auch  der  vielfaltigen  personlichen 
Kontakte  Bahnischs.  Eine  fruchtbare  Diskursanalyse  gerat  in  diesem  Kontext 
also  fast  zwangslaufig  auch  zu  einer  Netzwerkanalyse.  Der  Annahme  Rechnung 
tragend,  daB  Theanolte  Bahnisch  aufgrund  ihrer  gesellschaftlichen  Stellung  auf 
mehreren  Ebenen  hochgradig  konsensbildend  und  damit  integrativ  auf  die  im 
Wiederaufbau  befindliche  und  nach  Identitat  suchende  Gesellschaft  wirken 
konnte,  kann  dieser  Aufsatz  als  eine  Vorstudie  zu  einer  derzeit  entstehenden  gro- 
Beren  Studie  begriffen108  und  folgendes,  vorlaufiges  Fazit  gezogen  werden: 

Bahnisch  hatte  1.  durch  ihre  Prasenz  in  Erziehungs-,  Politik-  und  Wirtschafts- 
kreisen  Anteil  an  der  Etablierung  und  am  Erhalt  eines  Eliten-Netzwerkes,  das  un- 
ter  Weiterfiihrung  bestehender  Traditionen  deutscher  Alltagskultur  und  Hinzu- 
ziehung  neuer  Anregungen,  nicht  zuletzt  aus  dem  europaischen  Ausland,  nach 
und  nach  den  Rahmen  fiir  eine  stabile  Demokratie  errichtete.  Sie  iibte  2.  als 
Leiterin  und  Ideengeberin  eines  Dachverbandes  eine  vermittelnde  Funktion 
unter  den  verschiedenen  Frauenverbanden  diverser  Berufs-  und  Interessengrup- 


108  Die  Dissertation  wird  unter  dem  Titel  „Weiblichkeit  und  Westintegration.  Theanol- 
te Bahnisch,  die  ,Stimme  der  Frau'  und  der  Wiederaufbau  Deutschlands  im  Kontext  des  Kal- 
ten  Krieges"  voraussichtlich  im  Jahr  2009  erscheinen. 


430  Nadine  Freund 

pen  sowie  den  Frauensektionen  gemischtgeschlechtlicher  Verbande  aus.  Sie 
wirkte  3.  als  Multiplikatorin:  in  ihrer  Rolle  als  Prasidentin  des  DFR,  der  Basisar- 
beit  bis  auf  Ortsgruppen-  bzw.  Stadtteilebene  leistete  und  durch  ihre  Prasenz  im 
offentlichen  Gesprach  und  in  den  Medien  -  worunter  nicht  nur  die  „Stimme  der 
Frau"  sondern  beispielsweise  auch  regionale  Tageszeitungen  in  Niedersachsen 
sowie  der  NWDR  zu  fassen  sind  -  und  verfiigte  4.  in  dieser  Rolle  iiber  die  Mog- 
lichkeit,  mit  ihren  Politik-  und  Personalempfehlungen  in  verschiedenen  Institu- 
tionen  und  Kreisen  Gehor  zu  finden. 

Obwohl  Bahnischs  Arbeit  insbesondere  Frauen  ansprechen  sollte,  indem  sie 
durch  die  Konstituierung  des  „Wir-Gefuhls"  an  den  weiblichen  Aufbauwillen  ap- 
pellierte,  waren  doch  auch  Manner  Zielgruppe  ihrer  Rhetorik,  in  deren  Rahmen 
sie  tradierte  geschlechtsspezifische  Zuschreibungen  und  Aufgabengebiete  als 
durch  den  Kommunismus  „bedroht"  darstellte  und  somit  ein  die  Gesellschaft  in 
mikro-  wie  makrosoziologischer  Hinsicht  pragendes  Gefiige  als  gefahrdet  dekla- 
rierte.  Sie  trug  damit  dazu  bei,  jenen  Diskurs  um  die  „bedrohte  Weiblichkeit"  in 
den  antikommunistischen  Grundkonsens  der  jungen  Republik  zu  implementie- 
ren  und  wies  ihm  dort  einen  Platz  zu,  der  eng  mit  den  Diskursen  um  „Demokra- 
tie"  und  „Freiheit"  zusammenhing  und  ein  klares  Feindbild  kannte,  das  schon  im 
Nationalsozialismus  identitatsstiftend  gewirkt  hatte.  In  die  Nachkriegszeit  iiber- 
fiihrt  konnten  sich  darin  sowohl  Gegner  des  Nationalsozialismus,  wie  auch  vom 
System  „Enttauschte",  Alte  wie  Junge,  gut  situierte  Burger  wie  Geringverdiener, 
Sozialdemokraten  wie  Liberale  und  Konservative  verorten. 

Als  Theanolte  Bahnisch  1964  aus  ihrem  Amt  als  Staatssekretarin  als  Bevoll- 
machtigte  des  Landes  Niedersachsen,  das  sie  ab  1959  innegehabt  hatte,  aus- 
schied,  wurde  in  der  „Welt"  fast  so  etwas  wie  eine  Institution  in  Bonn109  verloren  ge- 
meldet.  Schon  neunjahre  spater,  am  9.  Juni  1973,  starb  Theanolte  Bahnisch,  die 
in  Folge  ihrer  beruflichen  Belastung  immer  wieder  an  ernsten  korperlichen  Er- 
krankungen  gelitten  hatte.  Beigesetzt  wurde  sie  in  Hannover,  wo  heute  der  The- 
anolte-Bahnisch-Weg  an  sie  erinnert.  Ein  Nachruf  der  deutsch-kanadischen  Ge- 
sellschaft auf  sein  Ehrenmitglied  Theanolte  Bahnisch  in  der  Washington  Post  ver- 
kiindet  etwas  ungelenk  und  wie  die  biirgerliche  Frauenbewegung  die  Differenzen 
der  Geschlechter  betonend:  Konrad  Adenauer  nannte  die  Sozialdemokratin,  Katholi- 
kin  und  Frau  eine  der  starksten  Personlichkeiten  unseres  politischen  Lebens.110 


109  Theanolte  Bahnisch,  o.  V.:  in:  „Die  Welt",  10.  April  1964. 

110  AddF  Kassel,  SPT,  Nachruf  der  deutsch-kanadischen  Gesellschaft  fur  Theanolte 
Bahnisch,  in:  Washington  Post,  Kopie  o.  D. 


BESPRECHUNGEN 


ALLGEMEINES 


Hamburg  und  sein  norddeutsches  Umland.  Aspekte  des  Wandels  seit  der  friihen  Neuzeit. 
Festschrift  fur  Franklin  Kopitzsch.  Hrsg.  von  Dirk  Brietzke,  Norbert  Fischer  und  Ar- 
no  Herzig.  Hamburg:  DOBU  Verlag  2007.  432  S.  Abb.  =  Beitrage  zur  Hamburgi- 
schen  Geschichte  Bd.  3.  Geb.  39,90  €. 

Die  vorliegende  Festschrift  entstand  anlasslich  des  60.  Geburtstages  von  Franklin  Ko- 
pitzsch, Professor  fur  Sozial-  und  Wirtschaftsgeschichte  unter  Beriicksichtigung  nord- 
deutscher  Regionalgeschichte  an  der  Universitat  Hamburg.  Derjubilar,  der  daruber  hin- 
aus  die  Arbeitsstelle  fur  Hamburgische  Geschichte  leitet,  hat  grundlegende  Forschun- 
gen  zur  Geschichte  Hamburgs  und  der  umliegenden  Regionen  betrieben  und  auf  diesen 
Forschungsfeldern  wegweisende  Erkenntnisse  vorgelegt.  Insofern  war  es  konsequent 
und  sinnvoll,  die  Beitrage  fur  die  Festschrift  unter  dem  Generalthema  „Hamburg  und 
sein  norddeutsches  Umland"  zu  biindeln.  Sie  reichen  vom  Spatmittelalterbis  zurZeitge- 
schichte  und  vereinen  iiberwiegend  neue  Forschungen  zu  sozial-  und  wirtschaftsge- 
schichtlichen,  kultur-  und  ideengeschichtlichen,  medien-  und  kommunikationsge- 
schichtlichen,  sowie  konfessionsgeschichtlichen  und  biographischen  Fragestellungen. 
Die  Vielfalt  an  Themen  und  Perspektiven  ist  kaum  zu  iiberbieten,  sie  spiegelt  gleichsam 
die  groBe  Aufgeschlossenheit  und  die  immens  breite  wissenschaftliche  Kompetenz  des 
Jubilars  wider. 

Die  Herausgeber  der  Festschrift  -  Dierk  Brietzke,  wissenschaftlicher  Mitarbeiter  der 
Arbeitsstelle  fur  Hamburgische  Geschichte  am  Historischen  Seminar  der  Universitat 
Hamburg,  Norbert  Fischer,  Honorarprofessor  am  Institut  fur  Volkskunde/Kulturan- 
thropologie  und  Privatdozent  am  Historischen  Seminar  der  Universitat  Hamburg,  und 
Arno  Herzig,  Prof.  em.  fur  Neuere  Geschichte  am  Historischen  Seminar  der  Universitat 
Hamburg  -  erlautern  im  Vorwort  nach  Vorstellung  des  zu  Ehrenden  das  Konzept  der 
Festschrift  und  fassen  die  einzelnen  Beitrage  inhaltlich  kurz  zusammen. 

Die  ersten  beiden  Abhandlungen  widmen  sich  der  Person  Franklin  Kopitzsch.  Rainer 
Wohlfeil  wiirdigt  seine  bis  1970  zuriick  reichende  menschliche  und  kollegiale  Verbin- 
dung  mit  dem  Jubilar.  Dorothee  Stapelfeldt  stellt  den  Politiker  Franklin  Kopitzsch  vor, 
seine  Tatigkeit  als  Abgeordneter  der  Hamburgischen  Biirgerschaft  von  1991  bis  2001 
und  als  kulturpolitischer  Sprecher  der  SPD-Biirgerschaftsfraktion. 

Die  nachfolgenden  26  Beitrage  sind  in  eine  chronologische  Gliederung  eingebun- 
den.  Die  Abhandlungen  zu  „Spatmittelalter  und  Friihe  Neuzeit"  untersuchen  spatmittel- 
alterliche  Handelsstreitigkeiten  in  Hamburg  und  Magdeburg  (Gerhard  Theuerkauf), 
die  Frage  der  Offentlichkeit  in  der  landlichen  Gesellschaft  der  Friihen  Neuzeit  auf  der 


432  Besprechungen 

Quellenbasis  von  Visitationsartikeln  aus  Siiderdithmarschen  von  1635  und  Briicheregis- 
tern  der  weltlichen  Gerichtsbarkeit  aus  dem  lutherischen  Holstein  des  17.  Jahrhunderts 
(Heide  Wunder),  die  biirgerliche  Wohltatigkeit  am  Beispiel  von  Liibecker  Stiftungen  des 
17.  Jahrhunderts  (Antjekathrin  GraBmann),  Konflikte  zwischen  Handwerksamtern  und 
Obrigkeiten  in  den  norddeutschen  Hansestadten  Hamburg,  Bremen  und  Liibeck  des  17. 
und  18.  Jahrhunderts  (Dirk  Brietzke),  einen  spektakularen  Inzest-Fall  in  Hamburg  aus 
dem  Jahr  1766  (Mary  Lindemann),  das  Verbot  der  sogenannten  Hamburger  Zucker- 
bilder  wegen  gesundheitsschadigender  Wirkungen  und  die  Diskussionen  und  Konse- 
quenzen  am  Beispiel  der  Stadt  Braunschweig  im  18./19.  Jahrhundert  (Peter  Albrecht), 
sowie  die  Aufnahme  der  franzosischen  Emigranten,  die  wahrend  der  Franzosischen  Re- 
volution nach  Hamburg  kamen  (Burghardt  Schmidt). 

Der  Abschnitt  „Das  Zeitalter  der  Aufklarung"  vereint  Abhandlungen  zur  Pressege- 
schichte  des  17./ 18.  Jahrhunderts  (Holger  Boning  und  Astrid  Blome) ,  zu  Stammbiichern 
des  spaten  18.  Jahrhunderts  (Giselajaacks)  und  zu  Otto  Schuchmacher,  seit  1771  Pastor 
an  der  Hamburger  Hauptkirche  St.Jacobi  (Renate  Hauschild-Thiessen)  mit  wirtschafts- 
und  ideengeschichtlichen  Beitragen.  Die  Rolle  Hamburgs  in  Adam  Smiths  „Wohlstand 
der  Nationen"  von  1776  untersuchtjiirgen  Overhoff,  die  Bewertungen  von  Maschinen  in 
den  Zeiten  der  Aufklarung  und  des  Friihsozialismus  Klaus  Schlottau. 

Der  Abschnitt  zum  „  19.  Jahrhundert"  beginnt  mit  Beitragen  zurjiidischen  Geschichte 
Hamburgs.  Jutta  Braden  stellt  dem  Leser  am  konkreten  Beispiel  aus  dem  Jahr  1806  die 
Problematik  der  Rekonversion  zum  Judentum  vor,  Arno  Herzig  charakterisiert  das  Le- 
ben  und  Wirken  des  Immanuel  Wohlwill  (1799-1847),  einflussreicher  Vertreter  des  Re- 
formjudentums.  Frank  Hatje  untersucht  am  Beispiel  der  von  1792  bis  1848  gefuhrten  Ta- 
gebiicher  von  Ferdinand  Beneke,  Advokat  und  Oberaltensekretar  in  Hamburg,  die  Ent- 
stehung  und  Entwicklung  von  Kommunikation  und  Netzwerken.  Gerhard  Ahrens 
beschaftigt  sich  mit  dem  Schicksal  des  Nachlasses  des  Malers  und  Denkmalpflegers 
Carl  Julius  Milde  (1803-1875),  und  William  Boehard  untersucht  die  Entwicklung  des  ost- 
lichen  Umlands  von  Hamburg  in  der  zweiten  Halfte  des  19.  Jahrhunderts. 

Der  Abschnitt  „Zeitgeschichte"  umfasst  Beitrage  zum  „Bierstreik"  in  Hamburg  im 
Jahr  1932  und  damit  zur  Lage  des  selbststandigen  Mittelstands  in  Hamburg  wahrend  der 
Weltwirtschaftskrise  (Ursula  Biittner),  zum  Dienst-Alltag  des  Polizeibeamten  Walter  Ko- 
pitzsch  in  der  Endphase  der  Weimarer  Republik  anhand  von  kommentierten  Tage- 
buchausziigen  (Wolfgang  Kopitzsch),  zu  Biicherverbrennungen  in  Hamburg  (Angela 
Graf),  zur  Auf-  und  Ubernahme  nationalsozialistischer  Ideologic  anhand  des  Briefwech- 
sels  zwischen  dem  Hamburger  Altburgermeister  Carl  August  Schroder  und  dem  Pastor 
Max  Glage  (Matthias  Schmoock),  zur  Verfolgung  und  Verhaftung  fiihrender  Sozialde- 
mokraten  anlasslich  der  sogenannten  „Echo-Versammlung"  vom  15.  Juni  1933  (Holger 
Martens) ,  zur  Gegnerschaft  des  Hamburger  Kinderarztes  Rudolf  Degkwitz  zum  NS-Re- 
gime  (Joist  Grolle);  schlieBlich  beschaftigt  sich  Axel  Schildt  mit  dem  spektakularen 
Riicktritt  Paul  Nevermanns  vom  Amt  des  Hamburger  Biirgermeisters  im  Jahr  1965  und 
Norbert  Fischer  mit  dem  raumlichen  Wandel  des  Hamburger  Umlandes  von  1950  bis 
2000. 

Die  Beitrage  machen  in  ihrer  ganzen  inhaltlichen  und  methodischen  Vielfalt  deut- 
lich,  dass  Hamburgs  Geschichte  und  Kultur  vom  spaten  Mittelalter  an  bis  heute  weit 
liber  die  Stadtgrenzen  in  den  norddeutschen  Raum  hinauswirken.  Das  Schriftenver- 
zeichnis  von  Franklin  Kopitzsch  dokumentiert  die  beeindruckende  Anzahl  von  Verof- 
fentlichungen  des  Jubilars.  Eine  umfangreiche  „Tabula  gratulatoria"  und  ein  Autoren- 


Allgemeines  433 

verzeichnis  umrahmen  die  vielseitigen  Beitrage.  Nicht  unerwahnt  bleiben  soil  die  von 
Trudl  Wohlfeil  2007  gefertigte  Collage  mit  dem  Titel  „Aufklarung",  deren  Abdruck  den 
Einband  der  Publikation  ziert.  Damit  ist  ,,rundum"  -  gestalterisch  wie  inhaltlich  -  eine 
dem  Jubilar  angemessene  Festschrift  entstanden,  die  iiber  den  konkreten  Anlass  hinaus 
auf  breites  Interesse  stoBen  und  zu  weiteren  Forschungen  anregen  wird  -  ganz  im  Sinne 
des  Jubilars  Franklin  Kopitzsch! 

Stade  Beate-Christine  Fiedler 


Westfalisches  aus  achtjahrhunderten  zwischen  Siegen  und  Friesoythe  -  Meppen  undReval.  Fest- 
schrift fur  Alwin  Hanschmidt  zum  70.  Geburtstag.  Hrsg.  von  Franz  Bolsker  und  Joa- 
chim Kuropka.  Minister:  Aschendorff  2007.  423  S.  Abb.  Geb.  39,-  €. 

Ein  kurzer  Blick  in  die  historischen  Fachzeitschriften,  in  die  Programme  wissenschaftli- 
cher  Verlage  oder  in  die  Veranstaltungsverzeichnisse  unserer  Universitaten  geniigt,  um 
zu  erkennen,  dass  die  Geschichte  des  „Kleinen  Raumes"  in  ihrer  je  eigentumlichen  Aus- 
pragung  als  Landes-,  Regional-,  oder  auch  als  Heimatgeschichte  wieder  einmal  Kon- 
junktur  hat.  Das  wissenschaftliche  wie  das  offentliche  Interesse  an  Region  und  Ge- 
schichte wird  dariiber  hinaus  dokumentiert  durch  die  zahlreichen  Aktivitaten  in  Schu- 
len,  Volkshochschulen,  historischen  Zirkeln,  Heimatvereinen  und  deren  publizistische 
Ertrage.  Region  und  Geschichte  ist  auch  das  Thema  des  von  Franz  Bolsker  und  Joachim 
Kuropka  herausgegebenen  Sammelbandes  „Westfalisches  aus  achtjahrhunderten.  Zwi- 
schen Siegen  und  Friesoythe  -  Meppen  und  Reval",  der  2007  im  Aschendorff  Verlag  als 
Festschrift  fur  Alwin  Hanschmidt  zum  70.  Geburtstag  erschien. 

Biicher  fallen  auf  -  oder  auch  nicht  -  durch  ihren  Titel  und  /  oder  ihre  auBere  Erschei- 
nung.  Die  hier  vorzustellende  Festschrift  bildet  da  keine  Ausnahme.  Schon  der  Titel 
spielt  mit  der  Phantasie  und  provoziert  die  Neugierde  des  den  recht  ansprechend  gestal- 
teten  Einband  priifenden  Lesers,  in  dem  er  ihn  gleichermaBen  irritiert  und  informiert. 
Irritiert  insofern,  als  er  ihm  nicht  sofort  verrat,  worum  es  denn  eigentlich  geht.  „Westfali- 
sches"  bedeutet  weniger,  aber  auch  mehr  als  „Westfalen".  Beides  bezeichnet  historisch- 
politische  Kultur,  mentale  Gestimmtheiten  und  alte  Raume  wie  auch  die  Relativitat  ih- 
rer Grenzen.  Auch  der  Untertitel  bietet  lediglich  vage  Information,  bestatigt  jedoch  die 
Vermutung,  dass  wir  es  hier  nicht  ausschlieBlich  mit  jenem  Westfalen  zu  tun  bekommen, 
das  in  seiner  Geschichte  preuBische  Provinz  wurde  und  dann  Nordrhein-Westfalen  um- 
schloss.  Konkreter  wird  da  schon  die  von  den  Herausgebern  gebotene  kurze  Einfiih- 
rung:  „Immerhin  hat  es  westfalische  Burger  in  alle  Welt  und  eben  auch  bis  nach  Reval 
verschlagen"  (S.  9).  Westfalen  nicht  in  territorial  begrenzterPerspektive  also,sondern  im 
kulturellen  Sinne  ist  Gegenstand  dieses  Buches.  Sein  Aufbau  bietet  mit  den  Rubriken 
Politik,  Stadtwesen,  Kloster,  Schule  und  Bildungswesen  vier  inhaltliche  Schwerpunkte, 
die,  wie  wir  der  Einfiihrung  entnehmen,  mit  denen  des  wissenschaftlichen  Oeuvres  des 
Jubilars  kompatibel  sind.  Um  dem  Buch  nicht  die  Pointen  und  dem  Leser  nicht  die  Span- 
nung  zu  nehmen,  soil  im  Folgenden  auf  die  einzelnen  der  insgesamt  17  Beitrage  nur 
knapp  eingegangen  werden. 

Politisches  im  engeren  Sinne  bieten  die  ersten  beiden  Aufsatze.  Wahrend  Hans-Joa- 
chim Behr  iiber  die  Rolle  und  das  Auftreten  westfalischer  Abgeordneter,  iiber  Debatten 
und  Antrage  auf  dem  ersten  „vereinigten  Landtag  PreuBens"  von  1847  referiert,  bietet 


434  Besprechungen 

Joachim  Kuropka  eine  „Fallanalyse  zum  Umgang  mit  demokratischen  Rechten  zu  Be- 
ginn  der  WeimarerRepublik",  deren  Bezugspunkt  die  Wahl  eines  neuen  Biirgermeisters 
im  Marz  1923  in  der  Landgemeinde  Lohne  ist. 

Die  fiinf  Beitrage  des  zweiten  Teils  beinhalten  stadtische  Themen.  So  beschreibt  und 
erklart  etwa  Peter  Sieve  am  Beispiel  der  kleinen,  im  Oldenburger  Miinsterland  gelege- 
nen  Ackerbiirgerstadt  Friesoythe,  die  jahrhunderte  lang  anhaltende  Abwanderung  jun- 
ger  Biirgersohne  in  die  Zentren  des  Handels  und  der  Kultur  und  deren  durchaus  erfolg- 
reiche  Lebenswege  in  der  Fremde.  Hermann  von  Laers  Augenmerk  gilt  der  Armut  und 
Armenpolitik  in  den  Amtern  Cloppenburg  und  Vechta.  Seine  Untersuchung  umspannt 
den  Zeitraum  vom  DreiBigjahrigen  Krieg  bis  zum  Beginn  des  19.  Jh.  und  hat  neben  der 
Situation  der  Armen  und  deren  Versorgung  durch  offentliche  wie  private  Zuwendun- 
gen,  die  Bedeutung  der  Armenkassen  zum  Thema.  Varianten  neuzeitlicher  Stadtent- 
wicklung  in  Westfalen  vom  spaten  Mittelalter  bis  zum  1.  Weltkrieg  sind  Gegenstand  des 
Aufsatzes  von  Franz  Bolsker.  Am  Beispiel  von  Dortmund,  Soest  und  Miinster  zeigt  er  die 
Zufalligkeit  und  Vielschichtigkeit  historischer  Entwicklung  dreier  Stadte  auf,  die  in  ihrer 
Geschichte  eine  Fiille  von  Gemeinsamkeiten  verband  und  die  sich  heute  in  ihrer  GroBe, 
ihrer  Bedeutung  und  ihrem  Charakter  so  sehr  unterscheiden.  Um  den  Wiederaufbau  der 
kriegszerstorten  Zentren  von  Miinster,  Paderborn  und  Osnabriickgeht  es  in  dem  Beitrag 
von  Verena  Bolsker.  Sie  geht  der  Frage  nach,  ob  und  inwieweit  beim  Wiederaufbau  die- 
ser  drei  geschichtstrachtigen  Stadte  „der  Wert  historischer  Architektur  beriicksichtigt 
und  als  fur  die  Identitat  der  Stadt  unersetzlicher  Bestandteil  angesehen  wurde"  (S.  118). 
Nachkriegsgeschichte  ist  auch  das  Thema  Franz-Josef  Jakobis,  der  sich  hinsichtlich  des 
Musik-  und  Theaterlebens,  insbesondere  des  Theaterneubaus  von  1956,  zum  kulturellen 
Neubeginn  in  Miinster  nach  1945  auBert. 

Den  dritten  Teil  des  Buches  bestreiten  zwei  Kirchenhistoriker.  Karl  Hengsts  Untersu- 
chung iiber  das  „Ende  der  Kloster  in  Waldeck"  uberschreitet  die  westfalische  Grenze 
und  definiert  sich  als  „ein  erster  Versuch,  die  Reformationsgeschichte  Waldecks,  beson- 
ders  aber  die  der  Kloster  neu  zu  schreiben"(S.  191).  Ein  Stuck  Reformationsgeschichte 
bietet  auch  der  Aufsatz  von  Hans  Jtirgen  Brandt  iiber  das  katholische  Fraterhaus  im  pro- 
testantischen  Herford  und  die  Frage  nach  seiner  konfessionellen  Kontinuitat. 

Der  vierte  und  umfangreichste  Teil  des  Sammelbandes  schlieBlich  offeriert  dem  Le- 
ser  Einblicke  in  schul-  und  bildungspolitische  Bereiche  westfalischer  Geschichte.  Wah- 
rend  Gerd  Steinwascher  der  Frage  nach  dem  Einfluss  von  Schule  und  Bildung  als  Mittel 
der  Konfessionalisierung  im  Hochstift  Osnabriick  und  im  Niederstift  Miinster  nachgeht, 
untersuchen  Hans-Ulrich  Musolff,  Susanne  Denningmann  und  Stephanie  Bermges  in 
ihrer  empirischen  Studie  den  Prozess  der  Professionalisierung  westfalischer  Lehrer  im 
17.  und  18.  Jahrhundert  am  Beispiel  der  Gymnasien  in  Dortmund,  Hamm,  Soest  und 
Steinfurt.  Protagonist  des  sich  anschlieBenden  Beitrags  ist  der  1754  geborene  Bildungs- 
reformer  Bernard  Overberg,  mit  dessen  Wirken  und  Wirkung  „in  einer  Zeit  des  geisti- 
gen  Umbruchs  und  der  theologischen  Neuorientierung"  (S.  259)  sich  Karl  Josef  Lesch 
beschaftigt.  Das  Erziehungs-  und  Bildungskonzept  Bernard  Overbergs  und  des  miinster- 
schen  Staatsministers  Franz  v.  Fiirstenberg  ist,  wie  auch  die  Rezeption  ihrer  Elemen- 
tarschulreformen  im  Emsland,  das  Thema  von  Maria  Anna  Zumholz.  Um  Dr.  theol. 
Gisbert  Meistermann,  einen  streitbaren  Priester  und  eifrigen  Forderer  der  Gymnasial- 
konvikte  in  Vechta  geht  es  in  der  kritischen  Wurdigung  Willi  Baumanns.  Ein  besonders 
diisteres  Kapitel  nicht  nur  westfalischer  Geschichte  beleuchten  die  beiden  folgenden 
Aufsatze.  Wahrend  Rudolf  Willenborg  den  Kampf  der  oldenburgischen  Kirche  unter 


Allgemeine  Geschichte  und  Landesgeschichte  435 

der  Fiihrung  Bischof  von  Galens  gegen  die  ,,nationalsozialistische  Bekenntnisschule"  Al- 
fred Rosenbergs,  des  Chefideologen  der  NSDAP,  reflektiert,  erinnert  Michael  Hirsch- 
feld  in  seinen  biographischen  Annaherungen  an  die  „katholischen  oldenburgischen 
Lehrerinnen"  und  deren  Konfliktfelder  zur  Zeit  des  Nationalsozialismus.  „Burgund  als 
historische  Erinnerungslandschaft"  lautet  der  Titel  des  letzten  Beitrages  dieses  Buches. 
Er  ist  ein  Erfahrungsbericht  Bernd  Mutters  aus  der  historischen  Erwachsenenbildung 
anlasslich  der  Fahrt  einer  Reisegruppe  der  VHS  und  der  Universitat  Oldenburg  nach 
Burgund.  Im  Fokus  seiner  Ausfiihrungen  steht  die  Frage  nach  dem  Gegenwarts-  und 
Existenzbezug  von  Geschichte,  wie  nach  der  Moglichkeit  aus  ihr  zu  lernen. 

Im  Gegensatz  zu  anderen,  vergleichbaren  Publikationen  basiert  der  vorliegende 
Sammelband  nicht  auf  den  Resultaten  einer  Tagung.  Wirklich  gut  getan  hat  ihm  das 
nicht.  Trotz  der  Fulle  der  Einzelergebnisse  und  des  zeitlich  und  thematisch  beeindruk- 
kenden  Spektrums,  konfigurieren  sich  die  Beitrage  fur  den  Leser  nur  bedingt  zu  einem 
groBeren  Gesamtbild.  Zu  unterschiedlich  sind  bei  vielen  Gemeinsamkeiten  des  Blick- 
winkels  doch  die  Ansatze  und  das  methodische  Repertoire,  was  bei  19  verschiedenen 
Autoren  kein  Wunder  ist,  das  Lesevergniigen  aber  triiben  kann.  Eine  synthetisierende 
Vernetzung  der  Befunde  seitens  der  Herausgeber  hatte  hier  Abhilfe  schaffen  konnen. 

Nicht  gelungen  aus  Sicht  des  Rezensenten  sind  zwei  Beitrage.  Zum  einen  handelt  es 
sich  dabei  um  den  Bericht  Hans-Joachim  Behrs,  der  eher  auf  akkurate,  faktengesattigte 
Deskription,  denn  auf  Argumentations-  und  Analyseleistung  setzt  und  Fragestellungen 
erst  gar  nicht  versucht,  zum  anderen  um  die  Ausfiihrungen  Franz-Josef  Jakobis,  die  zu 
sehr  an  der  Oberflache  verharren  und  z.T.  hinter  dem  Stand  der  Forschung  bleiben.  Die 
Rolle  der  britischen  Militarregierung  etwa,  die  fur  den  kulturellen  Wiederaufbau  Miins- 
ters  von  kaum  zu  iiberschatzender  Bedeutung  war,  wird  so  gut  wie  nicht  kontextualisiert. 
Beide  Betrage  sind  Ausnahmen  in  einem  Band,  dessen  Darstellungen  sonst  iiberzeugen. 
Frei  von  akademischer  Prosa,  kultiviert  geschrieben  und  wissenschaftlichen  Standards 
verpflichtet,  richtet  sich  diese  Publikation  an  ein  breites  Publikum,  das  es  sicher  errei- 
chen  wird. 

Paderborn  Peter  Respondek 


ALLGEMEINE  GESCHICHTE  UND 
LANDESGESCHICHTE 


Acta  pads  Westphalicae.  Serie  III  Abt.  AProtokolle.  Bd.  3.  Die  Beratungen  des  Fiirstenra- 
tes  in  Osnabriick.  4:  1646-1647.  5:  Mai-Juni  1648.  Bearb.  von  Maria-Elisabeth  Bru- 
nert.  Minister:  Aschendorff  2006.  CXVI,  379  S.  und  XC,  531  S.  Geb.  81,-;  93,-  €. 

Im  360.  Jahr  des  Friedensschlusses  zu  Miinster  und  Osnabriick  sind  an  dieser  Stelle  zwei 
neue  Bande  derkritischen  Edition  der  Akten  dieses  europaischen  Friedenswerkes  vorzu- 
stellen.  Zuvor  ist  vielleicht  ein  kurzer  Blick  auf  das  Gesamtunternehmen  von  Nutzen: 
Das  von  Konrad  Repgen  in  den  50erjahren  des  letztenjahrhunderts  weitlaufig  entwor- 


436  Besprechungen 

fene  Editionskonzept  besteht  in  drei  groBen  Serien:  I.  Instruktionen,  II.  Korresponden- 
zen,  III.  Protokolle,  Verhandlungsakten,  Diarien,  Varia,  die  jeweils  (bis  auf  I.)  wieder  in 
mehrere  Abteilungen  untergegliedert  sind.  Es  hat  bis  heute  seine  Giiltigkeit  behalten. 
Nur  in  Hinsicht  auf  den  tatsachlichen  Umfang  des  zu  bewaltigenden  Quellenmaterials 
mussten  die  Herausgeber  -  dem  hoch  verdienten  Repgen  folgte  2003  Maximilian  Lan- 
zinner,  ebenfalls  Professor  in  Bonn  -  die  wohl  keinem  Editionsplaner  ersparte  Erfahrung 
machen,  dass  die  prognostizierte  Bandezahl  zu  niedrig  angesetzt  war.  Inzwischen  sind 
38  Bande  bzw.  Teilbande  (mit  Einschluss  derbeiden  vorliegenden)  aus  alien  drei  Serien 
erschienen,  mit  Erwartung  auf  eine  ungewisse,  voraussichtlich  hohere  Zahl  von  noch 
folgenden  Banden.  Ein  langer  Atem  und  nicht  versiegende  Geldquellen  sind  dem  Unter- 
nehmen  und  ihren  Herausgebern  unter  diesen  Umstanden  sehr  zu  wiinschen. 

Dieses  Jahrbuch  hat  aus  einleuchtenden  Griinden  nur  beispielhaft  vom  Fortgang  der 
Edition  Notiz  nehmen  konnen.  Rez.  sieht  sich  demzufolge  in  der  Notwendigkeit,  ge- 
legentlich  den  hier  nicht  besprochenen  Teilband  3/3  der  Protokolle  des  Osnabriicker 
Fiirstenrates  wegen  des  Zusammenhanges  mit  unseren  Teilbanden  einzubeziehen.  Mit 
jenem  Teilband  namlich  setzen  die  Hauptberatungen  („haubtdeliberation")  des  Fiirsten- 
rates zu  Osnabriick  uberhaupt  erst  ein,  d.h.  die  zuvor  unter  sich  tagenden  evangelischen 
fiirstlichen  Gesandten  zu  Osnabriick  (s.  Nds.  Jb.  72,  2000,  S.  365)  waren  eher  als  Corpus 
Evangelicorum  anzusprechen,  bevor  sie  sich  am  3.  Februar  1646  (Teilbd.  3/3  Nr.  95)  mit 
den  katholischen  zum  Fiirstenrat  Osnabriick  (im  folgenden  „FRO")  formierten  (gemaB 
einer  Vereinbarung  mit  dem  Fiirstenrat  Munster  vom  September  1645). 

Auch  die  Protokollfuhrung  erfuhr  seit  dem  3.  Februar  1646  insofern  eine  neue  Rege- 
lung,  als  die  evangelischen  fiirstlichen  Gesandten  ein  Gemeinschaftsprotokoll  mit  ei- 
gens  dafiir  zugelassenen  Sekretaren  einrichteten.  Die  Katholischen  beteiligten  sich  dar- 
an  nicht.  In  diesem  evangelischen  Gemeinschaftsprotokoll  wurden  die  Sitzungen  des 
FRO  fortan  als  „sessiones  publicae"  von  I  bis  LII  fortgezahlt.  Nach  der  52.  Session  (1647 
Sept.  30)  unterbrach  eine  langere  Pause  die  Sitzungstatigkeit  des  FRO.  Als  er  am  6.  Mai 
1648  (Teilbd.  3/5  Nr.  145)  erneut  zusammentrat,  nahm  die  evangelische  Seite  die  ge- 
meinschaftliche  Protokollfuhrung  nicht  wieder  auf.  Den  Teilbanden  3/3  und  3/4  der 
Edition  liegt  das  Gemeinschaftsprotokoll  in  seiner  mehrfachen  Uberlieferung  auch  zu- 
grunde,  naturlich  mit  Beriicksichtigung  von  wesentlichen  Varianten  und  Erganzungen 
aus  anderen  (vollstandigen  oder  groBeren  Teil-)Protokollserien  (die  in  jedem  Teilband 
detailliert  beschrieben  sind).  Als  Druckvorlage  diente  die  Protokollserie  des  Fiirsten- 
tums  Calenberg  (HStA  Hannover  Cal.  Br.  11  Nr.  513).  Fur  den  Teilband  3/5  fand  die  Be- 
arbeiterin  einen  solchen  quasi  Gliicksfall  der  Uberlieferung  nicht  vor,  immerhin  lieB 
sich  das  sachsen-altenburgische  Protokoll  zu  einem  ahnlich  soliden  Leittext  durchgan- 
gig  benutzen.  Es  fallt  auf,  dass  fur  den  Editionszeitraum  dieses  Teilbandes  (1648  Mai-Ju- 
ni)  sich  eine  braunschweig-liineburgische  Uberlieferung  von  Sitzungsprotokollen  in  den 
zustandigen  Archiven  nicht  hat  ermitteln  lassen. 

In  den  beiden  o.a.  Teilbanden  wird  also  einerseits  die  Sitzungsperiode  des  FRO  von 
Teilband  3/3  in  zeitlich  dichtem  Abstand  (1646  Mai  7  bis  1647  Sept.  30)  fortgesetzt,  an- 
dererseits  eine  neue  Sitzungsperiode  von  1648  Mai  6  bisjuni  17  dokumentiert.  Auch  mit 
dem  Hinzutritt  katholischer  Reichsstande  blieb  der  FRO  zu  jeder  Zeit  von  den  Prote- 
stanten  dominiert,  die  Zahl  wie  auch  die  konfessionelle  Zusammensetzung  der  vertrete- 
nen  Reichsstande  im  einzelnen  schwankten  von  Sitzung  zu  Sitzung  durchaus,  was  darin 
begriindet  sein  konnte,  dass  ein  Reichsstand  mal  in  Osnabriick,  mal  in  Munster  votierte 
oder  dass  ein  Gesandter  sich  gerade  nicht  oder  nicht  mehr  am  Kongressort  aufhielt.  So 


Allgemeine  Geschichte  und  Landesgeschichte  437 

verlieB  die  bis  dahin  einflussreiche  Magdeburger  Gesandtschaft  am  Ende  der  Sitzungs- 
periode  im  Sept.  1647  auf  immer  den  Kongress.  Einige  Reichsstande  wiederum  hielten 
fest  zu  dem  Tagungsort  Osnabriick,  zu  den  eifrigsten  Votanten  im  FRO  gehorten  bei  den 
evangelischen  die  sachsischen  und  die  braunschweig-liineburgischen  Gesandten,  bei 
den  katholischen  Salzburg,  das  alternierend  mit  Osterreich  das  Direktorium  im  FRO 
fiihrte,  spaterhin  auch  Bayern  und  Wurzburg.  In  der  Mitte  des  Jahres  1647  verlegte  der 
FRO  ausnahmsweise  seine  Sitzungen  (Sessiones  XLII  bis  XLV)  voriibergehend  ganz 
nach  Munster.  Die  zwecks  Protokollierung  mitgereisten  Sekretare  durften  hierihrerge- 
wohnten  Verrichtung  jedoch  nicht  nachgehen,  ihnen  wurde  bedeutet,  „daB  solches  sel- 
ben  ohrts  nicht  hergebracht,  auch  von  denen  evangelischen  nie  sey  begeret  worden", 
was  ihre  Herren  Prinzipalen  „umb  glimpfs  willen"  hinnahmen  (Teilbd.  3/4  Nr.  137:  No- 
tiz  der  Protokollanten). 

Nach  einer  intensiven  Beratungstatigkeit  des  FRO,  die  mit  der  Ubergabe  der  Beden- 
ken  der  drei  Reichsrate  zu  den  kaiserlichen,  schwedischen  und  franzosischen  Friedens- 
vorschlagen  am  27.  Apr.  1646  an  ein  gewisses  Ziel  gelangt  war  (Teilbd.  3/3  Nr.  121),  trat 
das  Gremium  bis  Ende  Sept.  1647  in  groBeren  zeitlichen  Abstanden  zusammen.  In  den 
22  Sitzungen  (Teilbd.  3/4)  standen  nunmehr  auf  der  Tagungsordnung  einzelne,  kaum  zu- 
sammenhangende  Themen,  die  den  FRO  lediglich  mit  Teilproblemen  von  unterschied- 
licher  Bedeutung  in  den  groBen  Gang  des  Friedensgeschafts  einbezog.  Von  den  wichti- 
geren  seien  hier  genannt:  Unterhalt  des  Reichskammergerichts  und  Sicherung  seiner 
Funktion  in  der  von  den  Franzosen  besetzten  Stadt  Speyer,  Exemtion  der  Stadt  Basel  und 
der  Schweizerischen  Eidgenossenschaft  von  derjurisdiktion  des  Reichskammergerichts 
(sparer  Art.  VI  IPO),  franzosische  Territorialsatisfaktion  in  Lothringen  und  im  Elsass 
(sparer  §§  70  und  73  IPM),  kaiserliche  und  schwedische  Entwiirfe  iiber  das  Reichsverfas- 
sungsrecht  der  Reichsstande  (spater  Art.  VIII,  1-4  IPO),  vor  allem  aber  die  pfalzische 
Restitution  (spater  Art.  IV,  2-19  IPO).  Die  „causa  Palatina"  implizierte  zwei  Kernfragen 
von  rechtlich  und  politisch  hoher  Tragweite:  Bestatigung  der  Ubertragung  der  pfalzi- 
schen  Kur  und  der  Oberpfalz  auf  Herzog  Maximilian  I.  von  Bayern  und  die  Wilhelmini- 
sche  Linie  der  Wittelsbacher  einerseits,  Errichtung  einer  achten  Kur  fur  und  Restitution 
der  Unterpfalz  an  Pfalzgraf  Karl  Ludwig  und  die  Rudolfische  Linie  andererseits.  Die 
weitlaufige,  z.T  auf  schriftliche  Voten  gestiitzte  Debatte  im  FRO  (Teilbd.  3/4  Nr.  129  u. 
131)  fiihrte  freilich  nur  zur  Bejahung  der  abstrakten  Frage,  ob  iiberhaupt  eine  achte  Kur 
zu  errichten  sei,  wahrend  die  Ausgestaltung  der  „particularitaten"  den  weiteren  Ver- 
handlungen  zwischen  den  Kaiserlichen  und  den  Kronen  Frankreich  und  Schweden  zu- 
geschoben  wurde.  Das  aus  den  zeitgleichen  Beschliissen  der  (Teil-)Kurien  zu  Osnabriick 
und  Munster  formierte  Reichsgutachten  wurde  durch  eine  Reichsdeputation  am  10. 
Apr.  1647  den  Kaiserlichen  und  am  13.  April  den  Schweden  iibergeben,  ob  auch  den 
Franzosen,  ist  unklar.  Die  pfalzische  Frage  war  jedenfalls,  nachdem  sich  im  August  des- 
selben  Jahres  die  genannten  Machte  geeinigt  hatten,  fur  den  FRO  kein  Thema  mehr. 

Im  letzten  Kriegsjahrtrieben  die  aktuelle  militarische  Lage  und  das  allgemeine  Elend 
in  den  vom  Kriege  heimgesuchten  Territorien,  „da  Teutschland  dreiBig  iahr  das  thea- 
trum  dieses  blutigen  krieges  gewesen"  (Teilbd.  3/5  S.  506),  die  Reichsstande  zu  groBten 
Anstrengungen,  die  noch  offenen  Streitpunkte  in  Verhandlungen  beizulegen.  Dies  ge- 
lang  im  Friihjahr  1648  in  einer  Reihe  wichtiger  Punkte  durch  Einzelvereinbarungen  zwi- 
schen Kaiserlichen,  Schweden  und  Vertretern  der  Osnabriicker  Reichsstande,  so  z.B. 
iiber  die  schwedische  Territorialsatisfaktion  (Art.  X,  1-16  IPO),  die  Gravamina  ecclesia- 
stica  (Art.  V  IPO),  die  Entschadigung  des  Hauses  Braunschweig-Liineburg  (Art.  XIII 


438  Besprechungen 

IPO)  -  Vereinbarungen,  die  nachher  inhaltsgleich  in  das  Osnabriicker  Friedensinstru- 
ment  iibernommen  wurden.  Voraussetzung  fiir  diese  hoffnungsvolle  Entwicklung  des 
Friedensprozesses  war  das  Ende  1647  sich  anbahnende  iiberkonfessionelle  Zusammen- 
wirken  friedenswilliger  und  verstandigungsbereiter  Reichsstande,  zu  denen  Kurmainz, 
Kurbayern,  Bamberg,  Wurzburg  auf  der  einen,  Kurbrandenburg,  Kursachsen,  Sachsen- 
Altenburg  und  Braunschweig-Liineburg  auf  der  anderen  Seite  gezahlt  werden  konnen. 
Doch  an  den  Fragen  der  Ausdehnung  der  allgemeinen  Amnestie  und  Restitution  (Art. 
IV,  51  ff.  IPO)  auf  die  kaiserlichen  Erblande  (Stichwort  fiirdiesen  Betreff:  §  „Tandem  om- 
nes",  =  Anfang  von  Art.  IV,  51  IPO)  sowie  der  Entschadigungsforderungen  der  Schwe- 
den  furihrMilitar  (Betreff:  „satisfactio  militiae")  und  derzeitlichen  Reihenfolge  ihrerEr- 
ledigung  schieden  sich  die  kaiserliche  und  die  schwedische  Seite  wieder  unversohnlich 
(23.  Apr.  1648).  Beide  Fragen  zugleich  kamen  deswegen  auf  Ansuchen  des  Corpus 
Evangelicorum  zur  Beratung  in  die  drei  Reichskurien,  und  genau  die  Fragen  sind  es,  die 
uns  als  Beratungsgegenstande  der  in  Teilband  3/5  dokumentierten,  nicht  mehr  durchge- 
zahlten  Sitzungen  des  FRO,  der  daruber  abgehaltenen  Re-  und  Correlationen  zwischen 
den  einzelnen  Osnabriicker  Reichskollegien  (vgl.  dazu  unten)  und  den  Plenarsitzungen 
begegnen.  Der  Behandlung  des  §"Tandem  omnes"  durch  die  Reichskollegien  hatte  der 
Kaiser  schon  im  Vorfeld  ihres  Zusammentritts  als  Eingriff  in  seine  "erbkoniglichen  und 
landesfiirstlichen  iura"  sein  striktes  Verbot  entgegengesetzt  und  die  der  schwedischen 
Militarsatisfaktion  zu  diesem  Zeitpunkt  abgelehnt.  Seine  am  ersten  Sitzungstag  des  FRO 
am  6.  Mai  1648  wiederholte  Intervention  war  wie  zuvor  vergeblich.  Das  bereits  am  zwei- 
ten  Sitzungstag  gefasste  Conclusum  der  drei  Osnabriicker  Kurien  (Teilbd.  3/5,  Nr.  146) 
konnte  freilich  keinerlei  MaBigung  in  den  kaiserlich-schwedischen  Standpunkten  erwir- 
ken.  Von  nun  an  beherrschte  das  Thema  der  schwedischen  Militarsatisfaktion  und  sei- 
ner Spezialfragen  (nachher  Art.  XVI,  8  IPO) ,  hierin  eingeschlossen  Fragen  der  Satisfak- 
tionsforderungen  fiir  die  kaiserliche  und  die  bayerische  Armeen  (Art.  XVI,  11  IPO),  des 
allgemeinen  Truppenabzugs  (Art.  XVI,  13  ff.  IPO)  u.a.  -  die  Komplexitat  der  Verhand- 
lungsmaterien  ist  hier  nicht  darstellbar  -,  die  dicht  aufeinander  folgenden  Beratungen 
und  Beschlusse  der  Osnabriicker  Reichsrate  bis  in  den  Juni  1648  hinein.  Ohne  Riick- 
sicht  auf  die  Teilkurien  in  Miinster  verhandelten  die  Osnabriicker  Reichsstande  direkt 
mit  den  schwedischen  Gesandten  Oxenstierna  und  Salvius,  besonders  angespannt  iiber 
die  von  den  Schweden  vorrangig  und  hartnackig  verlangte  Festlegung  der  Htihe  der 
schwedischen  Militarsatisfaktion.  Man  einigte  sich  schlieBlich  im  gegenseitigen  Nach- 
geben  und  unter  zahlreichen  Kautelen  auf  die  fiir  die  Reichsstande  nur  schwer  akzepta- 
ble  Summe  von  5  Millionen  Reichstaler.  Am  Ende  des  Editionszeitraums  kam  als  Ver- 
mittlerin,  aber  auch  mit  ihren  eigenen  Forderungen  die  franzosische  Seite  ins  Spiel,  de- 
ren  Hauptverhandlungsort  ja  eigentlich  Miinster  war,  wo  sich  allerdings  acht  Monate 
lang  nichts  bewegt  habe,  wie  sich  der  franzosische  Gesandte  Servien  gegeniiber  dem 
Reichsdirektorium  beklagte  (Teilbd.  3/5  S.  467).  Der  Plan,  die  Verhandlungen  nach  Os- 
nabriick zu  Ziehen,  scheiterte  am  Widerstand  des  Kaisers. 

Der  Fiirstenrat  Osnabriick,  wie  er  seit  dem  3.  Februar  1646  unter  dem  Direktorium 
Osterreichs,  alternativ  Salzburgs  tagte,  hatte  sich  bei  der  Beschlussfassung  sowohl  mit 
seiner  zu  Miinster  versammelten  Teilkurie  wie  mit  den  beiden  anderen  Reichskurien  ab- 
zustimmen.  Fiir  die  Zusammenfuhrung  der  „Meinungen"  derTeilrate  zu  Osnabriick  und 
Miinster,  fiir  die  „Konformierung"  der  jeweiligen  Beschlusse  der  drei  Kurien  unter  ein- 
ander  in  Re-  und  Correlationen  und  ihre  Ausarbeitung  zu  einem  „Reichsconclusum" 
(„Reichsbedenken",  „Reichsgutachten"),  kurz:  fiir  den  „modus  consultandi"  stand  ein 


Allgemeine  Geschichte  und  Landesgeschichte  439 

sehr  formalisiertes,  vom  Reichstag  iibernommenes  Verfahren  zur  Verfiigung,  das  indes- 
sen  die  Schwierigkeiten  der  Kommunikation  und  die  widerstreitenden  Interessen  der 
Parteiungen  je  langer  je  weniger  beheben  bzw.  ausgleichen  konnte.  Es  war  Aufgabe  des 
Kurmainzer  Reichsdirektoriums,  die  in  Anwesenheit  der  Gesandten  der  betreffenden 
Kurien  oder  ihrer  Deputierten  stattfindenden  Re-  und  Correlationen  zu  leiten,  die  Be- 
schliisse  des  Kurfiirstenrates  zu  referieren,  die  von  den  Fiirstenrats-  und  Stadteratsdirek- 
torien  vorgetragenen  Korreferate  anzuhoren  und  daraus  ein  Gesamtconclusum  zu  for- 
mulieren.  Insoweit  unterscheiden  sich  diese  an  ein  strenges  Sessionsschema  (abgebildet 
in  Teilbd.  3/3  S.  CXXXI)  gebundenen  (Plenar-)Sitzungen  von  denen  des  FRO  (Einzel- 
voten  der  Gesandten) ;  tatsachlich  konnten  die  Gremien  mehrmals  an  einem  Sitzungstag 
je  nach  Beratungsbedarf  zusammentreffen  und  sich  wieder  von  einander  trennen.  Wah- 
rend  im  Teilband  3/4  lediglich  eine  Re-  und  Correlation,  namlich  die  iiber  die  „causa  Pa- 
latina",  dokumentiert  ist,  sind  im  Verhandlungszeitraum  von  Teilband  3/5  die  Re-  und 
Correlationen  sehr  haufig  auf  der  Tagesordnung  -  dies  wiederum  ein  Beleg  fur  die  in 
1648  gewonnene  Eigenstandigkeit  des  Handelns  der  Osnabriicker  Reichsstande. 

Wer  die  vorliegenden  Protokolle  nach  ihrem  Ertrag  speziell  fur  die  niedersachsische 
Landesgeschichte  durchmustert,  wird  vielleicht,  vertrauend  auf  die  Tatsache,  dass  die 
welfischen  Furstentiimer  im  FRO  mit  vier  Stimmen  vertreten  waren,  zu  viel  erwarten. 
Mit  den  einschlagigen  Territorialveranderungen:  Erwerb  der  Herzogtiimer  Bremen  und 
Verden  durch  Schweden,  Entschadigung  Braunschweig-Liineburgs  mit  der  Osnabrii- 
cker Alternation,  ist  der  FRO  jedenfalls  in  dem  hier  dokumentierten  Zeitraum  nicht 
befasst  worden.  Allein,  man  darf  nicht  iibersehen,  dass  das  Herzogtum  Braunschweig- 
Liineburg  mit  seinen  drei  tiichtigen  und  angesehenen  Gesandten  eine  beachtliche  Mei- 
nungsmacht  im  FRO  besaB,  die  wohl  im  Stande  sein  konnte,  Gang  und  Ergebnisse  der 
Verhandlungen  in  der  einen  oder  anderen  Hinsicht  zu  beeinflussen.  Belege  hierfiir  lie- 
fern  die  vorliegenden  Protokolle  durchaus.  Derletztlich  relativbescheiden  ausgefallene 
braunschweig-luneburgische  Territorialgewinn  spricht  wiederum  fur  eine  andere  Beur- 
teilung,  doch  bedarf  das  sichernoch  dergenauen  Untersuchung.  Der  calenbergische  Vi- 
zekanzler  Dr.  Jakob  Lampadius  war  von  Beginn  des  Friedenskongresses  an  dabei,  ver- 
fiigte  jetzt  aber  nicht  mehr  iiber  die  Stimmen  der  anderen  welfischen  Fiirstentumer,  denn 
seit  1646  votierten  fur  Celle  samt  Grubenhagen  Dr.  Heinrich  Langenbeck  und  fur  Wol- 
fenbiittel  Lampadius'  Schwiegersohn  Dr.  Chrysostomus  Coler,  wobei  das  wechselseitige 
Einvernehmen  unter  ihnen  vermutlich  enger  war  als  das  mit  und  zwischen  anderen  Ge- 
sandten. Die  in  verschiedenen  Lebensbildern  (z.B.  Braunschweigisches  Biographisches 
Lexikon,  8.  bis  18.  Jh.)  ihnen  nachgeriihmten  besonderen  Leistungen  fur  Land  und  Lan- 
desherr  auf  dem  Friedenskongress  sind  dem  Rez.  bei  seiner  kursorischen  Durchsicht  in 
den  vorliegenden  Protokollen  nicht  besonders  aufgefallen.  Das  Hochstift  Hildesheim 
votierte  im  FRO  nur  dreimal  im  Marz  1646  durch  Dr.  Joachim  Stein,  wahrend  es  sonst  in 
Munster  von  dem  wegen  auBergewohnlicher  Stimmenkumulation  umstrittenen  Franz 
Wilhelm  von  Wartenberg,  Bischof  von  Osnabriick  usw.,  vertreten  wurde. 

An  der  Einrichtung  der  Edition  hat  sich  gegeniiber  den  Vorbanden  nichts  Wesentli- 
ches  geandert  (vgl.  daher  Nds.  Jb.  72,  2000,  S.  366).  Hinzugekommen  sind  (seit  Teilbd. 
3/4)  ein  Vorlaufiges  Personenregister  mit  den  Namen  der  vertretenen  Reichsstande  und 
deren  Gesandten  sowie  eine  Ubersicht  der  Voten  des  FRO  (seit  Teilbd.  3/3).  Hochst  zu 
loben  ist  aber  erneut  die  editorische  Leistung  der  Bearbeiterin  Maria-Elisabeth  Brunert. 
Es  sind  nicht  allein  die  Aufarbeitung  und  Ordnung  eines  immensen  Quellenstoffs,  abzu- 
lesen  an  den  am  Kopf  eines  jeden  Protokolls  aufgefiihrten  Quellennachweisen  und  den 


440  Besprechungen 

immer  wieder  beigefiigten  Textvarianten  aus  Paralleliiberlieferungen,  sondern  auch  die 
bis  in  entlegene  Zusammenhange  gefiihrte  inhaltliche  ErschlieBung  der  nur  schwer  aus 
sich  selbst  heraus  verstandlichen  Texte  durch  akribische  Sachkommentierung  in  den 
FuBnoten  und  durch  die  jeweils  vorausgeschickte  ausfiihrliche  und  fundierte  Einleitung 
der  Bearbeiterin,  die  der  Edition  einen  wohl  nicht  mehr  zu  iibertreffenden  Qualitats- 
stand  verschaffen.  Die  historische  Wissenschaft  kann  Band  fur  Band  mit  der  Gewissheit 
groBten  Nutzens  und  mit  dem  groBten  Dank  entgegennehmen.  Lediglich  als  kleine  Nor- 
gelei  mochte  es  nach  dieser  Referenz  der  Rez.  verstanden  wissen,  wenn  er  vermerkt,  dass 
in  derUbersicht  der  Voten  in  Teilband  3/4  einige  Protokolldaten  falsch  angegeben  sind. 
Nicht  hiermit  und  auch  nicht  mit  dem  kleinen  Lob  am  Rande,  dass  sich  nunmehr 
die  hierzulande  vertraute  Schreibweise  „Calenberg"  durchgesetzt  hat,  will  der  Rez.  en- 
den,  sondern  mit  der  Information,  dass  die  APW  auch  den  Weg  in  die  elektronische 
Medienwelt  gefunden  haben:  Eine  vollstandige  Textausgabe  der  Westfalischen  Frie- 
dens  vertrage  mit  allein  je  vier  deutschen  Ubersetzungen,  verschiedenen  Registern, 
Recherche-Moglichkeit  pp.  kann  im  Internet  unter  der  Adresse  www.apw.de  aufgeru- 
fen  werden. 

Wennigsen  Christoph  Gieschen 


Baltic  Connections.  Archival  Guide  to  the  Maritime  Relations  of  the  Countries  around  the 
Baltic  Sea  (including  the  Netherlands)  1450-1800.  Hrsg.  von  Lennart  Bes,  Edda  Fran- 
kot  und  Hanno  Brand.  Leiden:  Brill  2007.  Bd.  1:  Denmark,  Estonia  Finland,  Ger- 
many, XXXII,  S.  1-783;  Bd.  2:  Latvia,  Lithuania,  the  Netherlands,  XXV,  S.  784-1603; 
Bd.  3:  Poland,  Russia,  Sweden,  XXV,  1604-2320  S.  =  The  Northern  World  Bd.  36. 
Geb.  315,-  €. 

Jeder,  der  sich  mit  den  geopolitischen  Veranderungen  des  16.  und  17.  Jahrhunderts  fur 
Europa  befassen  und  dabei  den  Niedergang  der  Hanse  und  den  Aufstieg  Spaniens,  Eng- 
lands  und  der  Niederlande  ins  Auge  fassen  will,  ist  auf  ein  weitgespanntes  Quellenstudi- 
um  angewiesen.  Denn  die  Ostsee  als  nordosteuropaische  Drehscheibe  des  Handels  mit 
den  Rohstoffen  und  Halbfertigprodukten  des  Ostens  und  Nordens  sowie  dem  basalen 
Montangut  Salz  und  den  Fertigprodukten  des  Westens  und  Siidwestens  macht  insbeson- 
dere  seit  Mitte  des  15.  Jahrhunderts  eine  betrachtlicher  Wandlung  durch,  an  der  nicht 
nur  die  Anrainerterritorien  und  -stadte  beteiligt  waren,  sondern  die  ausgreifende  Wir- 
kungen  auf  viele  Lander  hatte.  Insofern  ist  die  Herstellung  eines  Hilfsmittels,  das  diese 
Wandlungen  quellenmaBig  erfassen  lasst,  von  groBer  Bedeutung.  Dass  die  Initiative  da- 
zu  von  niederlandischen  Archivaren  ausging,  macht  die  Beriicksichtigung  der  nieder- 
landischen  Uberlieferung  verstandlich,  erklart  jedoch  nicht  die  Ausblendung  Norwe- 
gens,Englands  und  Schottlands  aus  dem  Projekt;  denn  alle  drei  Lander  hatte  j a  auch  An- 
ted am  baltischen  Handel  und  insofern  an  den  „baltischen  Verbindungen". 

In  dem  Inventar  sollen  Bestande  erfasst  werden,  die  vor  allem  Schifffahrt,  Kaufleute 
und  Handelshauser,  Transaktionskosten  und  Handelsregulierungen  erfassen  lassen.  Es 
werden  -  nach  Landern  geordnet  -  einschlagige  Bestande  einzelner  Archive  kurz  be- 
schrieben,  wobei  der  Bestand  (record  group),  ein  Kurzinhalt  (abstract),  wichtigster  Ge- 
halt  (relevant  contents),  Zuganglichkeit  (accessibility),  Provenienz  (record  creator), 
Uberlieferungsgeschichte   (custodial  history),  verwandtes  Material  (related  material) 


Allgemeine  Geschichte  und  Landesgeschichte  441 

und  einschlagige  Veroffentlichungen  (publications)  angegeben  werden.  Die  Liste  der  er- 
fassten  Archive  und  Bibliotheken  ist  beeindruckend:  Danemark:  3;  Estland:  6;  Finn- 
land:  12;  Deutschland:  21;  Lettland:  1;  Litauen:  3;  Niederlande:  37;  Polen:  21;  Russland: 
6;  Schweden:  17. 

Dennoch  werden  mit  dem  Inventar  selbstverstandlich  nicht  alle  relevanten  Archive 
erfasst  -  was  wohl  auch  ein  Zeichen  fiir  unterschiedliche  Bereitschalt  ist,  an  dem  Projekt 
mitzuarbeiten.  So  bleiben  die  danischen  Landesarchive  z.B.  in  Aabenraa,  Viborg  oder 
Odense  unberiicksichtigt.  Fiir  Deutschland  diirften  die  relevanten  Archive  erlasst  sein  - 
ob  jedoch  alle  einschlagigen  Bestande  tatsachlich  beriicksichtigt  wurden,  bleibt  unklar. 
Das  Staatsarchiv  Hamburg,  dessen  Bestande  ich  ein  wenig  iibersehe,  hat  sieben  Bestan- 
de gemeldet,  darunter  aber  nicht  „Dispachewesen"  (1796-1904),  „Schonenlahrer"  (1401- 
1889)  und  „Bruderschalt  der  Schwarzenhaupter  aus  Reval"  (1418-1961),  die  alle  etwas 
zum  Thema  des  Inventars  beizutragen  hatten.  Ebenso  ware  wohl  auch  die  Reichskam- 
mergerichtsiiberlieferung  zu  nennen  gewesen,  wie  es  bei  Liibeck  und  Stade  geschehen 
ist  (ubrigens  mit  unterschiedlichen  Ubersetzungen  ins  Englische  -  „Imperial  Court 
Chamber"  und  „Supreme  Court  of  the  Reich").  Hierauf  hat  allerdings  das  Landesarchiv 
in  Schleswig  auch  nicht  geachtet. 

Die  Absicht,  einen  moglichst  guten  und  (bei  der  groBen  Uberlieferung)  moglichst 
tiefen  Uberblick  iiber  die  einschlagigen  Archivalien  zum  Thema  zu  bekommen,  ist  mit 
diesem  Inventar  ziemlich  gegliickt.  Fiir  jemanden,  der  nicht  „aus  der  Gegend"  stammt 
und  sich  fiir  seine  diesbeziiglichen  Forschungen  mit  viel  Miihe  in  die  vielfaltige  Uber- 
lieferung einarbeiten  muss,  stellt  das  Werk  eine  betrachtliche  Hilfe  dar.  Dass  im  Detail 
immer  noch  mal  genauer  nachgefragt  werden  muss,  wird  sich  bei  so  angelegten  Hilfs- 
mitteln  nie  ganz  vermeiden  lassen  -  zu  unterschiedlich  sind  die  Herangehensweisen 
der  einzelnen  Archivare  und  Archive.  Fiir  die  Erforschung  der  maritimen  Kontakte  un- 
terschiedlichster  Art  in  der  Ostsee-Region  der  Friihen  Neuzeit  konnte  sich  das  Inventar 
als  sehr  niitzliches  Informationsmittel  erweisen.  Den  Initiatoren,  Mitarbeitern  und 
Herausgebern  muss  man  fiir  diese  Arbeit  Respekt  zollen  und  den  Dank  der  Forschung 
aussprechen. 

Hamburg  Klaus-J.  Lorenzen-Schmidt 


Lorenz,  Maren:  Das  Rad  der  Gewalt.  Militar  und  Zivilbevolkerung  in  Norddeutschland 
nach  dem  DreiBigjahrigen  Krieg  (1650-1700) .  Koln:  Bohlau  Verlag  2007.  VIII,  434  S. 
Abb.  Geb.  57,90  €. 

Studien  zum  Verhaltnis  von  Soldaten  und  Zivilisten  in  der  Friihen  Neuzeit  erfreuen  sich 
in  den  letzten  Jahren  zunehmender  Beliebtheit  innerhalb  der  Fachwelt.  Dem  „Quellen- 
angebot"  folgend  sind  dabei  vor  allem  die  Garnisonsstadte  und  vorgelagerten  Orte  der 
Einquartierung  ins  Blickfeld  der  Friihneuzeit-Historiker  geraten.  Die  bislang  vor  allem 
auf  dem  Gebiet  kulturhistorischer  Studien  hervorgetretene  Privatdozentin  der  Universi- 
tat  Hamburg,  Maren  Lorenz,  widmet  sich  nun  in  ihrer  Habilitationsschrift  einem  Teil- 
phanomen  friihneuzeitlicher  Gewaltproblematik. 

Mit  ihrer  Studie,  die  gezielt  auf  den  unmittelbaren,  etwas  mehr  als  eine  Generation 
umfassenden  Zeitraum  nach  dem  Ende  des  DreiBigjahrigen  Krieges  gerichtet  ist, 
schlieBt  sie  eine  Liicke,  deren  Vorhandensein  angesichts  der  Vielfaltbisheriger  Arbeiten 


442  Besprechungen 

erstaunlich  scheint.  Den  Ausgangspunkt  der  Untersuchung  bildet  die  Annahme,  „dafj 
fortgesetztes  (kollektives)  gewaltsames  Verhalten  eine  grundlegende  Wirkung  auf  Moti- 
vation und  Handeln  derBetroffenen  (.  .  .)  hat"  (S.l).  In  diesem  Sinne  versteht  Maren  Lo- 
renz  ihre  Arbeit  als  „Beitrag  zur  Kulturgeschichte  der  Gewalt"  (S.ll).  Diesen  Vorausset- 
zungen  folgend  untersucht  die  Autorin  diverse  mentalitats-  und  kulturgeschichtlich  rele- 
vante  Aspekte  im  Verhaltnis  von  Zivilisten  und  Soldaten,  eingegrenzt  auf  den 
beschriebenen  Zeitraum  der  zweiten  Halfte  des  17.  Jahrhunderts  mit  einem  auf  die  nord- 
deutsch-schwedischen  Territorien  Bremen  und  Vorpommern  fokussierten  Blickwinkel. 

Nach  Einleitung  und  obligatorischem  Blick  auf  die  geopolitischen  und  sozio-militari- 
schen  Rahmenbedingungen,  in  denen  Maren  Lorenz  ihre  genaue  Kenntnis  von  Litera- 
tur-  und  Quellenlage  sowie  dem  fiir  ihren  Ansatz  relevanten  Theoriehintergrund  unter 
Beweis  stellt,  widmet  sie  sich  verschiedenen  Fragestellungen,  wie  dem  Zusammenhang 
von  Gewalt  und  Justiz,  den  unterschiedlichen  Auspragungen  physischer  Gewalt  sowie 
dem  eigentlich  interessanten  Grundproblem  der  Wahrnehmung  von  Gewalt  in  einer 
Gesellschaft,  deren  historischer  Nahbereich  von  Gewaltexzessen  gepragt  gewesen  ist. 

Die  Untersuchung  besticht  dabei  durch  eine  enorme  Vielzahl  von  Quellenbeispielen, 
diejeweils  umfangreich  zitiertund  bisweilen  mitzusatzlichen  Bildbelegen  dokumentiert 
werden.  Unklar  bleibt  indes,  warum  einige  der  Quellenbeispiele  in  den  Anhang  ver- 
bannt  wurden  und  nicht  direkten  Eingang  in  den  Haupttext  gefunden  haben.  Die  Analy- 
se der  einzelnen  Quellen  hingegen  ist  sicher  als  beispielgebend  fiir  den  Umgang  mit  ei- 
nem an  sich  erkenntnistheoretisch  problematischen  Verfahren  der  Auswahl  themenre- 
levanter  Quellen  aus  einer  unbekannten  Gesamtmenge  des  ehemals  vorhandenen 
Uberrests  zu  bewerten.  So  vermeidet  die  Autorin  die  Konzentration  auf  eine  von  der  em- 
pirischen  Sozialwissenschaft  entlehnte  und  auf  quantitative  Untersuchungsformen  und 
Statistiken  gerichtete  Analyse,  wie  sie  in  vielen  neueren  Studien  unter  Missachtung  epi- 
stemischer  Probleme  und  historiographischer  Standards  in  jungster  Zeit  -  etwa  in  den 
popularen  Arbeiten  Stefan  Krolls  -  modern  geworden  ist.  Vielmehr  widmet  sich  Maren 
Lorenz  den  einzelnen  Quellen  mit  einem  sehr  genauen  Blick  fiir  die  Details  der  Zusam- 
menhange  und  das  jeweilige  Entstehungsumfeld,  wobei  Sprache  und  Terminologie  der 
Aussagen  ebenso  Beachtung  finden,  wie  das  Schweigen  der  Quellen  in  bestimmten  Ge- 
waltzusammenhangen,  wie  etwa  der  Vergewaltigung  mannlicher  Opfer. 

Es  gelingt  auf  diese  Art,  dem  Betrachter  einen  guten  Einblick  in  die  Ablaufe  gewaltta- 
tiger  Vorgange  der  Friihen  Neuzeit  zu  gewahren.  Bemerkenswert  dabei  ist  die  Bandbrei- 
te  der  ausgeiibten  physischen  Gewalt  im  Umfeld  des  Begegnungsraumes  zwischen  Sol- 
daten und  Zivilisten  im  Nachlauf  eines  Krieges,  der  nach  30-jahriger  Dauer  die  gesell- 
schaftlichen  Bedingungen  verandert  hinterlassen  hatte.  Am  umfanglich  erhobenen 
Quellenmaterial,  das  in  Folge  der  breiten  Darstellung  auch  fiir  weitere  Studien  wertvoll 
sein  wird,  zeigt  Maren  Lorenz,  dass  neben  der  -  nahezu  als  „klassisch"  anzusehenden  - 
ausgeiibten  Repression  einquartierter  Soldaten  gegeniiber  ihren  unfreiwilligen  Gastge- 
bern  auch  eher  unerwartete  Gewaltakte  von  Soldaten  untereinander  und  von  Zivilisten 
gegeniiber  Soldaten  nachweisbar  sind.  Von  besonderem  Interesse  mag  hier  die  Rolle  der 
Frauen  -  sowohl  in  Form  der  zivilen  Quartierbewohnerinnen  als  auch  der  Soldatenfrau- 
en  -  erscheinen.  Die  Autorin  weist  anhand  zahlreicher  Protokolle  nach,  dass  diesen  eine 
weit  aktivere  Rolle  in  den  Konflikten  zukam,  als  man  sie  bei  einer  oberflachlichen  Be- 
trachtung  vermuten  wiirde.  Eskalierende  und  deeskalierende  Verhaltensweisen  wech- 
selten  dabei  und  hingen  von  den  unterschiedlichsten  Faktoren,  etwa  sozialem  Status,  Al- 
koholeinfluss  u.a.  ab. 


Allgemeine  Geschichte  und  Landesgeschichte  443 

Mitunter  indes  scheinen  einige  der  vorgebrachten  Folgerungen,  insbesondere  dort, 
wo  die  Autorin  von  der  dargestellten  Quellenbasis  abweicht,  zu  kurz  gegriffen.  Etwa 
wenn  die  Tatsache,  dass  bei  nordamerikanischen  Indianern  sexualisierte  Gewalt  im  Zu- 
sammenhang  mit  Kriegsziigen  nicht  vorkam,  als  ausreichende  Widerlegung  der  Exi- 
stenz  einer  anthropologischen  Konstante  in  dieser  Hinsicht  gewertet  wird  (S.  208). 

Eines  der  zentralen  Ergebnisse  der  Untersuchung  mag  sicher  auch  in  der  Erkenntnis 
liegen,  dass  an  vielen  ins  Blickfeld  genommenen  Orten  die  Gewalt  in  den  Nachkriegs- 
jahren  weit  starker  manifestiert  war,  als  in  den  Zeiten  des  eigentlichen  Kriegsgesche- 
hens.  Ob  hierin  jedoch  ein  Spezifikum  dernorddeutsch-schwedischen  Territorien  zu  se- 
hen  ist  oder  sich  diese  Ergebnisse  auch  in  anderen  Gebieten  validieren  lassen,  konnte  ei- 
ne  lohnenswerte  Fragestellung  fur  weitere  Studien  sein.  Insgesamt  handelt  es  sich  bei 
der  von  Maren  Lorenz  vorgelegten  Untersuchung  um  eine  quellengesattigte  und  an  Ein- 
zelergebnissen  reichhaltige  Arbeit,  deren  Beweisgange  anhand  der  dargestellten  Quel- 
len  stets  nachvollziehbar  bleiben.  Dahinter  zuriick  bleibt  allerdings  die  vergleichende 
und  zusammenfuhrende  Analyse  der  Teilergebnisse  in  kulturhistorischer  Sicht  und  ihre 
Einbindung  in  groBere  historische  Entwicklungen  innerhalb  einer  „Kulturgeschichte 
der  Gewalt". 

Hannover  MarkFEUERLE 


Die  Personalunionen  von  Sachsen-Polen  1697-1763  und  Hannover-England  1714-1837.  Ein 
Vergleich.  Hrsg.  von  Rex  Rexheuser.  Wiesbaden:  Harrassowitz  Verlag  2005.  VII, 
495  S.  =  Deutsches  Historisches  Institut  Warschau  Quellen  und  Studien  Bd.  18.  Geb. 
78,-  €. 

Der  vorliegende  Sammelband  umfasst  22  Beitrage,  die  bis  auf  eine  Ausnahme  auf  eine 
1997  in  Dresden  veranstaltete  Konferenz  zuriickgehen.  Die  1697geschlossene  Personal- 
union  zwischen  Sachsen  und  Polen  lieferte  damals  den  Anlass  fur  Forschende  aus  GroB- 
britannien,  Polen,  Deutschland  und  den  USA,  erneut  iiber  diese  fruhneuzeitliche  Form 
dynastischer  und  herrschaftlicher  Verbindung  nachzudenken. 

Der  inhaltliche  Schwerpunkt  des  Bandes  liegt  auf  der  Griindung  beider  Unionen  so- 
wie  der  Fortsetzung  iiber  einen  Thronwechsel  hinweg.  Dies  bedeutet,  dass  die  Personal- 
union  zwischen  Hannover  und  GroBbritannien  nur  bis  zum  Tode  Georgs  II.  bearbeitet 
wird  und  lediglich  an  einigen  wenigen  Stellen  die  Regierungszeit  Georgs  III.  und  der 
nachfolgenden  Welfen  thematisiert  werden.  Grund  dafiir  ist  u.a.  der  bereits  im  Titel  an- 
gefiihrte  Vergleich.  Die  Herausgeber  versuchen  durch  verschiedene  Vorgaben,  eine 
komparative  Herangehensweise  fruchtbar  zu  machen.  Neben  der  chronologischen  Ein- 
schrankung,  die  aufgrund  der  Vorgeschichte  der  Personalunion  zwischen  GroBbritanni- 
en und  Hannover  und  dertief  greifenden  Veranderungen  nach  derThronbesteigung  Ge- 
orgs III.  nicht  nur  arbeitstechnisch  sondern  auch  inhaltlich  gerechtfertig  werden  kann, 
sollen  fiinf  Leitthemen  dafiir  sorgen,  dass  sich  Ahnlichkeiten  und  Unterschiede  beider 
Verbindungen  deutlicher  abzeichnen.  Neben  (I)  der  Thronbesteigung  und  dem  Thron- 
wechsel dienen  (II)  Institutionen  und  Prozeduren,  (III)  Interessen  und  Ziele,  (IV)  der 
Hof  als  Schauplatz  und  Vermittler  sowie  (V)  die  Personalunion  als  Problem  des  Monar- 
chen  als  Orientierungspunkte  fur  gemeinsame  Fragestellungen.  AuBerdem  bietet  der 
Band  neben  zehn  Grundlagenkapiteln  zu  Sachsen-Polen  und  acht  Kapiteln  zu  Hanno- 


444  Besprechungen 

ver-GroBbritannien  in  einem  dritten  Teil  vier  Beitrage,  die  explizit  vergleichen  sollen. 

Diese  zuletzt  genannten  zumeist  recht  kurzen  Beitrage  kommen  dem  ambitionierten 
Ziel  der  Herausgeber  am  nachsten.  Wahrendjeremy  Black  beide  Personalunionen  in  ei- 
nen  groBeren  internationalen  und  chronologischen  Kontext  einordnet,  veranschaulicht 
Tim  Blanning  die  Spielraume  der  Monarchen  bei  der  Ausgestaltung  des  Hoflebens. 
Heinz  Duchhardt  formuliert  thesenhaft  vier  Aspekte,  die  fur  den  Erfolg  oder  Misserfolg 
einer  Personalunion  entscheidend  erscheinen:  Die  Konfessionsidentitat,  bzw.  -kongru- 
enz,  die  Sensibilitat  des  Monarchen,  die  Vorbehalte  des  Staates  gegenuber  der  dynasti- 
schen  Union  sowie  die  geopolitische  Position  der  betroffenen  Staaten  im  internationa- 
len Staatensystem.  Der  vergleichende  Beitrag  von  Jerzy  T.  Lukowski  zu  den  Institutio- 
nen  und  Prozeduren  verdeutlich  allerdings  ein  Problem  des  Bandes,  dass  namlich  die 
politischen  und  gesellschaftlichen  Voraussetzungen  nur  auf  einer  sehr  oberflachlichen 
Ebene  Analogien  aufweisen.  Ansonsten  unterschieden  sich  sowohl  die  vier  betroffenen 
Staaten  untereinander,  als  auch  die  Vorraussetzung  und  Umsetzung  der  jeweiligen  Ver- 
bindung  so  weitgehend,  dass  ein  Vergleich  alleine  die  Unterschiede  sichtbarer  macht. 

Die  Unterschiedlichkeit  der  beiden  Personalunionen  hat  auch  zur  Folge,  dass  kaum 
eines  der  achtzehn  Grundlagenkapitel  komparativ  angelegt  ist.  Stattdessen  wird  der  For- 
schungsstand  zu  den  Monarchen,  den  politischen  Systemen  und  der  Auswirkung  der 
Personalunionen  fur  Kunst  und  Architektur  zusammengefasst  und  debattiert.  Das  Kapi- 
tel  von  Graham  C.  Gibbs  zur  Thronbesteigung  Georgs  I.  ist  eines  der  besten  und  auch 
heute  noch  lesenswert.  Der  Beitrag  von  Brendan  Simms  zur  Bedeutung  Hannovers  fur 
die  britische  AuBenpolitik  liefert  die  originelle  These  von  Hannover  als  strategischem 
Vorteil  fur  GroBbritannien,  die  nicht  nur  in  dem  Beitrag  vonjeremy  Black  heftig  bestrit- 
ten,  sondern  in  den  vergangenen  Jahren  auch  ausfuhrlich  diskutiert  wurde.  In  den  Kapi- 
teln  zur  Union  zwischen  Sachsen  und  Polen  zeichnen  sich  deutlich  Unterschiede  und 
Kontroversen  in  den  nationalen  Interpretationen  ab.  Alina  Zorawska-Witkowska 
schreibt  beispielsweise  von  einem  gewaltigen  „Hiatus"  zwischen  deutschen  und  polni- 
schen  Interpretation  des  Mazenatentums  Augusts  II.  Aber  nicht  nur  national  gefarbte 
Debatten  konnen  identifiziert  werden.  Die  Erfolge  und  Misserfolge  der  Regierung  Au- 
gusts II.  werden  fiber  die  Landergrenzen  hinaus  unterschiedlich  interpretiert  und  bilden 
ein  wesentlicher  Bestandteil  des  Bandes.  In  diesem  Sinne  handelt  es  sich  hier  also  weni- 
ger  um  eine  vergleichende  Studie  als  um  den  Nachweis  fur  die  Lebendigkeit  der  historio- 
graphischen  Debatten  zu  den  beiden  Personalunionen. 

Die  Konferenz  schimmert  an  vielen  Stellen  noch  deutlich  aus  dem  Manuskript  her- 
vor.  Aubrey  Newmans  Beitrag  wurde  beispielsweise  ganzlich  ohne  Anmerkungen  als 
Vortragsmanuskript  abgedruckt.  Angefiihrt  werden  soil  in  diesem  Zusammenhang  auch 
der  lange  Zeitraum,  der  von  der  Veranstaltung  der  Konferenz  bis  zum  Erscheinen  des 
Bandes  verging.  Vier  der  Autoren  haben  ihre  Thesen  zur  Personalunion  mittlerweile  in 
umfangreichen  Monografien  ausgearbeitet,  erweitert  und  veroffentlicht.  Die  Forschung 
zu  dynastischen  Verbindungen,  die  bereits  1997  in  vielem  weiter  war,  hat  unter  dem 
Schlagwort  „composite  statehood"  zahlreiche  neue  Erkenntnisse  gewonnen.  Positiv  ge- 
wendet  kann  man  argumentieren,  dass  die  Konferenz  in  Dresden  einen  wichtigen  Aus- 
gangspunkt  fur  die  weitere  Forschung  zu  der  Verbindung  Sachsen-Polen  und  vor  allem 
Hannover-England/GroBbritannien  darstellte,  auch  wenn  die  Ergebnisse  der  Konferenz 
erst  jetzt  einer  breiteren  Offentlichkeit  zuganglich  gemacht  werden. 

Frankfurt  Torsten  Riotte 


Allgemeine  Geschichte  und  Landesgeschichte  445 

Saile,  Thomas:  Slawen  in  Niedersachsen.  Taix  westlichen  Peripherie  der  slawischen  Oku- 
mene  vom  6.  bis  12.  Jahrhundert.  Neumiinster:  Wachholtz  Verlag  2007.  295  S.  Abb.  = 
Gottinger  Schriften  zur  Vor-  und  Friihgeschichte  Bd.  30.  Geb.  50,-  €. 

Die  als  Gottinger  Habilitationsschrift  vorgelegte  Untersuchung  lenkt  unsere  Aufmerk- 
samkeit  nicht  nur  auf  die  landesgeschichtlich  seit  langem  und  immer  wieder  diskutierten 
Fragen  nach  dem  Anbeginn  und  der  Verbreitung  slawischer  Siedlungstatigkeit  sowie 
nach  deren  fruhen  politischen  und  verfassungsmaBigen  Strukturen  im  Ostteil  unseres 
Bundeslandes.  Auch  ihre  Thematik  verheiBt  lange  vermisste  archaologische  Stellung- 
nahmen  auch  zu  weiteren  Slavica,  u.a.  dem  viel  diskutierten  Rundlingsproblem.  Man 
darf  darauf  gespannt  sein,  kiindigt  Saile  doch  hoch  angesetzte  kritische  MaBstabe  an  ge- 
geniiber  fruheren  Arbeiten,  denen  er  nicht  immer  die  notwendige  Stringenz,  etwa  hin- 
sichtlich  Trennung  von  gesichertem  Wissen  und  MutmaBung,  zusprechen  zu  konnen 
vermeint. 

Eingangs  bemerkt  der  Leser  eine  Unstimmigkeit  des  im  Titel  bezeichneten  Untersu- 
chungsgebietes  Niedersachsen.  Weshalb  wurde  darin  nicht  der  tatsachlich  archaolo- 
gisch  behandelte  Gesamtbereich  bezeichnet,  namlich  auch  rechtselbische  Teile  von 
Mecklenburg-Vorpommern  und  Brandenburg  sowie  der  Altmark  in  Sachsen-Anhalt, 
sondern  nur  Niedersachen  allgemein?  Augenscheinlich  deckt  sich  das  vorgenommene 
Arbeitsgebiet  mit  dem  Forschungsfeld  des  seit  2004  betriebenen  Forschungsprojekts 
„Slawen  an  der  unteren  Mittelelbe".  Damit  bleiben  jedoch  tatsachlich  auch  von  Slawen 
sonst  bewohnte  Gegenden  Niedersachsens  unberiicksichtigt,  vor  allem  der  mit  gleichar- 
tigen  Rundlingsdorfern  und  slawischem  Namengut  reichlich  versehene  Nordostbereich 
von  Kr.  Gifhorn  zwischen  Ise  und  Ohre  und  ebenso  ahnliche  Vorkommen  vor  den  To- 
ren  Braunschweigs.  Verf.  wird  damit  weder  seiner  geographischen  Vorgabe  ganz  ge- 
recht  noch  der  Ankiindigung,  dass  sein  Arbeitsgebiet  auch  raumlich  nach  dem  „in  den 
relevanten  Disziplinen  (darunter  u.  a.  Namenkunde  und  genetische  Kulturlandschafts- 
forschung,  S.  43)  erreichte(n)  Kenntnisstand"  festgelegt  ist  -  anstatt  anscheinend  nach 
der  vorgefundenen  archaologischen  Fundverbreitung.  Den  Aussagewert  seiner  spateren 
Diskurse  um  das  Rundlingsproblem  vermag  dieses  durchaus  zu  beeintrachtigen. 

Es  ist  weiter  anzumerken,  dass  diese  aus  archaologischer  Blickrichtung  erarbeitete 
Untersuchung  nicht  genuin  basiert  auf  womoglich  neu  entdeckten  Fundstellen  oder  gar 
iiber  aktuelle  Ausgrabungsergebnisse  berichtet.  Vielmehr  setzt  sie  sich  in  einem  ersten 
Schritt  die  umfassende  Bestandsaufnahme  einschlagiger  Forschungsergebnisse  -  basie- 
rend  auf  Veroffentlichungen  und  Unterlagen  aus  der  Archaologie  selbst  sowie  auch  aus 
ihren  Nachbarfachern,  hier  hauptsachlich  Historie  und  Siedlungsgeographie,  -  zum 
Ziel.  Daraus  erwachst  eine  zusammenschauende  kritische  Erorterung  des  vorliegenden 
vielseitigen  Forschungsstandes  mit  der  augenscheinlichen  Absicht,  gleichsam  bilanzie- 
rend  ein  Bild  der  geschichtlichen  Situation  sowie  der  Siedlungslandschaft  wahrend  der 
„slawischen  Epoche"  in  der  Region  beiderseits  der  unteren  Mittelelbe  zu  entwerfen. 

Erganzend  dazu  werden  dem  Leser  Beispiele  von  Magnetprospektionen  als  neueres 
Verfahren  zur  zerstorungsfreien  Vorerkundung  grabungshoffigen  Gelandes  auf  16  aus- 
gewahlten  Fundplatzen  anschaulich  prasentiert.  Konkrete  Ergebnisse  im  Einzelnen 
oder  weiterfiihrende  Erkenntnisse  im  Allgemeinen  sind  aus  den  den  Magnetogrammen 
jeweils  beigefiigten  Interpretationskommentaren  weder  herzuleiten  noch  zu  Tage  ge- 
kommen.  Freilich  iiberzeugen  diese  als  niitzliche  Ansatze  bei  der  Disposition  womog- 
lich spaterer  Grabungen.  Ebenfalls  breiten  Raum  widmet  Verf.  theoretischen  Analysen 


446  Besprechungen 

der  Fundverhaltnisse  an  sich,  u.a.  dem  zeitlichen  Zustandekommen  des  Fundbildes  in 
Nordostniedersachsen,  der  Fundstellendichte,  der  Frage  von  Siedlungskontinuitaten 
etc.  Durchaus  anregend  und  bedenkenswert  erscheint  grundsatzlich  der  Versuch,  ein 
am  Geofaktorenbezug  bekannter  slawischer  Siedlungsplatze  orientiertes  Prognosemo- 
dell  fiir  die  potenzielle  Verbreitung  bzw.  Auffindung  noch  unbekannter  Fundstellen  zu 
entwickeln.  Wieweit  allerdings  die  aufwendigen  formalen  auch  rechnerischen  Bemii- 
hungen  dabei  wirklich  bahnbrechende  neue  Perspektiven  eroffnen  oder  in  ihrer  Ratio- 
nalitat  etwas  fern  der  landschaftlichen  Wirklichkeit  nicht  doch  zu  sehr  ins  Spekulative 
ausufern  konnten,  ist  hier  noch  nicht  abzusehen. 

Wahrend  unter  den  Hauptkapiteln  des  abbildungsmaBig  opulent  ausgestatteten  Ban- 
des  der  Abschnitt  2  „Voriiberlegungen"  mit  iiberwiegend  allgemein-fachlich  gehalte- 
nen  Ausfiihrungen  kaum  zur  konkreten  Thematik  beitragt,  gilt  die  Aufmerksamkeit  der 
Landesgeschichte  den  Betrachtungen  zum  „Historischen  Raumgeschehen"  (Merowin- 
ger-  und  Karolingerzeit  bis  zur  Ostsiedlung  des  12.  Jahrhunderts)  sowie  zur  Namenkun- 
de  und  zur  genetischen  Kulturlandschaftsforschung  im  3.  Hauptkapitel  „Quellen  und 
Datenbestand"  wohl  ganz  besonders  dem  Abschnitt  „Archaologischer  Quellenbe- 
stand".  Werden  hier  doch  als  Resultat  minutiosen  Studiums  von  Grabungsberichten 
und  Veroffentlichungen  die  einzelnen  Befundgattungen  dargelegt,  darunter  insbeson- 
dere  die  Ausgrabungen  und  Befunde  von  wendlandischen  Burgplatzen  unter  Beifiigung 
detaillierter  Kartenaufnahmen  -  eine  wahre  Fundgrube  nicht  nur  fiir  den  Regionalhis- 
toriker!  Hinsichtlich  der  Fundgattung  alt-  bis  spatslawischer  Siedlungen  eroffnet  deren 
mit  vier  Ubersichtskarten  (Abb.  37-40)  veranschaulichte  raumzeitlich  differenzierte 
Verbreitung  neue  aufschlussreiche  Einblicke  in  die  Siedlungslandschaft  und  ihre  Ent- 
wicklung  vor  der  Ostkolonisation  des  12.  Jahrhunderts.  Kontinuitaten  von  Siedlungs- 
platzen  werden  erkennbar,  und  ebenfalls  kartenmaBig  belegt  erscheinen  die  Bestat- 
tungsplatze.  Der  beachtliche  422  archaologische  Positionen  im  gesamten  grenziiber- 
schreitenden  Untersuchungsgebiet  umfassende  Katalog  im  Anhang  erschlieBt  dazu  als 
wertvolles  Bestandsinventarium  all  diese  slawischen  Fundplatze  und  ist  als  hilfreiche 
Ausgangsbasis  auch  fiir  fernere  historische  und  siedlungskundliche  Forschungen  in  der 
Slavica  hoch  einzuschatzen. 

Zu  einer  „Synopse  der  slawischen  Epoche  an  der  unteren  Mittelelbe"  (S.  176)  fiihrt 
den  Leser  das  4.  Hauptkapitel  „Strukturgeschichtliche  Interpretation"  mit  den  aus  kri- 
tisch  vergleichenden  Diskursen  erwachsenden  eigentlichen  Resultaten  des  Verfassers. 
Als  von  nahe  liegendem  historisch-landeskundlichem  Interesse  sei  hier  naher  eingegan- 
gen  auf  die  drei  zentralen  Themenkomplexe  Landnahme,  Burgen  und  Siedlungen  sowie 
schlieBlich  als  vierten  auf  das  als  gesonderter  Abschnitt  4.5  abgehandelte  „Rundlings- 
problem  aus  archaologischer  Sicht". 

Die  Landnahme  von  Slawen  bzw.  das  Einsetzen  von  deren  Siedlungstatigkeit  auf  nie- 
dersachsischem  Boden  westlich  der  Elbe  meint  Saile  hier  zuriickhaltend  argumentie- 
rend  und  iiberwiegend  gestiitzt  auf  die  zeitlich  weitraumig  vom  spaten  7.  bis  ins  letzte 
Drittel  des  9.  Jahrhunderts  problematisch  zu  datierende  Sukower  und  Feldberger  Sied- 
lungskeramik  „offenbar  erst  in  denjahrzehnten  um  800"  (S.  117,  224)  annehmen  zu  kon- 
nen,  d.h.  in  erheblicher  Abweichung  von  B.  Wachters  bisheriger  Einschatzung  im  6./7. 
Jahrhundert.  Dementsprechend  erteilt  er  der  von  onomastischer  Seite  auf  Grund  angeb- 
lich  alterer  Ortsnamen  gemutmaBten  germanisch-slawischen  Kontinuitat  eine  eindeuti- 
ge  Absage. 

Fiir  die  nur  acht  als  slawisch  angesehenen  Burgplatze  des  Wendlandes  deuten  sich  un- 


Allgemeine  Geschichte  und  Landesgeschichte  447 

einheitliche  Verlaufe  ihres  Bestehens  (z.  T.  bis  in  fruhdeutsche  Zeit)  an.  Auch  ihre  nurzu 
mutmaBenden  Funktionen  etwa  als  Zentren  zugehoriger  Siedlungskammern  oder  als 
Stiitzpunkte  an  bedeutenden  Altwegen  sowie  in  Jeetzelnahe  lassen  sich  kaum  zu  einem 
allseitig  schliissigen  Bild  zusammenfiigen.  Am  ehesten  gibt  es  dafiir  Ansatze  bei  der  Ver- 
dichtung  slawischer  Anlagen  im  elbnahen  Gebiet  gegeniiber  Lenzen.  Nicht  ein  flussque- 
render  Altweg  allein  wird  dort  allerdings  dafiir  Veranlassung  gegeben  haben,  sondern 
gleichermaBen  eine  damals  wohl  engere  Raumbeziehung  ins  Transelbische.  Noch  um 
800  umfloss  ja  einer  der  Elbarme  siidlich  den  Hohbeck.  Was  die  bekannte  Weinberg- 
burg  bei  Hitzacker  betrifft,  so  ist  zu  fragen,  ob  die  etwas  iiberzogen  wirkende  Kritik  des 
Verf.  an  B.  Wachters  Ausgrabungen  dort  zwischen  1965  und  1975  sowie  an  seinen  Be- 
fundinterpretationen  wirklich  gipfeln  muss  in  der  Forderung  nach  „eine(r)  erneute(n) 
Untersuchung  auf  dieser  wohl  bedeutendsten  slawischen  Fundstelle  Niedersachsens". 
Ungewiss  bleibt  somit  wohl  die  Zeit  ihrer  slawischen  Anfange,  deren  friiher  Ansatz 
(nach  Wachter)  im  6./7.  Jahrhundert  von  Saile  nachdriicklich  abgelehnt  wird. 

Weniger  spektakular  stellen  sich  die  nur  kleinteiligen  landlichen  slawischen  Siedlun- 
gen  als  Weiler  und  Einzelgehofte  an  sich  dar.  Wenn  darunter  auch  ein  relativ  hoher  An- 
teil  von  mittelslawischen  Platzen  (ausgehendes  9.  und  10  Jahrhundert)  fur  das  Wendland 
hervorgehoben  wird,  so  beanspruchen  demgegeniiber  jene  aus  der  spatslawischen  Zeit 
(11.  und  12.  Jahrhundert)  schon  deswegen  besondere  Aufmerksamkeit,  weil  sie  zeitlich 
an  die  fruhdeutsche  Siedelbewegung  des  12.  Jahrhunderts  heranreichen  konnen  und 
quasi  die  vorkolonisatorische  Siedlungslandschaft  widerzuspiegeln  vermogen.  Schwer- 
punktmaBig  verbreitet  findet  man  diese  nur  64  Stellen  auf  den  giinstigeren  Boden  im 
siidlichen  Wendland  sowie  amjeetzellauf  und  im  nordostlichen  Gebiet  an  der  Elbe.  Re- 
gionale  Kammerungen  mit  Orientierung  auf  Burgwalle  werden  nicht  deutlich,  mit  Aus- 
nahme  vielleicht  in  der  Hohbeckregion.  Wachters  friihere  Vermutung  einer  slawischen 
Aufsiedlung  des  siidlichen  Wendlandes  im  10.  Jahrhundert  bereits  unter  deutschem  Ein- 
fluss  erscheint  dadurch  eher  bestatigt  als  widerlegt. 

Betrachtet  man  das  weitschweifig  angelegte  Teilkapitel  fiber  das  Rundlingsproblem 
einmal  nur  unter  archaologischen  Belangen,  so  steht  im  Vordergrund  die  Frage  einer  sla- 
wisch-deutschen  Siedlungsplatzkontinuitat  auf  diesen  Dorfstellen  selbst.  Verf.  bestatigt 
durchaus  wiederholt,  dass  „aus  den  (.  .  .)  Siedlungskernen  der  Rundlinge  bis  heute  keine 
slawischen  Funde  vor(liegen)"  (S.  217).  Diese  bisher  nirgendwo  angetroffene  ethnische 
Kontinuitat  -  mit  ein  entscheidendes  Argumentationsfaktum  fur  deren  Neuanlage  als 
Plansiedlungen  der  friihen  Ostkolonisation!  -  versucht  er  nun  aber  hartnackig  herbeizu- 
reden,  mit  nicht  eben  stringenten  vagen  MutmaBungen  iiber  vorgeblich  erschwerte  Zu- 
ganglichkeit  der  fundverdachtigten  tieferen  Untergrundstratigraphie  dieser  Dorfer  in 
Folge  von  Aufschiittung,  Uberbauung,  ausstehender  Ortsgrabungen  u.a.m.  Unverstand- 
lich  weiter,  dass  Saile  hier  ein  seinen  Annahmen  entgegen  stehendes  wichtiges  Faktum 
ganzlich  ignoriert,  namlich  das  bei  Oberflachenabsuchungen  von  zahlreichen  Wiis- 
tungsplatzen  mit  gesichert  ehemaligem  Rundlingsgrundriss  bisher  regelmaBige  Aus- 
bleiben  slawischer  Keramik  -  u.a.  auch  im  wendlandischen  Untersuchungsgebiet  - 
(vom  Rez.  erneut  publiziert  im  Maxdorf-Buch  2006)!  Diese  Ergebnisse  stellen  die  Wahr- 
scheinlichkeit  seiner  unterstellten  slawisch-deutschen  Siedlungskontinuitat  in  Rundlin- 
gen  allerdings  in  hohem  MaBe  in  Frage.  Ihre  Erwartung  bleibt  wohl  Illusion,  solange 
nicht  solide  reale  Befunde  zu  Tage  kommen.  Auch  von  Seiten  der  Archaologie  wird  man 
dem  Resultat  emsiger  Feldarbeit  hier  wohl  mehr  zu  vertrauen  haben  als  der  spitzen  Fe- 
der  des  Diskurses. 


448  Besprechungen 

In  Verbindung  damit  zeigt  ein  Blick  auf  die  von  der  vorliegenden  Untersuchung  un- 
beachtet  gelassenen  Gebiete  von  Rundlingen,  slawischem  Namengut  etc.  wie  o.a.  im  Kr. 
Gifhorn  usw.,  dass  diese  Siedlungen  dort  mit  exakt  den  gleichen  auBeren  Merkmalen 
und  inneren  Strukturen  wie  an  der  unteren  Mittelelbe  auch  ohne  Anwesenheit  vorkolo- 
nisatorischer  Slawenbevolkerung  entstehen  konnten.  Vorkommen  slawischer  Keramik 
sind  allerdings  im  Gifhornschen  bisher  gar  nicht  zu  Tage  gekommen!  So  bleiben  die  seit 
dem  12.  Jahrhundert  hier  einsetzenden  reichlichen  Zeugnisse  slawischen  Volkstums  in 
diesen  Gebieten  weiterhin  nur  erklarbar  durch  das  Eintreffen  slawischer  Menschen  erst 
im  Zuge  der  Kolonisation  und  geben  entsprechende  Fingerzeige  auch  fiir  die  gleichzeiti- 
gen  Siedlungsvorgange  im  Wendland,  wo  Saile  die  Ansiedlung  weiterer  Slawen  nach 
den  Wendenkriegen  im  Zuge  der  Rundlingsansiedlung  mit  deutscherseits  zugefiihrten 
weiteren  slawischen  Menschen  in  Abrede  stellen  mochte.  Ob  jedoch  seine  durch  forma- 
le  Hochrechnung  geschatzten  noch  ca.  260  unentdeckten  slawischen  Siedlungsstellen 
im  Wendland  (S.  215)  -  als  unterstelltes  kryptes  autochthones  Bevolkerungspotential  - 
wirklich  realistisch  sind,  scheint  mehr  als  fraglich.  Nach  dem  aktuellen  Kenntnisstand 
von  64  (Kleinsiedlungs-)Platzen  kann  deren  Bevolkerung  bei  weitem  nicht  fiir  die  raum- 
greifende  dichte  Aufsiedlung  im  12.  Jahrhundert  ausgereicht  haben.  Migrationsprozes- 
se  werden  also  weiter  zu  erwagen  sein. 

Uberzeugend  hingegen  stellen  sich  angedeutete  genetische  Zusammenhange  zwi- 
schen  alteren  (auch  nichtslawischen)  Ansiedlungen  in  der  Nachbarschaft  von  Rund- 
lingsdorfern  (Abb.  1 1 7 f . )  und  deren  Aufgehen  darin  im  Zuge  der  Kolonisation  des  12. 
Jahrhunderts  dar.  Vergleichbare  Beispielsfalle  aus  dem  Gifhornschen  (Weyhausen)  so- 
wie  der  Altmark  legen  nahe,  dass  im  Umfeld  bereits  zuvor  lebende  Menschen  (neben 
den  wahrscheinlichen  Neuankommlingen)  in  das  Bauernvolk  der  neuen  Rundlinge  mit 
einbezogen  worden  sind.  Ob  es  in  jedem  Falle  Slawen  gewesen  sind,  bleibt  eine  Frage 
der  auch  nach  Saile  gegen  Ende  der  slawischen  Epoche  immer  schwerer  werdenden  Un- 
terscheidbarkeit  der  Keramik  von  Slawen  und  Deutschen  (S.  198).  Im  Untersuchungsge- 
biet  scheint  sich  ein  solcher  vergleichbarerFall  bei  dermagnetprospektierten  Fundstelle 
neben  (nicht  aufl)  dem  Sileitz-Flurstiick  von  Biilitz  (S.  134 ff.)  abzuzeichnen.  Sehr  ahnlich 
namlich  erweist  sich  die  Ausgangssituation  bei  den  aktuellen  Grabungen  im  altmarki- 
schen  Hohendolsleben,  wo  nun  jedoch  die  zuvor  als  slawisch  angenommene  Fundstelle 
vor  dem  Dorf  (Kat.  Nr.  138)  eher  als  deutsch  eingeschatzt  wird. 

Zusammenfassend  gesehen  bilanziert  die  breit  angelegte,  engagiert  kritik-  und  urteils- 
freudig  abgefasste  Studie  erstmalig  den  gesamten  archaologischen  Kenntnisstand  der 
Slavica  grenziiberschreitend  beiderseits  der  unteren  Mittelelbe  mit  Fokussierung  des 
nordostlichen  Niedersachsen,  besonders  des  rundlingsreichen  Wendlandes.  Durch 
Heranziehen  vielseitiger  nachbarfachlicher  Forschungspositionen  sowie  in  dem  Bemii- 
hen,  diese  in  ein  facherubergreifendes  koharentes  Gesamtbild  vom  archaologischen 
Standpunkt  aus  einzuordnen,  liefert  die  Arbeit  vielfaltig  anregenden  Diskussionsstoff 
und  fordert  so  gleichermaBen  zur  Uberpriifung  ihrer  eigenen  Resultate  wie  lange  ver- 
trauter  anderweitiger  Forschungsergebnisse  heraus,  z.  B.  des  hier  erneut  aufgegriffenen 
Rundlingsproblems.  Mit  umso  groBerer  Spannung  konnen  wir  daher  den  Ergebnissen 
des  aktuellen  landeriibergreifenden  und  DFG-geforderten  gemeinsamen  Forschungs- 
projekts  von  Archaologie,  Geschichte,  Geowissenschaften  und  Biologie  „Slawen  an  der 
unteren  Mittelelbe"  entgegen  sehen. 

Braunschweig  Wolfgang  Meibeyer 


Allgemeine  Geschichte  und  Landesgeschichte  449 

Schutz,  Ernst:  Die  Gesandtschaft  Grojibritanniens  am  Immerwahrenden  Reichstag  zu  Regens- 
burg  und  am  Kur(pfalz-)bayerischen  Hofzu  Miinchen  1683-1806.  Miinchen:  Verlag  C.H. 
Beck  2007.  LVII,  367  S.  =  Schriftenreihe  zur  bayerischen  Landesgeschichte  Bd.  154. 
Geb.  32,-€. 

Die  lange  Zeit  geschmahte  traditionelle  Politik-  und  Diplomatiegeschichte,  nach  den 
Worten  Jacques  Le  Goffs  „ein  Kadaver,  den  man  immer  wieder  toten  muss",  erfahrt  seit 
einigen  Jahren  eine  Neubewertung.  Angesichts  der  besonders  in  der  Fruhneuzeitfor- 
schung  zu  konstatierenden  Vernachlassigung  zentraler  historischer  Kategorien  wie 
Krieg  und  Frieden,  Macht,  Diplomatie  und  Volkerrecht  durch  eine  „neuere"  Sozial-  und 
Kulturgeschichte  ist  verstarkt  die  Behandlung  dieser  brachliegenden  Felder  angemahnt 
worden,  zuletzt  pointiert  von  den  Autoren  eines  2007  erschienenen  Sammelbandes  . 
Wie  sehr  die  Politik-  und  Diplomatiegeschichte  allerdings  mit  uberkommenen  Klischees 
behaftet  ist,  wird  daran  deutlich,  dass  ihre  neuen  Protagonisten  mehr  als  einmal  beto- 
nen,  ihr  Themenspektrum  nicht  auf  die  „Haupt-  und  Staatsaktionen"  reduzieren  und  - 
in  Zuriickweisung  der  polemischen  Definition  von  G.  M.  Young  -  nicht  referieren  wol- 
len,  „what  one  clerk  said  to  another  clerk".  Programmatisch  integriert  die  mit  neuem 
Selbstbewusstsein  auftretende  Politikgeschichte  in  ihre  Analyse  des  europaischen 
Machtesystems  der  Friihen  Neuzeit  sozial-,  mentalitats-  und  kulturgeschichtliche  Ansat- 
ze  und  sucht  auf  breiter  Quellenbasis  das  Feld  der  internationalen  Beziehungen  multi- 
perspektivisch  in  den  Blick  zu  nehmen. 

Dem  Konzept  einer  hermeneutisch  orientierten  Perzeptionsforschung,  die  sich  auch 
fur  die  Wahrnehmung  des  Gastlandes  durch  die  Diplomaten  und  die  Rahmenbedingun- 
gen  ihrer  Tatigkeit  interessiert,  ist  die  vorliegende,  an  der  Universitat  Eichstatt-In- 
golstadt  entstandene  Dissertation  verpflichtet,  die  am  Beispiel  der  Gesandtschaften 
GroBbritanniens  am  Reichstag  in  Regensburg  und  am  bayerischen  Hof  in  Miinchen  ein 
moglichst  umfassendes  Bild  der  Diplomatie  und  ihrer  Akteure  zeichnen  und  dabei  „vor- 
sichtig  alte  und  neue  Forschungsschwerpunkte  miteinander  verbinde[n]"  (S.  17)  will. 

Urspriinglich  unter  Karl  II.  im  Jahre  1683  nur  als  zeitlich  begrenzte  Vertretung  bei 
den  Waffenstillstandsverhandlungen  zwischen  Frankreich  und  dem  Reich  in  Regens- 
burg gedacht,  etablierte  sich  die  englische  Gesandtschaft  seit  1684  dauerhaft  beim 
Reichstag.  Die  Vertretung  in  Regensburg  hatte  zwar  nicht  das  gleiche  Gewicht  wie  die 
Gesandtschaften  in  den  Hauptstadten  der  groBen  europaischen  Machte,  bot  aber  die 
Moglichkeit  einer  schnellen  informellen  Kontaktaufnahme  mit  einer  Vielzahl  europai- 
scher  Staaten.  Nach  der  Glorious  Revolution  von  1688  betrieb  die  Vertretung  vor  allem 
die  Anerkennung  Wilhelms  III.  im  Konzert  der  europaischen  Staatenwelt  und  trug  ihren 
Teil  zur  Aufdeckung  jakobitischer  Umsturzplane  bei,  iiber  die  am  Reichstag  als  Nach- 
richtenborse  und  Geriichtekiiche  besonders  viele  Hinweise  zusammenliefen.  Insgesamt 
spielte  sie  neben  der  niederlandischen  Gesandtschaft,  durch  die  der  Oranier  hauptsach- 
lich  agierte,  allerdings  nur  eine  untergeordnete  Rolle.  Dies  anderte  sich  mit  Beginn  des 
Spanischen  Erbfolgekrieges,  dem  Thronwechsel  zu  Queen  Anne  und  der  sich  abzeich- 
nenden  hannoverschen  Sukzession.  Stand  bis  zum  Utrechter  Frieden  die  Bundnispolitik 
der  antibourbonischen  Allianz  im  Vordergrund,  so  war  die  Gesandtschaft  nach  1714  vor 
allem  ein  Instrument  der  Dynastiepolitik,  bei  der  der  Vertretung  die  Aufgabe  zukam,  der 


1    Hans-Christof  Kraus/ Thomas  Nicklas  (Hrsg.),  Geschichte  der  Politik.  Alte  und  neue 
Wege,  Miinchen  2007  (Beihefte  der  Historischen  Zeitschrift,  Neue  Folge  Bd.  44). 


450  Besprechungen 

neuen  Rolle  des  hannoverschen  Kurfiirsten  als  Konig  von  GroBbritannien  Anerken- 
nung  zu  verschaffen  und  erneuten  Umsturzplanen  der  exilierten  Stuarts  entgegenzuwir- 
ken.  In  der  Regierungszeit  Georgs  I.,  besonders  in  denjahren  1724  bis  1727,  erlebte  die 
britische  Vertretung  in  Regensburg  „eine  Phase  enormer  Tatigkeitsentfaltung",  mit  der 
sowohl  globale  Ziele  der  englischen  Politik  wie  die  balance  ofpowerah  auch  religionspoli- 
tische  Anliegen,  d.  h.  die  Starkung  des  Protestantismus  in  Europa,  verfolgt  wurden.  Un- 
ter  Georg  II.  ruhten  die  diplomatischen  Beziehungen  GroBbritanniens  zum  Reichstag 
fast  vollstandig,  erst  Georg  III.  reaktivierte  die  Gesandtschaft,  nun  jedoch  in  Form  einer 
Doppelvertretung  in  Regensburg  und  Munchen.  Trotz  des  erweiterten  Aufgabenspek- 
trums  und  trotz  der  strittigen  Frage  der  bayerischen  Erbfolge  stand  die  Doppelgesandt- 
schaft  nicht  im  Brennpunkt  europaischer  Politik,  sodass  sie  in  der  Regel  mit  wenig  erfah- 
renen  Botschaftern  besetzt  werden  konnte,  denen  Gelegenheit  gegeben  wurde,  dort  ihre 
Ausbildung  quasi  als  learning  by  doingzu  absolvieren.  Angesichts  fehlender  Institutionen 
fur  die  Diplomatenausbildung  gewannen  Regensburg  und  Munchen  eine  „Ausbildungs- 
platzfunktion  [.  .  .]  fur  die  britische  Diplomatic  im  18.  Jahrhundert"  (S.  292).  Die  man- 
gelnde  Auslastung  der  Vertretung  im  Bereich  zwischenstaatlicher  Politik  lieB  den  Ge- 
sandten  genugend  Zeit,  sich  mit  dem  Gastland  in  den  Bereichen  Wirtschaft,  Finanzen, 
Kultur  und  Militar  zu  befassen.  Die  diesbeziiglichen  Relationen  erlauben  einen  differen- 
zierten  Einblick  in  die  Wahrnehmung  Bayerns  und  des  Reichs  durch  die  Gesandten,  die 
ihrem  Gastland  in  einer  „ausgepragten  Negativhaltung"  gegeniibertraten  und  als  Vertre- 
ter  der  protestantischen  Weltmacht  „ein  quasi-missionarisches  SendungsbewuBtsein" 
vor  allem  gegeniiber  dem  als  riickstandig  betrachteten  katholischen  Teil  Deutschlands 
an  den  Tag  legten.  Im  ubrigen  zeigen  die  Relationen,  dass  von  derbritischen  Diplomatic 
das  Reich  schon  lange  vor  1806  als  ein  Anachronismus  betrachtet  wurde  und  sein  Ende 
kaum  iiberraschte,  was  der  Verfasser  zutreffenderweise  als  „kleinen  Beitrag  zur  Relati- 
vierung  der  Reichseuphorie"  (S.  293)  wertet,  die  in  den  letzten  beiden Jahrzehnten  in  der 
Historiographie  zu  konstatieren  war. 

Beachtung  verdienen  aus  niedersachsischer  Perspektive  die  von  Ernst  Schiitz  aufge- 
zeigten  Besonderheiten,  die  sich  aus  der  Doppelrolle  des  englischen  Monarchen  als  Ko- 
nig von  GroBbritannien  und  Kurfiirst  von  Hannover  ergaben.  Sowohl  das  Kurfiirsten- 
tum  als  auch  GroBbritannien  waren  mit  jeweils  einer  eigenen  Gesandtschaft  in  Regens- 
burg vertreten.  Obwohl  punktuell  eine  Zusammenarbeit  stattfand,  wurde  peinlichst  auf 
eine  strikte  Trennung  der  beiden  Vertretungen  geachtet.  Da  reichsstandische  und  aus- 
wartige  Gesandtschaften  am  Reichstag  unterschiedliche  Wirkungsfelder  und  Zugangs- 
moglichkeiten  besaBen,  sicherten  sich  die  britischen  Monarchen  nicht  nur  ein  breiteres 
Informationsspektrum,  sondern  verschafften  sich  auch  in  ihrer  Rolle  als  Kurfiirsten,  die 
exklusiv  iiber  die  Deutsche  Kanzlei  ihre  Relationen  erhielten,  einen  Informationsvor- 
sprung  vor  den  Londoner  Ministern.  Zum  anderen  war  die  strikte  Trennung  auch  des- 
halb  geboten,  weil  in  der  britischen  Offentlichkeit  (in  der  im  ubrigen  „eine  geradezu  ge- 
harnischte  Ignoranz  gegeniiber  den  Kurlanden  vorherrschte",  S.  193)  jeder  Eindruck 
vermieden  werden  sollte,  die  Konige  hatten  mehr  ihre  kontinentalen  Interessen  als 
Reichsstand  denn  das  Wohl  des  Empire  im  Blick. 

Der  detaillierten,  trotz  der  zugrundeliegenden  komplexen  politischen  Verstrickun- 
gen  gut  lesbare  diachronen  Darstellung  der  britischen  Doppelgesandtschaft  bis  zu  ih- 
rem Ende  im  Jahre  1806  folgt  ein  zweiter,  ebenso  umfangreicher  Teil,  der  sich  mit  Orga- 
nisation und  Funktionsweise  der  Gesandtschaft  befasst.  Thematisiert  werden  Herkunft 
und  Berufswege  der  Diplomaten,  das  Personal  in  den  diplomatischen  Vertretungen, 


Allgemeine  Geschichte  und  Landesgeschichte  451 

ihre  rechtliche  Stellung,  Fragen  der  Haushaltsfiihrung  und  Finanzierung,  Wege  der  In- 
formationsbeschaffung  und  die  Integration  der  Gesandten  in  die  Gesellschaft  vor  Ort. 
Ein  abschlieBendes  Kapitel  befasst  sich  mit  der  Wahrnehmung  des  Gastlandes  durch 
die  Diplomaten  und  mogliche  Ansatze  eines  Kulturtransfers;  letzterer  lasst  sich  aller- 
dings  kaum  nachweisen.  Die  Perzeption  des  Fremden  war  weitgehend  von  tief  verwur- 
zelten  Nationalstereotypen  gepragt,  die  teilweise  -  so  bei  der  Beurteilung  bayerischer 
Trinksitten  -  noch  von  Beschreibungen  der  germanischen  Volker  durch  Tacitus  gepragt 
waren. 

Kurzbiographien  derbritischen  Gesandten,  Sekretare,  Charges  d'affaires  und  Korres- 
pondenten  in  Regensburg  und  Miinchen  zwischen  1683  und  1806,  der  bayerischen  und 
kurpfalzer  Gesandten  in  London,  der  Vertreter  anderer  auswartiger  Machte  am  Reichs- 
tag und  am  kurbayerischen  Hof  sowie  der  Abdruck  mehrerer  Instruktionen,  Relationen 
und  Vertragsentwiirfe  erganzen  die  griindliche  Studie,  die  nicht  zuletzt  fur  die  Funkti- 
onsweise  der  Personalunion  zwischen  Kurhannover  und  GroBbritannien  wichtige  Ein- 
sichten  vermittelt. 

Hannover  Gerd  van  den  Heuvel 


Schulze,  Hans  K.:  Die  Heiratsurkunde  der  Kaiserin  Theophanu.  Die  griechische  Kaiserin 
und  das  romisch-deutsche  Reich  972-991.  Hannover:  Verlag  Hahnsche  Buchhand- 
lung  2007.  119  S.  Abb.  =  Veroff.  der  Niedersachsischen  Archivverwaltung  Sonderbd. 
Geb.  29,-€. 

Die  beruhmte  Theophanu-Urkunde  vom  14.  April  972  ist  das  prachtvollste  mittelalterli- 
che  Kaiserdiplom  auf  dem  Boden  des  heutigen  Bundeslandes  Niedersachsen.  Mehr  als 
140  cm  misst  der  Pergamentrotulus  in  der  Lange,  fast  40  cm  in  der  Breite:  eindrucksvoll 
schon  durch  seine  bloBe  GroBe.  Mit  goldener  Tinte  auf  purpur-  und  indigoeingefarb- 
tem  Pergament  ist  der  Text  in  einer  kalligraphisch  wirkenden  Minuskel  geschrieben:  in 
dieser  Farbkombination  ein  Stuck  von  hochstem  asthetischem  Reiz.  Die  beiden  Kaiser 
Otto  I.  (936-973)  und  Otto  II.  (973-983,  Mitkaiser  seit  967)  bestiitigen  darin  die  Ausstat- 
tung  der  Ehefrau  Ottos  II.,  der  byzantinischen  Prinzessin  Theophanu,  anlasslich  beider 
Vermahlung  in  Rom  durch  Papst  Johannes  XIII.:  auch  im  Umfang  der  fur  die  Braut 
vorgesehenen  Giiter  eine  herausragende  Beurkundung. 

So  nimmt  es  nicht  Wunder,  dass  diese  Urkunde  nicht  nur  2005  fur  das  UNESCO- 
Weltkulturerbe  nominiert  wurde,  sondern  dass  sie  auch  in  den  reichlich  drei  Jahrhun- 
derten  seit  ihrer  Entdeckung  in  der  Forschung  wieder  und  wieder  behandelt  worden  ist. 
Als  ihr  Entdecker,  der  Gandersheimer  Stiftsbibliothekarjohann  Georg  Leuckfeld,  1707 
den  Erstdruck  vorlegte,  zog  er  das  Interesse  von  Leibniz  auf  sich.  Theodor  Sickel,  wohl 
der  bedeutendste  Diplomatiker  des  19.  Jahrhunderts,  legte  1862  eine  lange  Zeit  hin- 
durch  als  autoritativ  geltende  Bewertung  der  Urkunde  vor,  aber  die  Diskussion  iiber  das 
Stuck  hielt  an,  immer  wieder  auch  durch  AnstoBe  aus  Niedersachsen  vorangebracht. 
Rudolf  Grieser,  Hans  Goetting,  Dieter  Matthes  und  Walter  Deeters  seien  genannt,  aber 
auch  der  Byzantinist  Werner  Ohnsorge  als  ihr  Gegenpart  und  der  Diplomatiker  Carlri- 
chard  Briihl  mit  seiner  umfassenden  Darstellung  mittelalterlicher  Purpururkunden 
iiberhaupt.  Die  1000.  Wiederkehr  des  Todesjahres  der  Theophanu  1991  bot  einen  weite- 
ren  Anlass,  sich  einmal  mehr  mit  diesem  Stuck  zu  beschaftigen,  das  seit  1980  in  einem 


452  Besprechungen 

prachtvollen  Faksimile  vorliegt  und  1984  schon  einmal  Gegenstand  einer  Veroffentli- 
chung  der  Niedersachsischen  Archivverwaltung  war. 

Hans  K.  Schulze,  emeritierter  Mittelalterhistoriker  der  Universitat  Marburg,  und  die 
Hahnsche  Buchhandlung  als  Verlag  stehen  also  in  einer  wissenschaftsgeschichtlich  be- 
deutenden  und  langen  Tradition.  Der  Autor  des  schmalen  Bandes  kann  deswegen  kaum 
Neues  beisteuern,  was  die  Urkunde,  ihre  Entstehungsumstande  und  die  Zeit  ihrer  Ent- 
stehung  angeht,  aber  das  ist  auch  nicht  sein  Ziel.  Stattdessen  wiederholt  er  Gesichertes, 
akzentuiert  Diskussionen  der  Forschung  und  nimmt  selbstbewusst  zu  Streitfragen  Stel- 
lung,  alles  das  aus  der  souveranen  Kenntnis  und  der  aktiven  Mitgestaltung  der  wieder  so 
lebhaft  gewordenen  Ottonenforschung  und  der  Diplomatik  des  vergangenen  Viertel- 
jahrhunderts. 

Schulze  nimmt  beide  Teile  des  Buchtitels  ernst:  Er  liefert  ebenso  eine  Biographie  der 
Kaiserin  einschlieBlich  der  Einordnung  ihrer  nur  schemenhaft  erkennbaren  Herkunft 
in  die  politischen  Verhaltnisse  der  Jahre  um  970,  wie  er  sich  zur  Theophanu-Urkunde 
selber  auBert.  Die  Ausfuhrungen  zur  Urkunde  bestechen  durch  die  klare  Sprache,  die 
umsichtige  und  einfuhlsame  Beschreibung  der  Urkunde  als  eines  Kunstwerkes  der 
(Buch-)Malerei  des  10.  Jahrhunderts,  dem  trotz  lang  anhaltender  Suche  keine  Paralle- 
len  an  die  Seite  gestellt  werden  konnen,  und  durch  die  klare  Aussage,  dass  es  sich  eben 
nicht,  wie  Sickel  annahm,  um  eine  nachtragliche  Prunkabschrift  handelt,  sondern  um 
die  urspriingliche  Form  der  anlasslich  der  Heirat  iibergebenen  Urkunde  (S.  39-41) :  „Fiir 
eine  Anfertigung  der  Heiratsurkunde  zu  einem  spateren  Zeitpunkt  gibt  es  kaum  wirk- 
lich  iiberzeugende  Argumente.  Zu  welchem  Zweck  und  aus  welchem  herausragenden 
Anlass  sollte  man  von  einer  gewohnlichen  Kanzleiausfertigung  diese  prunkvolle  Ab- 
schrift  gemacht  haben?"  (S.  39)  So  einfach  und  so  iiberzeugend  lassen  sich  feinziselierte 
und  immer  wieder  ohne  weiteren  Erkenntniszuwachs  diskutierte  Argumente  friiherer 
Forschung  beiseite  schieben!  Stattdessen  wird  deutlich  hervorgehoben,  was  in  friiheren 
Jahren  immer  wieder  schon  einmal  genannt  worden  war:  die  formale  Orientierung  an 
Stil  und  Aussehen  der  byzantinischen  kaiserlichen  Auslandsschreiben  (S.  35-38).  Ein 
letztes  Wort  wird  es  in  dieser  Kontroverse  vermutlich  nie  geben,  aber  die  Ausfuhrungen 
Schulzes  sind  nicht  nur  abgewogen,  sondern  haben  auch  alle  Wahrscheinlichkeit  auf  ih- 
rer Seite. 

Abgeschlossen  wird  der  Text  des  Bandes  durch  ein  ausfiihrliches  Regest  der  Ur- 
kunde, ihren  Text  und  eine  Ubersetzung  (durch  Dieter  Matthes)  (S.  89-95),  durch  eine 
umfassende  Dokumentation  der  reichen  Forschungsliteratur  zu  diesem  Themenkreis 
(S.  97-113)  sowie  durch  Stammtafeln,  die  auch  die  unterschiedlichen  Ansichten  iiber  die 
umstrittene  Herkunft  Theophanus  wiedergeben  (S.  114-117). 

Besonders  hervorzuheben  ist  die  Gestaltung  des  Buches  und  seiner  iiberwiegend  far- 
bigen  Abbildungen.  Die  Schwierigkeiten  dabei,  die  Theophanu-Urkunde  in  angemesse- 
ner  Weise  farblich  korrekt  wiederzugeben,  benennt  ein  knapper  Hinweis  des  Verlagslei- 
ters  derHahnschen  Buchhandlung,  Oliver  Waffender  (S.  10).  Die  Ergebnisse  derRepro- 
duktionstechnik  sind,  das  darf  man  ohne  alle  Einschrankung  sagen,  erstklassig,  sowohl 
in  den  Detailaufnahmen  als  auch  in  der  Gesamtsicht,  die  sich  als  letzte  Abbildung  ganz 
am  Ende  des  Bandes  befindet.  So  ist  es  einer  der  nicht  gering  zu  schatzenden  wesentli- 
chen  Effekte  des  Buches,  dass  eine  der  herausragenden  mittelalterlichen  Kaiserurkun- 
den  auch  als  Kunstwerk  von  herausragender  Qualitat  abgebildet  werden  konnte. 

Osnabriick  Thomas  Vogtherr 


Allgemeine  Geschichte  und  Landesgeschichte  453 

Wildt,  Michael:  Volksgemeinschaft  als  Selbstermachtigung.  Gewalt  gegen Juden  in  der  deut- 
schen  Provinz  1919  bis  1939.  Hamburg:  Hamburger  Edition  2007.  411  S.  Abb.  Geb. 
28,- €. 

In  den  letztenjahren  hat  sich  die  Forschung  zurnationalsozialistischenjudenverfolgung 
intensiv  mit  der  Frage  auseinandergesetzt,  wie  verbreitet  die  Kenntnis  von  den  Verbre- 
chen  gegen  die  Juden  unter  der  deutschen  Bevolkerung  gewesen  ist  und  in  wie  weit 
„ganz  normale"  Deutsche  in  sie  verwickelt  waren.  Dabei  stand  die  Zeit  der  Deportatio- 
nen  und  des  Massenmordes  an  der  jiidischen  Bevolkerung  in  den  Kriegsjahren  im  Mit- 
telpunkt  des  Interesses.  Zu  fragen  ist  allerdings  auch  nach  den  Gewaltakten,  die  sich 
nicht  wahrend  des  Krieges  irgendwo  „im  Osten",  sondern  vor  den  Augen  der  deutschen 
Offentlichkeit  abgespielt  haben:  vom  ,Judenboykott"  am  1.  April  1933  iiber  die  Gewalt- 
orgien  des  Sommers  1935  bis  zum  Novemberpogrom  1938.  Wie  kamen  die  judenfeind- 
lichen  Ausschreitungen  zustande?  Wie  hat  die  „ganz  normale"  Bevolkerung  auf  die 
Vorfalle  ,,vor  ihrer  Haustiir"  reagiert?  Wie  stark  war  sie  selbst  involviert? 

In  vielen  Darstellungen  zur  jiidischen  Regional-  und  Lokalgeschichte  konnte  man  zu 
dieser  Frage  schon  wichtige  Informationen  finden.  Auch  Michael  Wildt  hat  zu  diesem 
Thema  bereits  einige  Aufsatze  veroffentlich  und  stellt  nun  seine  Forschungsergebnisse 
gebundelt  vor.  Im  Zentrum  seines  Interesses  steht  die  Judenverfolgung  „von  unten"  in 
den  Jahren  1933  bis  zum  Kriegsbeginn  1939.  Nicht  nach  Meinungen  und  Einstellungen 
der  Bevolkerung  wird  gefragt,  sondern  nach  ihrem  Verhalten  in  lokalen  Gewaltaktionen 
gegen  Juden,  ferner  nach  der  Funktion  dieser  Gewaltaktionen  fur  die  staatliche  Judenpo- 
litik  und  fur  die  Umwandlung  der  biirgerlichen  Zivilgesellschaft  in  eine  rassistische 
„Volksgemeinschaft". 

Wildt  verkniipft  in  seiner  Arbeit  theoretisch-systematische  Analysen  mit  einem  chro- 
nologischen  Uberblick  iiber  die  Entwicklung  antisemitischer  Gewalt  vom  Ende  des  Ers- 
ten  Weltkriegs  bis  1939.  Ausgangspunkt  ist  das  gesellschaftliche  Konzept  der  „Volksge- 
meinschaft",  wie  es  sich  seit  Beginn  des  Ersten  Weltkriegs  in  Deutschland  entwickelte, 
und  speziell  seine  volkisch-nationalsozialistische  Ausformung  als  Gegenprinzip  zur 
rechtsstaatlichen  Demokratie.  Darauf  folgt  die  Beschreibung  derjudenfeindlichen  Aus- 
schreitungen in  der  Weimarer  Republik  sowie  der  Zasur  des Jahres  1933  mit  der  Boykott- 
aktion  vom  1.  April.  Ein  entscheidendes  und  bislang  zu  wenig  beachtetes  Aktionsfeld  fiir 
die  Etablierung  des  NS-Konzepts  der  „Volksgemeinschaft"  sieht  Wildt  in  der  deutschen 
Provinz,  wo  die  Boykotte  auch  nach  ihrem  offiziellen  Ende  weitergefiihrt  wurden.  In  die- 
sen  und  weiteren  Gewaltaktionen  habe  sich  den  Nationalsozialisten  eine  „Politikarena" 
geboten,  auf  der  erfolgreich  die  politische  Ordnung  vor  Ort  umgewandelt  werden  konn- 
te. Die  „Rassenschande"-Umziige  und  Aktionen  gegen  „Judenfreunde"  des  Jahres  1935 
beschreibt  Wildt  als  Ausdruck  des  sich  bereits  im  Vorgriff  auf  gesetzliche  Regelungen 
etablierenden  rassistischen  „Volksrechts".  Im  Pogromjahr  1938  sei  endgiiltig  die  Rechts- 
ordnung  zugunsten  einer  Gewaltordnung  zuriickgedrangt  worden,  die  eine  Vorausset- 
zung  fiir  den  geplanten  Krieg  um  „Lebensraum"  bildete. 

Wildt  will  den  Blick  gezielt  auf  die  Entwicklung  in  den  vielen  Dorfern  und  kleinen 
Stadten  abseits  der  urbanen  Zentren  richten.  1933  wohnte  immerhin  noch  ein  Fiinftel 
der  deutschen  Juden  in  Gemeinden  mit  weniger  als  20.000  Einwohnern.  Hier  lebten  sie 
in  iiberschaubaren  Verhaltnissen,  waren  als  Juden  allgemein  bekannt  und  einer  starken 
sozialen  Kontrolle  ausgesetzt.  Boykott-  und  Anprangerungsaktionen  mussten  sich  unter 
diesen  Umstanden  besonders  gravierend  auswirken  und  wurden  zudem  von  auslandi- 


454  Besprechungen 

schen  Beobachtern  nicht  so  leicht  bemerkt  wie  in  den  groBen  Stadten.  So  war  es  kein 
Wunder,  dass  viele  jiidische  Einwohner,  vor  allem  die  jiingeren,  angesichts  ihrer  zuneh- 
mend  aussichtslosen  Lage  versuchten,  in  den  deutschen  GroBstadten  „unterzutauchen", 
wenn  sie  nicht  gleich  ins  Ausland  fliichteten. 

Angesichts  der  iibersichtlicheren  Verhaltnisse  in  der  Provinz  sieht  Wildt  die  Moglich- 
keit,  hier  die  „Herstellung"  der  Volksgemeinschaft  viel  deutlicher  zu  erkennen  als  in  den 
GroBstadten.  Erwill  keine  fur  die  deutsche  Provinz  representative  Auswahl  von  Gewalt- 
akten  vorzustellen,  sondern  wahlt  eine  exemplarische  Perspektive,  die  „Transformati- 
onsprozesse  und  Gewaltpraktiken  erhellen  soil"  (14) ,  ohne  diesen  Ansatz  naher  zu  prazi- 
sieren.  Als  regionale  Schwerpunkte  benennt  er  „moglichst  unterschiedliche"  Regionen 
Deutschlands:  das  „protestantische"  OstpreuBen,  das  „katholische"  Rheinland,  das  „pe- 
ripher  gelegene"  Ostfriesland,  das  „zentrale"  Hessen,  das  „von  der  Arbeiterbewegung 
gepragte"  Ruhrgebiet  und  das  „eher  von  der  Kirche  bestimmte"  Bayern  (22).  Dies  soil 
verhindern,  Besonderheiten  einer  Region  zu  verallgemeinern.  Abgesehen  von  der  pau- 
schal-banalen  Charakterisierung  der  Regionen  stellt  sich  bei  der  weiteren  Lektiire  aber 
heraus,  dass  fur  die  Auswahl  der  Beispiele  offensichtlich  weniger  eine  bewusste  raumli- 
che  Schwerpunktsetzung  bedeutend  war,  als  das  Vorfinden  besonders  eklatanter  Falle 
in  der  Literatur  und  dem  herangezogenen  Quellenmaterial.  Regionen  mit  ausfuhrlich 
vorgestellten  Fallbeispielen  sind  Hessen  und  Ostfriesland  (Emden,  Norden,  Jemgum). 

Im  Vergleich  zu  den  ebenfalls  quellengesattigten,  aber  doch  eher  summarischer  Dar- 
stellungen  des  judenfeindlichen  Terrors  „von  unten"  etwa  bei  Bankier  und  Longerich 
geht  Wildt  ins  Detail  und  verdeutlicht  so  das  ganze  AusmaB  an  barbarischem  Verhalten 
gegenuber  den  jiidischen  Mitbiirgern.  Er  liefert  dichte  Beschreibungen,  wie  sie,  aller- 
dings  verstreut,  auch  bereits  in  lokalen  und  regionalen  Studien  zur  Geschichte  derjuden 
zu  finden  sind.  Er  wertet  diese  Literatur  und  Nachschlagewerke  wie  das  neue  „Histori- 
sche  Handbuch  der  jiidischen  Gemeinden  in  Niedersachsen  und  Bremen"  intensiv  aus, 
kann  deren  Ergebnisse  aber  durch  Riickgriff  auf  den  in  den  letzten Jahren  stark  erweiter- 
ten  Fundus  verfiigbarer  Quellen  durchaus  noch  erganzen.  So  nutzt  Wildt  besonders  die 
Akten  des  Centralvereins  deutscher  Staatsbiirger  jiidischen  Glaubens  mit  zeitgenossi- 
schen  Darstellungen  aus  der  Sicht  der  jiidischen  Gewaltopfer,  das  von  Otto  Dov  Kulka 
und  Eberhard Jakel  editierte  Quellenwerk  „DieJuden  in  den  geheimen  NS-Stimmungs- 
berichten"  und  die  „Deutschland-Berichte"  des  Exilvorstands  der  SPD  (SOPADE).  Eine 
wichtige  Rolle  spielt  auch  das  uberlieferte  Fotomaterial.  Auf  die  Problematik  des  wis- 
senschaftlichen  Umgangs  mit  diesen  Quellen  geht  Wildt  nur  kurz  ein. 

Unterbrochen  wird  die  Darstellung  der  antisemitischen  Gewaltwellen  von  Abschnit- 
ten,  in  denen  es  um  Begriffsklarung  und  historische  Einordnung  geht,  wobei  aber  auch 
viel  Bekanntes  referiert  wird.  So  zu  den  Themen  Boykott  und  Pogrom,  zur  Geschichte 
der  Ehrenstrafen,  zum  „Doppelstaat"  Ernst  Fraenkels  usw.  Das  mag  hilfreich  fur  den  the- 
matisch  weniger  informierten  Leser  sein;  zur  systematischen  Ausarbeitung  von  Wildts 
Ansatz  zur  Entwicklung  und  Bedeutung  antisemitischer  Gewalt  im  „Dritten  Reich"  tra- 
gen  diese  Exkurse  jedoch  nur  wenig  bei. 

Im  Gegensatz  zu  anderen  Darstellungen  und  auch  zu  den  zeitgenossischen  Stim- 
mungsberichten  stellt  Wildt  die  grob  polarisierende  Einteilung  in  NS-Aktivisten  und 
„Bevolkerung"  in  Frage.  Sie  verhindere  es,  unterschiedliche  Grade  der  Beteiligung  an 
den  gewalttatigen  Ubergriffen  zu  erkennen.  Der  Autor  will  zeigen,  dass  der  Kreis  der  Ge- 
waltakteure  und  ihrer  offentlichen  Unterstiitzer  deutlich  iiber  den  radikal-aktivistischen 
Fliigel  der  NSDAP  und  ihrer  Unterorganisationen  hinaus  ging.  Er  kann  diese  These  aber 


Allgemeine  Geschichte  und  Landesgeschichte  455 

anhand  des  von  ihm  verarbeiteten  Quellenmaterials  einschlieBlich  der  abgedruckten 
Fotos  nicht  hinreichend  erharten.  Die  von  ihm  vorgestellten  Fallbeispiele  sprechen  viel- 
mehr  dafiir,  dass  Initiative  und  Durchfiihrung  vor  Ort  doch  durchweg  in  der  Hand  von 
NS-Aktivisten  lag. 

Entscheidend  fur  die  Wirkung  der  Gewaltaktionen  war,  dass  sie  in  aller  Offentlichkeit 
stattfanden  und  alle  Menschen,  die  damit  in  Bertihrung  kamen,  in  das  Geschehen  ein- 
bezogen.  1933  gab  es  noch  vereinzelte  offentliche  Zuriickweisungen  der  Gewalt;  in  den 
folgenden  Jahren  haben  die  Zuschauer  durch  ihr  Gewahren  lassen  dem  Rechtsbruch 
erst  zu  seinem  Erfolg  verholfen.  Ob  sie  das  Geschehen  distanziert  (oder  auch  erschro- 
cken?)  betrachteten  oder  die  Akteure  feixend  und  klatschend  antrieben  -  die  Zuschauer 
waren  wesentlicher  Bestandteil  und  damit  letztlich  Komplizen  der  offentlichen  Insze- 
nierungen.  Dieser  Argumentation  ist  grundsatzlich  zuzustimmen,  doch  bleibt  die  Frage, 
ob  Wildt  die  Moglichkeit,  nach  1933  in  derartigen  Situationen  noch  Widerspruch  zu 
leisten,  nicht  iiberschatzt,  wenn  er  den  Mangel  an  Zivilcourage  beklagt  und  in  merkwiir- 
diger  Formulierung  von  einem  „Verneinen  der  eigenen  moralischen  Urteilsfahigkeit"  so- 
wie  einer  „erstaunliche(n)  Unbekiimmertheit  gegeniiber  den  Gefahrdungen  der  eigenen 
personlichen  Integritat"  spricht  (9 f.) .  Man  denke  hier  an  den  gegen  „Judenfreunde"  und 
,Judenknechte"  ausgeiibten  Terror  und  an  die  parallel  zu  den  judenfeindlichen  Aktio- 
nen  laufenden  Kampagnen  gegen  die  konservativ-biirgerliche  „Reaktion"  und  die  ka- 
tholische  Kirche.  So  bleibt  der  bisherige  Forschungsstand,  dass  zwar  ein  zunehmender 
Teil  der  Bevolkerung  gesetzliche  Einschrankungen  der  Lebensbedingungen  der  Juden 
forderte  oder  zu  akzeptieren  bereit  war,  die  groBe  Masse  aber  gewalttatige  Ubergriffe 
„von  unten"  ablehnte,  von  Wildts  Argumentation  unberiihrt. 

Dennoch  hatten  die  Gewaltaktionen  eine  erhebliche  offentliche  Wirkung.  In  ihnen 
wurde  die  von  den  Akteuren  erwartete  Verscharfung  der  Judenpolitik  schon  praktisch 
vorweg  genommen  und  die  rechtsstaatliche  Ordnung  immer  deutlicher  unterminiert. 
Die  Aktionen  vergroBerten  die  soziale  Distanz  zu  den  jiidischen  Mitbiirgern  und  stigma- 
tisierten  jegliche  Solidaritat  mit  ihnen.  Umstritten  ist  allerdings,  in  wie  weit  die  nichtjii- 
dischen  Zeitgenossen  noch  zu  Mitgefiihl  gegeniiber  den  Opfern  in  der  Lage  waren  oder 
sich  eher  indifferent  verhielten  und  nur  das  eigene  Fortkommen  und  den  eigenen  Nut- 
zen  vor  Augen  hatten. 

Wildt  sieht  es  als  Tatsache  an,  dass  in  den  ortlichen  Aktionen  standig  und  eigen- 
machtig  der  von  der  NS-Fiihrung  gesteckte  Rahmen  iiberschritten  wurde,  und  erkennt 
darin  eine  „Selbstermachtigung"  der  Gewalttater.  Sicherlich  trifft  es  zu,  dass  die  Mog- 
lichkeit zur  unsanktionierten  offentlichen  Gewaltausiibung  gegen  die  wehrlosen  Juden 
und  ihr  Eigentum  den  Akteuren  ein  Gefiihl  der  Macht  verlieh.  Doch  die  Akteure  han- 
delten  eben  nicht  aus  eigener  Starke,  durch  „Selbstermachtigung",  sondern  waren 
durch  Teile  der  NS-Fiihrung  animiert  und  „ermachtigt"  mit  dem  Ziel,  durch  den  insze- 
nierten  „Volkszorn"  eine  weitere  Verscharfung  der  judenfeindlichen  Politik  anzustoBen 
und  zu  legitimieren.  In  diesem  Zusammenhang  kommt  die  anstiftende  Rolle  der  NS- 
Presse  bei  Wildt  deutlich  zu  kurz.  Die  Akteure  nutzten  den  Spielraum  so  weit  aus,  wie 
es  nach  ihrer  Ansicht  dem  „wahren"  Willen  der  Parteifiihrung  entsprach,  aber  vorlaufig 
-  vor  allem  aus  auBenpolitischen  Riicksichtnahmen  -  offiziell  von  ihr  nicht  vertreten 
werden  konnte. 

Wildt  spricht  dagegen  (Longerich  kritisierend)  von  einer  kurzsichtigen  Annahme  der 
Regimefiihrung,  die  Kontrolle  fiber  die  Aktionen  behalten  und  sie  nach  Belieben  ein- 
und  wieder  ausschalten  zu  konnen.  Dieser  Trugschluss  habe  ein  „Dilemma  der  eigenen 


456  Besprechungen 

Gewaltpolitik"  (281)  herbeigefiihrt.  Das  Dilemma  staatlicher  Instanzen  angesichts  der 
Infragestellung  ihres  Gewaltmonopols  ist  offensichtlich,  wie  die  Klagen  iiber  den  Auto- 
ritatsverlust  der  Polizei  in  den  Gestapo-Berichten  zeigen.  Aber  handelte  es  sich  auch  um 
ein  Dilemma  der  Parteifiihrung,  eine  Gefahr  fur  das  Regime?  Auch  Wildts  zentrale  The- 
se, dass  in  den  antijudischen  Gewaltaktionen  die  „Volksgemeinschaft"  Gestalt  angenom- 
men  habe  oder  die  Aktionen  zumindest  die  „Wirklichkeit  der  Volksgemeinschaft,  wenn 
auch  zeitlich  und  raumlich  begrenzt",  vorweggenommen  hatten  (374),  wird  von  ihm 
nicht  stringent  entwickelt.  Zutreffend  ist  wohl  eher  die  Auffassung,  dass  der  Antisemitis- 
mus  zwar  fur  die  Parteianhangerschaft  eine  integrative  Funktion  gehabt  habe,  nicht  aber 
fur  das  Gros  der  Bevolkerung.  Von  einer  „Selbstermachtigung"  der  „Volksgemeinschaft" 
bzw.  einer  „Volksgemeinschaft  als  Selbstermachtigung"  kann  keine  Rede  sein,  erst  recht 
nicht  von  einem  imaginaren  „nationalsozialistischen  Volk",  dass  sich  in  Gewaltaktionen 
gegen  Juden  als  „politischer  Souveran"(!)  realisierte  (374).  Die  Neigung  des  Autors  zu 
flott  formulierten  Schlagzeilen  ohne  eigentliche  Substanz  mindert  leider  den  Wert  der 
sonst  anspruchsvollen  Untersuchung.  Die  Lektiire  ist  dennoch  auBerordentlich  anre- 
gend  und  fordert  zu  weiterer  Beschaftigung  mit  dem  Thema  heraus. 

Wardenburg  Werner  Meiners 


RECHTS-,  VERFASSUNGS-  UND 
VERWALTUNGSGESCHICHTE 


Beer,  Peter:  Hexenprozesse  im  Kloster  und  Klostergebiet  Loccum.  Gottingen:  V&R  unipress 
2007.  178  S.  =  Studien  zur  Kirchengeschichte  Niedersachsens  Bd.  41.  Geb.  38,90  €. 

Trotz  des  nach  wie  vor  ungebrochenen  Interesses  an  Hexenprozessen  haben  Arbeiten, 
die  dieses  Phanomen  der  friihen  Neuzeit  aus  spezifisch  rechtsgeschichtlicher  Sicht  un- 
tersuchen,  mittlerweile  Seltenheitswert.  Die  beiden  letzten  groBeren  einschlagigen  Mo- 
nografien,  Peter  Oestmanns  imjahre  1997  erschienene  Gottinger  Dissertation  iiber  „He- 
xenprozesse  am  Reichskammergericht"  und  Giinterjerouscheks  hannoversche  Habili- 
tationsschrift  aus  dem  Jahre  1992,  liegen  namlich  mittlerweile  mehr  als  zehn  bzw.  sogar 
fiinfzehn  Jahre  zuriick.  In  Anbetracht  dieser  Tatsache  gebiihrt  einer  neuen  Untersu- 
chung zum  Thema  aus  rechtshistorischer  Perspektive  besondere  Aufmerksamkeit. 
Wenn  sie  auBerdem,  wie  die  hier  anzuzeigende  Studie  von  Peter  Beer  die  „Hexenprozes- 
se  im  Kloster  und  Klostergebiet  Loccum"  thematisiert,  darf  sie  sich  dariiber  hinaus  des 
Interesses  auch  der  niedersachsischen  Landesgeschichte  sicher  sein. 

Betreut  wurde  die  an  der  Juristischen  Fakultat  der  Georgia  Augusta  vorgelegte  und 
angenommene  Dissertation  von  dem  Gottinger  Emeritus  fur  Deutsche  Rechtsgeschichte 


1    Giinter  Jerouschek,  Die  Hexen  und  ihr  Prozess.  Die  Hexenverfolgung  in  der  Reichs- 
stadt  Esslingen,  Esslingen  1992. 


Rechts-,  Verfassungs-,  Verwaltungsgeschichte  457 

Wolfgang  Sellert,  der  vor  allem  in  den  80er  und  90erjahren  des  20.  Jahrhunderts  die 
Strafrechtsgeschichte  zu  einem  seiner  Forschungsschwerpunkte  gemacht  hatte.  Unter- 
suchen  mochte  sein  Schiiler  denn  auch  nicht  iiberraschenderweise  „die  im  16.  und  17. 
Jahrhundert  im  Kloster  und  Klostergebiet  Loccum  durchgefiihrten  Hexenprozesse  un- 
ter  rechtshistorischenGesichtspunkten"  (Einleitung,  S.  11).  Diese  waren  bereits  Anfang  des 
19.  Jahrhunderts  erstmals  erforscht  worden  und  haben  in  neuerer  Zeit  unter  anderem 
das  wissenschaftliche  Interesse  des  gegenwartigen  Abtes  von  Loccum,  des  ehemaligen 
hannoverschen  Landesbischofs  Hirschler,  gefunden.  Alle  bisherigen  Arbeiten  gestat- 
ten  allerdings  -  so  Beer  -  „nur  kleine  Einblicke  in  die  reiche  Quellenlage  des  Klosterar- 
chivs"  (S.  11),  dessen  Bestande  er  erstmals  umfassend  auswertet.  Dadurch  mochte  er 
„zeigen,  wie  die  Loccumer  Hexenverfahren  formell  durchgefuhrt  wurden  und  welche 
materiellen  Grundlagen  sie  hatten"  (S.  11).  Dariiber  hinaus  geht  es  ihm  darum,  „lokale 
Besonderheiten  (herauszuarbeiten)",  „einen  Einblick  in  die  Ausubung  klosterlicher  Kri- 
minalgerichtsbarkeit  (zu  geben)"  sowie  „am  Beispiel  der  Loccumer  Hexenverfahren 
auch  ein(en)  Teil  der  allgemeinen  Entwicklungsgeschichte  des  Strafprozesses  auf(zu)zei- 
gen"(S.  11-12). 

Im  ersten  von  insgesamt  vier  Hauptteilen  seiner  Arbeit  steckt  Peter  Beer  erst  einmal 
den  Rahmen  der  Untersuchung  ab.  Zunachst  gibt  er  einen  Uberblick  iiber  die  „Ge- 
schichte  des  Klosters  und  Klostergebietes  Loccum"  (S.  13-20),  das  lange  Zeit  reichsun- 
mittelbar  gewesen,  dann  aberEnde  des  16.  Jahrhunderts  unter  calenbergische  Oberho- 
heit  geraten  war.  Die  voile  Kriminalgerichtsbarkeit  iiber  die  Bewohner  des  Stiftsgebietes 
hatte  es  gleichwohl  auch  danach  behaupten  konnen.  AnschlieBend  skizziert  der  Verfas- 
ser  das  Phanomen  der  „Hexenverfolgungen  in  Deutschland"  (S.  22-30)  und  konzentriert 
sich  in  diesem  Zusammenhang  vor  allem  auf  die  Entwicklung  der  Hexerei  zu  einem 
Straftatbestand. 

Im  zweiten  Teil  seiner  Arbeit  (S.  31-38)  gibt  er  sodann  einen  Uberblick  iiber  die  Chro- 
nologie  der  „Hexenverfolgungen  im  Loccumer  Klostergebiet",  die  mit  dem  letzten  Ver- 
fahren  im  Jahre  1661  und  einem  endgiiltigen  Verbot  der  Hexenprozesse  durch  Abt  Mo- 
lanus  imjahre  1696  endete  (S.  140-143) .  Deren  Schwerpunkt  lag  allerdings,  wie  auch  bis- 
her  schon  bekannt  war,  in  den  Jahren  1628  bis  1638.  In  diesem  Zusammenhang  kann 
Beer  indessen  erstmals  zeigen,  dass  auch  schon  weitaus  friiher,  namlich  zuerst  1581,  ge- 
richtliche  Hexenverfolgungen  in  Loccum  stattgefunden  haben. 

Der  dritte  Teil  der  Studie  (S.  39-66)  tragt  die  Uberschrift  „Die  Loccumer  Hexenverfol- 
ger  und  ihre  Opfer",  wobei  zu  ersteren  neben  der  Klosterobrigkeit  als  Gerichtsherr  und 
den  die  Verfahren  durchfiihrenden  Beamten  auch  die  ortliche  Geistlichkeit  gehorte. 
Insbesondere  der  zur  Zeit  der  Hauptverfolgungswelle  im  loccumischen  Stiftsdorf  Wie- 
densahl  als  Pastor  wirkende  Heinrich  Rimphoff ,  der  in  seinen  Predigten  den  in  der  ortli- 
chen  Bevolkerung  ohnehin  herrschenden  Hexenglauben  noch  bestarkte,  spielte  in  die- 
sem Zusammenhang  eine  maBgebliche  Rolle.  In  seiner  Eigenschaft  als  vehementer  Ver- 
fechter  der  Hexenlehre  verfasste  er  sogar  ein  Buch  zur  Thematik,  in  dem  er  unter 
anderem  dezidiert  die  zu  dieserZeit  schon  bekannten  hexenkritischen  Thesen  desjesui- 
tenpaters  Friedrich  Spee  von  Langenfeld  angriff.  Die  Rolle  der  Opfer  der  Loccumer  He- 
xenverfolgungen behandelt  der  Verfasser  leider  nur  relativ  knapp,  kann  aber  insoweit 
immerhin  das  interessante  Ergebnis  prasentieren,  dass  es  sich  bei  diesen  im  Gegensatz 


2    Horst  Hirschler,  Hexenprozesse,  in:  Ders. /Ernst  Berneburg  (Hg.),  Geschichten  aus 
dem  Kloster  Loccum,  2.  Aufl.  Hannover  1982,  S.  175-184. 


458  Besprechungen 

zur  landlaufigen  These  von  den  unverheirateten  Frauen  ganz  iiberwiegend  um  verheira- 
tete  Frauen  gehandelt  hat  (S.  63). 

Im  vierten  und  umfangreichsten  Teil  seiner  Dissertation,  der  mit  fast  80  Seiten  knapp 
die  Halfte  des  gesamten  Buches  ausmacht,  thematisiert  Peter  Beer  dann  ausfiihrlich  die 
Rechtsgeschichte  der  „Hexenprozesse  vor  dem  Stiftsgericht  Loccum"  (S.  67-143)  und 
zwar  vor  allem  den  Gang  des  Verfahrens  von  dessen  Einleitung  bis  zum  Urteil  und  des- 
sen  Vollstreckung  sowie  der  Kostenentscheidung.  Dieser  wird  minutios  geschildert,  wo- 
bei  Beer  immer  wieder  treffend  und  uberzeugend  die  Beziige  zum  friihneuzeitlichen 
Strafprozess  im  Allgemeinen  herstellt,  denn  Verfahren  in  Hexensachen  waren  nun  ein- 
mal  -  ungeachtet  gewisser  ihnen  eigentumlicher  Spezialregeln  -  prozessrechtlich  gese- 
hen  Strafverfahren. 

Als  Gesamtergebnis  kann  der  Verfasser  in  seiner  „Schlussbetrachtung"  zunachst  fest- 
halten,  dass  „die  Loccumer  Hexenprozesse  .  .  .  sich  in  das  allgemeine  Bild  derim  Heili- 
gen  Romischen  Reich  deutscher  Nation  zwischen  dem  16.  und  17.  Jahrhundert  durch- 
gefiihrten  Hexenverfahren  (fiigen  und)  sich  hinsichtlich  der  Verfahrenseinleitung  und 
-fiihrung  nicht  von  den  auch  in  anderen  Regionen  festzustellenden  Verfahren  (unter- 
scheiden)"  (S.  145).  Dariiber  hinaus  konstatiert  er,  dass  zwar  die  Verfolgungsinitiative 
„weniger  von  der  Klosterobrigkeit  als  vielmehr  der  Bevolkerung  des  Stiftsgebiets  aus- 
ging",  es  aber  erstere  war,  die  schlieBlich  fiir  das  „im  Unterschied  zu  anderen  Teilen  des 
Heiligen  Romischen  Reiches  deutscher  Nation"  relativ  friihzeitige  Ende  der  Hexenpro- 
zesse in  Loccum  sorgte  (S.  147). 

Der  Hauptertrag  von  Peter  Beers  Studie  liegt  in  der  heutzutage  seiten  gewordenen 
prononciert  rechtshistorischen  Schwerpunktbildung  bei  der  Behandlung  seines  The- 
mas,  die  man  als  gelungen  bezeichnen  kann.  Sie  mag  von  Vertretern  andererDisziplinen 
bedauert  werden,  ist  aber  vor  dem  Hintergrund  des  zunehmenden  Ruckzugs  der  Rechts- 
geschichte aus  der  akademischen  Hexenforschung  bewusst  so  gewahlt  worden  und  inso- 
weit  legitim.  Von  der  sorgfaltigen  und  umfassenden  Quellenauswertung  insbesondere 
der  Materialien  aus  dem  Loccumer  Klosterarchiv,  von  denen  einige  im  Anhang  wieder- 
gegeben  werden  (S.  149-157),  sowie  der  ebenfalls  im  Anhang  enthaltenen  auBerordent- 
lich  niitzlichen  tabellarischen  „Auflistung  der  Loccumer  Hexenverfahren"  (S.  158-164) 
vermag  jedoch  auch  die  Landes-  und  Regionalgeschichte  zu  profitieren. 

In  jedem  Falle  ist  davon  auszugehen,  dass  Peter  Beer  mit  seiner  -  in  ansprechender 
Aufmachung  in  einer  angesehenen  Schriftenreihe  erschienenen  -  Dissertation  fiir  lange 
Zeit  das  Standardwerk  zu  den  Loccumer  Hexenprozessen  vorgelegt  hat.  Insbesondere 
hebt  sich  seine  gediegene,  griindliche  und  sachliche  Behandlung  der  Materie  wohltuend 
von  gerade  im  Bereich  der  Hexenliteratur  nach  wie  vor  kursierenden  reiBerischen  und 
pseudowissenschaftlichen  Darstellungen  ab. 

Kiel  Thomas  Krause 


3  Vgl.  als  neuestes  einschlagiges  Beispiel  dieser  Gattung  etwa  Joachim  Lehrmann,  He- 
xenverfolgung  in  Hannover  -Calenberg,  Lehrte/ Hannover  2005  (ebd.  S.  160-176  werden  die 
Loccumer  Hexenprozesse  thematisiert). 


Rechts-,  Verfassungs-,  Verwaltungsgeschichte  459 

Gerichtslandschaft  Altes  Reich.  Hochste  Gerichtsbarkeit  und  territoriale  Rechtsprechung. 
Hrsg.  von  Anja  Amend,  Anette  Baumann,  Stephan  Wendehorst  und  Siegfrid  West- 
phal.  Koln:  Bohlau  Verlag2007.  172  S.  =  Quellen  und  Forschungen  zurhochsten  Ge- 
richtsbarkeit im  Alten  Reich  Bd.  52.  Geb.  24,90  €. 

Bei  den  in  dieser  Publikation  zusammengefuhrten  Beitragen  handelt  es  sich  um  die  pu- 
blizierten  Ergebnisse  einerNachwuchstagung  des  Netzwerks  Reichsgerichtsbarkeit,  das 
seit  1998  eng  mit  der  Gesellschaft  fur  Reichskammergerichtsforschung  e.  V.  Wetzlar  ko- 
operiert.  Das  Netzwerk  hat  seit  1999  in  regelmaBigen  Abstanden  Nachwuchstagungen 
veranstaltet,  die  schon  wichtige  Bande  zum  Themenkreis  hervorgebracht  haben.  Diese 
weitere  Publikation  befasst  sich  im  reprasentativen  Querschnitt  mit  dem  Zusammen- 
spiel  der  beiden  obersten  Reichsgerichte,  also  des  Reichskammergerichts  und  des 
Reichshofrats,  mit  den  territorialen  Gremien  und  Gerichten.  Die  Beitrage  gehen  der 
Frage  nach,  in  wie  weit  die  hochsten  Gerichte  im  Alten  Reich  als  Klammer  und  damit  als 
reichsweit  friedensstiftendes  Element  dienen  konnten. 

Im  Beitrag  von  Anja  Amend  „Gerichtslandschaft  Altes  Reich  im  Spiegel  einer  Wech- 
selbiirgschaft"  (S.  7-15)  erscheint  diese  Harmonie  gestort,  denn  in  einer  vom  Frankfurter 
Schoffenrat  entschiedenen  Streitsache  sind  von  Seiten  des  Klagers  und  des  Beklagten 
Appellationen  beim  Reichshofrat  und  beim  Reichskammergericht  betrieben  worden, 
die  entgegen  dem  Grundsatz  der  Verfahrenspravention  zu  einander  rivalisierenden  Ur- 
teilen  der  beiden  Reichsgerichte  gefiihrt  haben.  Eva  Ortlieb  kiindigt  in  ihrem  Beitrag 
„Die  Formierung  des  Reichshofrats  (1519-1564).  Ein  Projekt  der  Kommission  fur 
Rechtsgeschichte  Osterreichs  in  der  Osterreichischen  Akademie  der  Wissenschaften  in 
Zusammenarbeit  mit  dem  Haus-,  Hof-  und  Staatsarchiv"  (S.  17-25)  ein  neues  For- 
schungsvorhaben  an,  das  insoweit  besonders  spannend  ist,  als  das  Nebeneinander  des 
Hofrats  Kaiser  Karls  V.  und  des  aus  erblandischen  Wurzeln  erwachsenen  (Reichs)hof- 
rats  Ferdinands  I.  (seit  1530  romischer  Konig)  noch  unzureichend  geklart  ist.  Der  Bei- 
trag von  Markus  Senn  „Der  Reichshofrat  als  oberstes  Justizorgan  unter  Karl  V.  und 
Ferdinand  I.  (1519-1564)"  (S.  27-39)  beleuchtet  die  kaiserliche  Rechtsaufsicht  auch  und 
gerade  gegeniiber  dem  Reichskammergericht,  an  das  Promotorialschreiben  gesandt 
wurden.  Zum  Problem  der  Wirksamkeit  solcher  Schreiben  werden  weitere  Recherchen 
in  den  Akten  des  Reichshofrats  und  des  Reichskammergerichts  fur  erforderlich  gehal- 
ten.  Der  Beitrag  von  Christian  Wieland  „Adel  zwischen  territorialstaatlicher  Integrati- 
on und  dem  Drang  nach  Speyer.  Bayern  und  die  Reichsgerichtsbarkeit  im  16.  Jahrhun- 
dert"  (S.  41-57)  gipfelt  in  der  interessanten  Feststellung,  dass  trotz  des  Erfolges  der  Wit- 
telsbacher  bei  der  Beschrankung  der  Appellationen  im  16.  Jahrhundert  zeitgleich  die 
unmittelbare  Nutzung  der  Reichsgerichte  durch  den  bayerischen  Adel  massiv  angestie- 
gen  sei,  wodurch  dieser  eine  Art  von  friedlichem  Widerstand  gegen  die  Territorialisie- 
rungsversuche  seiner  Dynastie  praktiziert  hatte.  Der  Beitrag  von  Volker  Friedrich 
Drecktrah  „Anton  Gerlach  von  Schwarzenfels  als  Justizrat  in  Stade"  (S.  59-68)  beleuch- 
tet adlige  Herkunft,  Studium  und  Vorkarriere  eines  Reichskammergerichtsassessors, 
der  schon  mit  32  Jahren  diese  Position  erreichte,  doch  im  Alter  von  40  Jahren  starb.  Der 
Beitrag  von  Steffen  Wunderlich  „Das  private  Protokollbuch  des  Mathias  Alber  (RKG- 
Assessor  1532/33)  -  Innenansichten  der  Konturierung  des  ,Rechtsraums  Altes  Reich' 
durch  Rechtsprechung"  (S.  69-107)  misst  den  als  Editionsvorhaben  betreuten  Aufzeich- 
nungen  eine  hohe  Bedeutung  zu,  da  sie  im  Hinblick  auf  die  fehlende  Begrundung  der 
Urteile  nach  auBen  einen    seltenen  Einblick  in  die  Interna  des  Reichskammergerichts 


460  Besprechungen 

im  friihen  16.  Jahrhundert  gewahren  und  zeigen,  wie  ein  zeitgenossischer  Vertreter  der 
hochsten  Gerichtsbarkeit  das  Alte  Reich  als  Rechtsraum,  bzw.  Rechtsraume  im  Alten 
Reich  wahrnahm  und  mitgestaltete.  In  Ludolf  Pelizaeus'  Aufsatz  „Des  Kaisers,  aber 
nicht  der  kaiserlichen  Kammergericht.  Zustandigkeitskonflikte  in  den  Vorlanden  in  der 
ersten  Halfte  des  16.  Jahrhunderts"  (S.  109-126)  wird  untersucht,  wie  sich  die  Exemtion 
der  habsburgischen  Erblande  von  den  hochsten  Reichsgerichten  auf  den  Prozess  der 
Verrechtlichung  auf  der  Ebene  des  Territoriums  und  der  Instanzen  am  Anfang  des 
16.  Jahrhunderts  auswirkte.  Matthias  Schnettgers  Beitrag  „Kooperation  und  Konflikt. 
Der  Reichshofrat  und  die  kaiserliche  Plenipotenz  in  Italien"  (S.  127-149)  beleuchtet  ein 
wenig  bekanntes  Amt  in  Oberitalien,  das  der  Wahrung  kaiserlicher  und  reichischer  In- 
teressen  diente  und  daher  auch  in  einem  gewissen  Konkurrenzverhaltnis  zum  Reichs- 
hofrat stand.  Edgar  Liebmann  zeigt  in  seinem  Beitrag  „Reichs-  und  Territorialgerichts- 
barkeit  im  Spiegel  der  Forschung"  (S.  151-172)  in  einer  Riickschau,  welche  Bewertung 
die  Hochstgerichtsbarkeit  des  Alten  Reiches  in  der  Historiographie  seit  1866  erfahren 
hat.  Ingesamt  sieht  er  eine  Entwicklung,  welche  diese  sukzessive  in  ein  positiveres  Licht 
riickt.  Dieser  Richtung  werden  zukiinftige  Autoren  treu  bleiben,  die  die  wertvollen  Lite- 
ratur-  und  Quellenhinweise  samtlicher  Autoren  aufgreifen. 

Marburg  RainerPoLLEY 


Kannowski,  Bernd:  Die  Umgestaltung  des  Sachsenspiegelrechts  (Lurch  die  Buch'sche  Glosse. 
Hannover:  Hahnsche  Buchhandlung  2007.  XLVI,  655  S.  =  Monumenta  Germaniae 
Historica  Schriften  Bd.  56.  Geb.  75,-  €. 

Die  von  Gerhard  Dilcher  angeregte  Frankfurter  Habilitationsschrift  (angenommen  im 
Wintersemester  2004/05)  beschaftigt  sich  als  erste  Untersuchung  systematisch  und  tief- 
griindig  mit  der  beriihmten  Glosse  des Johann  von  Buch  zum  Sachsenspiegel-Landrecht 
(Buch'sche  Glosse) .  Ihre  Relevanz  fur  die  niedersachsische  Landesgeschichte  ergibt  sich 
allein  schon  aus  der  Verbreitung  des  Sachsenspiegels  in  Niedersachsen  (vgl.  dazu  nur  K. 
Kroeschell:  recht  unde  unrecht  der  sassen.  Rechtsgeschichte  Niedersachsens,  Gottingen 
2005,  S.  89  ff.)  und  der  Abfassung  der  Buch'schen  Glosse  in  Mittelniederdeutsch. 

Erst  seit  2002  ist  dieser  fur  die  deutsche  und  europaische  Rechtsgeschichte  iiberaus 
wichtige  Text  in  Form  einer  von  der  Sachsischen  Akademie  der  Wissenschaften  zu  Leip- 
zig fur  die  MGH  besorgten  kritischen  Edition  offentlich  zuganglich  (Frank-Michael 
Kaufmann  [Hg.]:  MGH.  Fontes  iuris  germanici  antiqui,  nova  series  VII,  Glossen  zum 
Sachsenspiegel-Landrecht,  Buch'sche  Glosse,  3  Teile,  Hannover  2002) .  Bernd  Kannows- 
ki wurde  seitens  der  Sachsischen  Akademie  der  Wissenschaften  zu  Leipzig  schon  Jahre 
vor  der  Edition  Einblick  in  den  Text  gewahrt,  so  dass  die  vorgelegte  Habilitationsschrift 
zeitnah  zur  Edition  erarbeitet  werden  konnte. 

Die  Buch'sche  Glosse,  welche  wohl  kurz  nach  1325  entstand,  verbindet  den  Text  des 
Sachsenspiegel-Landrechts  Eikes  von  Repgow  (zwischen  1220  und  1235)  mit  dem  ro- 
mischen  und  kanonischen  Recht  des  friihen  14.  Jh.  Ihr  Verfasser,Johann  von  Buch,  des- 
sen  Familie  sich  nach  dem  Dorf  Buch  bei  Tangermunde  (Altmark)  nannte,  ist  1305  als 
Student  der  Rechte  in  Bologna  nachweisbar.  Nach  Absolvierung  des  juristischen  Studi- 
ums  wandte  er  die  dort  erlernten  und  geiibten  Methoden  des  Umgangs  mit  dem  romi- 
schen  und  kanonischen  Recht  auf  das  Recht  seiner  Heimat  an.  Zu  diesem  Werk  soil  ihn 


Rechts-,  Verfassungs-,  Verwaltungsgeschichte  461 

Herzog  Otto  II.  von  Braunschweig  (1318-1344)  veranlasst  haben,  womit  ein  weiterer  Be- 
zug  zu  Niedersachsen  gegeben  ist.  Die  alteste  erhaltene  Handschrilt  stammt  aus  den 
Jahren  1365/67.  Der  Leipziger  Edition  liegt  jedoch  der  sog.  Codex  Hecht  aus  dem  frii- 
hen  15.  Jh.  (zw.  1405  u.  1415?)  zugrunde,  der  Iriiheste  Textstufen  der  Buch'schen  Glosse 
reprasentiert. 

Kannowski  gliedert  seine  umlangreiche  Darstellung  in  acht  groBe  Kapitel:  I.  Grund- 
lagen,  II.  Prozess,  III.  Konigtum,  IV.  Freiheit,  Leibeigenschaft  und  naturlik  recht,  V  Un- 
rechtsausgleich  und  offentliches  Strafrecht,  VI.  Privatrecht,  VII.  Uber  den  Gedanken- 
gang  des  Glossators,  (ohne  Ordnungsziffer)  Schluss. 

Auf  sicherer  Quellengrundlage,  die  weit  uber  die  edierte  Buch'sche  Glosse  hinaus- 
geht,  zeigt  er  an  ausgewahlten  Regelungskomplexen  akribisch  und  iiberzeugend  die 
Veranderungen,  welche  das  Landrecht  des  Sachsenspiegels  aus  dem  13.  Jh.  durch  Jo- 
hann  von  Buch  erlahren  hat.  Dabei  werden  die  der  Umgestaltung  zugrunde  liegenden 
Allegationen  aus  dem  romischen  und  kanonischen  Recht,  der  Bibel  sowie  Regeln  eines 
allgemeinen  christlichen  Rechtsdenkens  deutlich  herausgearbeitet  und  mit  dem  recht- 
lich-theologisch-philosophischen  Gedankengebaude  derZeit  im  allgemeinen  sowie  des 
Johann  von  Buch  im  besonderen  in  Verbindung  gebracht.  Von  daher  bringt  Kannows- 
kis  Analyse  erstmals  wirklich  neue  Erkenntnisse  zu  verschiedenen  Komplexen  des 
sachsischen  Rechts  und  seiner  Entwicklung,  die  wegen  der  bekannten  Verbreitung  des 
Sachsenspiegels  weit  uber  das  sachsische  Rechtsgebiet  hinaus  Relevanz  besitzen.  Die 
Arbeit  besticht  generell  durch  ihre  Quellennahe  und  vielen  wortlichen  Belege,  welchen 
Kannowski  gelegentlich  anspruchsvolle  eigene  Ubersetzungen  in  das  Neuhochdeutsche 
beigibt. 

Besonders  eindrucksvolle  Passagen  enthalten  die  Abschnitte  iiber  die  Rechtsstellung 
des  Konigs,  einschlieBlich  Reichsinsignien  und  Kronungszeremoniell  (S.  247-285),  die 
Umgestaltung  des  Beweisrechts  (S.  180-246),  die  Veranderungen  in  der  richterlichen 
Uberprufung  von  Urteilen  (Appellation)  sowie  das  Richterbild  (S.  107-151),  die  Freiheit 
und  Unlreiheit  (S.  286-331),  die  allmahliche  Ablosung  des  alteren  Akkusationsverfah- 
rens  durch  das  neuere  Inquisitionsverlahren  sowie  die  damit  verbundene  Umgestal- 
tung der  Sanktionen  auf  dem  Gebiet  des  „Strafrechts"  (S.  332-408).  Der  Forschung  wer- 
den hier  erstmals  viele  neue  Prinzipien  und  Einzelheiten  sowie  weitere  DenkanstoBe 
offeriert,  die  bei  zukiinftigen  Untersuchungen  zu  Charakter  und  Wirkungen  des  Sach- 
senspiegels im  Kontext  unterschiedlichster  Fragestellungen  gewiss  Beriicksichtigung 
finden  miissen.  Zudem  erleichtern  gediegen  und  ausfiihrlich  gearbeitete  Register  den 
zielgerichteten  Zugriff  auf  das  inhaltsreiche  Werk:  Namen  (S.  599-604),  Sachen  (S.  605- 
616),  Quellen  (mit  konkreten  Fundstellen) :  Bibel,  Corpus  iuris  civilis,  Corpus  iuris 
canonici,  Sachsenspiegel-Landrecht,  Buch'sche  Glosse,  iibrige  Glossen  zum  Sachsen- 
spiegel-Landrecht,  Sachsenspiegel-Lehnrecht,  Glossen  zum  Sachsenspiegel-Lehnrecht, 
sonstige  Rechtsquellen,  iibrige  Quellen  (S.  617-648),  Handschriften  und  Primardrucke 
(S.  649-655). 

Die  notwendige  Auswahl  derbehandelten  Regelungskomplexe  will  jedoch  nicht  ganz 
vollkommen  zum  Titel  des  Werkes  passen.  Einerseits  besteht  das  „Sachsenspiegelrecht" 
nicht  nur  aus  Landrecht,  sondern  auch  aus  Lehnrecht.  Das  letztere  lasst  Kannowski  aus 
guten  Grunden  ausdrucklich  beiseite  (S.  3f.,  S.  182,  Fn.  447).  Andererseits  wird  auch  das 
Landrecht  nicht  vollstandig,  jedenfalls  nicht  gleich  tief  und  ausfiihrlich,  im  Spiegel  sei- 
ner Glossierung  behandelt,  sondern  eben  nur  ausgewahlte  Materien  des  Landrechts,  die 
dem  Autor  besonders  wichtig  und  aussagekraftig  erschienen.  So  meint  der  weit  ausho- 


462  Besprechungen 

lende  Buchtitel  des  Werkes  in  Anbetracht  des  notwendig  gesetzten  Untersuchungsrah- 
mens  letztlich  die  Umgestaltung  ausgewahlter  Regelungskomplexe  des  Sachsenspie- 
gel Zanrfrechts  durch  die  Buch'sche  Glosse.  SchlieBlich  evoziert  die  Aussage  Kannowskis, 
dass  es  ihm  „um  das  Rechtsdenken  des  Glossators",  nicht  jedoch  „um  die  Frage,  inwie- 
fern  das,  was  er  niederschrieb,  tatsachlich  gait",  gehe  (S.  11),  zu  einer  weiteren  Uberle- 
gung.  Das  (auch  durch  „Umgestaltung"  veranderte)  „Sachsenspiegelrecht"  gait  jeden- 
falls  -  wo  und  in  welchen  Variationen  auch  immer.  Warum  davon  die  „Umgestaltung" 
abgetrennt  und  auf  das  „Rechtsdenken  des  Glossators"  jenseits  der  rechtlichen  Gel- 
tungskraft  reduziert  wird,  erschlieBt  sich  dem  interessierten  Leser  kaum. 

Inhaltlich  problematisch  ist  die  Qualifizierung  Eikes  von  Repgow  als  „der  sachsische 
Schoffe"  (S.  1).  Dafiir  gibt  es  keine  Belege.  In  den  sechs  Urkunden,  in  denen  Eike  zwi- 
schen  1209  und  1233  genannt  wird,  fungiert  er  eindeutig  und  ausschlieBlich  als  Zeuge 
von  Giiterubertragungen  im  Gericht.  Hier  hatte  gewiss  ein  Blick  auf  einschlagige  For- 
schungen  zu  Eikes  Person,  die  durch  den  Neuansatz  von  P.  Landau  (Der  Entstehungsort 
des  Sachsenspiegels.  Eike  von  Repgow,  Altzelle  und  die  anglo-normannische  Kanoni- 
stik,  in:  DA  61,  2005,  S.  73-101)  keineswegs  gegenstandslos  geworden  sind,  gelohnt  (etwa 
R.  Lieberwirth:  Entstehung  des  Sachsenspiegels  und  Landesgeschichte,  in:  R.  Schmidt- 
Wiegand  [Hg.] :  Die  Wolfenbiitteler  Bilderhandschrift  des  Sachsenspiegels.  Aufsatze  und 
Untersuchungen  .  .  .,  Berlin  1993,  S.  43-61). 

Einige  kleinere  Fehlerund  Unzulanglichkeiten  haben  sich  in  den  wissenschaftlichen 
Apparat  eingeschlichen:  Die  Abkiirzung  „Phil.-hist."  fur  „Philosophisch-historische" 
(S.  XII)  ist  in  bezug  auf  die  „Phil.-hist."  Klasse  der  Sachsischen  Akademie  nicht  zutref- 
fend  (vgl.  S.  XXVII,  XXXVI),  denn  diese  heiBt  „Philologisch-historische  Klasse".  Die 
offizielle  Bezeichnung  der  mit  „SLUB"  abgekurzten  Bibliothek  lautet:  „Sachsische  Lan- 
desbibliothek  -  Staats-  und  Universitatsbibliothek  Dresden"  (unvollstandig  S.  XIII). 
Band  1 1  des  „Handbuchs  der  historischen  Statten  Deutschlands"  tragt  den  Titel  „Provinz 
Sachsen/Anhalt"  (S.  XXIX).  Der  Schragstrich  ist  nicht  unwesentlich,  macht  er  doch 
deutlich,  dass  es  um  die  Gebiete  der  ehemaligen  preuBischen  Provinz  Sachsen  und  des 
ehemaligen  Freistaates  Anhalt  geht  -  und  eben  nicht  um  die  Provinz  oder  das  Land 
„Sachsen-Anhalt".  In  den  bibliographischen  Angaben  zu  R.  Lieberwirth  „Die  geplanten 
Editionen  .  .  ."  (S.  XXXVI)  werden  Band  und  Heft  der  Reihe  (Abhandlungen)  verwech- 
selt.  Das  von  M.  Stolleis  herausgegebene  Werk  „Staatsdenker  im  17.  und  18.  Jahrhun- 
dert"  (S.  XXXVII)  liegt  unter  dem  Titel  „Staatsdenker  in  der  friihen  Neuzeit .  .  ."  in  einer 
neueren  Auflage  (3.  Aufl.,  1995)  vor.  Die  Namen  derHg.  Egbert  Koolman  und  Friedrich 
Scheele  (S.  XL)  sind  fehlerhaft  wiedergegeben.  Die  unter  Schmidt-Wiegand/Hupper 
genannte  Schriftenreihe  heiBt  richtig:  „Germanistische  Arbeiten  zu  Sprache  und  Kul- 
turgeschichte"  (anders  S.  XLI).  ( Johann  August)  Roderich  von  Stintzing  wird  iiblicher- 
weise  unter  dem  Vornamen  „Roderich"  zitiert  (anders  S.  XLIV). 

Dessen  ungeachtet  kann  Kannowskis  griindliche  Analyse  als  fulminanter  Auftakt  zur 
Erforschung  der  Glossen  zum  Sachsenspiegel,  auch  jener  zum  Sachsenspiegel-Lehn- 
recht,  gelten.  Mit  ihr  wurde  inhaltlich,  quellenkundlich  wie  methodologisch  ein  sicheres 
Fundament  fur  weitere  Untersuchungen  sowie  fur  die  kritische  Uberpriifung  und  Relati- 
vierung  bislang  als  gesichert  geltender  Aussagen  iiber  den  Sachsenspiegel  und  die  Re- 
zeption  des  romisch-kanonischen  Rechts  im  sachsischen  Rechtsgebiet  gelegt. 

Halle  an  der  Saale  Heiner  Luck 


Rechts-,  Verfassungs-,  Verwaltungsgeschichte  463 

Schuster,  Jochen:  Freimaurer  undjustiz  in  Norddeutschland  unter  dem  Nationahozialismus. 
Die  beruflichen  Folgen  der  Mitgliedschaft  in  Logen  fur  Richter  und  Staatsanwalte. 
Frankfurt:  Peter  Lang  2007.  182  S.  =  Europaische  Hochschulschriften  R.  II,  Bd.  4516. 
Kart.  39,-  €. 

Die  Arbeit  wurde  im  Sommersemester  2006  an  der  Universitat  Kiel  als  juristische  Dis- 
sertation angenommen,  sie  beschaftigt  sich  faktisch  mit  dem  beruflichen  Alltag  von 
Richtern  und  Staatsanwalten,  die  nicht  „gleichgeschaltet"  waren.  Vor  dem  Hintergrund 
der  Veranderungen  in  derjustiz  nach  1933  und  der  Tatsache,  dass  die  Freimaurerei  zu 
den  ideologischen  Gegnern  des  NS-Systems  erklart  wurde,  zeigt  Schuster  die  Folgen  fur 
die  Betroffenen:  Auf  den  Seiten  132  bis  159  beschaftigt  er  sich  mit  18  Personen,  die  in 
norddeutschen  Freimaurerlogen  als  Mitglieder  verzeichnet  und  in  derjustiz  als  Richter 
oder  Staatsanwalte  tatig  waren.  Erst  hier  wird  das  Thema  der  Arbeit  im  engeren  Sinne 
bearbeitet. 

Zuvor  holt  Schuster  sehr  weit  aus,  indem  er  in  einem  ersten  Teil  das  Verhaltnis  von 
„Nationalsozialismus  undjustiz"  darstellt.  Hier  werden  die  nationalsozialistischen  Vor- 
stellungen  vom  Recht  sowie  die  ab  1934  erfolgte  „Gleichschaltung"  derjustiz  ausgebrei- 
tet  und  zudem  das  „Gesetz  zur  Wiederherstellung  des  Berufsbeamtentums"  vom  April 
1933  betrachtet.  Danach  folgt  der  zweite  Teil  „Nationalsozialismus  und  Freimaurerei", 
in  dem  im  Kern  der  Inhalt  eines  „Internationalen  Freimaurerlexikons"  referiert  wird,  je- 
denfalls  wird  es  auf  den  50  Seiten  dieses  Teils  in  33  FuBnoten  zitiert.  Zu  erkennen  ist  ins- 
gesamt,  dass  der  Verfasser  mit  den  Inhalten  und  Formalien  der  Freimaurerei  vertraut  zu 
sein  scheint,  wenn  er  z.  B.  von  „Johannisgraden"  schreibt,  ohne  deren  Inhalt  zuvor  er- 
klart zu  haben  oder  wenn  im  Text  vor  einem  Namen  ein  „Br."  erscheint,  was  wohl  „Bru- 
der"  heiBen  soil,  ohne  dass  dieses  Kiirzel  im  Abkiirzungsverzeichnis  aufgelistet  ist.  Dass 
er  in  diesem  Kapitel  zu  viele  Informationen  zur  Freimaurerei  untergebracht  hat,  scheint 
Schuster  bemerkt  zu  haben,  wenn  er  an  zwei  Stellen,  namlich  in  FuBnote  189  und  auf  Sei- 
te  57  ausfiihrt,  dass  diese  von  ihm  ausfuhrlich  vorgenommene  Differenzierung  fiir  die 
weitere  Untersuchung  „nicht  von  Bedeutung"  sei.  Dann  ware  es  fiir  die  Leser  besser  ge- 
wesen,  diesen  Teil  zu  straffen,  zumal  Helmut  Neuberger  mit  seinen  Arbeiten  „Freimau- 
rerei  und  Nationalsozialismus"  von  1980  und  „WinkelmaB  und  Hakenkreuz"  von  2000 
hierzu  grundlegende  Forschungen  vorgelegt  hat.  Ein  Erkenntnisgewinn  ist  dieser  Ab- 
schnitt  des  Buches  nicht. 

Die  „MaBnahmen  gegen  die  Freimaurerei"  zeigen  im  dritten  Teil  der  Arbeit  das  „Auf- 
spiiren"  der  Betroffenen  in  derjustiz.  Hier  hat  Schuster  den  alien  Beam  ten,  zu  denen  da- 
mals  auch  die  Richter  zahlten,  ubersandten  Fragebogen  als  Anhang  beigefiigt,  bei  dem 
Angaben  zu  Tatigkeiten  in  Logen  zu  erfolgen  hatten.  Zudem  werden  die  verschiedenen 
MaBnahmen  zur  Auflosung  der  Logenorganisationen  sowie  konkrete  Regelungen  des 
Reichsjustizministers  gegen  freimaurerisch  tatige  oder  tatig  gewesene  Richter  und 
Staatsanwalte  dargestellt. 

SchlieBlich  zeigt  Schuster  im  vierten  Teil  die  „Folgen  der  Logenzugehorigkeit  fiirjus- 
tizjuristen".  Von  etwa  120  Logen  des  Untersuchungsgebietes  konnte  er  bei  circa  80%  die 
Mitgliederverzeichnisse  einsehen.  Schuster  geht  von  rund  6.000  Mitgliedern  aus  und 
hat  49  Personen  ausfindig  gemacht,  die  als  Richter  oder  Staatsanwalte  Freimaurer  wa- 
ren. Weil  von  diesen  nach  1933  einige  zu  alt  oder  die  Personalakten  nicht  mehr  auffind- 
bar  waren,  blieben  18  Personen  zur  naheren  Untersuchung.  Letztlich  konnte  bei  einem 
Richter  festgestellt  werden,  dass  er  wegen  seiner  friiheren  Freimaurerzugehorigkeit 


464  Besprechungen 

nicht  befordert  worden  war  und  dass  die  Richter,  die  bisher  ein  Strafdezernat  bearbeitet 
hatten,  in  ein  Zivildezernat  versetzt  wurden.  Demgegeniiber  erhielten  sieben  friihere 
Logenmitglieder  sogar  das  fur  Zivilisten  vorbehaltene  Treuedienstehrenzeichen  verlie- 
hen.  Bemerkenswert  ist  zudem,  dass  ein  Logenmitglied  Richter  am  Volksgerichtshof 
war  und  mit  einer  Sondergenehmigung  Hitlers  in  diesem  Amt  bleiben  konnte  sowie  ein 
Amtsgerichtsrat,  der  an  den  Reichsanwalt  beim  Volksgerichtshof  abgeordnet  war  und 
im  Amt  blieb. 

Sehr  storend  ist  beim  Lesen  die  Vielzahl  der  Druckfehler  sowie  die  sprachlichen  Fehl- 
griffe,  z.  B.  der  wiederholte  Gebrauch  der  Floskeln  „wie  gesagt"  oder  „meines  Erachtens 
nach"  und  schlieBlich  der  „praktische  Pragmatismus".  Soweit  in  den  FuBnoten  nahere 
Angaben  zu  im  Text  benannten  Personen  gegeben  werden,  fallt  es  gelegentlich  schwer, 
ernst  zu  bleiben.  Dies  z.  B.  dann,  wenn  zu  Kant  erlautert  wird  „Kant,  Immanuel,  Philo- 
soph,  1742-1804"  oder  beim  Text  „Herzog  von  Montagu"  die  FuBnote  die  weitere  Er- 
kenntnis  bereithalt  „Montagu,  John,  1690-1749,  Herzog."  Befremdlich  ist  es,  in  einer 
FuBnote  (Fn.  408)  zu  einer  Verfiigung  des  Reichsjustizministers  von  1935  als  Hinweis  zu 
finden  „Sign.  ZS  a  9350"  ohne  nahere  Erklarung,  was  auch  immer  das  bedeuten  mag, 
noch  befremdlicher  ist  es,  dass  Reinhard  Heydrich,  der  Chef  des  „Reichssicherheits- 
hauptamtes",  als  „Reichsfuhrer  SS  und  Chef  der  Deutschen  Polizei"  benannt  und  also 
mit  Heinrich  Himmler  verwechselt  wird  (S.  108). 

Insgesamt  stellt  Schuster  zwar  die  verbalen  Angriffe  der  NS-Ideologen  auf  die  Frei- 
maurerei  mit  denen  gegen  die  Juden  auf  eine  Stufe,  aber  die  Folgen  fur  die  betroffenen 
Menschen  waren  bei  den  friiheren  Logenmitgliedern  auch  nicht  ansatzweise  von  ahnli- 
cher  Art. 

Stade  VolkerFriedrich  Drecktrah 


Vom  Ursprung  der  anwaltlichen  Selbstverwaltung.  Justus  Moser  und  die  Advokatur.  Hrsg. 
von  Karl  H.  L.  Welker.  Gottingen:  V&Runipress  2007.  77  S.  Abb.  Geb.  24,90  €. 

Unter  dem  Titel  „Vom  Ursprung  der  anwaltlichen  Selbstverwaltung"  hat  Karl  H.  L.  Wel- 
ker als  Herausgeber  einen  Vortrag  und  zwei  Aufsatze  zu  Justus  Moser  zusammengestellt, 
die  sich  im  Schwerpunkt  mit  dessen  Verstandnis  der  Advokatur  beschaftigen.  Aufgewer- 
tet  wird  die  Sammlung  durch  groBziigig  eingefiigte  Farbtafeln.  Neben  Bildnissen  Justus 
Mosers  ist  hier  besonders  der  Abdruck  der  Quellen  hervorzuheben,  die  dem  Leser  den 
Einblick  in  die  Originale  ohne  langes  Suchen  ermoglichen. 

Inhaltlich  handelt  es  sich  um  kurzweilige  Lektiire.  Den  ersten  Beitrag  hat  der  Frank- 
furter Historiker  Michael  Maaser  unter  dem  Titel  „Justus  Mosers  Werk  als  biirgerliches 
Bildungsgut"  beigesteuert.  Obschon  sich  im  Detail  Einiges  diskutieren  lieBe,  handelt  es 
sich  um  einen  gelungenen  Einstieg  in  die  Zeit  und  das  Denken  Justus  Mosers.  Sowohl 
Kenner  als  auch  Neuforschende  sollten  hier  die  eine  oder  andere  Anregung  finden.  Der 
Autor  zeichnet  das  Leben  Justus  Mosers  nicht  nur  anhand  dessen  praktischen  und 
schriftstellerischen  Wirkens  nach,  sondern  stellt  auch  Beziige  zu  bedeutenden  Zeitge- 
nossen  (Goethe,  Kant,  Savigny)  her.  Interessant  fur  den  Rechtshistoriker  ist  etwa  ein 
Verweis  auf  Savigny,  der  Moser  als  „unziinftig"  bezeichnet  haben  soil  (S.  28),  wobei  der 
Autor  zu  unterstellen  scheint,  dass  diese  Wortwahl  Kritik  beinhalte.  Angesichts  des 
schlechten  Rufs,  den  die  „Zunft"  der  Advokaten  speziell  im  18.  Jahrhundert  genossen 
hat,  ist  fraglich,  ob  diese  AuBerung  Savignys  tatsachlich  negativ  ausgelegt  werden  muss. 


Rechts-,  Verfassungs-,  Verwaltungsgeschichte  465 

Dass  Savigny  die  Arbeiten  Mosers  kannte  und  schatzte,  lasst  sich  immerhin  einer  ganzen 
Reihe  von  Belegen  entnehmen  (z.B.  Vom  Beruf  unsererZeit  fur  Gesetzgebung  und  Wis- 
senschaft,  1814,  S.  114,  128). 

Fur  Philologen  diirfte  ferner  die  Bezugnahme  auf  Goethe  anregend  sein,  der  die 
Schriften  Mosers  rezipiert  hat.  Zu  Recht  raumt  Maaser  allerdings  ein,  dass  die  bisher 
vorhandene  Literatur  starker  von  der  Moser-  als  von  der  Goetheforschung  gepragt  ist 
(S.  23,  Fn.  49) .  Wie  nachhaltig  der  Einfluss  Mosers  auf  Goethe  also  tatsachlich  war,  diirf- 
te weiter  zu  erforschen  sein.  Etwas  neben  der  Intention  des  Autors  liegt  vielleicht  die  Be- 
zugnahme auf  Kant.  Moser  soil  als  „Weltbiirger"  gezeigt  werden.  Dass  er  das  gerade  in 
seiner  bewussten  Provinzialitat  ist,  arbeitet  Maaser  im  Abschluss  seines  Beitrages  auch 
treffend  heraus  (S.  34).  Wenn  erjedoch  auf  S.  22  Kants  Pramissen  zum  Vergleich  heran- 
zieht,  wird  kaum  noch  deutlich,  dass  Moser  die  Idee  der  Provinzialitat  bewusst  favori- 
siert  hat.  Vielmehr  wirken  Mosers  AuBerungen  vor  diesem  starken  Kontrast  so  provinzi- 
ell,  wie  der  Autor  sie  sicher  nicht  verstanden  wissen  wollte. 

Wichtige  Anregungen  fur  den  Rechtshistoriker  finden  sich  vor  allem  in  den  nachfol- 
genden  Aufsatzen  des  renommierten  Moser-Forschers  Karl  H.  L.  Welker.  Hier  wird 
auch  offenbar,  mit  welcher  Berechtigung  der  Band  seinen  Titel  tragt.  Im  ersten  Beitrag 
„M6sers  ,  Vorschlag  zu  einem  besondern  Advocatencollegio'"  widmet  sich  der  Autor  der 
Frage,  ob  die  heute  -  scheinbar  selbstverstandliche  -  anwaltliche  Selbstverwaltung  auf 
Gedanken  Mosers  zuruckzufiihren  ist.  Dabei  stellt  er  die  Situation  der  Advokatur  im 
18.  Jahrhundert  auf  anschauliche  Weise  dar.  Hier  verspricht  die  Lektiire  nicht  nur  den 
Moser-Forschern  Erkenntnisgewinne,  sondern  vor  allem  auch  denjenigen,  die  sich  fur 
die  Geschichte  der  Anwaltschaft  interessieren.  Gut  gelungen  sind  zudem  die  schon  fast 
sprachwissenschaftlichen  Analysen  von  Mosers  Rhetorik  in  den  zitierten  Quellen 
(S.  37f.).  Zwar  ist  (fast)  jede  Auslegung  auch  einer  anderen  Interpretation  zuganglich. 
Die  Schlussfolgerungen  des  Verfassers  sind  aber  durchaus  iiberzeugend  herausgearbei- 
tet  und  vor  dem  Kontext  der  damaligen  Zeit  stimmig.  Welker  beweist  jedenfalls  Gespiir 
fur  den  sprachlichen  Duktus  Mosers  und  vermag  der  Quelle  mehr  abzugewinnen,  als  auf 
den  ersten  Blick  zu  erwarten  ware.  Damit  gelingt  es  ihm,  dem  Leser  Moser  nicht  nur  in 
seinen  abstrakten  Ansichten  iiber  die  Advokatur,  sondern  auch  direkt  als  praktisch  tati- 
gen  Advokaten  naher  zu  bringen.  Denn  gerade  die  Rhetorik  verrat  viel  iiber  das  erfolg- 
reiche  Wirken  eines  Anwalts,  und  bereits  dieser  Aspekt  macht  den  Beitrag  interessant. 
Offen  muss  dagegen  die  Frage  bleiben,  wie  weit  nun  die  heutigen  Rechtsanwaltskam- 
mern,  die  Anwaltsgerichtsbarkeit  und  das  Versorgungswerk  tatsachlich  auf  den  Vor- 
schlagen  Mosers  beruhen  (S.  54).  Ein  direkter  Zusammenhang  wird  sich  (noch?)  nicht 
nachweisen  lassen.  Aber  schon  die  vom  Verfasser  aufgezeigten  Parallelen  in  der  Vorstel- 
lung  bieten  interessante  und  wichtige  Anregungen  fur  die  weitere  Forschung.  In  seinem 
zweiten  Beitrag  „Die  Advokatur  als  ,Pflanzschule  des  Staates'"  setzt  der  Verfasser  erfolg- 
reich  fort,  was  sich  bereits  im  vorherigen  Aufsatz  angekiindigt  hat:  Mithilfe  einer  ge- 
lungenen  Analyse  der  Argumentationslinien  Mosers  und  seiner  anwaltlichen  Rhetorik 
zeichnet  er  dessen  berufsstandisches  Selbstbild  nach  (S.  60  ff.) .  Durch  den  Fokus  auf  die 
Advokatur  gliickt  dem  Autor  eine  besonders  plastische  Illustration  von  Mosers  Wirken, 
die  nicht  zuletzt  den  Reiz  der  anwaltlichen  Freiheit  angemessen  wiirdigt  (S.  76). 

Insgesamt  ist  so  ein  ansehnliches  Bandchen  entstanden,  das  auch  optisch  elegant  ge- 
staltet  ist.  Es  diirfte  ein  schemes  Geschenk  nicht  nur  fur  den  Moser-Freund  darstellen. 

Hannover  AndreaJ.  Czelk 


466  Besprechungen 

Zagolla,  Robert:  Folter  und  Hexenprozess.  Die  strafrechtliche  Spruchpraxis  derjuristen- 
fakultat  Rostock  im  17.  Jahrhundert.  Bielefeld:  Verlag  fur  Regionalgeschichte  2007. 
527  S.  =  Hexenforschung  Bd.  11.  Geb.  39,-  €. 

Die  Hexenverfolgungen  der  friihen  Neuzeit  gehoren  inzwischen  zu  den  gut  erforschten 
Phanomenen  der  deutschen  Geschichte.  Dennoch  gibt  es  hier  offene  Forschungsfelder, 
die  keineswegs  nur  Randphanomene,  sondern  auch  Kernbereiche  der  Verfolgungen  be- 
treffen.  Ein  solches  Desiderat  ist  die  Rolle  der  Folter  im  Hexenprozess.  Im  Anschluss  an 
die  Meinung  der  zeitgenossischen  Verfolgungskritik  gilt  die  Folter  noch  heute  als  inte- 
graler  Bestandteil  der  Hexenprozesse,  deren  hemmungsloser  Gebrauch  Gestandnisse 
erpresst  und  damit  maBgeblich  zur  Ausbreitung  der  Verfolgungen  beigetragen  habe. 

Ob  die  Folter  tatsachlich  „Seele"  und  Motor  der  Hexenprozesse  war,  fragt  Robert  Za- 
golla in  der  vorliegenden  Studie,  die  im  Rahmen  des  von  Wolfgang  Behringer  (Saarbrii- 
cken),  Wolfgang  Schildt  (Bielefeld)  und  Sonke  Lorenz  (Tubingen)  geleiteten  For- 
schungsprojekts  „Recht  und  Verhalten  in  der  Hexenverfolgung:  Hexengesetzgebung 
und  Hexenprozess"  entstanden  ist.  Die  Arbeit  wurde  im  Sommersemester  2004  von  der 
Geschichtswissenschaftlichen  Fakultat  der  Eberhard-Karls-Universitat  Tubingen  als 
Dissertation  angenommen  und  2005  mit  dem  Dr.  Leopold-Lucas-Nachwuchswissen- 
schaftler-Preis  der  Universitat  Tubingen  ausgezeichnet. 

In  Kombination  von  rechtsgeschichtlichen  Fragestellungen  und  sozialhistorischen 
Methoden,  wie  sie  heute  v.  a.  die  Historische  Kriminalitatsforschung  bereithalt,  betrach- 
tet  Zagolla  die  Rolle  der  Folter  im  Hexenprozess  erstmals  nicht  isoliert,  sondern  verglei- 
chend  im  Kontext  ihrer  Verwendung  auch  in  anderen  fruhneuzeitlichen  Strafverfahren. 
Er  vergleicht  die  Hexenprozesse  nicht  nur  mit  den  strafprozessualen  Normen  ihrer  Zeit, 
sondern  nimmt  v.  a.  die  bislang  vernachlassigte  Verfahrensrealitat  in  den  Blick.  Dabei 
wird  dem  Gerichtsverfahren  eine  „Scharnierfunktion"  zwischen  Rechtsnorm  und  Delikt 
zuerkannt.  Als  Quellengrundlage  hat  Zagolla  die  seit  1570  liickenlos  iiberlieferten 
Rechtsbelehrungen  der  Rostockerjuristenfakultat  herangezogen.  Vor  dem  Hintergrund 
des  reichsrechtlich  fixierten  Instituts  der  Aktenversendung,  das  den  Gerichtsinstanzen 
vor  Ort  in  Strafverfahren  die  Einholung  einer  Rechtsbelehrung  von  Juristenfakultaten 
oder  Schoffenstuhlen  vorschrieb  und  damit  ihre  Prozesstatigkeit  einer  gewissen  Kon- 
trolle  durch  Vertreter  des  gelehrten  Rechts  unterwarf,  bildeten  die  Juristenfakultaten  im 
Alten  Reich  eine  Schnittstelle  zwischen  gelehrterjurisprudenz  und  Gerichtspraxis.  So 
hat  auch  die  Rostocker  Fakultat  im  Rahmen  ihrer  juristischen  Spruchpraxis  in  verschie- 
denen  Strafverfahren  Recht  gesprochen  und  Urteile  gefallt.  Die  Spruchtatigkeit  der  Fa- 
kultat bezog  sich  auf  den  gesamten  norddeutschen  Raum.  Zwar  waren  die  meisten  Kon- 
sulenten  in  Mecklenburg,  Pommern,  Schleswig-Holstein  und  Brandenburg  ansassig, 
doch  stammte  ein  kleinererTeil  auch  aus  dem  Gebiet  des  heutigen  Niedersachsens.  Auf- 
grund  der  groBen  Menge  der  vorhandenen  Uberlieferung  hat  Zagolla  nicht  die  gesam- 
ten Rechtsbelehrungen  des  17.  Jahrhunderts  untersucht,  sondern  drei  Zeitabschnitte 
von  jeweils  15Jahren  (1595-1610,  1645-1660,  1685-1700)  ausgewahlt,  die  mit  entschei- 
denden  Phasen  der  Entwicklung  der  Hexenprozesse  zusammenfallen. 

Zagolla  gliedert  seine  Arbeit  in  fiinf  Teile,  die  verschiedene  Aspekte  der  Folter  im 
fruhneuzeitlichen  Strafverfahren  beleuchten.  In  seiner  Einleitung  bietet  er  unter  Bezug 
auf  die  zeitgenossische  Strafrechtstheorie  und  in  Auseinandersetzung  mit  verschiede- 
nen  Forschungsmeinungen  eine  Definition  der  Folter,  die  diese  in  erster  Linie  als 
Rechtsmittel  zurErlangung  eines  Gestandnisses  begreift.  Des  Weiteren  diskutiert  erhier 


Rechts-,  Verfassungs-,  Verwaltungsgeschichte  467 

die  bereits  von  der  zeitgenossischen  Prozesskritik  geauBerte  und  von  der  Hexenfor- 
schung  breit  rezipierte  These  von  der  Hexerei  als  Sonderverbrechen  (crimen  exceptum), 
bei  dessen  Verfolgung  alle  sonst  iiblichen  Verfahrensregeln  auBer  Kraft  gesetzt  worden 
seien.  Zagolla  stellt  demgegeniiber  fest,  dass  sich  diese  Lehre  bei  den  deutschen Juristen, 
die  stets  die  Verfahrensvorschriften  der  reichsweit  geltenden  Peinlichen  Halsgerichtsord- 
nung  Kaiser  Karls  V.  (Constitutio  Criminalis  Carolina)  von  1532  zugrunde  legten,  nicht 
durchsetzen  konnte.  Im  zweiten  Teil  beschreibt  er  die  Rostocker  Juristenfakultat  als 
Spruchkorper.  Zunachst  erlautert  er  die  Bedeutung  des  Institut  der  Aktenversendung  fur 
die  Rostocker  Fakultat,  bevor  er  anschlieBend  die  Recht  suchenden  Konsulenten,  die 
verhandelten  Prozessgegenstande,  die  Mitglieder  der  Rostocker  Juristenfakultat  in  den 
untersuchten  Zeitabschnitten  sowie  die  von  ihnen  herangezogenen  Rechtsquellen  vor- 
stellt. 

Orientiert  am  Verfahrensverlauf  der  Carolina  wird  anschlieBend  die  Verfahrensreali- 
tat  der  verschiedenen  Strafverfahren,  mit  denen  die  Fakultat  konfrontiert  wurde,  unter- 
sucht  und  insbesondere  der  Foltergebrauch  in  Hexenprozessen  mit  dem  in  anderen 
Strafverfahren  verglichen.  Die  weitere  Gliederung  der  Arbeit  (Teile  3  bis  5)  wird  durch 
drei  Abschnitte  bestimmt:  vor  der  Folter,  bei  der  Folter  und  nach  der  Folter.  Der  dritte 
Teil  ist  dem  Verfahren  vor  der  Folter  gewidmet,  wobei  zunachst  einige  grundlegende  Be- 
merkungen  zur  Prozessform  gemacht  werden.  Es  folgt  die  der  Folter  vorausgehende  giit- 
liche  Inquisition,  die  sich  auf  die  Untersuchung  der  Tat  und  die  Ermittlung  des  Taters 
richtet.  Des  Weiteren  werden  die  nach  zeitgenossischer  Auffassung  zur  Folter  hinrei- 
chenden  Indizien  vorgestellt,  wobei  insbesondere  auf  das  umstrittene  Indiz  der  Be- 
sagung  sowie  auf  die  in  der  Carolina  nicht  genannten  und  nicht  minder  umstrittenen 
Indizien  aus  dem  deutschrechtlichen  Kontext,  insbesondere  die  weit  verbreitete  Was- 
serprobe,  eingegangen  wird.  SchlieBlich  werden  noch  die  Rechte  und  Verteidigungs- 
moglichkeiten  der  Angeklagten  erortert.  Der  vierte  Teil  stellt  das  Verfahren  wahrend  der 
Folter  in  den  Mittelpunkt.  Dabei  werden  nicht  nur  gangige  Foltermethoden  und  die  in 
der  zeitgenossischen  Rechtstheorie  verbreiteten  Foltergrade  sowie  ihre  Umsetzung  in 
der  Rostocker  Spruchpraxis  untersucht,  sondern  es  werden  auch  Angaben  zu  den  Gefol- 
terten  und  zum  Folterpersonal  gemacht.  Zudem  wird  auf  den  Rahmen  der  Folter  (Orte, 
Termine  und  Dauer),  den  Verhorverlauf,  das  sog.  Indiz  der  Schmerzlosigkeit  unter  der 
Folter  sowie  auf  die  in  der  fruhneuzeitlichen  Verfahrenspraxis  nicht  uniiblichen  Fol- 
terexzesse  eingegangen.  Der  fiinfte  Teil  konzentriert  sich  schlieBlich  auf  das  Verfahren 
nach  der  Folter.  Die  Voraussetzungen  fur  die  Gultigkeit  eines  Gestandnisses  werden  hier 
ebenso  diskutiert  wie  die  Indizien,  die  zu  einer  Wiederholung  der  Folter  hinreichend  er- 
achtet  wurden.  Am  Schluss  wird  auf  die  rechtlichen  Wirkungen  der  Folter  wie  auch  auf 
die  Rechte  der  Angeklagten  nach  der  Urteilsverkiindung  hingewiesen  und  die  Frage 
nach  den  Gerichtskosten  gestellt. 

Zusammenfassend  gelangt  Zagolla  zu  dem  Ergebnis,  dass  sich  die  von  der  Rostocker 
Juristenfakultat  begutachteten  norddeutschen  Hexenprozesse  im  Hinblick  auf  die  Ver- 
fahrensfiihrung  und  insbesondere  die  Folteranwendung  nicht  wesentlich  von  anderen 
Strafverfahren  unterschieden.  Vielmehr  konstatiert  er  grundsatzliche  strukturelle 
Schwachen  des  auf  die  Erlangung  eines  Gestandnisses  fixierten  fruhneuzeitlichen  Straf- 
verfahrens,  die  die  Umsetzung  der  von  der  Rechtstheorie  entwickelten  Verfahrens- 
grundsatze  in  der  Gerichtspraxis  erschwerten  und  sich  bei  schweren  und  zugleich 
schwer  nachweisbaren  Delikten  wie  Hexerei  besonders  deutlich  bemerkbar  machten. 
Vor  dem  Hintergrund  der  intensiven  zeitgenossischen  Kritik  an  der  Verfahrensfuhrung 


468  Besprechungen 

in  Hexenprozessen,  die  sich  im  Wesentlichen  auf  die  Folter  konzentrierte,  legte  die 
Rostockerjuristenfakultat  gerade  bei  der  strafrechtlichen  Verfolgung  der  Hexerei  stren- 
gere  MaBstabe  an,  so  dass  die  Tortur  hier  insgesamt  seltener  und  umsichtiger  verhangt 
wurde  als  in  anderen  Strafverfahren. 

Allerdings  hatte  die  gerade  in  Hexenprozessen  geiibte  scharfe  Kritik  an  der  Folter  kei- 
nen  grundsatzlichen  Einfluss  auf  den  zeitgenossischen  Strafprozess,  der  sich  bis  zum  En- 
de  des  Alten  Reiches  kaum  veranderte.  Auch  wenn  das  friihneuzeitliche  Strafprozess- 
recht  die  Grundlage  fur  die  Durchfuhrung  von  Hexenprozessen  bot  und  noch  im  18. 
Jahrhundert  einzelne  Prozesse  moglich  waren,  begreift  Zagolla  Hexenverfolgungen 
nicht  primar  als  eine  Folge  strafrechtlicher  Entwicklungen.  In  einem  zutreffenden  Bild 
beschreibt  er  das  fruhneuzeitliche  Prozessrecht  vielmehr  als  „Korsett,  das  je  nach  Grad 
seiner  Schniirung  Hexenprozesse  erleichtern  oder  eindammen  konnte".  Somit  sind  auch 
die  Ursachen  fur  den  Riickgang  der  Hexenprozesse  auBerhalb  des  Strafrechts  zu  suchen. 
Erst  als  sich  seit  dem  Ende  des  17.  Jahrhunderts  im  Zuge  der  beginnenden  Aufklarung 
zunehmende  Zweifel  an  der  Realitat  und  an  der  Beweisbarkeit  des  Hexereidelikts  mani- 
festierten,  gait  die  Verwendung  der  Folter  in  Hexenprozessen  zunehmend  als  gefahrlich. 
Im  Ubrigen  hielt  sich  der  Glaube  an  die  Folter  als  Beweismethode  in  ganz  Deutschland 
bis  in  die  Mitte  des  18.  Jahrhunderts,  so  dass  sie  in  anderen  Strafverfahren,  etwa  in  Fal- 
len von  Kindsmord  oder  bei  der  Verfolgung  von  Rauberbanden,  noch  langer  eine  frag- 
wiirdige  Rolle  spielte.  Denn  es  ist  davon  auszugehen,  dass  die  Folter  nicht  nur  in  Hexen- 
prozessen, sondern  auch  bei  der  strafrechtlichen  Verfolgung  anderer  Delikte  zu  einer 
Vielzahl  von  Fehlurteilen  gefiihrt  hat.  Die  Folter  war  somit  also  nicht  nur  die  „Seele"  des 
Hexenprozesses,  sondern  auch  vieler  anderer  Strafverfahren. 

Insgesamt  handelt  es  sich  bei  der  vorliegenden  Arbeit  um  eine  gelungene,  metho- 
disch  und  thematisch  innovative  Studie,  die  in  Kombination  rechtshistorischerund  sozi- 
alhistorischer  Ansatze  einmal  mehr  den  Wert  interdisziplinarer  Forschung  zeigt  und 
deutlich  macht,  dass  selbst  im  Bereich  der  expandierenden  Hexenforschung  langst  noch 
nicht  alle  Themenfelder  erschlossen  sind.  Es  bleibt  zu  hoffen,  dass  die  Arbeit  weitere 
Studien  anregt,  die  trotz  der  grundsatzlich  schwierigen  Quellenlage  die  bislang  vernach- 
lassigte  lokale  Gerichtspraxis  in  den  Blick  nehmen. 

Hannover  Claudia  Kauertz 


Pfannenschmid,  Yvonne:  LudolfHugo  (1632-1704).  Friiher  Bundesstaatstheoretiker  and 
kurhannoverscher  Staatsmann.  Baden-Baden:  Nomos  2005.  251  S.  Abb.  =  Hannover- 
sches  Forum  der  Rechtswissenschaften  Bd.  7.  Kart.  48,-  €. 

Mit  der  vorliegenden,  im  Sommersemester  2005  von  der  Juristischen  Fakultat  der  Uni- 
versitat  Hannover  angenommenen  Dissertation  soil  laut  Vorwort  „das  Augenmerk  auf 
einen  groBen  Staatsmann  der  hannoverschen  Geschichte  gerichtet  werden,  der  bislang 
den  meisten  verfassungsgeschichtlichen  Arbeiten  nur  ein  paar  Zeilen  oder  eine  FuBnote 
Gemeint  ist  Ludolf  Hugo,  der  seit  1665  zunachst  als  Hof-  und  Kanzleirat 


1  Vgl.  allerdings  neuerdings  Thomas  Vielhaber,  Reformperspektiven  zur  Reichsverfas- 
sung  im  Jahrhundert  nach  dem  Westfalischen  Frieden,  Diss.  jur.  Bonn  2008,  der  Hugo  immer- 
hin  sieben  Seiten  widmet  (S.  78-84). 


Rechts-,  Verfassungs-,  Verwaltungsgeschichte  469 

und  sodann  von  1677  bis  zu  seinem  Tode  im  Jahre  1704  als  Geheimer  Rat,  Vizekanzler 
und  Direktor  der  Justizkanzlei  Hannover  in  calenbergischen  bzw.  kurhannoverschen 
Diensten  tatig  war.  Empfohlen  hatte  er  sich  dafiir  mit  seinem  wissenschaftlichen  Haupt- 
werk,  der  unter  der  Agide  des  Universalgelehrten  Hermann  Conring  entstandenen 
Helmstedter  juristischen  Dissertation  „De  Statu  Regionum  Germaniae  et  Regimine 
Principorum"  aus  dem  Jahre  1661.  Sie  erregte  groBe  Aufmerksamkeit  und  zahlte  mit 
nicht  weniger  als  sechs  weiteren  Auflagen  zu  den  erfolgreichsten  der  Fakultat.  Die  ver- 
gleichsweise  geringe  Beachtung,  die  Hugos  Schrift  gleichwohl  in  neuerer  Zeit  fand, 
fuhrt  die  Autorin  nicht  zuletzt  auf  die  Tatsache  zuriick,  dass  sie  bisher  nicht  ins  Deut- 
sche iibersetzt  wurde.  Urn  diesem  Manko  abzuhelfen,  beschlieBt  sie  „deshalb,  erst  ein- 
mal  Hugos  Dissertation  zu  iibersetzen"(S.  17,  Fn.  2)  und  veroffentlicht  ihre  Ubertragung 
separat,  aber  zeitgleich  mit  ihrer  Promotionsschrift  ebenfalls  im  Jahre  2005.  Allein  die- 
se  Ubersetzung  stellt,  wie  ihr  Doktorvater,  der  renommierte  hannoversche  Verfassungs- 
historikerJorg-Detlef  Kiihne,  in  seinem  dazu  verfassten  Vorwort  mit  Recht  feststellt,  be- 
reits  eine  beachtliche  Leistung  dar. 

Ins  Zentrum  ihrer  Dissertation  stellt  die  Verfasserin,  wie  der  Titel  schon  andeutet,  die 
Analyse  der  von  Hugo  in  seiner  Schrift  entwickelten  Bundesstaatstheorie  (Zweiter  Teil: 
S.  103-180)  sowie  ihre  Einordnung  in  den  Gesamtzusammenhang  der  zeitgenossischen 
Reichspublizistik,  iiber  die  vorher  ein  ausfuhrlicher  Uberblickgegeben  wird  (S. 62-102). 
Obwohl  er  selbst  den  Begriff  „Bundesstaat"  noch  nicht  benutzt,  sieht  Ludolf  Hugo  das 
Heilige  Romische  Reich  deutscher  Nation  namlich  nicht  als  Staatenbund  an,  sondern 
geht  von  einer  Doppelstaatlichkeit  aus,  bei  der  „der  Kaiser  die  Schutzhoheit  iiber  das 
Reich  (hat),  den  Reichsstanden  dagegen  .  .  .  das  ius  territoriale  samt  Landeshoheit  zuer- 
kannt  (wird)"  (S.  231) .  Im  Vergleich  zu  den  seinerzeit  dominierenden  Positionen  der  sog. 
Caesarianer  und  Fiirsterianer,  die  entweder  dem  Kaiser  oder  den  Territorialfursten  eine 
dominante  Position  zuschrieben,  nahm  Hugo  damit  eine  vermittelnde  Position  ein.  Die- 
se  vermochte  sich  allerdings,  wie  die  Verfasserin  im  dritten  Teil  ihrer  Arbeit  im  einzel- 
nen  ausfiihrt  (S.  181-236),  zu  Unrecht  in  der  Folge  nicht  durchzusetzen,  obwohl  unter  an- 
derem  Leibniz  ahnliche  Ansichten  vertrat.  Dominant  wurde  stattdessen  bis  zum  Ende 
des  alten  Reiches  bekanntermaBen  die  Auffassung  Pufendorfs,  der  dieses  -  aus  seiner 
Sicht  unbefriedigenderweise  -  als  „Monstrum"  und  „Staatenbund"  ansah.  Aufmerksam- 
keit fand  die  Bundesstaatstheorie  dann  erst  weitaus  sparer  in  der  Paulskirchenverfas- 
sung,  bei  der  Reichsgriindung  1871  und  nicht  zuletzt  im  Grundgesetz.  Als  Fazit  halt  die 
Autorin  fest,  dass  „auch  der  moderne  Bundesstaatsbegriff  Hugo  verpflichtet  (bleibt)" 
(S.  231),  sein  Werk  aber  gleichzeitig  „den  politischen  Verhaltnissen  (seiner  Zeit)  .  .  .  ent- 
spricht"  (S.  236). 

Auch  wenn  der  Schwerpunkt  ihrer  Dissertation  legitimerweise  ein  verfassungsge- 
schichtlicher  ist,  so  erortert  Yvonne  Pfannenschmid  in  deren  ersten  Teil  „Leben  und 
Wirken"  immerhin  recht  ausfuhrlich  auch  die  von  der  bisherigen  Literatur  ebenfalls 
weitgehend  vernachlassigte  Biografie  und  amtliche  Tatigkeit  Ludolf  Hugos  (S.  19-61). 
Mit  Hilfe  einer  akribischen  Auswertung  des  sparlichen  einschlagigen  Quellenmaterials 


2  Yvonne  Pfannenschmid  (Ubers.),  Ludolf  Hugo:  Zur  Rechtsstellung  der  Gebietsherr- 
schaften  in  Deutschland,  Minister  2005. 

3  Sogar  in  dem  einschlagigen  biografischen  Referenzwerk  „Niedersachsische  Juristen"  aus 
dem  Jahre  2003  (hg.  von  Joachim  Ruckert  u.  Thomas  Vortmann)  ist  Hugo  lediglich  ein  knap- 
per  Kurzbeitrag  gewidmet  (S.  365). 


470  Besprechungen 

bringt  sie  in  diesem  Zusammenhang  zum  Beispiel  Licht  in  die  Diskussion  um  sein  Ge- 
burtsjahr,  das  sie  nunmehr  endgiiltig  mit  ,,1632"  ansetzt  (S.  19-20).  Auch  im  Bezug  auf 
Hugos  Ausbildungsgang  fordert  die  Verfasserin  neue  Erkenntnisse  zu  Tage  und  zwar 
hinsichtlich  seiner  Studienzeit,  die  er  nicht  -  wie  bisher  angenommen  -  zwischen  1649 
und  1652  ausschlieBlich  in  Helmstedt  verbrachte,  sondern  anschlieBend  zwei  weitere 
Jahre  lang  an  der  seinerzeit  europaweit  beruhmten  Rechtsfakultat  im  niederlandischen 
Leiden  (S.  21).  Diese  Tatsache  ist,  worauf  Frau  Pfannenschmid  mit  Recht  hinweist,  vor 
allem  insofern  von  Interesse,  als  Ludolf  Hugo  in  den  Vereinigten  Niederlanden  den  da- 
maligen  Prototyp  eines  Staatenbundes  vorfand  und  kennenlernte,  den  er  spater  fur  seine 
Heimat  ablehnen  sollte  (S.  45 ff.). 

Was  seine  juristische  und  amtliche  Tatigkeit  in  calenbergischen  bzw.  kurhanno- 
verschen  Diensten  betrifft,  so  bestatigt  und  verstarkt  sich  durch  die  Pfannenschmidsche 
Dissertation  im  wesentlichen  das  schon  bekannte  Bild  Hugos  als  eines  hervorragenden 
Juristen  und  einflussreichen,  aber  immer  loyalen  Staatsmannes.  Einzelne  neue  Facetten 
werden  aber  auch  hier  prasentiert,  indem  die  Autorin  etwa  zeigen  kann,  dass  seine  Mit- 
wirkung  beim  Erwerb  der  Kurwiirde  durch  Hannover  wohl  groBer  war  als  bisher  ange- 
nommen (S.  51).  Besonders  interessant  ist  in  diesem  Zusammenhang  schlieBlich,  was  sie 
liber  das  Verhaltnis  zwischen  Hugo  und  dem  ihm  als  Hof-  und  Kanzleirat  dienstlich  un- 
terstellten  Leibniz  zu  sagen  hat  (S.  29-33).  Wie  im  Einzelnen  dargelegt  wird,  war  dieses 
zwar  stets  hoflich,  korrekt  und  von  gegenseitigem  Respekt  fureinander  gepragt,  aber 
trotzdem  personlich  schwierig,  was  in  Anbetracht  der  vollig  verschiedenen  Charaktere 
der  beiden  Personen  nicht  uberrascht.  Im  Gegensatz  zum  „genialen  Leibniz"  hatte  nam- 
lich  Hugo  -  so  das  Resumee  der  Autorin  -  „keine  Freude  am  Wissen  um  des  Wissens  wil- 
len",  sondern  setzte  „seine  ausgepragten  juristischen  Fahigkeiten  und  seinen  scharfen 
Verstand  (ausschlieBlich)  .  .  .  zweckbestimmt  .  .  .  fur  die  Interessen  seines  Landesherrn 
(ein)".  Gerade  dies  macht  ihn  aber,  wie  Frau  Pfannenschmid  eindrucksvoll  zeigen  kann, 
zu  einem  der  bedeutendsten  Staatsmanner,  die  Kurhannover  hervorgebracht  hat. 

Trotz  der  verfassungshistorischen  Schwerpunktsetzung,  die  Hugos  bisher  unter- 
schatzte  Bedeutung  fur  die  Verfassungsgeschichte  auf  iiberzeugende  Weise  neu  ins  Be- 
wusstsein  riickt,  bietet  gerade  diese  Erkenntnis  ihrer  Arbeit  einen  wesentlichen  Ertrag 
auch  fur  die  niedersachsische  bzw.  hannoversche  Landesgeschichte.  Dafiir  ist  der  Auto- 
rin zu  danken. 

Kiel  Thomas  Krause 


Schnakenberg,  Ulrich:  Democracy-building.  Britische  Einwirkungen  auf  die  Entstehung 
der  Verfassungen  Nordwestdeutschlands  1945-1952.  Hannover:  Verlag  Hahnsche 
Buchhandlung  2007.  296  S.  Abb.  =  Veroff.  der  Historischen  Kommission  fur  Nieder- 
sachsen  und  Bremen  Bd.  237.  Geb.  26,-  €. 

Mit  seiner  in  Kassel  bei  Horst  Dippel  entstandenen  historischen  Dissertation  legt  Ulrich 
Schnakenberg  erstmals  eine  Gesamtbetrachtung  britischer  Verfassungspolitik  in  den 
Landern  in  Deutschland  wahrend  der  Besatzungszeit  vor.  Der  Titel  bringt  deutlich  zum 
Ausdruck,  dass  die  Arbeit  sich  vornehmlich  fur  die  britische  Perspektive  der  Verfas- 
sungsgebung  in  den  deutschen  Landern  der  Nachkriegszeit  interessiert.  Diese  Perspekti- 
ve und  die  Gesamtbetrachtung  aller  Lander  der  britischen  Besatzungszone  sind  neu.  Zur 


Rechts-,  Verfassungs-,  Verwaltungsgeschichte  471 

Entstehung  der  Landesverfassungen  gab  es  auch  bislang  schon  Einzeldarstellungen,  die 
sich  von  der  Arbeit  Schnakenbergs  aber  auch  dadurch  unterscheiden,  dass  sie  den  Focus 
der  Betrachtung  eher  auf  die  Entwicklungen  auf  deutscher  Seite  legen.  Hier  ist  allerdings 
aus  niedersachsischer  Sicht,  aus  der  die  Arbeit  betrachtet  werden  soil,  ein  erster  Kritik- 
punkt  anzubringen.  Die  bislang  umfangreichste  Monographie  zur  Entstehung  der  Nie- 
dersachsischen Landesverfassung  von  1951  wertet  Schnakenberg  nicht  aus.  Sie  istje- 
doch  in  dem  von  Schnakenberg  herangezogenen  Werk  von  Korte/Rebe,  Verfassung 
und  Verwaltung  des  Landes  Niedersachsen  (2.  Aufl.  1986),  nachgewiesen.  Schnaken- 
berg stellt  hingegen  auf  S.  24  fest,  fur  Niedersachsen  sei  bislang  keine  Monographie  zur 
Entstehungsgeschichte  der  niedersachsischen  Nachkriegsverfassung  erschienen.  Im 
gleichen  Zusammenhang  zeigt  sich  exemplarisch  auch  ein  etwas  stiefmiitterlicher  Um- 
gang  mit  der  einschlagigen  juristischen  Literatur.  Das  eben  genannte  breit  angelegte 
Handbuch  von  Korte/Rebe,  bezeichnet  er  als  Kommentar,  der  nur  in  der  Einfiihrung 
wenige  Anhaltspunkte  zur  Entstehungsgeschichte  der  niedersachsischen  Nachkriegs- 
verfassung biete  (S.  24,  FN  34)  ? 

Die  Arbeit  selbst  gliedert  sich  in  drei  Hauptteile:  „Voraussetzungen  britischer  Verfas- 
sungspolitik"  (Teil  A),  „Organisation  und  Phasen  britischer  Verfassungspolitik"  (Teil  B) 
und  „Landerstudien  zur  britischen  Verfassungspolitik"  (Teil  C) .  Diese  Gliederung  ist  ge- 
gliickt.  Sie  bietet  dem  Leser  zunachst  in  den  Teilen  A  und  B  einen  Gesamtuberblick,  be- 
vor  sie  auf  die  Entwicklungen  in  den  einzelnen  Landern  eingeht.  Damit  scharft  sie  den 
Blick  fur  ubergreifende  Fragen  und  erleichtert  das  Verstandnis  der  Einzeldarstellungen, 
auf  denen  insgesamt  der  Schwerpunkt  der  Arbeit  liegt.  Im  Anhang  sind  ein  Personenre- 
gister  und  eine  Zeitleiste  der  einschlagigen  wie  allgemein  bedeutender  Ereignisse  fur  die 
Jahre  1945  bis  1955  beigefiigt,  die  den  Uberblick  erleichtern  sollen. 

Innerhalb  der  Hauptteile  arbeitet  sich  Schnakenberg  abschichtend  vor,  in  dem  er  in 
Teil  A  zunachst  die  britische  Deutschlandpolitik  im  Gesamtzusammenhang,  dann  Pra- 
missen  britischer  Besatzungspolitik  und  schlieBlich  die  staatsrechtliche  Lage  Nordwest- 
deutschlands  darstellt.  Aus  juristischer  Sicht  ist  allerdings  anzumerken,  dass  beim  letz- 
ten  Punkt  nicht  in  eigentlich  staatsrechtliche  Fragestellungen  eingestiegen  wird.  Die 
eher  deskriptive  Darstellung  des  Faktischen  reicht  aber  fur  den  Zweck  des  Kapitels  aus. 
In  Teil  B  beleuchtet  Schnakenberg  die  Verantwortlichkeiten  in  der  britischen  Deutsch- 
land-/ Verfassungspolitik  und  die  Phasen  derselben. 

In  die  Landerdarstellung  reiht  Schnakenberg  auch  Bremen  und  Berlin  ein,  obgleich 
die  britische  Besatzungsmacht  hier  nicht  alleinverantwortlich  agierte,  da  Berlin  bekannt- 
lich  seinerseits  in  Besatzungszonen  aufgeteilt  war  und  Bremen  1947unter  amerikanische 
Besatzungshoheit  gestellt  wurde.  Dieses  Vorgehen  ist  sinnvoll,  weil  ohne  eine  Betrach- 
tung Bremens  und  Berlins  nicht  der  Gesamtuberblick  iiber  die  britische  Verfassungspo- 


1  Heidemarie  Gummert,  Die  Entstehung  der  Niedersachsischen  Landesverfassung  vom 
13.  April  1951,  1982  (Magisterarbeit  Heidelberg;  die  Arbeit  ist  zwar  nur  vereinzelt  in  Bibliothe- 
ken  zu  finden,  ware  aber  durchaus  greifbar  gewesen) . 

2  Seinem  breiten  Ansatz  folgend  bietet  das  Werk  durchaus  eine  ausfuhrlichere  Darstel- 
lung. Auf  den  S.  77-111  werden  dort  die  Punkte  behandelt,  welche  Schnakenberg  in  seiner  Lan- 
derstudie  Niedersachsen  auf  den  S.  175-195  abhandelt.  Auch  das  von  Schnakenberg  in  dersel- 
ben FuBnote  ebenfalls  als  Kommentar  bezeichnete  Werk  von  Hans-Peter  Ipsen,  Hamburgs 
Verfassung  und  Verwaltung,  1956,  ist  breit  angelegt. 


472  Besprechungen 

litik  hatte  erreicht  werden  konnen.  Die  Landerdarstellungen  schlieBt  Schnakenberg  mit 
einem  kurzen  Blick  auf  die  Verfassungsentwicklung  in  den  anderen  Zonen  ab.  Der  Auf- 
bau  der  Landerstudien  folgt  im  Allgemeinen  der  Chronologie .  Teilweise  geht  Schnaken- 
berg aber  auch  thematisch  vor,  wenn  er  z.B.  zur  Frage  der  Grundrechte  (etwa  zu 
Hamburg,  S.  127)  und  einer  moglichen  Bodenreform  (zu  NRW,  S.  166)  eigene  Abschnit- 
te  bildet.  Dies  wird  der  Bedeutung  der  angesprochenen  Fragen  in  der  Nachkriegszeit 
gerecht. 

Die  niedersachsische  Entwicklung  zeichnet  Schnakenberg  auf  den  S.  171-194  nach. 
Nach  einleitenden  Bemerkungen  zur  Landesgriindung  und  den  beteiligten  Personen 
geht  Schnakenberg  folgerichtig  zuerst  auf  das  „Gesetz  iiber  die  vorlaufige  Ordnung  der 
niedersachsischen  Landesgewalt"  ein  (S.  175  ff.) .  Die  Darstellung  hatte  an  dieser  Stelle 
gewonnen,  wenn  die  Daten  aller  Einzelschritte  (Uberweisung  an  Verfassungsausschuss, 
1.,  2.  und  3.  Lesung)  genannt  worden  waren.  So  bleibt  sie  etwas  untibersichtlich.  Auch 
ein  Blick  auf  die  Zeitleiste  im  Anhang  klart  die  Abfolge  nicht.  Schnakenberg  hatte  inso- 
weit  auf  die  vorliegenden  Darstellungen  verweisen  konnen.  Konsequenterweise  richtet 
Schnakenberg  auch  hier  sein  Hauptaugenmerk  auf  britische  Einfliisse,  wird  aber  etwas 
spekulativ.  So  vermutet  er  hinter  der  ziigigen  Beratung  im  Landtag  (1.  Lesung:  10.  De- 
zember  1946;  2.  und  3.  Lesung  11.  Dezember  1946)  britische  Einwirkung.  Dass  dies 
nicht  so  recht  zu  der  Tatsache  passt,  dass  die  Briten  umgehend  einige  Anderungen  ver- 
langten,  ist  Schnakenberg  wohl  auch  selbst  klar  (S.  176).  Andere  Erklarungsmoglichkei- 
ten  fur  die  schnelle  Beratung  erwagt  er  gleichwohl  nicht.  Dabei  hatte  bereits  Gummert 
(S.  65)  vor  25  Jahren  eine  ebenso  naheliegende  Erklarungsvariante  vertreten.  Fur  sie 
hing  die  ziigige  Beratung  damit  zusammen,  dass  es  sich  um  ein  besonders  regelungsar- 
mes  Gesetz  handelte,  dass  zudem  nur  iibergangsweise  gelten  und  bald  durch  eine  Voll- 
verfassung  abgelost  werden  sollte.  Auch  im  deutschen  politischen  Raum  diirfte  damals 
vielen  Verantwortlichen  klar  gewesen  sein,  dass  die  schwierigen  Aufgaben,  deren  Bewal- 
tigung  anstand,  ein  MindestmaB  an  politischer  Handlungsfahigkeit  voraussetzten.  Ange- 
sichts  der  Liickenhaftigkeit  und  Vorlaufigkeit  konnte  man  politisch  in  diesem  Stadium 
noch  nicht  viel  verlieren,  was  die  Bereitschaft  zu  einer  schnellen  Zustimmung  erhoht  ha- 
ben  diirfte.  Gummerts  Erklarung  ist  daher  mindestens  so  wahrscheinlich  wie  die  von 
Schnakenberg.  Letzterer  bringt  auch  keine  neuen  Fakten,  die  seinen  Standpunkt  unter- 
mauern  konnten.  Dieser  Mangel  hangt  auch  damit  zusammen,  dass  Schnakenberg  die 
Arbeit  von  Gummert  nicht  einbezogen  hat  (s.o.),  ebenso  wenig  wie  die  Darstellung  von 
C.  Franke  zum  ersten  Ansatz  einer  niedersachsischen  Verfassungsgebung  in  der  Besat- 
zungszeit.  Im  Zusammenhang  mit  der  provisorischen  Konstituierung  der  Landesgewalt 
hatte  Schnakenberg  noch  das  Landeswahlgesetz  vom  31.  Marz  1947  und  das  Gesetz  iiber 
den  Landtag  vom  14.  April  1947  untersuchen  konnen,  da  es  sich  um  materielles  Verfas- 
sungsrecht  handelt  und  der  von  Schnakenberg  gewahlte  Untersuchungsbereich  somit  ei- 
ne Einbeziehung  gerechtfertigt  hatte. 

Schnakenbergs  Arbeit  gewinnt  aber  wieder  an  Kontur,  wenn  er  im  Anschluss  iiber  die 
Einschatzung  der  deutschen  Politik  durch  die  britische  Besatzungsmacht  berichtet 


3  C.  Franke,  Die  Niedersachsische  Notverfassung  von  1947,  in:  F.J.  Duwell/T.  Vorn- 
baum  (Hrsg.),  Themen  juristischer  Zeitgeschichte,  Bd.  3,  Baden-Baden  1999,  S.  119-145;  auch 
nachgewiesen  bei  J.-D.  Kiihne,  Die  Entstehung  des  Landes  Niedersachsen  und  seiner  Verfas- 
sung,  in  E.  Brandt/M.-C.  Schinkel,  Staats-  und  Verwaltungsrecht  fiir  Niedersachsen,  Baden- 
Baden  2002,  S.  23-63,  den  Schnakenberg  durchaus  heranzieht. 


Rechts-,  Verfassungs-,  Verwaltungsgeschichte  473 

(S.  177  bis  180) .  Dieser  britische  Blickwinkel  ist  in  der  Literatur  bislang  nicht  so  deutlich 
herausgestellt  worden.  Gleiches  gilt  fur  die  Darstellung  der  Arbeiten  an  einer  Vollverfas- 
sung  (S.  181  f f . ) .  Auch  hier  sind  die  Passagen  am  ertragreichsten,  welche  die  britische 
Sichtweise  naher  beleuchten  (S.  186-189;  aber  auch  schon  183-186) .  Hier  wird  auch  deut- 
lich, von  welchen  unterschiedlichen  Grundpositionen  Deutsche  und  Briten  ausgingen 
und  dass  dies  zu  gegenseitigem  Missverstehen  fiihrte,  etwa  bei  der  Einrichtung  eines 
Staatsgerichtshofes  (S.  187).  Der  Gedanke  verfassungsgerichtlicher  Pruning  von  Geset- 
zen  blieb  den  Briten  bis  in  die  jiingste  Vergangenheit  hin  fremd,  da  eine  britische  staats- 
rechtliche  Grunddoktrin  die  voile  Souveranitat  des  Parlaments  als  Vertreter  des  Volkes 
ist.  Wenn  Schnakenberg  abschlieBend  (S.  194 f.)  die  britischen  Einfliisse  zusammenfasst 
und  bleibende  britische  Einfliisse  auch  auf  die  heutige  niedersachsische  Verfassungsla- 
ge  in  Form  des  Traditionsartikels  (heute  Art.  72  Abs.  1  NV)  zugunsten  der  ehemaligen 
Lander  Braunschweig,  Oldenburg  und  Schaumburg-Lippe  feststellt,  ist  ihm  zuzustim- 
men.  Insbesondere  derEinfluss  auf  die  Traditionsklausel  wird  auch  im  aktuellen  juristi- 
schen  Schrifttum  benannt.  Schnakenbergs  Aussage,  die  Forschung  habe  die  Einfliisse 
bislang  „weitestgehend  iibersehen"  (S.  194) ,  erscheint  somit  iiberzogen.  Zudem  lasst  sich 
die  Tragweite  des  britischen  Einflusses  anhand  Schnakenbergs  Darstellung  nur  schwer 
beurteilen,  weil  dieser  zwar  einen  schwindenden  Einfluss  der  Briten  auf  die  Arbeiten  an 
der  Vollverfassung  konstatiert  (S.  192) ,  aber  die  im  gleichen  MaB  bedeutender  werden- 
den  unterschiedlichen  deutschen  Ansatze  nicht  ausfiihrlich  beleuchtet.  So  wird  zur  Voll- 
verfassung nicht  auf  die  Behandlung  der  strittigen  Fragen  im  Landtag  und  auf  fachliche 
Einfliisse  auf  den  Landtag  von  auBerhalb,  etwa  durch  die  gutachterlichen  Stellungnah- 
men  Werner  Webers  und  Wolfgang  Abendroths  eingegangen.  Immerhin  wird  der 
Landtag  diesen  beiden  bedeutenden  niedersachsischen  Staatsrechtslehren  auch  einige 
Aufmerksamkeit  geschenkt  haben  (ausfiihrlich  zum  Ganzen  Gummert,  S.  100-122)  Bei- 
de  hatten  sich  etwa  zur  Einrichtung  einer  2.  Kammer  entschieden  negativ  geauBert 
(Gummert,  S.  121).  Ein  differenziertes  Bild  der  deutschen  wie  der  britischen  Seite  ist  da- 
her  -  jedenfalls  fur  Niedersachsen  -  nur  im  Zusammenhang  mit  den  bereits  vorhande- 
nen  Darstellungen  zu  gewinnen.  Schnakenberg  selbst  relativiert  im  abschlieBenden  Fa- 
zit,  dass  die  Briten  ab  etwa  1947  „nur  noch  eine  „Lobbyistengruppe"  unter  vielen"  gewe- 
sen  seien  (S.  258). 

Insgesamt  bereichert  die  Arbeit  die  vorhandenen  Darstellungen  durch  ihren  spezifi- 
schen  Blick  auf  die  britische  Sichtweise  und  ermoglicht  durch  ihren  die  gesamte  briti- 
sche Besatzungszone  umfassenden  Ansatz  einen  genaueren  Uberblick  und  Vergleich. 

Hannover  Peter  Armbrust 


4  Heinzgeorg  Neumann,  Die  Niedersachsische  Verfassung,  Handkommentar,  3.  Aufl. 
2000,  Art.  72,  RdNr.  1. 

5  Die  Stellungnahmen  finden  sich  bei  den  Landtagsdrucksachen;  auch  die  weiteren  Bei- 
trage  Werner  Webers  zum  Thema  werden  nicht  herangezogen  (Nachweise  bei  Korte/Rebe, 
S.  140). 


474  Besprechungen 

Die  NS-Gaue.  Regionale  Mittelinstanzen  im  zentralistischen  „Fiihrerstaat"?  Hrsg.  von 
JiirgenJoHN,  Horst  Moller  und  Thomas  Sohaarschmidt.  Miinchen:  R.  Oldenbourg 
Verlag  2007.  483  S.  =  Schriftenreihe  der  Vierteljahrshefte  fur  Zeitgeschichte  -  Son- 
dernummer.  Kart.  69,80  €. 

Im  September  2005  trafen  sich  in  der  Berliner  Dependance  des  Instituts  fur  Zeitge- 
schichte ,alte  Hasen'  der  NS-Forschung  und  jiingere  Wissenschaftler  zu  einer  Tagung, 
auf  der  eine  erste  Bilanz  der  Ertrage  der  Forschung  iiber  NS-Gaue  als  besondere  Herr- 
schaftsagenturen  gezogen  wurde,  denen  vermittelnde  Funktionen  in  dem  vielfach  von 
Dualismus,  Konkurrenz  und  unklaren  Kompetenzzuweisungen  gepragten  Mit-,  Neben- 
und  Gegeneinander  des  nationalsozialistischen  „Normen-„  und  „Ma6nahmenstaates" 
zufielen.  Die  bei  dieser  Tagung  in  fiinf  Sektionen  gehaltenen  Vortrage,  in  denen  von  un- 
terschiedlichen  theoretischen  und  methodischen  Pramissen  ausgehend  grundsatzliche 
Probleme  und  spezifische  Aspekte  der  Gauforschung  erortert  wurden,  sowie  die  zusam- 
menfassenden  Kommentare  der  Sektionsleiter  sind  in  diesem  Band  auf  400  Seiten  abge- 
druckt;  ein  mehr  als  60  Seiten  starker  Anhang,  der  neben  einem  Abkiirzungsverzeichnis, 
einer  Liste  derReferenten/Autoren  und  einem  Personenregister  ein  umfangreiches  Ver- 
zeichnis  der  in  den  Beitragen  zitierten  Forschungsliteratur  und  Quellenpublikationen 
sowie  vier  Karten,  drei  ausfuhrliche  Tabellen  und  drei  Schaubilder  enthalt,  beschlieBt 
den  Band. 

Die  erste  Sektion  ist  „Grundfragen"  der  Gauforschung  gewidmet,  die  erst  kiirzlich  als 
spezifischer  Forschungsansatz  identifiziert  worden  ist,  der  die  bisherige  regional-  und 
kulturgeschichtliche  Forschung  zur  nationalsozialistischen  Herrschaft  integrieren  und 
die  tradierten  theoretischen  und  methodischen  Zugriffe  wesentlich  erweitern  konne. 
Dies  legen  Thomas  Schaarschmidt  (Potsdam)  und  Jiirgen John  (Jena),  die  zusammen 
mit  Horst  Moller,  dem  Direktor  des  Instituts  fur  Zeitgeschichte,  die  Tagung  organisier- 
ten  und  auch  als  Herausgeber  dieses  Bandes  verantwortlich  zeichnen,  mit  einer  Skizze 
des  Forschungsstandes  zum  Thema  „Regionalitat  im  Nationalsozialismus"  (S.  13-21)  so- 
wie einem  Uberblick  zur  Funktion  der  Gaue  im  NS-System  und  dem  bislang  defizitaren 
Forschungsstand  sowohl  zu  den  Gauleitungen  als  auch  zu  den  Gauleitern  (S.  22-55)  dar. 
AnschlieBend  entwickelt  Rudiger  Hachtmann  (Potsdam)  das  theoretisch  anspruchsvolle 
Konzept  einer  „neuen  Staatlichkeit"  als  Interpretationsrahmen  fur  die  Funktion  und  Be- 
deutung  der  Gaue  im  NS-Herrschaftssystem  (S.  56-79),  wahrend  Bernhard  Gotto  (Miin- 
chen) unter  der  Fragestellung  „Dem  Gauleiter  entgegen  arbeiten?"  die  Reichweite  eines 
solchen  neuen  Deutungsmusters  kritisch,  aber  insgesamt  positiv  ausleuchtet  (S.  80-99). 
Mit  der  gleichen  Tendenz  fasst  Michael  Ruck  (Flensburg)  die  Beitrage  dieser  Sektion 
in  seinem  Kommentar  zusammen,  pladiert  allerdings  dafiir,  auf  den  „ambitionierten 
Terminus  ,neue  Staatlichkeit',  dessen  heuristischer  Nutzen  noch  durchaus  fragwiirdig 
ist",  solange  zu  verzichten,  „bis  eine  empirisch  fundierte  Begriffsbildung  moglich  ist" 
(S.  103). 

In  den  zwei  folgenden  Sektionen  geht  es  zum  einen  um  die  Rolle  und  Bedeutung  der 
Gaue  bei  der  Durchsetzung  der  NS-Rassenpolitik  und  der  „Euthanasie"  (S.  105-140)  so- 
wie zum  anderen  in  den  Bereichen  „Wissenschaft",  „Bildung"  und  „Kultur"  (S.  141-198). 
Vier  der  insgesamt  fiinf  Beitrage  in  diesen  beiden  Sektionen  folgen  dabei  einem  genera- 
lisierenden  oder  zumindest  mehrere  Gaue  vergleichenden  Forschungsansatz,  der  fiinfte 
konzentriert  sich  zwar  auf  ein  Gau,  betrachtet  die  dortigen  Gegebenheiten  aber  dezi- 
diert  als  „Sonderfall  und  Musterbeispiel"  ebenfalls  in  vergleichender  Perspektive. 


Wirtschafts-  und  Sozialgeschichte  475 

Dem  Bemiihen,  Grundlagen  fiir  eine  Typologisierung  der  Gaue  und  Gauverwaltun- 
gen  im  „Altreich"  sowie  der  nach  dem  „Anschluss"  Osterreichs  und  nach  Beginn  des 
Zweiten  Weltkriegs  gebildeten  „Reichsgaue"  zu  legen,  sind  schlieBlich  die  insgesamt  12 
Beitrage  der  letzen  beiden  Sektionen  gewidmet,  denen  zwei  Impulsreferate  von  Armin 
Nolzen  (Wiirzburg)  „Die  Gaue  als  Verwaltungseinheiten  der  NSDAP.  Entwicklungen 
und  Tendenzen  in  derNS-Zeit"  (S.  199-217)  und  Gerhard  Kratzsch  (Miinster)  „Das  wirt- 
schaftspolitische  Gauamt:  der  Gauwirtschaftsberater"  (S.  218-233)  vorangestellt  sind. 
Aus  niedersachsischer  Sicht  von  besonderem  Interesse  ist  dabei  der  Beitrag  von  Detlef 
Schmiechen-Ackermann  (Hannover),  der  am  Beispiel  der  drei  niedersachsischen  NS- 
Gaue  Sud-Hannover-Braunschweig,  Osthannover  und  Weser-Ems  „Voriiberlegungen 
fiir  eine  Typologie  von  NS-Gauen  und  ihren  Gauleitern"  anstellt,  um  „das  Potential  der 
Komparatistik  fiir  die  NS-Regionalforschung"  aufzuzeigen  (S.  234-253).  Dabei  bezieht 
er  sich  vor  allem  auf  statistische  MessgroBen  sowie  in  den  Tagebiichern  von  Joseph 
Goebbels  festgehaltene  personliche  Beurteilungen  der  Gauleiter,  wahrend  die  inzwi- 
schen  doch  recht  zahlreichen  lokal-  und  regionalgeschichtlichen  Forschungsarbeiten 
zur  nationalsozialistischen  Herrschaft  im  Bereich  des  heutigen  Landes  Niedersachen  - 
den  Nachweisen  in  den  Anmerkungen  zufolge  -  weitgehend  unberiicksichtigt  bleiben. 
Das  auf  dieser  Grundlage  entworfene  Bild  der  NS-Gaue  und  ihrer  Gauleiter,  das  eine 
vergleichende  Analyse  ohne  Frage  erleichtert,  entspricht  jedoch  nur  bedingt  spezifi- 
schen  regionalen  Gegebenheiten,  zumindest  im  ehemaligen  Land  Oldenburg  und  eini- 
gen  angrenzenden  Gebieten. 

Der  Rezensent  war  sich  nach  der  Lektiire  diese  Bandes  unschliissig,  ob  die  Gaufor- 
schung  sowohl  von  der  theoretischen  Fundierung  als  auch  von  ihrem  praktischen  Ertrag 
her  wirklich  wesentlich  neue  Erkenntnisse  zur  Struktur  und  zum  „Funktionieren"  der  na- 
tionalsozialistischen Herrschaft  erwarten  lasst,  oder  ob  es  sich  dabei  nicht  nur  zu  einem 
guten  Teil  um  alten  Wein  in  neuen  Schlauchen  bzw.  die  vielzitierte  „Sau"  handelt,  die 
mit  festem  Blick  auf  den  Zeitgeist  und  die  zunehmenden  Schwierigkeiten  bei  der  Ein- 
werbung  dringend  erforderlicher  Mittel  zur  Finanzierung  geschichtswissenschaftlicher 
Forschung  durchs  Dorf  getrieben  wird. 

Lilienthal  Karl-LudwigSoMMER 


WIRTSCHAFTS-  UND  SOZIALGESCHICHTE 


Die  Deutsche  Bank  in  Hannover.  Hrsg.  von  der  Historischen  Gesellschaft  der  Deutschen 
Bank.  Munchen:  Piper  2007.  148  S.  Abb.  =  Serie  Piper  4777.  Kart.  7,90  €. 

Der  vorliegende  sorgfaltig  gemachte  kleine  Band  bildet  einen  weiteren  Beitrag  zu  der  im 
Piperverlag  in  unregelmaBiger  Folge  erscheinenden  Reihe  „Die  Deutsche  Bank  in  Ein- 
zelbanden",  die  1996  mit  einem  historischen  Riickblick  iiber  125  Jahre  Deutsche  Bank  in 
Bremen  ihren  Anfang  genommen  hat.  Ahnliche  Taschenbucher  iiber  die  ortlichen  Ent- 
wicklungen des  genannten  Bankinstitutes  in  London,  Stuttgart,  Leipzig,  Mannheim, 


476  Besprechungen 

Frankfurt  a.M.  und  Liibeckfolgten  -  zumeist  anlasslich  eines  Jubilaums.  Ein  solcher  An- 
lass  ergab  sich  auch  fiir  die  Niederlassung  in  Hannover,  deren  Vorlauferin,  die  Hanno- 
versche  Bank,  am  2.  Januar  1857  -  also  vor  150Jahren  -  ihren  Geschaftsbetrieb  aufge- 
nommen  hat. 

Der  Band  besteht  aus  einem  rund  130  Seiten  umfassenden  historischen  Teil  und  ei- 
nem  zehnseitigen  knappen  Uberblick  iiber  die  heutige  Position  der  hannoverschen  Filia- 
le  im  Markt  und  ihre  moderne  Ausrichtung.  Der  geschichtliche  Riickblick  stammt  aus 
der  Feder  von  Martin  L.  Miiller,  seit  2006  Leiter  des  Historischen  Institutes  der  Deut- 
schen  Bank,  wahrend  der  aktuelle  Part  von  der  hannoverschen  Geschaftsleitung  verfasst 
wurde.  Diesen  letztgenannten  Seiten  kann  ein  gewisser  Marketingcharakter  nicht  abge- 
sprochen  werden,  der  aber  im  Rahmen  einer  Jubilaumsveroffentlichung  durchaus  ak- 
zeptabel  und  legitim  ist.  Angefugt  sind  dem  Ganzen  eine  Liste  derleitenden  Personlich- 
keiten  der  Hannoverschen  Bank  und  ihrer  Nachfolgeinstitute  sowie  ein  Verzeichnis  der 
Quellen  und  der  verwendeten  Literatur. 

Der  historische  Uberblick  ist  in  sechs  Kapitel  mit  zum  Teil  etlichen  Unterabschnitten 
gegliedert,  von  denen  das  Erste  dem  Umfeld  der  Grundung  der  Hannoverschen  Bank, 
dem  Konigreich  Hannover  und  seiner  Wirtschaft,  gewidmet  ist.  Die  iibrigen  Teile  be- 
schreiben  zunachst  die  Griindungsgeschichte  der  Hannoverschen  Bank  als  Aktienge- 
sellschaft  inklusive  der  in  diesem  Rahmen  aufgetretenen  nicht  unerheblichen  Wider- 
stande  und  die  Rolle  derselben  als  Notenbank  des  Konigreiches.  Daran  anschlieBend 
werden  die  strukturellen  Veranderungen  geschildert,  denen  das  Institut  unterworfen 
war,  die  unter  anderem  die  Aufgabe  des  Notenemissionsprivilegs  1889  nach  sich  zogen 
und  die  von  der  vollstandigen  Selbstandigkeit  bis  hin  zur  immer  starkeren  Einbindung  in 
einen  wachsenden  Bankenapparat  und  schlieBlich  zur  Fusion  mit  der  Deutschen  Bank 
im  Jahr  1920  fuhrten.  Des  Weiteren  werden  in  den  Kapiteln  die  Rolle  der  Hanno- 
verschen Bank  als  Filialbank  und  Kreditinstitut  der  heimischen  Wirtschaft  sowie  die 
wachsende  Bedeutung  des  Bankplatzes  Hannover  im  Laufe  des  20.  Jahrhunderts  vor 
dem  jeweiligen  wirtschaftlichen  und  politischen  Hintergrund  sowie  die  Stellung  des  In- 
stitutes in  diesem  Rahmen  dargestellt.  Sehr  detailliert  wird  die  Entwicklung  der  Perso- 
nal- wie  der  Kapitalstruktur  beschrieben,  die  unter  Einwirkung  der  beiden  Weltkriege, 
der  Inflationsjahre  und  der  groBen  Wirtschafts-  und  Bankenkrise  sowie  des  Nationalso- 
zialismus  und  der  politischen  und  wirtschaftlichen  Neuformierung  nach  1945  mit  der 
Zerschlagung  der  GroBbanken  zu  verzeichnen  war.  Der  sechste  Abschnitt  der  geschicht- 
lichen  Darstellungen  enthalt  die  Wandlungen  und  Anpassungsprobleme,  die  die  1957 
aus  Nachfolgeinstituten  wie  der  in  Hannover  ansassigen  Nordwestbank  bzw.  Norddeut- 
schen  Bank  A.G.  wieder  entstandene  Deutsche  Bank  als  Filialinstitut  an  dem  Messeplatz 
Hannover  mit  seiner  wachsenden  Bedeutung  erfahren  hat. 

Der  allerletzte  kurze  Unterabschnitt  in  diesem  Teil  ist  einem  Schatz  gewidmet,  der 
seine  Existenz  dem  kulturellen  und  finanziellen  Engagement  der  Deutschen  Bank  ver- 
dankt,  dem  unter  Leitung  des  bekannten  Numismatikers  Reiner  Cunz  stehenden 
Niedersachsischen  Miinzkabinett.  Diese  umfangreichen  historischen  Sammlungen  von 
Zahlungsmitteln  aus  aller  Welt  stammen  aus  dem  Besitz  des  Welfenhauses,  und  die 
Deutsche  Bank  hat  dankenswerter  Weise  deren  Zerschlagung  im  Rahmen  von  Versteige- 
rungen  verhindert. 

An  diesen  Hinweis  anschlieBend  sei  einem  an  der  Geld-  und  Wahrungsgeschichte 
interessierten  Wirtschaftshistoriker  auch  eine  kritische  Anmerkung  zu  dem  vorliegen- 
den  ansonsten  hervorragend  gemachten  Band  erlaubt:  Die  im  Laufe  der  aufgeblatterten 


Wirtschafts-  und  Sozialgeschichte  477 

150  Jahre  Bankengeschichte  zu  verzeichnenden  sieben  Wahrungsumstellungen  finden  - 
wenn  iiberhaupt  -  nur  eine  sehr  knappe,  ihrer  Bedeutung  fiir  den  Bankensektor  wohl 
kaum  entsprechende  eher  beilaufige  Erwahnung.  Dies  ist  bedauerlich,  denn  die  Zah- 
lungsmittel  in  ihrer  substanziellen  und  rechtlichen  Auspragung  bilden  schlieBlich  das 
zentrale  Medium  des  Bankengeschafts,  und  die  zum  Teil  wirklich  grundlegenden  Um- 
stellungen  in  diesem  Bereich  angefangen  bei  der  Wahrungsunion  der  Wiener  Konventi- 
on  von  1857  mit  dem  Ubergang  vom  friihneuzeitlichen  Miinzwesen  zu  einer  modernen 
Gestaltung  des  Wahrungswesens  bis  hin  zur  Einfuhrung  des  Euro  konnen  nicht  ohne 
zum  Teil  erhebliche  Auswirkungen  im  Bankenwesen  geblieben  sein.  Hierhatte  der  eine 
oder  andere  kurze  Kommentar  zu  diesen  Wahrungsreformen  eine  wertvolle  Erganzung 
zu  der  institutionengeschichtlichen  Ausrichtung  des  Bandes  bilden  konnen. 

Hardegsen  Hans-Jiirgen  Gerhard 


Gerhard,  Hans-Jiirgen,  Alexander  Engel:  Preisgeschichte  der  vorindustriellen  Zeit.  Ein 
Kompendium  auf  Basis  ausgewahlter  Hamburger  Materialien.  Stuttgart:  Franz  Stei- 
ner  Verlag  2006.  358  S.  Tab.  =  Studien  zur  Gewerbe-  und  Handelsgeschichte  der  vor- 
industriellen Zeit  Bd.  26.  Kart.  49,-  €. 

1990  und  2001  gaben  H.-J.  Gerhard  und  K.-H.  Kaufhold  als  Resultat  eines  Forschungs- 
projektes  Materialbande  mit  „Preisen  im  vor-  und  friihindustriellen  Deutschland" 
(Grundnahrungsmittel,  Getranke,  Gewiirze,  Rohstoffe  und  Gewerbeprodukte)  heraus. 
Nun  legt  Herr  Gerhard  (gemeinsam  mit  seinem  Mitarbeiter  A.  Engel)  ein  kurzes  Vade- 
mecum  zur  Preisgeschichte  vor  (S.  20-100)  und  schlieBt  daran  die  Publikation  hamburgi- 
schen  preisgeschichtlichen  Materials  von  1443-1821  an,  das  im  Rahmen  derErhebungen 
des  „International  Scientific  Commitee  on  Price  History"  in  den  1920erund  1930erjah- 
ren  ermittelt  wurde  (S.  101-313).  Das  Vademecum  liefert  zunachst  eine  kurze  Geschichte 
der  historischen  Preisforschung  (S.  19-39)  und  geht  dann  auf  quellenkundliche  und  me- 
thodische  Fragen  dieser  Disziplin  ein.  Es  werden  Uberlegungen  zum  Geld  als  histori- 
sches  Phanomen  und  zu  Wertvergleichen  zwischen  Vergangenheit  und  Gegenwart  an- 
gestellt;  die  Probleme  bei  der  Beurteilung  von  Warenpreisen  und  Lohnen/Gehaltern 
werden  ausgebreitet;  die  Aussagekraft  von  Preisdaten  wird  kritisch  hinterfragt.  Spezielle 
Uberlegungen  richten  sich  auf  das  Hamburger  Preismaterial,  das  im  Wesentlichen  aus 
der  Uberlieferung  des  St.  Georgs-  und  des  St.  Hiobs-Hospitals  stammt.  Gegen  die  Uber- 
legungen ist  im  allgemeinen  wenig  einzuwenden,  es  fallt  nur  auf,  dass  andere  als  die  der 
Gottinger  Forschungsgeschichte  verbundenen  preisgeschichtlichen  Arbeiten  (z.B.  von 
Dirlmeier,  Metz,  North,  Witthoft)  wie  auch  regionale  Preisstudien  aus  Deutschland, 
die  zum  Teil  Anlass  zu  heftigen  wissenschaftlichen  Kontroversen  boten,  hier  gar  nicht 
berucksichtigt  worden  sind  (Waschinski  und  die  um  sein  Werk  entbrannte  Debatte, 
Hausschildt,  Koppe,  um  nur  einige  zu  nennen).  Insofern  wurde  auch  die  von  W.  Koppe 
gestellte  Frage  nach  der  jahreszeitlichen  Preisschwankung  insbesondere  von  ernteab- 
hangigen  Agrarwaren  gar  nicht  weiter  behandelt:  Der  auf  das  Jahr  berechnete  Durch- 
schnittspreis  soil  es  tun  (egal,  ob  die  zu  diesem  Durchschnitt  herangezogenen  Preise 
iiberwiegend  aus  der  Zeitspanne  vor  Ernte  und  Drusch  oder  danach  stammen).  Ich  bin 
da  skeptisch,  wie  ich  aus  eigenen  Forschungen  lernen  durfte. 

Im  zweiten,  weitaus  groBeren  Teil  des  Buches  werden  die  Hamburger  Preisdaten  fiir 


478  Besprechungen 

Getreide  (1443-1821),  Getreideprodukte  und  weitere  pflanzliche  Grundnahrungsmittel 
(1445-1779),  Fisch  (1443-1785),  Fleisch,  Tiere  und  tierische  Produkte  (1443-1801),  Fette 
und  Ole  (1443-1802),  Geschmacks-  und  Genussmittel  (1443-1806),  Bier,  Hopfen  und 
Malz  (1443-1792),  Haute,  Tuche  und  Gespinste  (1445-1804),  Seifen,  Brenn-  und  Leucht- 
stoffe  (1445-1811)  und  Bau-  und  Werkstoffe,  Heu  (1443-1800)  sowie  Lohne  und  Gehalter 
(1444-1798)  in  tabellarischer  Form  geboten.  Ein  kleiner  Anhang  bietet  eine  Ubersicht 
liber  die  in  Hamburg  gebrauchlichen  MaBe  und  Gewichte,  iiber  das  Rechengeld  und  die 
Geldkurse  in  der  Hansestadt  sowie  eine  Liste  chronikalischer  Nachrichten  zum  Umfeld 
der  Preisgestaltungen.  Fur  die  Lokal-  und  Regionalforschung  sind  solche  auf  lokalen 
Markten  ermittelten  Preise  von  groBer  Bedeutung,  bieten  sie  doch  erwiinschtes  Material 
fur  die  Beantwortung  der  immer  wieder  auftretenden  Fragen  nach  der  Kaufkraft  von 
Lohnen  oder  Vermogen  oder  aber  fur  die  Ermittlung  konjunktureller  Wirtschaftsverlau- 
fe.  Was  das  Hamburger  Material  auf  nationaler  oder  dariiber  hinausgehender  Ebene  fiir 
einen  Wert  hat,  deuten  die  Bearbeiter  zwar  auf  S.  86-100  an,  konnen  damit  aber  -  trotz 
ihres  stochastischen  Instrumentariums  -  nicht  ganz  iiberzeugen,  weil  eben  in  vorindu- 
strieller  Zeit  nur  relativ  kleinraumige  Preisgestaltungen  feststellbar  sind. 

Hamburg  Klaus-J.  Lorenzen-Schmidt 


RoTTMANN,Rainer:  Die  Beckeroder  Eisenhiitte.  Geschichte  eines  derersten  Industriebetrie- 
be  im  Osnabriicker  Land  1836  -  1903.  Hagen:  Heimatverein  Hagen  2006.  336  S. 
Abb.,  graph.  Darst.  Geb.  13,-  €. 

In  der  Gemeinde  Hagen  a.T.W.  lag  im  19.  Jahrhundert  die  Beckeroder  Eisenhiitte,  von 
der  heute  kaum  noch  Spuren  vorhanden  sind.  Rainer  Rottmann,  ehem.  Vorsitzender  des 
Heimatvereins  Hagen,  hat  es  sich  zur  Aufgabe  gemacht,  die  fast  vergessene  Geschichte 
dieser  Vorgangerin  der  spateren  Georgs-Marien-Hiitte  aufzuarbeiten.  Diese  Beckerode 
Eisenhiitte  war  mit  der  erste  Industriebetrieb  in  Nordwestdeutschland.  Seine  Entste- 
hung  und  Entwicklung  legen  Zeugnis  ab  vom  „friihkapitalistischen  Pioniergeist  einzel- 
ner  Unternehmer"  und  von  der  „rasanten  technischen  Entwicklung  im  Montanbereich 
im  zweiten  Drittel  des  19.  Jahrhunderts". 

In  der  Umgebung  von  Hagen  (Natruper  Berg  =  Silberberg)  wurden  bereits  im  Mittel- 
alter  und  dann  von  1722  bis  1726  intensive  Bergbauversuche  auf  Silbererze  unternom- 
men.  Eisenerz  (sog.  Bergerz)  wurde  am  Hiiggel  und  Heidhorn  bei  Hagen  abgebaut  und 
verhiittet.  Erst  mit  der  Griindung  der  „Beckeroder  Eisenhiitte"  1836/37  wurde  der  Berg- 
bau  intensiviert.  Durchjahrhunderte  hindurch  musste  das  Osnabriicker  Land  Eisenwa- 
ren  aus  dem  Ausland  beziehen:  Sauerland  und  Lippe-Gebiet.  Im  ersten  Drittel  des  19. 
Jh.  lieferten  vor  allem  die  Eisenhiitten  des  benachbarten  PreuBen  Roheisen  und  Gussei- 
sen  (Gutehoffnungshiitte,  Isselburger  Hiitte,  die  Altenbekener  Eisenhiitte  und  die  Gra- 
venhorster  Eisenhiitte) .  Stahl  und  Stabeisen  kamen  aus  Schweden  und  GroBbritannien. 

1823  griindete  der  Eisenfabrikant  H.  Kronenberg  eine  EisengieBerei  auf  Gut  Sand- 
fort  bei  Osnabriick,  diejedoch  in  derMitte  des  19.  Jh.  nach  Norden/Ostfriesland  verlegt 
wurde.  Eine  weitere  GieBerei  des  Kaufmanns  C.  Weymann  wurde  1836  „auf  dem  Colo- 
nate  Spiegelburg  in  Nahne"  errichtet,  aber  bereits  1850  in  Osnabriick  angesiedelt.  Griin- 
der  der  Beckeroder  Eisenhiitte  war  der  aus  Osnabriick  gebiirtige  Johan  Carl  Forster.  Auf 
anderen  Hiitten  sammelte  er  geniigend  Erfahrungen  und  hatte  Kontakte  zu  fiihrenden 


Wirtschafts-  und  Sozialgeschichte  479 

Eisenhiittenleuten,  so  zu  Hiitteninspektor  Zintgraff.  Eisenerz,  Holzkohle,  Steinkohle, 
Wasser  (der  Goldbach  mit  zwei  Stauteichen  und  Hiittengraben)  standen  zur  Verfiigung. 
Die  von  Forster  aufgebrachten  finanziellen  Mittel  waren  jedoch  bald  erschopft,  so  dass 
erum  die  Wende  1837/1838  die  im  Aufbau  befindliche  Anlage  an  PostmeisterJ.F.Chr. 
Meyer  aus  Bohmte  verkaufte.  Dieser  wiederum  nahm  den  Kaufmann  D.W.  Meyer  als 
Teilhaber  mit  auf,  um  gemeinsam  das  Werk  zu  vollenden.  Im  Oktober  1839  konnte  der 
Hochofen  angeblasen  werden  -  der  erste  im  Osnabriicker  Land.  Eine  Dampfmaschine 
trieb  das  Zylindergeblase  fur  den  Hochofen  an. 

Rottmann  beschreibt  sehr  ausfuhrlich  in  verschiedenen  Kapiteln  die  einzelnen  tech- 
nischen  Anlagen  (Hochofen,  Geblase,  Dampfmaschine  und  Nutzung  der  Gichtgase 
durch  Winderhitzer,  Wasserrader).  Interessant  ist,  dass  das  Geblase  des  Beckeroder 
Hochofens  sowohl  mit  Wasserkraft  iiber  Wasserrader  als  auch  durch  eine  Dampfmaschi- 
ne angetrieben  wurde.  Anhand  vieler  Zahlen  und  Fakten  erklart  Verfasser  den  Hoch- 
ofenbetrieb  der  Eisenhutte,  so  die  Hochofenkampagnen,  den  Betriebsablauf  und  die  Be- 
triebsergebnisse  des  Hochofens.  Zwei  Kupolofen  dienten  in  der  Hiitte  zur  Herstellung 
von  Gusseisen.  Diese  wurden  damals  schon  mit  Koks  beheizt.  Nachdem  der  GieBereibe- 
trieb  zur  Georgs-Marien-Hiitte  verlagert  worden  war,  wurden  die  beiden  Kupolofen  um 
1860/1861  abgerissen.  Verfasser  stellt  danach  die  weiteren  Gebaude  vor  und  gibt  zum 
Teil  ausfuhrliche  Informationen  dazu:  zum  Kohlenschuppen,  zum  Magazingebaude, 
zum  Werkstattgebaude,  zum  Dampfkesselgebaude,  zur  Faktorenwohnung,  der  Platz- 
meisterwohnung,  zum  Badehaus  und  dem  Kalkofen. 

1842  wurde  der  Sohn  des  Postmeisters,  Julius  Meyer,  mit  in  die  Sozietat  aufgenom- 
men.  Vier  Jahre  spater  kam  es  zur  Versteigerung  des  Hiittenwerkes.  Der  neue  Besitzer 
war  der  bisherige  Teilhaber  Julius  Meyer.  Unter  seiner  „Stabfuhrung"  kam  es  1846/1847 
zum  Bau  eines  Herrenhauses,  1850  zum  Ausbau  der  mechanischen  Werkstatt,  um  nun 
selbst  auch  Maschinen-  und  Maschinenteile  fur  den  Verkauf  an  Dritte  produzieren  zu 
konnen.  In  diesem Jahr  wurde  auch  ein  Stahl-  und  Walzwerk  errichtet.  Damit  hatte  Mey- 
er die  technische  Moglichkeit  zur  Herstellung  von  diversen  maBhaltigen  Profilstaben 
und  Blechen.  Ein  Musterbuch  der  Hiitte  fiihrt  212  Produkte  auf.  In  den  weiteren  Kapi- 
teln dieser  Arbeit  beschreibt  Rainer  Rottmann  den  Kundenkreis,  die  Vermarktung  und 
das  Absatzgebiet.  Hierbei  profitierte  das  Werk  auch  vom  Eisenbahnbau  im  damaligen 
Konigreich  Hannover. 

Sehr  ausfuhrlich  behandelt  Verf.  die  Frage  nach  der  Material-  und  Rohstoffversor- 
gung,  so  vor  allem  die  Erzlagerstatten  mit  der  Erzaufbereitung,  das  Holzkohlenwesen, 
die  Steinkohle,  den  Koks,  die  Zuschlagstoffe  (Kalku.  Kiesel).  Das  Transportwesen  wird 
ebenso  sehrgenau  vorgestellt.  Breiten  Raum  nehmen  die  Unterlagen  zum  Thema  Mitar- 
beiter  der  Eisenhutte.  Unter  ihnen  befanden  sich  Angestellte  und  Arbeiter  aus  den  ver- 
schiedensten  Regionen,  auch  vom  Harz.  Damit  kamen  erstmals  evangelische  „Fremdar- 
beiter"  in  ein  fast  rein  katholisches  Gebiet,  das  vor  allem  durch  den  Aufbau  der  neuge- 
griindeten  Georgs-Marien-Hiitte  ab  1856  zu  groBen  Problemen  mit  der  einheimischen 
Bevolkerung  fiihrte.  Die  Beckeroder  Eisenhutte  hatte  in  dieser  Zeit  (1855)  insgesamt  ei- 
ne Belegschaft  von  166  Mann,  zusammen  mit  den  Fuhrleuten  fur  die  Holzkohle,  Stein- 
kohle und  Eisensteine  erhohte  sich  diese  Zahl  auf  322  Personen.  Damit  war  diese  Hiitte 
damals  der  groBte  Industriebetrieb  im  Osnabriicker  Land.  Sehr  ausfuhrlich  geht  Verf. 
auf  die  Arbeits-  und  Lebensbedingungen  sowie  die  soziale  Absicherung  der  Angestell- 
ten  und  Arbeiter  ein.  Es  wiirde  den  Rahmen  dieser  Rezension  sprengen,  hier  auf  Einzel- 
heiten  einzugehen.  Wichtig  ist,  dass  auf  Initiative  des  Julius  Meyer  1844  eine  „Kranken- 


480  Besprechungen 

casse  der  Eisenhiitte  zu  Beckerode"  gegriindet  wurde,  ideelle  Vorlauferin  des  auf  der  Ge- 
orgs-Marien-Hiitte  erst  Ende  1859  gegriindeten  Knappschaftsvereins  und  der  heutigen 
Betriebskasse  BKKin  der  Stadt  Georgsmarienhiitte. 

Der  Besitzer  der  Eisenhiitte, Julius  Meyer  (1817-1863),  wurde  als  Sohn  eines  Postmeis- 
ters  in  Bohmte  geboren,  heiratete  1838  eine  Kaufmannstochter  und  wurde  von  seinem 
Schwiegervater  mit  dem  Aufbau  einer  Eisenhiitte  in  Holte  beauftragt,  die  1842  ihren 
Betrieb  aufnahm.  In  dieser  Zeit  gehorte  Julius  Meyer  zum  „Rhedaer  Kreis  wahrer  Sozia- 
listen".  In  der  Zeitschrift  „Weser-Dampfboot"  (ab  1844),  einer  „zur  auBersten  Linken" 
tendierenden  Veroffentlichung,  erschienen  von  ihm  einige  programmatische  Aufsatze. 
Ab  1846  wurde  die  Beckeroder  Eisenhiitte  und  die  Eisenhiitte  in  SchloB  Holte  Treff- 
punkt  und  Zufluchtsort  vieler  Oppositioneller  aus  dem  demokratischen  und  sozialisti- 
schen  Lager.  1848/49  hielt  er  auf  Versammlungen  freiheitliche  Reden.  Meyer  gait  da- 
mals  als  ein  „schrecklicher  Freiheitsmann". 

Rainer  Rottmann  befasst  sich  dann  mit  den  Auswirkungen  der  Eisenhiitte  auf  das  Ge- 
meindeleben  (soziale  Auswirkungen,  sprachliche  und  wirtschaftliche).  1854-1856  kam 
es  zum  Verkauf  der  Beckeroder  Eisenhiitte.  Meyer  selbst  hatte  zu  wenig  Kapital,  um  in 
der  Hiitte  durch  die  standige  Anforderung  nach  Modernisierung  geniigend  investieren 
zu  konnen.  1851  iibertrug  er  die  Hiitte  einer  neu  entstandenen  Gewerkschaft,  an  denen 
er  selbst,  die  „Erben  Meyer"  und  sein  Schwiegervater  beteiligt  waren.  Zahe  Verhandlun- 
gen  zur  Ubernahme  mit  preuBischen  Investoren  scheiterten  am  Einspruch  der  Regie- 
rung  in  Hannover.  Nach  griindlichen  Untersuchungen  der  Situation  „vor  Ort"  lenkte 
Hannover  ein.  So  kam  es  1856  zur  Griindung  einer  Aktiengesellschaft  und  zum  Ankauf 
der  Beckeroder  Eisenhiitte  und  der  Bergbaukonzessionen.  Konig  Georg  V.  von  Hanno- 
ver gestattete  „unter  Bezeugung  seines  lebhaften  Interesses  an  dem  Zustandekommen 
und  Gedeihen  des  beabsichtigten  selbstandigen  und  vom  Ausland  ganz  unabhangigen 
vaterlandischen  Unternehmens",  dass  die  neue  Aktiengesellschaft  den  Namen  des  K6- 
nigspaares  erhalten  kann:  „Georgs-Marien-Bergwerks-  und  Hiittenvereins".  Der  Konig 
wollte  selbst  „das  Prospectorat"  iiber  die  Gesellschaft  iibernehmen.  Nach  nur  19  Jahren 
seit  der  Griindung  der  Beckeroder  Eisenhiitte  war  sie  in  das  Eigentum  eines  iiberwie- 
gend  in  Hannover  ansassigen  Kapitalkonsortiums  gekommen.  Julius  Meyer  hielt  mit 
50.000  Talern  einen  kleinen  Anteil  am  Gesamt-Aktienkapital.  Bald  war  er  mit  der  Lei- 
tung  des  GMBHV  vollig  zerstritten.  Die  Aktien  sanken  damals  im  Wert  und  die  neue 
Georgs-Marien-Hiitte  stand  kurz  vor  dem  Konkurs.  Meyer  wohnte  eine  gewisse  Zeit  in 
Hannover.  Dann  erwarb  er  1856  das  in  Belm  gelegene  Rittergut  Astrup,  wo  er  bis  1858 
fur  sich  und  seine  Familie  ein  neues  Wohnhaus  im  Stil  eines  Schlosses  erbauen  lieB.  Im 
Alter  von  45  Jahren  verstarb  dieser  Fabrikant  und  Revolutionar  Julius  Meyer  im  Fruhjahr 
1863.  Bereits  im  Herbst  wurde  der  Beckeroder  Hochofen  und  das  Stahl-  und  Walzwerk 
abgerissen.  Damit  endete  eine  kurze  Episode  eines  Eisenhiittenwerkes  im  Osnabriicker 
Raum.  Lediglich  die  Kesselschmiede  verblieb  und  wurde  bis  1903  weitergefiihrt. 

Rainer  Rottmann  hat  mit  seiner  Hiittenchronik  ein  viel  beachtetes  Werk  vorgelegt, 
das  auch  fur  AuBenstehende  sehr  viele  Informationen  enthalt.  Uberhaupt  hat  Verfasser 
akribisch  alle  verfiigbaren  Akten  und  Unterlagen  ausgewertet.  Mit  aussagekraftigen  Ab- 
bildungen,  vor  allem  von  der  Neuen  Hiitte  in  Schmalkalden  und  von  der  Louisenhiitte  in 
Wocklum/Balve,  illustriert  Verfasser  sehr  eindrucksvoll  seine  Ausfuhrungen  zur  Becke- 
roder Eisenhiitte,  von  der  kaum  Bildmaterial  vorliegt. 

Gottingen  Hans-Heinrich  Hillegeist 


Wirtschafts-  und  Sozialgeschichte  481 

Bramer,  Andreas:  Leistung  und  Gegenleistung.  Taix  Geschichte  jiidischer  Religions-  und 
Elementarlehrer  in  PreuBen  1823/24  bis  1872.  Gottingen:  Wallstein  Verlag  2006. 
550  S.  =  Hamburger  Beitrage  zur  Geschichte  derdeutschenJudenBd.  30.  Geb.  42,- €. 

In  der  groBen  Zahl  von  Untersuchungen,  die  zur  deutschen  Erziehungs-  und  Bildungsge- 
schichte  vorliegen,  kommt  der  jiidische  Aspekt  fast  iiberhaupt  nicht  vor.  Dagegen  hat 
sich  die  deutsch-jiidische  Geschichtsschreibung  in  den  letzten  Jahren  verstarkt  mit  Fra- 
gen  der  Bildung,  Erziehung  und  des  jiidischen  Schulwesen  beschaftigt  und  u.  a.  die  Ge- 
schichte jiidischer  Lehrerseminare  erforscht.  Ein  bisheriges  Forschungsdesiderat,  die 
Geschichte  der  jiidischen  Lehrer,  wird  nun  durch  eine  umfangreiche  Untersuchung  von 
Andreas  Bramer,  seit  2005  stellvertretender  Direktor  des  Hamburger  Instituts  fur  die  Ge- 
schichte der  deutschen  Juden,  ausgefiillt. 

Mit  der  iiberarbeiteten  Fassung  seiner  2004  am  Historischen  Institut  der  Universitat 
Hamburg  eingereichten  Habilitationsschrift  legt  Bramer  die  erste  detaillierte  Untersu- 
chung zur  Geschichte  der  jiidischen  Elementar-  und  Religionslehrer  in  PreuBen  vor.  Er 
beschreibt  ihren  Verberuflichungs-  und  Professionalisierungsprozess  vor  dem  Hinter- 
grund  der  Geschichte  des  jiidischen  und  nichtjiidischen  niederen  Schulwesens  im 
rechtlichen,  sozialen  und  religios-kulturellen  Kontext.  Beriicksichtigt  werden  Lehrer  an 
offentlichen  und  privaten  Elementarschulen  der  jiidischen  Gemeinden,  sowie  Privat- 
lehrer  in  jiidischen  Haushalten,  nicht  jedoch  jiidische  Lehrer  an  Mittel-  und  hoheren 
Schulen.  Bis  in  die  1870erjahre  handelte  es  sich  dabei  um  eine  fast  rein  mannliche  Do- 
mane.  Bramer  schreibt  den  Lehrern  eine  zentrale  Rolle  im  „Projekt  der  modernisieren- 
den  Transformation  und  Verbiirgerlichung  der  deutschen  Juden"  zu,  die  es  erlaube,  ih- 
re  Geschichte  als  „Indikator  fiir  den  Erfolg  der  kulturellen  Integrationsleistungen"  (31) 
heranzuziehen. 

Derthematisch  adaquate  Zeitrahmen  umfasst  ein  halbesJahrhundertEmanzipations- 
und  Akkulturationsgeschichte  der  deutschen  Juden:  Erbeginnt  mit  den  preuBischen  Mi- 
nisterialerlassen  der  Jahre  1823/24,  in  denen  erste  Bemiihungen  zur  Durchsetzung  der 
allgemeinen  Schulpflicht  fiir  jiidische  Kinder  und  -  zumindest  im  Ansatz  -  auch  zur  Ver- 
besserung  der  Unterrichtsqualitat  an  jiidischen  Schulen  sichtbar  werden.  Am  Ende  ste- 
hen  die  „Allgemeinen  Bestimmungen,  betreffend  das  Volksschul-,  Praparanden-  und 
Seminar-Wesen"  vom  Oktober  1872,  mit  denen  eine  Hebung  des  allgemeinen  Lernni- 
veaus,  eine  partielle  Entkonfessionalisierung  der  Volksschule  und  die  Verbesserung  der 
Lehrerbildung  angestrebt  wurde.  Damit  begann  eine  neue  Phase  preuBischer  Bildungs- 
politik,  in  der  endlich  auch  die  jiidischen  Bildungseinrichtungen  und  Lehrkrafte  in  den 
Reformprozess  einbezogen  waren. 

Das  Untersuchungsgebiet  umschlieBt  den  gesamten  preuBischen  Staat  einschlieBlich 
seiner  territorialen  Neuerwerbungen,  wobei  bei  letzteren  auch  die  vorpreuBische  Ent- 
wicklung  skizziert  wird.  Bramer  stellt  in  diesem  Zusammenhang  z.B.  fiir  Hannover  er- 
hebliche  Unterschiede  heraus,  die  auch  nach  der  Annexion  weiter  Bestand  hatten.  Er 
kann  sich  auf  eine  weit  gefacherte  Literatur  stiitzen,  die  von  lokal-  und  regionalge- 
schichtlichen  Untersuchungen  fiber  zeitgenossische  standespolitische  Schriften  jiidi- 
scher Lehrer  bis  zur  Berichterstattung  in  der  jiidischen  Presse  reicht.  Zudem  war  der 
Riickgriff  auf  ein  umfangreiches  Quellenmaterial  moglich,  darunter  besonders  Verwal- 
tungsakten  zum  jiidischen  Schul-  und  Unterrichtswesen  in  den  preuBischen  Provinzen 
sowie  Akten  der  jiidischen  Gemeinden  und  jiidischen  Verbande. 

Im  ersten  der  fiinf  Hauptkapitel  umreiBt  Bramer  die  Ausgangssituation  Anfang  des 


482  Besprechungen 

19.  Jahrhunderts.  Zu  dieser  Zeit  nahm  erst  ein  kleiner  Teil  der  jiidischen  Schiller  am  Un- 
terricht  der  allgemeinen  (christlichen)  Schulen  teil.  Die  Masse  besuchte  noch  die  tradi- 
tionellen  Gemeindeschulen  oder  wurde  durch  Hauslehrer  unterrichtet.  Der  Unterricht 
beschrankte  sich  auf  die  iiberkommenen  religiosen  Themenfelder  und  wurde  oft  noch 
in  jiddischer  Sprache  gehalten.  Fur  die  Kinderlehrer,  die  in  PreuBen  (und  ganz  Nord- 
deutschland)  hauptsachlich  aus  dem  polnischen  Judentum  stammten,  gab  es  weder  eine 
geregelte  Ausbildung  noch  eine  Uberpriifung  ihrer  beruflichen  Eignung.  Sie  wurden  - 
besonders  in  Kleingemeinden  und  von  Privatleuten  -  jeweils  nur  fur  kurze  Fristen  einge- 
stellt  und  schlecht  entlohnt.  Neben  dem  Unterricht  waren  sie  zugleich  als  Vorsanger 
(Kantoren)  und  Schachter  tatig.  Der  preuBische  Staat  nahm  noch  keinen  Einfluss  auf  die 
jiidische  Erziehung.  ReformanstoBe  aus  dem  Kreis  der  jiidischen  Aufklarer  fanden  nur 
wenig  Resonanz. 

Im  zweiten  Kapitel  beschreibt  Bramer  die  Entwicklung  der  rechtlichen  Rahmenbe- 
dingungen  der  Arbeitswelt  der  jiidischen  Lehrer.  Deutlich  wird  dabei,  welch  weiter  Weg 
zuriickzulegen  war,  bis  ersten  bildungspolitischen  Postulaten  auch  Taten  folgten.  Der 
preuBische  Staat  war  nicht  bereit,  sich  effektiv  fur  eine  bessere  Qualifikation  der  jiidi- 
schen Lehrer  zu  engagieren;  konnten  und  sollten  die  jiidischen  Schulkinder  doch  die  all- 
gemeinen Volksschulen  besuchen.  Jiidische  Lehrer  blieben  gegeniiber  ihren  christli- 
chen „Kollegen"  deutlich  diskriminiert.  Erhebliche  Widerstande  gegen  Neuerungen 
gab  es  zudem  in  den  jiidischen  Gemeinden,  die  die  traditionellen  Organisationsmuster 
des  jiidischen  Bildungssystems  gefahrdet  sahen.  Vielfach  waren  es  die  Bezirksbehorden, 
die  erste  Initiativen  entwickelten.  Erst  in  den  1860erjahren  sei  der  Stand  erreicht  wor- 
den,  dass  annahernd  alle  jiidischen  Lehrer  iiber  die  padagogischen  Mindestqualifikatio- 
nen  verfiigten. 

Im  dritten  Kapitel  geht  es  um  die  Bemiihungen  zur  Verbesserung  der  jiidischen  Leh- 
rerausbildung.  Bramer  stellt  die  Griindungsgeschichte  und  weitere  Entwicklung  der  jii- 
dischen Lehrerseminare  in  Berlin,  Breslau,  Miinster,  Hannover,  Kassel,  Bad  Ems  und 
Diisseldorf/Koln  mit  ihren  unterschiedlichen  Ausbildungskonzeptionen  vor  und  ver- 
weist  auf  erhebliche  finanzielle,  personelle  und  Qualitatsprobleme.  Die  Initiative  zur 
Griindung  kam  einzig  aus  padagogisch  engagierten  jiidischen  Kreisen.  Von  Seiten  des 
Staates  gab  es  weder  Steuermittel  noch  andere  Anreize  zur  Griindung,  auch  blieb  den  jii- 
dischen Ausbildungsstatten  die  staatliche  Anerkennung  als  priifungsberechtigte  Haupt- 
seminare  versagt.  Eine  relativ  privilegierte  Stellung  genossen  die  Seminare  in  Hannover 
und  Kassel. 

Das  vierte  Kapitel  beschaftigt  sich  detailliert  mit  der  soziookonomischen  Lage  der 
jiidischen  Lehrer,  die  sich  zwar  nach  und  nach  verbesserte,  ohne  jedoch  eine  Gleichstel- 
lung  mit  den  christlichen  Kollegen  zu  erreichen.  Die  Lehrer  blieben  haufig  auf  Neben- 
tatigkeiten  zur  Existenzsicherung  angewiesen.  Ihr  wachsendes  Selbstbewusstsein  als 
padagogische  Experten  und  ihr  Anspruch  auf  soziale  Anerkennung  kollidierten  mit 
einer  weiterhin  inferioren  Stellung  in  der  jiidischen  Gemeinde.  Uber  die  gesellschaftli- 
che  Wirkung  der  Lehrer  iiber  die  Gemeinden  hinaus  kann  Bramer  nur  wenig  mitteilen. 
Hier  ware  eine  Auswertung  der  Lokal-  und  Regionalpresse  sicherlich  sinnvoll. 

Die  Diskrepanz  zwischen  eigenem  Anspruch  und  soziookonomischer  Lebenslage 
war  auch  fur  jiidische  Lehrer  der  Stimulus  zur  berufsstandischen  Solidarisierung.  Das 
fiinfte  Kapitel  beschreibt  die  miihevollen  und  von  vielen  Riickschlagen  gekennzeichne- 
ten  Versuche  zur  beruflichen  Selbstorganisation  und  Selbsthilfe  durch  Griindung  von 
Provinzialvereinen,  einer  spezifischen  jiidischen  Lehrerpresse  und  Unterstiitzungskas- 


Wirtschafts-  und  Sozialgeschichte  483 

sen.  Eine  flachendeckende  Ausbreitung  wurde  nicht  erreicht;  weder  entstand  ein  preu- 
Bischer  Landesverein  noch  eine  deutschlandweite  Verbindung.  Zwar  entwickelte  sich 
ein  verstarktes  Zusammengehorigkeitsgefiihl,  aber  nach  auBen  hatte  man  nur  wenig  Er- 
folg  in  der  Interessenvertretung  zu  verzeichnen. 

In  seinen  Schlussbemerkungen  fasst  der  Autor  die  Entwicklung  bis  zum  Beginn  des 
Kaiserreichs  noch  einmal  pragnant  zusammen.  Seine  Bilanz:  Im  Prozess  der  Verbiirger- 
lichung  der  deutschen  Juden  erfiillten  die  jiidischen  Volksschullehrer  „als  Agenten  des 
administrativ  verordneten  Bildungsprojekts  eine  Vermittlungsfunktion,  deren  Bedeu- 
tung  nicht  zu  unterschatzen  ist"  (439 f.).  Der  Besuch  der  jiidischen  Elementarschulen 
nahm  im  Verlauf  des  19.Jahrhunderts  allerdings  immer  weiter  ab,  so  dass  diese  um  1901 
nur  noch  12  %  der  jiidischen  Schiiler  in  PreuBen  beschulten.  Uberproportional  stieg 
dagegen  der  Anteil  judischer  Schiiler  an  Mittel-  und  an  hoheren  Schulen.  Bramers  Ein- 
schatzung,  die  jiidischen  Elementarschullehrer  seien  „als  Wegbereiter  der  Akkumula- 
tion  zu  Opfern  ihres  eigenen  Erfolges"  geworden  (442),  wird  durch  diese  Tatsachen  re- 
lativiert. 

Bramer  dokumentiert  das  von  ihm  erfasste  Datenmaterial  in  50  (!)  Tabellen  und  legt 
ein  detailliertes  Literatur-  und  Quellenverzeichnis  vor.  Die  Register  beriicksichtigen  lei- 
der  nicht  die  FuBnoten,  die  u.  a.  viele  noch  weiter  auszuwertende  Hinweise  auf  einzelne 
jiidische  Lehrer  und  ihre  wechselnden  Wirkungsstatten  enthalten. 

Auch  wenn  in  dieser  Arbeit  die  rein  preuBische  Perspektive  durch  Einbeziehung  der 
neu  erworbenen  Provinzen  durchbrochen  wird,  besteht  bei  ihrer  Rezeption  die  Gefahr, 
dass  -  ebenso  wie  bei  vielen  anderen  Aspekten  der  deutsch-jiidischen  Geschichte  -  zu 
schnell  von  den  preuBischen  auf  die  gesamtdeutschen  Verhaltnisse  geschlossen  wird.  Es 
gibt  also  fur  die  vergleichende  Forschung  noch  viel  zu  tun.  Dies  gilt  auch  fur  die  vom  Au- 
tor bereits  partiell  angesprochene  hannoversche  Entwicklung,  zu  der  noch  viele  Quellen 
in  niedersachsischen  Archiven  ihrer  Auswertung  harren.  Andreas  Bramer  hat  mit  seiner 
gehaltvollen  Untersuchung  hohe  MaBstabe  fur  die  weitere  Forschung  gesetzt! 

Wardenburg  Werner  Meiners 


Herges,  Catherine:  Aufklarung  durch  Preisausschreiben?  Die  okonomischen  Preisfragen 
der  Koniglichen  Societat  der  Wissenschaften  zu  Gottingen  1752-1852.  Bielefeld:  Ver- 
lag  fur  Regionalgeschichte  2007.  270  S.  Abb.,  graph.  Darst.  =  Gottinger  Forschungen 
zur  Landesgeschichte  Bd.  11.  Kart.  24,-  €. 

Die  Verfasserin  hat  in  ihrer  Dissertation  einen  hochinteressanten  Uberlieferungsstrang 
untersucht,  der  es  erlaubt,  das  wirtschaftliche  und  soziale  Veranderungsdenken  im  Kur- 
fiirstentum  und  Konigreich  Hannover  wahrend  der  entscheidenden  Umbruchszeit  von 
1750  bis  1850  in  den  Blick  zu  nehmen  und  relativ  haufig  auch  mit  dem  tatsachlich  ablau- 
fenden  Modernisierungsgeschehen  zusammenzusehen.  Es  handelt  sich  um  im  weiteren 
Sinne  okonomische  Preisfragen,  die  ein  Jahrhundert  lang  in  der  Regel  zweimal  im  Jahr 
in  den  Gottinger  Gelehrten  Anzeigen,  dem  Rezensionsorgan  der  Sozietat  der  Wissen- 
schaften zu  Gottingen,  ausgeschrieben  und  deren  daraufhin  eingegangene  Antworten 
ebendort  diskutiert  und  beurteilt  sowie  im  Falle  der  Preiswiirdigkeit  in  der  Wochenzeit- 
schrift  „Hannoversches  Magazin"  oder  auch  selbstandig  veroffentlicht  wurden. 

Frau  Herges  hat  zunachst  anhand  bisher  kaum  genutzter  Quellen  und  daher  auch  mit 


484  Besprechungen 

neuen  Ergebnissen  die  Umstande,  in  denen  das  Institut  der  okonomischen  Preisfragen 
entstanden  ist  und  in  der  letzten  Halfte  des  18.  sowie  in  der  ersten  des  19.  Jahrhunderts 
existiert  hat,  geklart:  Kurz  nach  der  Griindung  der  Sozietat  der  Wissenschaften  zu  Got- 
tingen  im  Jahre  1750  und  ganz  ihrem  Forschungsauftrag  entsprechend  hat  der  inner- 
halb  der  Calenbergischen  Landschaft  in  zahlreichen  Funktionen,  zuletzt  als  Landsyndi- 
cus,  tatige  Albrecht  Christoph  von  Wiillen  die  okonomischen  Preisfragen  dadurch  ins 
Leben  gerufen,  dass  er,  der  das  hannoversche  Intelligenzkontor  auf  Pachtbasis  betrieb 
und  also  die  Hannoverschen  Anzeigen,  die  offiziose  hannoversche  Zeitung,  und  ihrwo- 
chentliches  Beiblatt,  das  Hannoversche  Magazin,  herausgab,  aus  seinem  Vermogen  den 
Preis  im  Wert  von  zweimal  jahrlich  12  Dukaten  gestiftet  und  fur  die  Publikation  der  po- 
sitiv  bewerteten  Antwortschriften  gesorgt  hat.  Die  Entscheidung  iiber  die  Fragestellun- 
gen  und  die  Beurteilung  der  eingereichten  Schriften  lag  dann  jedoch  bei  der  Sozietat 
der  Wissenschaften,  die  iiber  beides  in  ihrem  bereits  genannten  renommierten  Publika- 
tionsorgan  berichtete  und  damit  den  Preisfragen  weite  Aufmerksamkeit  in  der  wissen- 
schaftlichen  Welt  und  einen  groBeren  Kreis  von  Personen,  der  sich  durch  sie  angespro- 
chen  fiihlen  konnten,  sicherte.  In  eigentumlicher  Weise  verbanden  sich  mithin  in  die- 
sem  Preisgeschehen  private,  politische  und  wissenschaftliche  Impulse  und  Interessen, 
die  im  verflochtenen  hannoverschen  Personennetzwerk  bestanden.  Sie  haben  schlieB- 
lich  auch  darauf  eingewirkt,  dass  sich  fur  das  Unternehmen  schnell  feste  Formen  ausbil- 
deten:  Da  namlich  nicht  nur  die  Sozietatsmitglieder,  sondern  auch  A.  v.  Wiillen  selbst 
sowie  namhafte  andere  Privatpersonen  Vorschlage  fur  Fragen  unterbreiten  konnten, 
waren  diese  haufig  auf  die  Ltisung  aktueller  wirtschaftlicher  und  sozialer  Probleme  aus- 
gerichtet,  hatten  also  durchaus  gemeinnutzige  Absichten.  Und  dem  entsprechend  soil- 
ten  die  nach  einem  bestimmten  System  anonym  einzureichenden  Antworten  dann  in 
deutscher  Sprache  und  aus  pragmatischer  Grundhaltung  abgefasst  sowie  knapp  und 
konkret  formuliert  sein. 

Schon  aufgrund  dieser  Gegebenheiten  bejaht  die  Verfasserin  entschieden  ihre 
Grundfrage,  ob  das  Institut  der  okonomischen  Preisfragen  einen  Beitrag  zur  Aufklarung 
geleistet  habe.  Sie  scheint  dann  aber  zu  Recht  doch  daran  zu  zweifeln,  dass  die  in  der 
Spataufklarung  angestrebte  Wirkung  auf  breitere  Volksschichten,  Volksaufklarung  also, 
auf  dem  Weg  iiber  die  Beantwortung  derartiger  Preisfragen  zu  erreichen  gewesen  ist. 
Und  schlieBlich  schieBt  sie  nach  Auffassung  des  Rez.  dann  doch  iiber  das  Begriindbare 
betrachtlich  hinaus  und  weist  den  okonomischen  Preisfragen  eine  zu  groBe  Wirkung 
und  Bedeutung  zu,  wenn  sie  diese  mehrfach  als  Schritt  in  die  Ausbildung  eines  „burgerli- 
chen  Staates"  und  in  die  „Umformung  seiner  gesellschaftlichen  Basis"  (S.  94)  bewertet. 

Die  lange  Zeit  bestehende  Anfangskonstellation  geriet  dann  aber  mit  dem  Tode  v. 
Wiillens  im  Jahre  1789  in  Bedrangnis.  Und  erst  nach  einer  schwierigen  Ubergangszeit 
konnte  mit  der  Ubernahme  des  Intelligenzkontors  und  seiner  Publikationen  in  staatliche 
Regie  ab  1792  auch  der  finanzielle  und  verfahrensmaBige  Fortbestand  der  Preisstiftung 
als  gesichert  gelten.  Indessen  ist,  wie  Frau  Herges  nachweisen  kann,  seit  1815/16,  mit 
dem  Aufbau  des  Konigreichs  Hannover  also,  in  den  Fragestellungen  ein  bezeichnender 
Wandel  eingetreten.  Kaum  mehr  standen  sie  namlich  jetzt  noch  im  Zusammenhang  mit 
den  groBen  wirtschaftlichen  und  sozialen  Reform themen  der  Zeit,  zunehmend  zogen  sie 
sich  vielmehr  auf  die  Suche  nach  iiberzeugenden  technisch-naturwissenschaftlichen 
Losungen  spezieller  Fertigungs-  oder  Nutzungsverfahren  zuriick.  Und  in  der  Mitte  des 
19.  Jahrhunderts  wurde  das  okonomische  Preisausschreiben  schlieBlich  mit  der  Begriin- 
dung  ganz  eingestellt,  an  der  Gottinger  Universitat  bestunde  jetzt  auf  den  hauptsachlich 


Wirtschafts-  und  Sozialgeschichte  485 

in  den  Preisfragen  angesprochenen  Gebieten,  im  Bereich  der  Agrarokonomie  und  der 
Volkswirtschaft,  ausreichende  Sachkompetenz  und  Forschungskapazitat  und  daher  be- 
diirfe  es  nicht  mehr  des  Weges,  iiber  Preisfragen  praktische  Erkenntnisse  und  Erfahrun- 
gen  zu  gewinnen. 

Diesem  institutionen-  und  personengeschichtlich  ausgerichteten  ersten  Teil  ihrer 
Dissertation  hat  Frau  Herges  dann  einen  breite  Kenntnis  der  wirtschaftliche  und  sozia- 
len  Probleme  voraussetzenden  zweiten  folgen  lassen,  in  dem  sie  die  gestellten  Fragen 
und  die  auf  sie  ergangenen  Antworten  mit  dem  wirklichen  Reformgeschehen  im  hanno- 
verschen  Staat  konfrontiert  und  zusammengefuhrt  hat.  Da  jedoch  die  Vielfalt  des  Frage- 
und  Antwortmaterials  insbesondere  auch  angesichts  des  noch  immer  unbefriedigenden 
wirtschaftsgeschichtlichen  Forschungsstandes  keineswegs  ausgeschopft  werden  konnte, 
hat  sie  sich  zurecht  schwerpunktmaBig  auf  das  Veranderungsgeschehen  im  Bereich  der 
Landwirtschaft  und  auf  den  Wandel  konzentriert,  der  auf  dem  sozialen  Sektor  vor  sich 
gegangen  ist.  Wie  schwer  der  Verfasserin  dann  aber  selbst  die  Bewaltigung  dieser  einge- 
schrankten  Untersuchungsfelder  gefallen  ist,  zeigt  ihre  manchmal  unsystematische  Vor- 
gehensweise,  die  nicht  selten  zudem  die  bereits  eingeschrankte  Thematik  auch  wieder 
verlasst. 

Was  zunachst  den  Bereich  der  landwirtschaftlichen  Neuerungen  anbelangt,  so  hat 
Frau  Herges  zu  Anfang  der  1760erjahre  einen  Fragenkomplex  festgestellt,  der  um  das 
Gemeinheitsteilungs-  und  Verkoppelungsthema  kreiste,  jedoch  bei  der  Beurteilung  der 
Antworten  damals  noch  kein  eindeutiges  Ergebnis  hervorgebracht  hat.  In  den  Missern- 
te-  und  Teuerungsjahren  1771  bis  1773  wurde  dann  in  mehreren  Varianten  die  Frage  ge- 
stellt,  ob  freiem  Kornhandel  oder  einer  rechtzeitigen  Kornmagazinierung  nach  preuBi- 
schem  Vorbild  der  Vorzug  zu  geben  sei.  Diese  prinzipiell  zugunsten  des  freien  Kornhan- 
dels  entschiedene  Frage  stand  dabei  ganz  konkret  mit  einem  umstrittenen  Kornankauf 
der  Calenbergischen  Landschaft  zum  Zweck  der  Aufrechterhaltung  des  Branntwein- 
brennens  und  des  Geldzuflusses  in  die  entsprechende  landschaftliche  Kasse  in  Verbin- 
dung.  1772  gewann  des  Weiteren  Westfeld  die  Preisfrage,  ob  es  dem  Staat  Vorteile 
brachte,  wenn  die  Frondienste  abgeschafft  wiirden.  Und  tatsachlich  sind  daraufhin  die 
von  den  Bauern  auf  den  hannoverschen  Domanen  in  natura  zu  leistenden  Herrendiens- 
te  zwischen  1774  und  1790  sukzessive  in  Geldzahlungen  umgewandelt  worden.  Gegen 
Ende  des  18.  Jahrhunderts  machte  schlieBlich  eine  Reihe  wiederholter,  nicht  beantwor- 
teter  Fragen  auf  das  Fehlen  ausreichender  statistischer  Kenntnisse  iiber  Land  und  Leute 
im  Kurfiirstentum  aufmerksam.  Hier  ist  es  dann  der  Verfasserin  entgangen,  dass  es  in 
den  96  vom  Kommerzkollegium  1786  gestellten  Fragen  durchaus  ein  Verfahren  gege- 
ben  hat,  durch  das  die  wirtschaftlichen  und  sozialen  Zustande  auf  der  Ebene  der  Magi- 
strate, Amter  und  Gerichte  sehr  detailliert  fixiert  worden  sind.  Und  um  dann  vor  allem 
deutlich  zu  machen,  dass  sich  die  Sozietat  der  Wissenschaften  zu  Gottingen  wederunter 
franzosischer  Herrschaft  noch  im  Konigreich  Hannover  staatlichem  Druck  gebeugt  hat, 
hat  Frau  Herges  auch  nicht  gezogert,  ihre  Betrachtung  des  Zusammenhangs  zwischen 
landwirtschaftlichem  Reformdenken  und  -geschehen  bald  wieder  zu  verlassen,  und  fur 
diese  Zeit  vor  allem  auf  kritische  Preisfragen  wie  die  nach  einer  zweckmaBigen  Modifi- 
zierung  der  Zunftverfassung  hingewiesen. 

Auch  ihr  zweiter,  den  „sozialpolitischen"  Neuerungen  gewidmeter  Teil  des  Versuchs, 
Konzeptentwiirfe  und  konkretes  Umsetzen  zusammenzubringen,  hat  selten  Zusammen- 
hangendes  und  wenig  Einheitliches  ergeben:  Hier  erkennt  sie  ausgangs  des  18.  Jahrhun- 
derts zwar  eine  Reihe  detaillierter  Fragen,  die  darauf  abzielen,  die  Armenfiirsorge  in 


486  Besprechungen 

Stadt  und  Land  zu  verbessern.  Mit  Ausnahme  der  vom  Superintendenten  Wagemann  in 
Gottingen  initiierten  Industrieschulbewegung  vermag  sie  dann  aber,  da  die  sozialge- 
schichtliche  Erforschung  des  Kurfiirstentums  noch  sehr  zuriickhangt,  keine  entspre- 
chenden  tatsachlichen  Reformvorgange  zu  benennen.  Dagegen  diirfte  die  auf  Credit  der 
Calenbergischen  Landschaft  1766  begriindete  Witwenverpflegungskasse  und  ihre  wech- 
selvolle  Geschichte  u.  a.  direkt  auf  eine  Frage  nach  Vorschlagen  zur  Anlegung  guter 
Witwenkassen  aus  demjahre  1764  zuriickgehen.  Und  schlieBlich  scheint  auch  konkreter 
Wandel  im  lokalen  Feuerloschwesen  mit  Klarungen  in  Verbindung  zu  stehen,  welche  die 
Preisfragen  der  Jahre  1773  und  1774  hinsichtlich  der  Verbesserung  der  Feuerloschan- 
stalten  in  den  kleinen  Stadten  und  auf  dem  Lande  erbracht  haben. 

Frau  Herges  hat  am  Ende  ihres  Werkes  in  einem  mehr  als  40seitigen  Anhang  die  oko- 
nomischen  Preisfragen  und  ihre  Preistrager  sowie  die  Veroffentlichungsstellen  der  Fra- 
gen  und  der  Berichte  iiber  die  Beurteilungen  und  Preisverleihungen  aufgelistet.  Sie  hat 
damit  der  Forschung  ein  Material  an  die  Hand  gegeben,  das  iiber  ihre  Feststellungen 
hinaus  Aufschluss  iiber  vielfaltigen  weiteren  Wandel  im  Kurfiirstentum  und  Konigreich 
Hannover,  beispielsweise  auf  dem  gewerblichen  und  technischen  Sektor,  zu  geben  ver- 
spricht.  Mit  Recht  und  Entschiedenheit  hat  sie  zudem  im  Verlauf  ihrer  Arbeit  immer 
wieder  gegeniiber  der  alteren  Forschung  die  Reformfahigkeit  Hannovers  betont.  Diese 
von  der  Verfasserin  aufbereitete  Quelle  sollte  kiinftig  genutzt  werden,  um  gerade  diese 
Thematik  weiterzubehandeln  und  auf  dem  Weg  der  Zusammenfassung  der  einzelnen 
Bausteine  einer  neueren  Gesamtbeurteilung  zuzufiihren. 

Hannover  Otto  Merker 


Hollandgang  im  Spiegel  der  Reiseberichte  evangelischer  Geistlicher.  Quellen  zur  saisonalen  Ar- 
beitswanderung  in  der  zweiten  Halfte  des  19.  Jahrhunderts.  Hrsg.  von  Albin  Gladen, 
Antje  Kraus,  Piet  LouRENS,Jan  Lucassen,  Peter  Schram,  Helmut  Talazko  und  Gerda 
van  Asselt.  Minister:  Aschendorff  2007.  2  Bde.  XXXIII,  1225  S.  Abb.,  Kt.  =  Ge- 
schichtliche  Arbeiten  zur  westfalischen  Landesforschung:  Wirtschafts-  und  sozialge- 
schichtliche  Gruppe  Bd.  17.  Geb.  98,-  €. 

Die  Quellenedition  der  deutsch-niederlandischen  Forschergruppe  um  die  Historiker  Al- 
bin Gladen,  Piet  Lourens  und  Jan  Lucassen  gibt  einen  auBergewohnlichen  Einblick  in 
ein  spezifisches  Migrationsphanomen  -  die  Hollandgangerei.  Diese  besondere  Form 
saisonaler  Arbeitsmigration  hatte  sich  im  17.  Jahrhundert  aufgrund  divergenter  okono- 
mischer  Verhaltnisse  in  den  Niederlanden  und  in  den  im  Nordosten  angrenzenden  deut- 
schen  Gegenden  herausgebildet.  Prosperierende  niederlandischen  Stadte  wie  Amster- 
dam, Rotterdam  und  Den  Haag  lockten  mit  einer  boomenden  Wirtschaft  und  guten  Ver- 
diensten  und  losten  bei  groBen  Teilen  der  niederlandischen  Landbevolkerung  eine 
Abwanderung  aus  den  ruralen  Regionen  in  die  urbanen  Zentren  aus.  Die  entstandene 
Liicke  in  der  Landarbeiterschaft  musste  durch  den  Zuzug  von  nicht  ortsansassigen  Per- 
sonen  geschlossen  werden.  Diese  Arbeitskrafte  stammten  aus  grenznahen  deutschen 
Gebieten  wie  dem  Miinsterland,  Ostfriesland,  dem  Osnabriicker  Raum  oder  dem  Lip- 
perland,  aus  Regionen,  in  denen  der  heimische  Arbeitsmarkt  iiberbesetzt  war.  Von  Haus 
aus  mit  landwirtschaftlichen  und  handwerklichen  Tatigkeiten  vertraut,  zogen  die  Wan- 
derarbeiter  wahrend  der  Sommermonate  iiber  die  Grenze,  um  in  der  niederlandischen 


Wirtschafts-  und  Sozialgeschichte  487 

Landwirtschaft  zu  arbeiten,  die  gute  Erwerbsmoglichkeiten  bot.  Das  Hauptziel  der  deut- 
schen  Wanderarbeiter  -  die  Provinz  Holland  -  gab  dieser  Migrationsbewegung  den 
Namen.  Bis  zum  19.  Jahrhundert  hatte  sich  zwischen  den  deutschen  Herkunfts-  und  den 
niederlandischen  Arbeitsregionen  ein  ausgepragtes  Informations-  und  Kommunikati- 
onsnetzwerk  herausgebildet.  Die  Hollandgangerei  war  fur  viele  Familien  in  den  grenz- 
nahen  deutschen  Gebieten  zu  einem  entscheidenden  okonomischen  Faktor  geworden, 
da  die  Saisonarbeit  in  den  Niederlanden  einen  wesentlichen  Beitrag  zum  jahrlichen 
Einkommen  beitrug. 

(Selbst-)Zeugnisse,  die  einen  tiefgehenden  Einblick  in  die  Dynamik  eines  Wande- 
rungsgeschehens  geben,  sind  naturgemaB  selten  und  meist  nur  durch  zeitintensive  Re- 
cherche zu  erschlieBen.  Daher  ist  diese  Quellenedition,  die  129  Berichte  evangelischer 
Geistlicher  chronologisch  von  1849  bis  1893  zusammenfuhrt,  besonders  wertvoll.  Die 
Reiseberichte  der  Geistlichen,  die  sich  seit  der  Mitte  des  19.  Jahrhunderts  der  religiosen 
Betreuung  der  Hollandganger  widmeten  und  ihre  Mitteilungen  an  den  Zentralausschuss 
der  Inneren  Mission  sandten,  bilden  nicht  nur  die  Reisetatigkeit  und  den  seelsorgeri- 
schen  Alltag  ab  und  sind  nicht  nur  aus  kirchen-  und  frommigkeitsgeschichtlicher  Per- 
spektive  (Erweckungsbewegung/Innere  Mission)  interessant.  Ungeachtet  ihrer  geistli- 
chen Pragung,  beinhalten  die  Aufzeichnungen  Informationen  iiber  die  allgemeine  Le- 
benssituation  der  Migranten,  mit  denen  die  Seelsorger  gemeinsam  Andachten  abhielten 
und  fur  die  sie  wichtige  Verbindungsglieder  zwischen  dem  Arbeitsplatz  in  den  Nieder- 
landen und  der  Heimat  in  den  deutschen  Regionen  darstellten.  Sie  berichten  sowohl 
iiber  politische,  gesellschaftliche  und  wirtschaftliche  Zustande  und  Entwicklungen  in 
den  Niederlanden  als  auch  iiber  Alltaglichkeiten  wie  das  Wetter  oder  die  Versorgungssi- 
tuation  der  Wanderarbeiter.  In  migrationsgeschichtlicherHinsicht  eroffnen  die  Berichte 
einen  seltenen  detaillierten  sozial-  und  alltagsgeschichtlichen  Einblick  in  das  regionale 
wie  internationale  Migrationsgeschehen  der  Hollandgangerei. 

Die  Edition  zeichnet  sich  durch  einen  sorgfaltigen  Umgang  mit  dem  Quellenmaterial 
aus.  Zwar  ist  das  sprachliche  Erscheinungsbild  der  Berichte  behutsam  aktualisiert,  Wort- 
und  Satzbild  sind  dagegen  beibehalten.  Niederlandische  Texte  finden  sich  sowohl  im 
Original  als  auch  in  der  deutschen  Ubersetzung.  Der  umfangreiche  Anhang  gibt  Infor- 
mationen iiber  die  Verfasser  der  Quellen  und  ermoglicht  auch  dem  theologisch  unsiche- 
ren  Leser  durch  die  Auflistung  von  Bibelzitaten,  geistlicher  Lieder  und  Festtagen  einen 
erweiterten  Zugang  zu  den  Reiseberichten.  Karten,  Bilder  und  Ortsregister  vervollstan- 
digen  diese  nicht  nur  fur  die  historische  Migrationswissenschaft  oder  die  Regional-  und 
Landesgeschichte  gewinnbringende  Edition,  die  in  erster  Linie  einen  neuen  und  diffe- 
renzierten  Blick  auf  einen  bereits  gut  erforschten  Ausschnitt  deutscher  Migrationsge- 
schichte  bietet.  Sie  verfiigt  jedoch  zusatzlich  iiber  eine  hohe  Aktualitat.  Angesichts  der 
gegenwartig  nicht  nur  in  Deutschland  und  Europa  hohen  Zahlen  von  Arbeitsmigranten, 
der  anhaltenden  Diskussion  iiber  Pendlerpauschale  und  Mobilitat  von  Arbeitskraften 
und  die  wiederholt  geauBerte  Notwendigkeit  zur  nachhaltigen  Flexibilitat  auf  dem  Ar- 
beitsmarkt,  kann  das  Beispiel  der  Hollandganger  im  Spiegel  der  Reiseberichte  evangeli- 
scher Geistlicher  die  Gelegenheit  eroffnen,  an  einem  historischen  Fall  aktuellen  gesell- 
schaftsokonomischen  Fragestellungen  nachzugehen. 

Gottingen  Sabine  Heerwart 


488  Besprechungen 

Schroder,  Ulrich:  Rotes  Band  am  Hammerand.  Geschichte  der  Arbeiterbewegung  im 
Landkreis  Osterholz  von  den  Anfangen  bis  1933.  Bremen:  Donat-Verlag  2007.  479  S. 
Abb.,  graph.  Darst,  Kt.  Geb.  32,-  €. 

Die  Geschichte  der  Arbeiterbewegung  in  landlichen  Regionen  ist  von  der  Geschichts- 
wissenschaft  in  den  letzten  Jahren  und  Jahrzehnten  eher  stiefmiitterlich  behandelt  wor- 
den.  Umso  bemerkenswerter  ist  deshalb  die  Studie  „Rotes  Band  am  Hammerand",  in 
der  die  Entwickhmg  der  lokalen  und  iiberortlichen  Gliederungen  der  Arbeiterparteien 
und  der  Gewerkschaften  sowie  die  Lebensumstande  und  besondere  Alltagsprobleme 
der  Arbeiterschaft  im  nordostlich  an  die  Hansestadt  Bremen  angrenzenden  Landkreis 
Osterholz  seit  dem  Beginn  der  Industrialisierung  in  diesem  Gebiet  in  den  1860erjahren 
bis  zur  nationalsozialistischen  Machtiibernahme  im  Jahre  1933  nachgezeichnet  werden. 
Sie  iiberzeugt  nicht  nur  inhaltlich  als  materialgesattigte,  akribisch  recherchierte  Unter- 
suchung,  sondern  auch  stilistisch  als  durchweg  leserfreundliche,  iiber  weite  Strecken 
spannend  geschriebene  Darstellung,  in  der  sich  die  padagogische  und  didaktische  Kom- 
petenz  des  Autors  widerspiegelt,  der  seit  Ende  der  1970erjahre  als  Geschichtslehrer  an 
den  berulsbildenden  Schulen  in  Osterholz-Scharmbeck  tatig  ist  und  2006  fiir  die  Betreu- 
ung  regionalgeschichtlicher  Schiilerprojekte  mit  dem  ersten  Preis  der  Henning  von 
Burgsdorff  -  Stiftung  ausgezeichnet  wurde. 

In  seiner  Studie,  fiir  die  er  eine  Fiille  von  Materialien  unterschiedlicher  Provenienz 
(vom  Protokollbuch  des  Osterholzer  Gewerkschaftskartells  iiber  amtliches  Schriftgut 
und  private  Deposita  im  Kreisarchiv  Osterholz  und  den  Staatsarchiven  in  Stade,  Hanno- 
ver und  Bremen,  die  einschlagigen  Jahrgange  ortlicher  und  regionaler  Tages-  ,  Partei- 
und  Gewerkschaftszeitungen  bis  hin  zu  Unterlagen  aus  Privatbesitz  und  Zeitzeugenin- 
terviews)  herangezogen  hat,  begniigt  sich  Ulrich  Schroder  nicht  damit,  wesentliche 
Etappen  und  besondere  Ereignisse  in  der  Geschichte  der  Osterholzer  Arbeiterbewe- 
gung zu  schildern.  Er  ordnet  diese  vielmehr  in  die  regionalen  und  iiberregionalen  politi- 
schen  Ablaufe  ein  und  den  fiir  den  Zeitraum  seit  Ende  des  19.  Jahrhunderts  bis  zum  Un- 
tergang  der  Weimarer  Republik  pragenden  Tendenzen  der  wirtschaftlichen  und  gesell- 
schaftlichen  Entwicklung  zu.  Auf  diese  Weise  kann  er  iiberzeugend  herausarbeiten,  wie 
sich  die  „groBen"  Geschichte  auf  ortliche  Ablaufe  auswirkte  bzw.  wie  entsprechende 
Vorgange  und  Ereignisse  vor  Ort  „verarbeitet"  wurden.  Dabei  erweist  sich  der  Kreis 
Osterholz  vor  allem  aus  zwei  Griinden  als  ein  besonderes,  aber  auch  besonders  interes- 
santes  Untersuchungsfeld:  Zum  einen  waren  viele  Osterholzer  Arbeiter  auf  den  Werften 
und  in  anderen  Industriebetrieben  im  benachbarten  Bremen  beschaftigt,  wo  fiihrende 
Vertreter  der  „radikalen  Linken"  wahrend  des  Ersten  Weltkriegs  eine  Mehrheit  der  orga- 
nisierten  Arbeiterschaft  hinter  sich  versammeln  konnten  und  nach  Kriegsende  die  Bre- 
mer Raterepublik  errichteten,  die  Anfang  Februar  1919  von  Truppen  der  Reichswehr 
und  Freikorpsverbanden  mit  Waffengewalt  liquidiert  wurde.  Zum  anderen  bildete  sich 
auf  dem  Barkenhoff  in  Worpswede  eine  kommunistische  Zelle  besonderer  Art,  deren 
Existenz  vor  allem  in  den  ersten  Wochen  und  Monaten  nach  Ende  des  Ersten  Weltkriegs 
nicht  zuletzt  wegen  Heinrich  Vogelers  Tatigkeit  als  Pressekommissar  des  Osterholzer 
Arbeiter-  und  Soldatenrates1  auf  das  Kreisgebiet  ausstrahlte. 


1  Vgl.  Ulrich  Schroder:  Heinrich  Vogeler  als  Pressekommissar  des  Arbeiter-  und  Solda- 
tenrats  Kreis  Osterholz.  Dokumentation  einer  Artikelserie  vomjanuar  1919,  in:  Arbeiterbewe- 
gung und  Sozialgeschichte,  H.  18/Dezember  2006,  S.  91  ff. 


Wirtschafts-  und  Sozialgeschichte  489 

Ulrich  Schroder  hat  seine  Studie  grundsatzlich  chronologisch  strukturiert:  Einem 
kompakten  Abriss  zur  Formierung  und  Entwicklung  der  sozialdemokratischen  Arbeiter- 
bewegung  im  Kreis  Osterholz  wahrend  des  Kaiserreichs  bis  zum  Beginn  des  Ersten 
Weltkriegs  (S.  21-34)  folgt  eine  ausfiihrlichere  Skizze  zur  organisatorischen  Entwicklung 
der  Arbeiterbewegung  und  zu  den  alltaglichen  Lebensbedingungen  der  Arbeiterschaft 
wahrend  des  Ersten  Weltkriegs  (S.  35-69) .  AnschlieBend  werden  in  drei  Kapiteln,  die  zu- 
sammen  gut  drei  Viertel  des  Gesamtumfangs  der  Darstellung  ausmachen,  der  Zeitraum 
von  der  Novemberrevolution  1918  bis  zur  „relativen  Stabilisierung"  der  Weimarer  Repu- 
blik  im  Fruhjahr  1924  (S.  70-206) ,  die  Jahre  der  „relativen  Stabilisierung"  bis  Ende  1929 
(S.  207-263)  und  die  letzten  Krisenjahre  der  Republik  bis  zu  ihrem  Untergang  im  Fruh- 
jahr 1933  einschlieBlich  eines  kurzen  Ausblicks  auf  die  Zerschlagung  und  Verfolgung 
der  organisierten  Arbeiterbewegung  und  deren  sich  formierenden  Widerstand  gegen 
die  nationalsozialistischen  Machthaber  (S.  264-343)  abgehandelt.  Jedes  dieser  Kapitel 
ist  systematisch  untergliedert,  indem  dem  sozialdemokratischen  und  dem  kommunisti- 
schen  Lager  sowie  den  Gewerkschaften  eigene  Abschnitte  gewidmet  sind,  die  durch  in 
sich  geschlossene  Ausfiihrungen  zu  besonderen  Sachthemen,  z.B.  „Politischer  Protest, 
soziale  Bewegungen  und  immer  wieder  die  Kleinarbeit"  (S.  168-206)  oder  „Soziale  Ver- 
elendung  und  politische  Polarisierung  in  der  Wirtschaftskrise"  (S.  264-278)  erganzt  wer- 
den. Jeden  dieser  Abschnitte  beschlieBen  kompakte  Zusammenfassungen,  die  es  nicht 
nur  einem  ,fluchtigen'  Leser  erlauben,  sich  schnell  iiber  die  wesentliche  Ergebnisse  von 
Schroders  Untersuchung  zu  informieren,  sondern  auch  fur  ,ausfuhrliche'  Leser  eine  will- 
kommene  Hilfestellungbieten,  angesichts  der  Vielzahl  von  Personen  undje  spezifischen 
Vorgange  in  den  einzelnen  Ortschaften,  die  zwangslaufig  in  dieser  Studie  Erwahnung 
finden  mussten,  den  Uberblick  iiber  die  „groBen  Linien"  der  Entwicklung  zu  behalten. 
Ein  gut  80  Seiten  starker  Anmerkungsapparat  sowie  ein  ausfiihrlicher  Anhang  mit  24  Ta- 
bellen  und  4  Grafiken  zu  partei-  und  sozialstatistischen  Daten,  dem  obligatorischen  Ab- 
kiirzungs-,  Quellen-  und  Literaturverzeichnis  sowie  einem  Personen-  und  einem  Ortsre- 
gisterkomplettieren  diesen  Band,  der  mit  insgesamt  27Fotografien  und  Faksimiles  leider 
etwas  „sparsam"  illustriert  ist. 

In  seinem  Geleitwort  (S.  16f.)  stellt  der  friihere  niedersachsische  Kultusminister  Rolf 
Wernstedt  zutreffend  heraus,  dass  Ulrich  Schroder  „ein  wichtiges  Stuck  deutscher  Ge- 
schichte  am  Beispiel  einer  Region  fabelhaft  aufgearbeitet  und  durchschaubar  gemacht" 
habe.  Seine  Studie  sei  eine  „historische  Fundgrube:  kein  antiquiertes  Geschichtsbuch, 
sondern  ein  Angebot  zu  verstehen,  warum  die  Geschichte  so  verlaufen  ist  wie  geschehen 
und  warum  es  auch  auf  die  sogenannten  ,kleinen  Leute'  ankommt."  Dem  hat  der  Rezen- 
sent  nichts  hinzuzufiigen  auBer  dem  Wunsch,  dass  dieser  Band  nicht  nur  im  Kreis  Oster- 
holz, in  Bremen  und  in  den  an  den  Kreis  Osterholz  angrenzenden  Landstrichen  des  El- 
be-Weser-Dreiecks,  sondern  auch  uberregional  viele  Leser  findet,  die  sich  „ausfiihrlich" 
auf  Ulrich  Schroders  beeindruckende  Studie  einlassen. 

Lilienthal  Karl-LudwigSoMMER 


490  Besprechungen 

Siedburger,  Giinther:  Zwangsarbeit  im  Landkreis  Gottingen  1939-1945.  Hrsg.  vom  Land- 
kreis  Gottingen.  Duderstadt:  Mecke-Druck  2005.  571  S.  Abb.  Geb.  29,95  €. 

Drei  Jahre,  nachdem  Giinther  Siedbiirger  nach  18monatiger  Bearbeitungszeit  (S.  5)  - 
mit  dem  Besuch  von  40  Archiven  und  14  Gesprachspartnern,  der  Erfassung  von  ca. 
14.700  Namen  (S.  14)  und  der  Versendung  von  Fragebogen  (S.  15)  -  dem  Auftraggeber 
Landkreis  Gottingen  2002  das  Ergebnis  seiner  Arbeit  vorgelegt  hatte,  erschien  ein  sei- 
tenstarkes  Buch. 

Unter  dem  Thema  „Zwangsarbeit"  ist  in  dem  knapp  bemessenen  Bearbeitungszeit- 
raum  eine  Art  Dokumentation  iiber  im  -  heutigen  -  Landkreis  Gottingen  eingesetzte 
Zivilarbeiter  entstanden.  Auf  fast  jeder  Seite  wird  aus  Akten  und  Berichten  zitiert,  in  die 
zuvor  eingefiihrt  wird  und  die  danach  wieder  kommentiert  werden.  (Bereits  Uberschrif- 
ten  der  Abschnitte  und  Unterabschnitte  werden  mit  einem  Zitat  eingeleitet.)  Nach 
einem  Blick  auf  die  rechtliche  Situation  auslandischer  Arbeiterinnen  und  Arbeiter 
(S.  19-33)  und  deren  Weg  iiber  Anwerbung  oder  Deportation  nach  Siidniedersachsen 
(S.  34-69)  ist  der  Arbeitseinsatz  der  Zivilarbeiterinnen  und  Zivilarbeiter  in  den  Altkrei- 
sen  Gottingen,  Miinden  und  Duderstadt  nach  Wirtschaftsbereichen  (S.  70-362)  geglie- 
dert:  1.  Landwirtschaft  (unterteilt  nach  Beispielen  aus  kleinen  Betrieben,  einem  groBen 
Betrieb  und  Landwirtschaftslagern  in  Duderstadt),  2.  Forstwirtschaft  (getrennt  nach 
Dauer-  und  Saisonbeschaftigung),  3.  Steinbriiche,  4.  Handwerk  (mit  der  Thematisie- 
rung  von  Arbeitskraftemangel  und  Arbeitskrafteverschiebung,  materielle  und  psychi- 
sche  Situation,  Verbindung  zum  Widerstand  und  einem  „Beschaftigungsmodell",  der 
Schuhreparaturwerkstatt),  5.  Hauswirtschaft,  6.  Industrie  (anhand  von  Beispielen  aus 
Miinden,  Duderstadt  und  19  Landgemeinden)  und  7.  der  Eisenbahnbereich  (mit  Bei- 
spielen aus  Ausbesserungswerken  und  Einsatzstellen,  aber  auch  zu  Arbeitsvertragsbrii- 
chen  und  zum  Leben  in  einem  Lager).  Es  schlieBt  eine  kurz  gehaltene  Darlegung  der 
Gesundheitssituation  an  (S.  363-383),  bevor  die  Dokumentation  zu  Bedrohung  und 
Verfolgung  breiteren  Raum  einnimmt  (S.  384-510)  und  von  Kontrolle,  Einschrankun- 
gen,  Dauerrepressalien,  Bedrohung,  Misshandlung  -  mit  mehr  als  50  Seiten  zum  „Fall 
Himmingerode"  (bis  zur  Einstellung  wegen  Verjahrung  1954)  -,  Fluchtversuchen,  BuB- 
geldern,  Haft  in  Polizei-  und  Gerichtsgefangnissen,  Arbeitserziehungslagern  (AEL  Brei- 
tenau,  Lager  21,  Liebenau,  Lahde)  und  KZ,  Hinrichtungen  sowie  Bestrafung  von  Ein- 
heimischen,  besonders  wegen  „verbotenem  Umgangs",  berichtet;  abschlieBend  wird 
knapp  die  Befreiung  belegt  (S.  511-517). 

Im  14seitigen  „Uberblick:  Zwangsarbeit  auf  dem  Gebiet  des  heutigen  Landkreises 
Gottingen"  (S.  70-83)  finden  sich  Diagramme  zu  Herkunftslandern,  Geschlecht,  Einsatz- 
bzw.  Arbeitsbereich,  Altersstruktur,  Ankunft  und  Aufenthaltsort.  Wahrend  im  Abschnitt 
zum  „Weg  nach  Siidniedersachsen"  auf  Arbeitskrafte  aus  vier  Landern  (Polen,  Ostarbei- 
ter,  Niederlander  und  Italiener)  eingegangen  wird,  zeigen  die  Diagramme  auch  die  wei- 
teren  Herkunftslander  oder  Nationalitaten;  warum  in  einigen  UdSSR und  Ukraine  oder 
auch  Jugoslawien:  Serbien  und  Slowenien  gesondert  in  den  Diagrammen  erscheinen, 
bleibt  unerklart. 

In  der  16seitigen  „Ubersicht  iiber  Lager  von  auslandischen  Zivilarbeitern  auf  dem 
Gebiet  des  heutigen  Landkreises  Gottingen  1939-1945"  (S.  84-98)  sind  die  Orte  aufge- 
listet,  in  denen  sich  Zivilarbeiterlager  befanden,  mit  Angaben  zu  Standort,  Belegung  und 
Arbeitseinsatz;  unter  Bemerkungen  finden  sich  diverse  weitere  Informationen  und  in 
der  letzten  Spalte  die  Quellenbelege;  nicht  beriicksichtigt  wurde  die  Zeit  des  Bestehens 


Wirtschafts-  und  Sozialgeschichte  491 

bzw.  gleichzeitige  oder  auf  einander  folgende  Belegung  des  Lagers.  Eine  zweite,  vier- 
spaltige  Ubersicht  (S.  154-159)  erfasst  „gro6e  landwirtschaftliche  Betriebe  in  der  Re- 
gion", aul  denen  „zehn  oder  mehr  auslandische  zivile  Zwangsarbeiter"  beschaftigt  und 
auch  untergebracht  waren.  Am  Ende  des  Buches  (S.  550-571)  sind  in  einer  Liste  die  wah- 
rend  ihres  Zwangsarbeitseinsatzes  im  Bereich  des  heutigen  Landkreises  Gottingen  Ver- 
storbenen  genannt,  geordnet  nach  Sterbetag/4.  Spalte  mit  ausliihrlichen  Angaben  in 
insgesamt  neun  Spalten. 

Im  Anhang  gibt  es  diverse,  iibliche  Verzeichnisse,  wobei  im  Quellenverzeichnis  nur 
die  ungedruckten  zu  finden  sind,  die  gedruckten  hingegen  im  Literaturverzeichnis,  und 
ein  Ortsregister.  AuBer20  Diagrammen  enthalt  das  Buch  120  Abbildungen,  Dokumente 
wie  Fotos,  darunter  personliche  und  Passlotos,  die  Menschen  wie  du  und  ich  zeigen, 
wenn  sie  nicht  mit  P-  und  Ost-  Abzeichen  gebrandmarkt  waren. 

Wenn  im  Vorwort  auf  das  mit  diesem  Buch  bekannt  gewordenes  bislangjedoch  unge- 
kanntes  AusmaB  der  Zwangsarbeit  im  Landkreis  Gottingen  (S.  5)  gewiesen  wird,  ist  dies 
eher  in  ein  verdrangtes  AusmaB  umzuwandeln.  Wenn  auch  Ortsgeschichten  lange  die 
NS-Zeit  weitgehend  ausblendeten,  nicht  aberbei  Kriegsende  plotzlich  pliindernde  Aus- 
lander  (und  diese  Diskrepanz  unerklart  blieb)  und  sich  dies  erst  seit  den  1980erjahren 
anderte,  so  gibt  es  doch  Veroffentlichungen,  die  auf  Zwangsarbeiterlager  auch  in  Siid- 
niedersachsen  hinweisen,  wie  den  „Catalogue  of  Camps  and  Prisons  in  Germany  an 
German-occupied  Territories  1939-1945",  den  Martin  Weinmann  als  „Das  national- 
sozialistische  Lagersystem"  1990  herausgegeben  hat  oder  die  beiden  Niedersachsen 
betreffende  Bande  des  „Heimatgeschichtlichen  Wegweisers  zu  den  Statten  des  Wider- 
standes  und  der  Verfolgung  1933-1945"  (1984,  1986),  aber  auch  die  Zwangsarbeiterlager 
enthaltene  Karte  „Niedersachsen  1933-1945"  im  Geschichtlichen  Handatlas  von  Nie- 
dersachsen (1989).  Diese  drei,  die  nicht  im  Literaturverzeichnis  erscheinen,  deuten 
schon  an,  dass  wahrend  des  2.  Weltkrieges  fast  in  jedem  Dorf  auslandische  Arbeitskrafte 
zwangsweise  eingesetzt  waren. 

Die  vorgelegte  Veroffentlichung  gibt  zum  einen  den  Opfern  -  29  und  15,  deren  Be- 
richte  von  dritter  Seite  zur  Verfugung  gestellt  worden  sind,  kommen  zu  Wort  (S.  531  f.)  - 
nicht  nur  ihre  Stimme  zuriick  (S.  5),  sondern  macht  in  einer  Art  Gedenken  ihr  lange  vor 
Ort  verdrangtes  Leiden  offentlich,  zum  anderen  macht  sie  der  Forschung  Dokumente 
zur  weiteren  Auswertung  zuganglich. 

Bovenden  Gudrun  Pischke 


KIRCHEN-,  GEISTES-  UND  KULTURGESCHICHTE 


Fiegert,  Monika  und  Karl-Heinz  Ziessow:  „.  .  .  die  ganze  Schopfung  auszuspahen  .  .  .". 
Evangelische  Gemeinden  im  Osnabriicker  Land  aus  der  Sicht  ihrer  Seelsorger  am  Be- 
ginn  einer  neuen  Zeit  (1801-1808).  Osnabriick:  Verein  fiir  Geschichte  und  Landes- 
kunde  Osnabriick  2007.  287  S.  Abb.  =  Osnabriicker  Geschichtsquellen  und  Forschun- 
gen  Bd.  49.  Geb.  22,-  €. 

Im  Abstand  von  genau  zweihundert  Jahren  erfreut  sich  die  napoleonische  Epoche  der- 
zeit  groBer  Aufmerksamkeit.  Eine  zunachst  entlegen  erscheinende,  aber  aufschluss- 
reiche  und  sogar  unterhaltsam  zu  lesende  Quelle  haben  kiirzlich  Monika  Fiegert,  Er- 
ziehungswissenschafderin  an  der  Universitat  Osnabriick,  und  Karl-Heinz  Ziessow, 
Historiker  und  Kustos  am  Museumsdorf  Cloppenburg,  ediert.  Dabei  handelt  es  sich  um 
Pfarrberichte  an  das  evangelische  Konsistorium  in  Osnabriick,  verfasst  in  den  Jahren 
1804  bis  1808,  aus  den  Kirchengemeinden  im  Osnabriicker  Land  (ohne  die  Stadt  Os- 
nabriick, aber  einschlieBlich  der  wegen  des  Amtes  Reckenberg  abhangigen  Pfarren  Gii- 
tersloh  und  Friedrichsdorf).  Die  Originalschreiben  sind  im  Staatsarchiv  Osnabriick 
erhalten. 

Veranlasst  wurden  die  Berichte  durch  eine  Rundverfiigung  des  evangelischen  Kon- 
sistoriums  aus  demjanuar  1804  (S.  47f.),  wonach  die  Pastoren  jahrlich  eine  „historische 
Nachricht  von  den  wichtigsten  Begebenheiten,  welche  in  ihrer  Gemeinde  und  in  der 
Nachbarschaft  derselben  vorgefallen  sind",  einzusenden  hatten.  Das  erste  Schreiben 
sollte  die  Ereignisse  seit  1801  umfassen.  Leider  sind  nur  aus  einem  Teil  der  Gemeinden 
wirklich  jahrliche  Schreiben  eingegangen,  aus  anderen  sporadisch  oder  gar  nicht.  Der 
anscheinend  vollstandigen  Uberlieferung  zufolge  haben  zehn  Pfarrer  die  zusatzliche 
Dienstaufgabe  ganz  ignoriert,  so  dass  aus  deren  Gemeinden  keine  Berichte  vorliegen 
(Barkhausen,  Bippen,  Buer,  (Bad)  Essen,  Fiirstenau,  Hilter,  Ippenburg,  Lintorf,  Neuen- 
kirchen/Vorden,  Oldendorf)  und  die  dortige  Lokalforschung  auf  diese  Quelle  verzich- 
ten  muss. 

Mit  Hilfe  der  Pfarrberichte  wollte  sich  die  vorgesetzte  Kirchenbehorde  eine  „vollstan- 
dige  Ubersicht  von  den  Angelegenheiten  der  Kirche  und  Gemeinde"  verschaffen  und 
nicht  zuletzt  Verbesserungsvorschlage  fiir  „niitzliche  Einrichtungen  und  Anstalten"  er- 
halten. Statt  die  anzusprechenden  Themen  in  Form  eines  Fragebogens  vorzugeben,  ent- 
hielt  das  Reskript  nur  einige  recht  vage  Angaben  fiber  die  gewiinschten  Inhalte:  die  Per- 
sonen,  die  sich  um  Kirche,  Schule  und  Gemeinde  verdient  gemacht  haben,  „Fortschritte 
in  niitzlichen  Kenntnissen",  „mindere  oder  mehrere  Cultur  und  Moralitat",  „vermehrte 
oder  verminderte  Population"  sowie  allgemein  die  Forderung  von  Religion  und  Chris- 
tentum  sowie  der  christlichen  Tugenden,  insbesondere  bei  der  Erziehung  der  Jugend. 
Dementsprechend  sind  die  Berichte  je  nach  Neigung  der  Pfarrer  unterschiedlich  ausge- 
fallen  und  lassen  iiberhaupt  neben  den  Sachinformationen  die  personliche  Sicht  der  Be- 
richterstatter  deutlich  hervortreten. 

Einzelne  Geistliche  freuten  sich  offenbar  fiber  die  Gelegenheit,  ihre  Beobachtungen 
und  Meinungen  ausfiihrlich  auBern  zu  konnen.  Der  Pastor  in  Vorden  fiigte  sogar  eine 


Kirchen-,  Geistes-  und  Kulturgeschichte  493 

„nahere  Characteristic  der  einzelnen  Haushaltungen"  bei,  in  denen  er  Mann  und  Frau  - 
gottlob  anonym  -  hinsichtlich  ihrer  „guten  und  schlimmen  Eigenschaften",  der  eheli- 
chen  Vertraglichkeit,  der  Kinderzucht  und  des  Vermogensstandes  einer  schonungslosen 
Beurteilung  unterzog  (S.  149-161) .  Demgegeniiber  bequemte  sich  der  Menslager  Pfarrer 
erst  auf  Nachfrage  zu  einem  durchweg  sarkastisch  gehaltenen  Bericht,  in  dem  er  einlei- 
tend  auf  die  zahlreichen  Bogen  schon  geleisteter  Berichterstattung  in  den  verschieden- 
sten  Angelegenheiten  verwies.  Daher  wisse  er  nicht,  was  er  „erhebliches  und  lesenswiir- 
diges  von  einem  so  kleinen  Puncte  der  Erde,  wie  Badbergen  ist,  ferner  schreiben  soll(e) " 
(S.  263). 

Doch  fiel  es  den  meisten  Kollegen  anscheinend  weniger  schwer,  die  Seiten  zu  fiillen: 
In  aller  Regel  wird  ein  breites  Themenspektrum  abgehandelt,  das  iiber  das  im  engeren 
Sinn  kirchliche  und  schulische  Leben  hinaus  wesentliche  weltgeschichtliche  Ereignisse 
und  das  gesamte  aufklarerische  Programm  des  gerade  vergangenen  18.  Jahrhunderts 
spiegelt.  Die  Fiille  der  Einzelheiten  sei  hier  nur  mit  einigen  Stichworten  umrissen: 
Durchzug  franzosischer  Truppen,  Teuerung,  Armenwesen,  Bettelei,  Markenteilungen, 
Witterung,  Ungliicksfalle,  Krankheiten  und  Impfungen,  Bevolkerungsstatistik,  verdien- 
te  Verstorbene  aus  der  Gemeinde,  Kirchhofe,  konfessionelle  Streitigkeiten,  notwendige 
Bau-  und  ReparaturmaBnahmen,  Kirchen-  und  Schulbesuch,  Bildungsstand,  „Morali- 
tat"  und  „Luxus"  der  Landbevolkerung. 

In  erster  Linie  kommen  die  Berichterstatter  also  in  ihrer  Rolle  als  Angehorige  der 
schmalen  Bildungsschicht  auf  dem  Lande  zu  Wort,  als  mehr  oder  weniger  iiberzeugte 
Volksaufklarer,  die  sich  fur  das  fortschreitende  Wohlergehen  ihrer  Gemeindemitglieder 
in  einem  umfassenden  Sinn  mitverantwortlich  fiihlen.  Dem  Studium  und  Beruf  der  Ver- 
fasser  entsprechend,  lassen  die  Texte  aber  auch  theologische  Positionen  und  die  damals 
vorherrschenden  Denkstromungen  und  Schlagworte  erkennen.  Wahrend  sich  Pastor 
Block  in  Bramsche  freut,  „Kopfhangerey  und  Pietismus"  aus  friiheren  Zeiten  „ganz  ver- 
schwunden"  zu  sehen,  so  dass  jeder  „als  Christ  und  rechtschaffener  Mensch  die  Freuden 
des  Lebens  genieBen  diirfe"  (S.  79),  und  Pastor  Meyer  in  Neuenkirchen  bei  Melle  die 
„dumpfe  Stille"  beklagt,  die  dort  von  der  „pietistische(n)  Stimmung"  noch  verbreitet 
werde  (S.  119),  kann  deren  Kollege  Hambach  in  Hoyel,  aus  dem  benachbarten  Minden- 
Ravensberg  stammend,  seine  tiefe  Verwurzelung  in  der  dort  besonders  verbreiteten 
Erweckungsbewegung  keineswegs  verleugnen. 

Den  edierten  Texten  sind,  nach  einer  kurzen  Erlauterung  der  Formalien,  ungewohn- 
licherweise  zwei  voneinander  unabhangige  einfiihrende  Aufsatze  der  Bearbeiter  voran- 
gestellt,  die  schwerpunktmaBig  die  Spiegelung  der  aufklarerischen  Inhalte  in  der  Eigen- 
art  der  Quelle  (Fiegert)  bzw.  die  Rahmenbedingungen  der  Existenz  von  Pfarrern  und 
Lehrern  in  ihren  Kirchspielen  (Ziessow)  in  den  Blick  nehmen.  Uber  die  politik-  und 
verwaltungsgeschichtlichen  Zeitumstande  informiert  zusatzlich  das  Vorwort  von  Birgit 
Kehne,  der  Vorsitzenden  des  Vereins  fur  Geschichte  und  Landeskunde  von  Osnabriick, 
in  dessen  Veroffentlichungsreihe  die  Edition  erschienen  ist.  Ein  Pastorenverzeichnis  so- 
wie  ein  Oris-,  Personen-  und  Sachindex  am  Ende  tragen  zur  leichten  Benutzbarkeit  des 
Werkes  bei. 

Osnabriick  Nicolas  Rugge 


494  Besprechungen 

Frommigkeit  oder  Theologie.  Johann  Arndt  und  die  „Vier  Biicher  vom  wahren  Christen- 
tum".  Hrsg.  von  Hans  Otte  und  Hans  Schneider.  Gottingen:  V&R  unipress  2007. 
435  S.  Abb.  =  Studien  zur  Kirchengeschichte  Niedersachsens  Bd.  40.  Geb.  56,-  €. 

Der  450.  Geburtstag  Johann  Arndts,  des  popularsten  Erbauungsschriftstellers  des  deut- 
schen  Protestantismus,  und  die  400.  Wiederkehr  des  Erscheinens  des  ersten  Bandes  sei- 
nes bedeutendsten  Werks,  der  „Vier  Biicher  von  wahrem  Christentum",  waren  2005 
Anlass  zu  mehreren  Tagungen  sowie  einigen  Publikationen.  Als  Frucht  eines  Wolfen- 
biitteler  Kolloquiums,  zu  dem  sich  2005  viele  versammelt  hatten,  die  in  den  vergange- 
nen Jahren,  teilweise  sogarjahrzehnten  mit  eigenen  Arndt- Forschungen  hervorgetreten 
sind,  ist  2007  ein  theologisch  und  kirchengeschichtlich  ausgerichteter  Sammelband  er- 
schienen,  der  schon  durch  seine  Titelformulierung  zum  Nachdenken  anregt:  „From- 
migkeit  oder  Theologie".  Verbreitet  in  der  protestantischen  Literaturproduktion 
Deutschlands  sind  Titel  wie  „Frommigkeit  und  Theologie"  sowie  „Theologie  und  From- 
migkeit". Die  Gegeniiberstellung  der  beiden  Stichworte  ist  auBergewohnlich  und  weist 
auf  unterschiedliche  Perspektiven  der  Arndt-Betrachtung  hin:  Ist  er  als  Erbauungs- 
schriftsteller  zu  betrachten  oder  als  Theologe?  Nur  sekundar  von  Gewicht  ist  in  diesem 
Zusammenhang  die  Tatsache,  dass  Arndt  kein  abgeschlossenes  Theologiestudium  vor- 
zuweisen  hatte  (vgl.  15),  denn  das  war  damals  nicht  untypisch.  Auch  Melanchthon, 
Zwingli  und  Calvin  waren  Theologen  ohne  abgeschlossenes  oder  sogar  ganz  ohne 
Theologiestudium. 

Freilich  wird  mit  dem  Begriffspaar  und  der  Gegeniiberstellung  eine  Alternative  mar- 
kiert,  die  es  in  Wirklichkeit  nicht  gibt.  Theologie  und  Frommigkeit  gehoren  untrennbar 
zusammen,  in  der  Gegenwart  ebenso  wie  in  der  Zeit  des  Johann  Arndt.  Zwar  hielt  Arndt 
Theologen  seiner  Zeit  Defizite  im  Bereich  der  Frommigkeit  vor,  und  der  spatere,  sich  auf 
Arndt  berufende  Pietismus  schuf  das  Klischee  einer  fur  das  orthodoxe  Zeitalter  angeb- 
lich  charakteristischen  frommigkeitsfernen  Theologie,  doch  die  Wirklichkeit  sah  anders 
aus.  Dass  die  orthodoxen  Theologen,  die  Arndt-Feinde  ebenso  wie  die  Pietismus-Geg- 
ner,  durchweg  fromme  Menschen  waren,  wird  heute  niemand  mehr  bestreiten.  Die  Fra- 
ge  lautet  nicht:  Frommigkeit  oder  Theologie?,  sondern:  Welche  Frommigkeit  und  wel- 
che  Theologie?  Und  dariiber  wurde  auf  dem  Wolfenbiitteler  Kolloquium  auch  tatsach- 
lich  gestritten. 

Es  gibt  keine  Theologie  ohne  Frommigkeit  und  es  gibt  keine  Frommigkeit  ohne  Theo- 
logie. Die  Theologie  griindet  immer  auf  religiosen  Erfahrungen  und  somit  auf  Frommig- 
keit. Eine  Theologie  ohne  Bezug  zur  Frommigkeit  ware  keine  Theologie,  sondern  Religi- 
onsphilosophie.  Gleichzeitig  beeinflusst  und  verandert  die  Theologie  aber  auch  die 
Frommigkeit,  wirkt  auf  diese  zuriick.  Eine  vollig  von  Theologie  geloste  Frommigkeit  ist 
-  im  Christentum  zumindest  -  nicht  denkbar,  weil  es  das  Christentum  von  seinen 
Grundlagen  her  immer  mit  dem  gesprochenen  und  geschriebenen  Wort  zu  tun  hat  und 
somit  mit  Sprache,  Verstand  und  Intellektualitat. 

Dass  es  Arndt  um  die  Pragung  und  Forderung  der  Frommigkeit  ging,  ist  unstrittig. 
Unstrittig  sollte  auch  sein,  dass  er  als  Theologe  anzusehen  und  ernst  zu  nehmen  ist.  Strit- 
tig  ist  die  Frage,  auf  welcher  Grundlage  und  im  Rahmen  welcher  Theologie  Arndt  sein 
Frommigkeitsprogramm  entwickelt  hat.  Stand  er  voll  und  ganz  und  ohne  Abstriche  auf 
der  Basis  der  Reformation  Luthers  und  der  im  Anschluss  an  Luther  entwickelten  protes- 
tantischen Theologie,  oder  war  er  in  Wirklichkeit  in  der  vor-  und  auBerreformatorischen 
Theologie  der  Mystik  und  des  Spiritualismus  verankert?  Die  unterschiedlichen  Sicht- 


Kirchen-,  Geistes-  und  Kulturgeschichte  495 

weisen  der  Arndtschen  Theologie  kamen  schon  zu  Lebzeiten  Arndts  auf  und  reichen 
durch  die  Geschichte  hindurch  bis  in  die  Gegenwart.  Sie  finden  sich  auch  in  dem  zu  be- 
sprechenden  Sammelband  wieder. 

Ein  Teil  der  Autoren  bietet  eine  lutherisch-orthodoxe,  ein  Teil  eine  spiritualistisch-he- 
terodoxe  Interpretation  des  zuletzt  (1611-1621)  in  Celle  und  in  kirchenleitender  Funkti- 
on  wirkenden  Arndt.  Da  die  meisten  Autoren  einen  hermeneutischen  Zugriff  wahlen 
und  ihre  jeweilige  Position  aus  der  Interpretation  von  Arndt-Texten  folgern,  steht  letzt- 
lich  Aussage  gegen  Aussage,  Argument  gegen  Argument  und  Interpretation  gegen  In- 
terpretation, und  als  Erkenntnisgewinn  bleibt  dem  Leser:  Man  kann  Arndt  mit  guten 
Grunden  so  oder  so  interpretieren,  sein  schriftliches  Werk  hat  offenbar  einen  schillern- 
den,  einen  mehrdeutigen  Charakter.  Uber  dieses  interpretatorische  Patt  hinaus  fiihrt  ei- 
gentlich  nur  ein  einziger  Aufsatz:  Carlos  Gillys  beinahe  vierzig  Seiten  zahlende  Ab- 
handlung  iiber  den  „philosophische[n]  Hintergrund  von  Johann  Arndts  Friihschrift  ,De 
antiqua  philosophia  et  divina  veterum  Magorum  Sapientia  recuperanda' "  von  ca.  1596, 
vom  Verfasser,  einem  an  der  Universitat  Basel  wirkenden  Historiker,  mit  der  Alternative 
„Hermes  oder  Luther"  iiberschrieben.  Gilly  interpretiert  nicht  einfach  nur  die  bekann- 
ten  Arndt-Texte,  sondern  sucht,  und  das  mit  Erfolg,  die  Quellengrundlage  der  Arndtfor- 
schungzu  erweitern.  Die  Einbeziehung  der  ungedruckten  Fruhschriften  in  die  Interpre- 
tation Arndts  zeigt,  dass  Heterodoxes  in  Arndts  Denken  schon  lange  vor  dem  Erschei- 
nen  des  „Wahren  Christentums"  angelegt  war.  Urn  Gillys  Position  zu  untermauern, 
miisste  freilich  -  wie  er  selbst  deutlich  macht  -  in  den  Handschriftenbestanden  deut- 
scher  Bibliotheken  und  Archive  nach  weiteren,  hinsichtlich  ihrer  Existenz  belegten,  aber 
leider  verschollenen  Fruhschriften  Arndts  gesucht  werden.  Gilly  argumentiert  ferner 
mit  dem  Baseler  Studienaufenthalt  Arndts,  der  nicht  nur,  wie  die  gangigen  biografischen 
Darstellungen  iiber  Arndt  ausgeben,  das  Jahr  1579  umfasste,  sondern  den  Zeitraum 
1579-1581.  Hier  wurde  Arndt  von  dem  MedizinerTheodorZwinger  d.A.,  einem  Paracel- 
sus-Anhanger,  beeinflusst  und  hierin  wurzelt  der  fur  Arndt  bezeichnende  theologische 
Empirismus,  die  Anwendung  der  „Methode  der  Erfahrung  und  Induktion"  auf  die  Theo- 
logie (184) .  Ferner  macht  Gilly  eine  direkte  Verbindung  Arndts  mit  Weigel  wahrschein- 
lich  (187).  Der  spannend  zu  lesende  Aufsatz  bietet  der  Arndt-Interpretation  neue  For- 
schungsergebnisse  und  weiterfuhrende  DenkanstoBe.  Hierzu  gehort  auch  der  am  Rande 
angesprochene  „Antijudaismus"  Arndts  (175),  der  in  Vertreibungsforderungen  gipfelte, 
die  Arndt  mit  Luther  teilte. 

Der  heterodoxen  Arndt-Interpretation  folgt  auch  Hermann  Geyer  im  Anschluss  an 
seine  2001  erschienene  dreibandige,  in  Marburg  bei  Hans  Schneider  verfasste  theologi- 
sche Dissertation.  Sein  Beitrag  wendet  sich  gezielt  der  Buchmetaphorik  Arndts  zu.  Er 
zeigt,  welche  Bedeutung  fur  Arndt  -  im  Kontext  des  spiritualistischen  Denkens  des  16. 
und  17.  Jahrhunderts  -  die  Rede  von  „Biichern"  hat  und  die  nicht  zufallige,  sondern  be- 
deutungsvolle  Presentation  von  vier  Biichern:  „Die  Vierzahl  ebenso  wie  die  jeweilige 
Thematik  der  einzelnen  (realen)  Biicher  sind  abgeleitet  von  den  , Biichern',  die  Gott 
selbst  den  Menschen  zu  seiner  ,Erkenntnis'  geoffenbart  hat"  (133) .  Geyer  verortet  Arndt 
im  Kontext  von  Theosophie,  Spiritualismus  und  Hermetik  und  vertritt  die  Auffassung, 
dass  Arndt  „im  Kern  [...]  eine  Theologie  des  innerenWortes"  vertreten  habe  (157).  Auch 
Inge  Mager,  emeritierte  Kirchenhistorikerin  in  Hamburg,  kommt  in  ihrer  Analyse  der 
verschiedenen  Vorreden  zum  ersten  Buch  des  „Wahren  Christentums",  bei  der  sie  sich 
vor  allem  fur  das  Thema  BuBe  interessiert,  zu  einer  allerdings  vergleichsweise  vorsichtig 
formulierten   Einordnung  Arndts   in   die   Heterodoxie.   Aktualisierend   und  wertend 


496  Besprechungen 

spricht  sie  von  „nach  wie  vor  berechtigten  dogmatischen  Vorbehalten"  (229)  gegen 
Arndts  „Wahres  Christentum". 

Eine  orthodoxe  Arndt-Interpretation  findet  sich  bei  Wolfgang  Sommer,  emeritierter 
Kirchenhistoriker  aus  Neuendettelsau,  und  seiner  Analyse  des  Arndtschen  Predigt- 
werks.  Von  Arndt  gibt  es  mehr  als  900  Predigten.  Zu  Recht  weist  Sommer  darauf  hin, 
dass  diese  bei  der  Interpretation  Arndts  und  der  Frage  nach  der  Orthodoxie  oder  Hete- 
rodoxie  seines  Denkens  einbezogen  werden  miissen.  Auch  Athina  Lexutt,  Kirchenhisto- 
rikerin  in  GieBen,  iiberrascht  mit  einer  orthodoxen  Interpretation  Arndts,  obwohl  man 
gerade  bei  ihr,  wegen  ihrer  in  ihrer  Dissertation  vorgelegten  melanchthonkritischen  In- 
terpretation der  Regensburger  Kompromissformel  zur  Rechtfertigung  von  1541  das  Ge- 
genteil  erwartet  hatte.  Lexutt  bietet  einen  Extrakt  aus  ihrer  bereits  1999/2000  fertig  ge- 
stellten,  aber  bislang  nicht  gedruckten  Bonner  Habilitationsschrift,  auf  deren  Veroffent- 
lichung  die  Arndt-Forschung  mit  Spannung  wartet,  die  aber  angesichts  der  neueren 
Entwicklungen  in  der  Arndt-Forschung  bereits  schon  iiberholt  sein  konnte.  Die  Autorin 
teilt  mit,  sie  werde  „demnachst"  erscheinen  (114).  Fur  Arndts  partielles  Abweichen  von 
eindeutig  orthodoxen  Positionen  fiihrt  Lexutt  „seelsorgerliche  und  paranetische  Griin- 
de"  an  (125)  und  macht  auch  die  „apologetische  Situation"  geltend  (126),  in  die  Arndt  ge- 
kommen  war. 

Ohne  klare  eigene  Positionierung  setzt  sich  Johann  Anselm  Steiger  mit  Arndt  ausein- 
ander,  indem  er  die  bekannte  Kritik  Lukas  Osianders  referiert  und  diskutiert  sowie  die 
weniger  bekannte  Arndt-Apologie  von  Heinrich  Varenius.  Steiger  arbeitet  die  Berechti- 
gung  beider  Sichtweisen  heraus  und  flankiert  seine  Darlegungen  durch  Ausblicke  auf 
den  immer  wieder  lobend  erwahnten  Johann  Gerhard. 

Die  mit  der  Arndt-Interpretation  eng  zusammenhangende  Arndt-Rezeption  ist  auch 
das  Thema  von  Martin  Brecht,  dem  Senior  der  Arndt-Forschung  unter  den  Mitwirken- 
den,  der  sich  allgemeiner  und  umfassender  als  Steiger  mit  der  Rezeption  von  Arndts 
„Btichern"  im  deutschen  Luthertum  beschaftigt.  Brecht  stellt  und  beantwortet  die  Frage, 
wie  sich  der  heterodoxe  Arndt  im  orthodoxen  Luthertum  durchsetzen  konnte,  und  ver- 
gleicht  ihn  mit  dem  „trojanische[n]  Pferd"  (231).  Klar  ist,  dass  Arndt,  wie  neben  Brecht 
auch  Steiger  und  Schneider  herausarbeiten,  im  Luthertum  nur  in  „domestizierte[r] 
Form"  (25)  Wirkung  entfaltete  und  dass  bei  der  „Umgestaltung  der  Arndtschen  Konzep- 
tion"  (24)  und  der  Etablierung  einer  „verkirchlichten  Arndt-Deutung"  (25)  Johann  Ger- 
hard eine  wichtige,  ja  entscheidende  Rolle  spielte. 

Speners  Arndt-Rezeption  gilt  ein  Beitrag  Johannes  Wallmanns,  der  zeigt,  dass  sich 
der  Vater  des  Pietismus  nicht  aus  zufalligen  Griinden  mit  Arndts  viertem  Buch  nicht  so 
intensiv  beschaftigt  hat  wie  mit  den  anderen  drei.  Wallmann  zeigt,  dass  Spener  die  tradi- 
tionelle,  auch  von  Arndt  geteilte  Sicht  der  Kometen  als  Boten  des  Unheils  und  BuBrufe 
Gottes  nicht  mehr  geteilt  hat,  sondern  an  diesem  Punkt  bereits  modern,  naturwissen- 
schaftlich  dachte.  Freilich  handelt  Buch  4  ja  nicht  nur  von  den  Kometen,  und  es  stellt 
sich  die  Frage,  ob  Spener  wirklich  nur  wegen  dieses  Punktes  eine  Distanz  zu  Arndts  Na- 
turbetrachtung  eingenommen  hat.  Neben  Spener  schatzte  auch  Zinzendorf  Arndt  und 
plante  und  verwirklichte  deshalb  eine  franzosische  Arndt-Ausgabe,  die  vor  allem  fur  die 
Jansenisten  gedacht  war.  Tobias  Kaiser  schildert  dieses  Projekt  und  seine  Realisierung, 
aber  auch  seinen  letztlichen  „vollkommene[n]"  Fehlschlag:  Kein  einziges  Exemplar  die- 
ser  Arndt-Ausgabe,  die  1723  in  Wittenberg  gedruckt  wurde,  ist  wirklich  nach  Frankreich 
gelangt.  Erfolgreicher  verlief  die  Arndt-Rezeption  in  Russland.  Die  Briicke  bildete  der 
hallesche  Pietismus.  Stefan  Reichelt  macht  mit  diesem  unbekannten  Kapitel  eines  inter- 


Kirchen-,  Geistes-  und  Kulturgeschichte  497 

kulturellen  und  iiberkonfessionellen  Austausches  bekannt.  Die  Arndt-Rezeption  hatte 
auch  bislang  nur  wenig  beachtete  kunstgeschichtliche  Aspekte.  Reinhard  Lieske  macht 
mit  Kirchenausmalungen  Nord-  und  Siiddeutschlands  bekannt,  die  Motive  der  1679  in 
Riga  erstmals  gedruckten  bebilderten  Arndt-Ausgabe  aufgreifen. 

Die  Theologie  Arndts  und  die  Rezeptionsgeschichte  bilden  den  Schwerpunkt  des 
Sammelbands.  Hinzu  kommen  ein  einleitender,  auf  einen  Vortrag  in  Braunschweig  zu- 
riick  gehender  Aufsatz  von  Hans  Schneider,  der  einen  schonen,  erneut  die  mystisch-spi- 
ritualistische  Interpretation  Arndts  stiitzenden  Uberblick  iiber  Arndts  „Leben  auf  dem 
Hintergrund  der  deutschen  Kirchengeschichte  1555-1621"  gibt,  wobei  erbesonders  her- 
ausarbeitet,  wie  sehr  Arndt  „polarisierte"  (13) ,  sowie  drei  Beitrage,  die  sich  mit  spezielle- 
ren,  mehr  historischen  Fragestellungen  befassen:  Markus  Matthias  diskutiert  in  theti- 
scher  Form  -  den  Sachverhalt  verneinend  und  den  Begriff  ablehnend  -  den  von  Win- 
fried  Zeller  1952  eingefiihrten  und  mit  dem  Jahr  1600  in  Verbindung  gebrachten  Begriff 
der  „Frommigkeitskrise",  und  Ernst  Koch  behandelt  die  Tatigkeit  Arndts  in  Eisleben 
(1609-1611).  Der  kurze  Beitrag  bietet  viel  zu  Eisleben,  aber  im  Grunde  wenig  zum  Ver- 
standnis  Arndts,  wofiir  aber  nicht  der  Autor,  sondern  die  Quellenlage  verantwortlich  ist. 
Wolfgang  Breul  behandelt  Arndt  im  Kontext  der  konfessionellen  Entwicklung  Anhalts, 
wobei  an  einer  brisanten  Stelle  und  vom  Autor  urspriinglich  nicht  intendiert  wieder  die 
Kernfrage  der  Arndt-Interpretation  aufblitzt.  Breul  schildert  die  Standhaftigkeit  Arndts 
bei  der  Verteidigung  des  in  Anhalt  mehr  und  mehr  in  Frage  gestellten  Taufexorzismus 
und  interpretiert  diese  Positionierung  als  Ausdruck  lutherisch-orthodoxer  Gesinnung. 
In  der  Diskussion  gab  Gilly  allerdings  zu  bedenken,  dass  gerade  das  Festhalten  am  Tau- 
fexorzismus auch  als  Konsequenz  einer  paracelsischen  Orientierung  verstanden  werden 
kann  (67,  Anm.  85). 

Wenn  also  alles  in  allem  mehr  fiir  eine  heterodoxe  als  fur  eine  orthodoxe  Arndt-Inter- 
pretation spricht,  bleibt  am  Schluss  die  Frage  nach  dem  Selbstverstandnis  dieses  Mari- 
nes, der  sein  Leben  lang  lutherischer  Pfarrer,  ja  sogar  in  kirchenleitenden  Amtern  war. 
Lebte  er  ahnlich  wie  Weigel  eine  gespaltene  Existenz  (vgl.  109)?  Oder  benutzte  er  die 
Kirche  nur  aus  taktischen  Griinden  als  Basis  zur  Verbreitung  seiner  Lieblingsideen  (vgl. 
198)?  Oder  lebte  er  voll  und  ganz  in  der  Uberzeugung,  sein  Herzensanliegen  stehe  im 
Einklang  mit  der  Reformation  und  dem  nachreformatorischen  Luthertum  (vgl.  228)? 
Wahrscheinlich  ist  von  Letzterem  auszugehen,  zumal  eine  Definition  dessen,  was  Lu- 
thertum oder  was  Orthodoxie  ausmacht,  nicht  ganz  einfach  sein  diirfte  und  von  Theolo- 
gen,  Historikern  und  Kulturgeschichtlern  jeweils  unterschiedlich  formuliert  wiirde. 

Der  Sammelband  ist  mit  einem  Personen  und  einem  (ab  ca.  S.  400,  vermutlich  wegen 
einer  Veranderung  im  Seitenumbruch)  leider  sehr  fehlerhaften  Ortsregister  ausgestattet. 
Auf  Informationen  iiber  die  Autoren  und  ihr  wissenschaftliches  Profil  wurde  leider  ver- 
zichtet.  Nicht  einbezogen  wurden  leider  auch  die  wegen  der  kontroversen  Theme- 
naspekte  sicherlich  spannenden  Wolfenbiitteler  Diskussionen,  wenn  man  von  einigen 
Hinweisen  in  den  Anmerkungen  einmal  absieht.  In  den  Anmerkungen  wurde  von 
einzelnen  Autoren  auch  ein  Kleinkrieg  gegen  Hermann  Geyer  untergebracht  (vgl.  85, 
Anm.  75;  169,  Anm.  15;  194,  Anm.  59;  295,  Anm.  3),  dessen  groBes,  schon  erwahntes 
Arndt-Werk  wohl  nicht  frei  von  handwerklichen  Mangeln  und  kleineren  und  groBeren 
Missverstandnissen  ist,  wodurch  sich  einzelne  Autoren  regelrecht  beleidigt  fiihlen  und 
von  „Blindaugigkeit"  und  „horrenden  Fehlinformationen"  sprechen  (295,  Anm.  3). 
Nicht  einleuchtend  ist,  dass  die  Herausgeber  bei  der  Formulierung  des  Untertitels  des 
Sammelbandes  modernisierend  von  den  Biichern  „vom  wahren  Christentum"  sprechen, 


498  Besprechungen 

wahrend  in  den  Texten  selbst,  schon  in  der  Einleitung  der  beiden  Herausgeber  mit  bei- 
nahe  penetranter  Konsequenz  die  altertiimliche  Form  „von  wahrem  Christentum"  be- 
nutzt  wird. 

Nebenbei  fallt  dem  Leser  auf:  Die  Arndt-Forschung  wird  von  (iiberwiegend  emeri- 
tierten)  Kirchenhistorikern  dominiert.  Die  spannenden  und  weiterfiihrenden  Impulse 
kommen  aus  der  Geschichtswissenschaft  und  (leider,  bemerkt  der  Kirchenhistoriker) 
nicht  aus  der  Theologie.  Aber  der  Kirchenhistoriker  studiert  das  Buch  mit  Gewinn,  und 
auch  der  landesgeschichtlich  oder  allgemein  historisch  Interessierte  wird  einige  interes- 
sante  Dinge  in  ihm  finden. 

Osnabriick  Martin  H.Jung 


Gottes  Wort  ins  Leben  verwandeln.  Perspektiven  der  (nord-)deutschen  Kirchengeschichte. 
Festschrift  fur  Inge  Mager  zum  65.  Geburtstag.  Hrsg.  von  Rainer  Hering,  Hans  Otte 
und  Johann  Anselm  Steiger.  Hannover:  Landeskirchliches  Archiv  2005.  500  S.  = 
Jahrbuch  der  Gesellschaft  fur  niedersachsische  Kirchengeschichte  Beiheft  12.  Kart. 
32,- €. 

„Gottes  Wort  [zu  schmecken  und]  ins  Leben  verwandeln"  -  unter  dieser  Kernaussage  Jo- 
hann Arndtscher  Frommigkeit  versammeln  sich  19  lesenswerte  Beitrage  zu  Ehren  Inge 
Magers.  Anlasslich  ihres  65.  Geburtstags  wiirdigen  die  Herausgeber,  Autorinnen  und 
Autoren  mit  dieser  Festschrift  das  umfang-  und  facettenreiche  wissenschaftliche  Werk 
der  Kirchenhistorikerin.  Der  Breite  und  Vielfalt  ihrer  Forschungsinteressen  entspre- 
chend,  spannen  die  Beitrage  einen  zeitlichen  Bogen  vom  4.  bis  zum  20.  Jahrhundert  und 
einen  inhaltlichen  Bogen  iiber  die  mittelalterliche,  friihneuzeitliche  und  neuzeitliche 
Theologie  und  Frommigkeit,  norddeutsche  Kirchengeschichte,  Frauen-  und  Kirchen- 
musikforschung.  Eine  gesonderte  Wurdigung  durch  einzelne  Autoren  erfahren  auch  die 
methodischen  und  forschungsstrategischen  Verdienste  Magers.  So  weist  Hans  Otte  dar- 
auf  hin,  dass  sie  Territorialkirchengeschichte  und  deutsche  Kirchengeschichte  stets  zu- 
gleich  im  Blick  behielt.  Rainer  Hering  wiirdigt  ihre  frauengeschichtlichen  Forschungen 
als  wichtigen  AnstoB  zur  Sicherung  des  Anteils  kirchlich  aktiver  Frauen  am  kollektiven 
kirchlichen  Gedachtnis.  Besondere  Beachtung  verdient  die  Anzahl  von  gegenwartsbe- 
zogenen  Beitragen,  in  denen  die  Bedeutung  kirchengeschichtlicher  Fragestellungen  fur 
heutiges  Handeln  und  Tun  gepriift  wird. 

1.  Heinrich  Holze  deckt  mit  Hilfe  der  lange  tabuisierten  Frage  nach  religioser  Erfah- 
rung  eine  nicht  unmittelbar  ins  Auge  fallende  Traditionslinie  von  der  undogmatischen, 
auf  Selbsterfahrung  und  Vorleben  bezogenen  Lehrweisheit  der  agyptischen  Anachore- 
ten  des  4.  Jahrhunderts  iiber  den  von  Bernhard  von  Clairvaux  formulierten  Erfahrungs- 
zusammenhang  zwischen  Selbsterkenntnis,  Sundenerkenntnis  und  Gotteserkenntnis 
zur  Erfahrungstheologie  Martin  Luthers  auf.  Obwohl  Luther  zwischen  Glaube  und  Er- 
fahrung  unterschied,  setzte  auch  er  auf  die  Notwendigkeit  der  geistlichen  Erfahrung, 
verstanden  als  Erfahrung  der  Verborgenheit  Gottes,  der  Anfechtung,  des  Zweifels,  mit- 
hin  des  Widerspruchs  zwischen  Glaube  und  Erfahrung.  Hieraus  entwickelte  er  den 
Vorrang  der  gelebten  Glaubenspraxis  vor  demjenigen  der  aus  bloBem  Wissen  gewon- 
nenen  Lehre. 

2.  Im  Beitrag  von  Wolfgang  Petke  werden  mittelalterliche  Niederkirchenstiftungen 
im  Gebiet  des  heutigen  Niedersachsens  und  Harburgs  in  den  Blick  genommen.  Auf  der 


Kirchen-,  Geistes-  und  Kulturgeschichte  499 

Grundlage  von  Quellenbefunden  aus  Regionen  mit  einerdichteren  und  alteren  Uberlie- 
ferung  sowie  der  gut  bekannten  spatmittelalterlichen  kirchlichen  Stiftungspraxis  entwi- 
ckelt  der  Autor  im  Analogieschlussverfahren  die  Annahme,  dass  es  auch  in  Sachsen  ein 
ausgepragtes  Eigenkirchenwesen  als  Motor  der  Errichtung  von  Pfarreien  im  sachsischen 
Missionsgeschehen  des  8.  und  beginnenden  9.  Jahrhunderts  gegeben  habe.  Dieser  we- 
nig  bekannte  Zusammenhang  zwischen  Grundherrschaft  und  Niederkirchenwesen  wird 
anhand  zahlreicher  Stiftungsvorgange  von  adeligen,  bischoflichen,  klosterlichen,  genos- 
senschaftlichen  und  herrschaftlichen  Eigenkirchen  beschrieben. 

3.  Jens-Martin  Kruse  beschreibt  die  aus  der  Kreuzestheologie  Martin  Luthers  er- 
wachsene  Deutung  der  evangelischen  Martyrer  als  Christuszeugen  und  ihre  Bedeutung 
fur  die  Verbreitung  der  evangelischen  Lehre.  Das  Kreuz  Christi  vergegenwartige  sich  in 
dem  Kreuz,  das  Christen  in  der  Nachfolgejesu  zu  erleiden  hatten  (S.  76).  Evangelisches 
Martyrium  kniipfe  in  der  lutherischen  Deutung  an  fruhchristliches  Martyrium  an  und 
sei  gleichermaBen  Zeichen  fur  die  Gegenwart  Gottes  wie  fur  die  Wahrheit  des  Evangeli- 
ums  und  damit  Kennzeichen  der  wahren  Kirche  Jesu  Christi.  Heilige  wurden  nun  nicht 
mehr  als  Mittler  der  Fiirbitte,  sondern  als  besonders  auserwahlte  Zeugen  gottlichen  Wir- 
kens  und  gottlicher  Barmherzigkeit  verehrt. 

4.  Mit  Luthers  Anleitung  zur  evangelischen  Spiritualitat  nach  der  Trias  „meditatio, 
tentatio,  oratio"  als  regelmaBige  Ubung  religioser  Praxis  durch  standige  Anrufung  Got- 
tes und  Vertiefung  in  die  Heilige  Schrift  in  Gebet  und  Meditation  setzt  sich  Uwe  Rieske 
auseinander. 

5.  Hans  Schneider  berichtet  iiber  eine  bislang  unbekannte  Etappe  im  Leben  des  er- 
sten  Goslarer  Superintendenten  Johannes  Amandus,  der  sich  1527  als  Wanderprediger 
in  Marburg  und  Umgebung  betatigt  haben  soil,  bevor  er  im  April  1528  durch  den  Gosla- 
rer Reformator  von  Amsdorf  an  die  Marktkirche  berufen  wurde. 

6.  Rolf  Schafer  begrundet  seine  kommentierte,  als  Synopse  zweier  Textfassungen  ge- 
staltete  Edition  eines  Teils  der  „Pars  prima  historiae  ecclesiasticae  renati  euangelii  per 
Inferiorem  Saxoniam  et  Westphaliam"  mit  dem  Quellenwert  dieser  1586  erschienenen 
Reformationsgeschichte  Hermann  Hamelmanns,  die  zugleich  Zeugnis  der  Bewusst- 
seinsbildung  der  sich  konsolidierenden  lutherischen  Orthodoxie  sei.  Im  Textvergleich 
mit  dem  wenig  bekannten  eigenhandigen  Entwurf  Hamelmanns  erwachst  ein  erhebli- 
cher  Informationsgewinn  iiber  die  Anfange  der  Reformation  im  Jeverland. 

7.  Das  dichterische  Werk  Caspar  Fiigers  d.  A.  stellt  Ernst  Koch  vor.  1580  verfasste  der 
Dresdener  Diakon  eine  Darstellung  zur  Formula  Concordiae,  der  auch  ein  lateinisches 
Loblied  auf  Kurfiirst  August  aus  der  Feder  des  Dresdener  Konsistorialsekretars  Caspar 
Schall  beigegeben  ist.  Das  theologische  Anliegen  Fiigers,  der  selbst  als  Korrektor  am 
Konkordienwerk  mitgewirkt  hatte,  sei  in  der  Verknupfung  von  Werklob  mit  Fiirstenlob 
zu  sehen.  Diese  doppelte  Zielrichtung  fand  weiteren  Ausdruck  in  einer  Dichtung  Fiigers, 
die  anlasslich  der  EheschlieBung  zwischen  Kurprinz  Christian  von  Sachsen  mit  Mark- 
grafin  Sophia  von  Brandenburg  entstand.  Hier  wird  die  Entstehung  des  Konkordien- 
werks  mittels  eines  fiktiven  Gespraches  der  fiirstlichen  Ahnen  des  Brautpaares  im  Him- 
mel  in  die  Geschichte  der  albertinisch-wettinischen  Dynastie  eingebettet  und  dieser  da- 
mit eine  von  Gott  gewollte  Rolle  im  Ringen  um  die  Kircheneinheit  zugewiesen. 

8.  Johann  Anselm  Steiger  vergleicht  in  seinem  Beitrag  Versuchung  -  orthodox  und 
heterodox  die  Auffassung  von  der  „tentatio"  in  der  Theologie  Martin  Luthers  und  derje- 
nigen  des  mystischen  Spiritualisten  Christian  Hoburg.  Wahrend  Luther  sich  besonders 
mit  der  satanischen  gegen  den  Glauben  und  Gott  gerichteten  innerlichen  Versuchung 


500  Besprechungen 

auseinander  setzte,  stehen  im  heterodoxen  Verstandnis  auBerliche  Anfechtungen  im 
Vordergrund:  „Hoburg  zufolge  wird  der  Satan  erfahrbar  als  Welt-Geist  und  ist  identisch 
mit  ihm."  (S.  223)  Eine  weitere  Scharfung  erfahrt  die  Vorstellung  des  heterodoxen  Kon- 
zeptes  Hoburgs  in  Abgrenzung  zu  seinen  zumeist  spiritualistischen  Quellen  und  zu  ei- 
ner  spateren  Spielart  in  der  liberalen  Theologie  Adolf  von  Harnacks. 

9.  Eine  Episode  der  Calenberger  Kirchengeschichte  schildert  Manfred  von  Boetticher 
in  seinem  Beitrag  fiber  Hannover  unter  dem  katholischen  Herzogjohann  Friedrich.  Der 
calixtinisch  gepragte  Herzog  habe  die  katholische  Konfession  nach  seinem  1665  erfolg- 
ten  Regierungsantritt  in  Hannover  durch  den  Aufbau  kirchlicher  Organisationsstruktu- 
ren  und  die  Ansiedelung  missionarisch  tatiger  Kapuzinermonche  gefordert.  Seinen 
evangelischen  Untertanen  kam  der  Herzog  unter  anderem  durch  den  Bau  der  Neustadter 
Kirche  in  Hannover  entgegen;  das  Toleranzedikt  vom  7.  September  1691  sollte  das  fried- 
liche  Zusammenleben  der  Konfessionen  garantieren.  Verhaltene  Kritik  an  der  gestiege- 
nen  Anzahl  von  Konversionen  auBerte  Generalissimus-Superintendent  Gesenius  1669 
in  der  Schrift  „Warum  wilt  du  nicht  Romisch-Catholisch  werden,  wie  deine  Vorfahren 
waren".  Dass  die  dauerhafte  Verfestigung  der  katholischen  Religion  in  Hannover  nach 
Johann  Friedrichs  Tod  eines  katholisch  erzogenen  Nachfolgers  bedurft  hatte,  verdeut- 
licht  von  Botticher  abschlieBend  am  Vergleich  mit  dem  Fiirstentum  Pfalz-Sulzbach. 

10.  Als  Kluft  zwischen  den  pietistischen  Vorstellungen  fiber  die  Verantwortung  und 
die  Pflicht  einer  christlichen  Obrigkeit  und  dem  Selbstverstandnis  des  frfihabsolutisti- 
schen  Herrschers  beschreibt  Wolfgang  Sommer  den  Konflikt  zwischen  Philipp  Jakob 
Spenerund  dem  sachsischen  Kurfiirstjohann  GeorgIII.,derin  einer  Freigabe  des  inUn- 
gnade  geratenen  Dresdener  Oberhofpredigers  an  den  Brandenburgischen  Hof  endete. 

11.  Angesichts  dergegenwartigen  kritischen  Prufung  diakonischer  Aufgaben  und  Or- 
ganisationsformen  wahltUdo  Krolzikin  seinem  Aufsatz  „Beitragzum  sozialen  Frieden  - 
Bollwerk gegen  die  Not"  den  historischen  Riickgriff,  um  zu  zeigen,  dass  anwaltschaftliche 
und  unternehmerische  Wurzeln  der  Diakonie  im  19.  Jahrhundert  von  ihrem  Anfang  her 
zusammen  gehorten  und  ihre  Starke  ausmachten.  Gegen  die  aus  der  Erweckungs- 
bewegung  entstandenen  ersten  diakonischen  Ansatze  setzt  er  das  Wichernsche  Projekt 
des  Rauhen  Hauses  ab,  das  die  Vision  einer  Verchristlichung  der  Gesellschaft  mit  einer 
gezielten  Aussendungsstrategie  der  Mitarbeiter  in  alle  sozialen  Bereiche,  mit  dem  Famili- 
enprinzip  als  Fiihrungskonzept  und  den  Polen  Freiheit  und  Aufsicht  als  Erziehungskon- 
zept  verbunden  habe.  Ein  auBerhalb  der  Kirche  aktives  Christentum  organisierte  sich  in 
Vereinen  und  trug  damit  dem  zeittypischen  biirgerlichen  Autonomiestreben  Rechnung. 
Hatten  diese  neben  dem  Verwaltungsstaat  zunachst  nur  subsidiare  Funktion,  erweiterten 
sie  ihren  Handlungsspielraum  zunehmend  auf  eigenverantwortliche  Aktivitaten  zur 
Bekampfung  sozialer  Notstande.  Die  Griindung  des  „Central-Ausschusses  fiir  Innere 
Mission"  als  erstem  Wohlfahrtsverband  diente  der  Professionalisierung  der  Fiirsorge  und 
sozialen  Arbeit.  Rettungshauser  und  ahnliche  Institutionen  entstanden  wie  moderne 
Selbsthilfegruppen  als  Assoziationen  derBediirftigenund  Reichen.  Mit  der  Vereinsform 
etablierte  sich  die  Diakonie  als  eigene  kirchliche  Rechtsform  zwischen  Kirche  und  Staat, 
die  ihre  Beziehungen  zu  Staat  und  Wirtschaft  frei  gestalten  und  Menschen  zu  Spenden 
und  Arbeitseinsatz  motivieren  konnte.  Aus  dieser  Darstellung  zieht  Krolzik  zusammen- 
fassend  Konsequenzen  fiir  die  gegenwartige  Diakoniedebatte:  Es  gab  und  gibt  keinen 
Widerspruch  zwischen  christlich  motivierter  Nachstenliebe  und  unternehmerischem 
Handeln;  Praktikabiliat  und  Effektivitat  bestimmen  die  zu  wahlende  Rechtsform.  Fiir 
die  Aufgaben  der  Diakonie  muss  analog  zur  Vorgehensweise  Wicherns  eine  klare  Vision 


Kirchen-,  Geistes-  und  Kulturgeschichte  501 

entwickelt  werden.  Die  Selbststandigkeit  der  Verbandsdiakonie  und  ihre  Zwischenstel- 
lung  zwischen  Staat  und  Kirche  miissen  erhalten  bleiben. 

12.  Mitpraktischen  Projekten  derlnneren  Mission,  die  im  familiaren  Umfeld  derGra- 
fen  Schimmelmann  in  Ahrensburg  initiiert  wurden,  befasst  sich  der  Beitrag  von  Ruth  Al- 
brecht.  Auf  der  Grundlage  autobiographischer  Quellen  beschreibt  sie  das  Grafenpaar 
Ernst  und  Adelaide  Schimmelmann,  weitere  Verwandter  und  die  mit  der  Familie  in  Kon- 
takt  stehenden  Wegbereiter  der  Inneren  Mission  Johann  Heinrich  Wichern  und  Elise 
Averdieck  mit  ihren  jeweiligen  sozialen  Aktivitaten  und  in  ihrem  Verhaltnis  zueinander. 
Das  von  der  Grafin  gegriindete  Ahrensburger  Gutskrankenhaus  Siloah  wurde  iiber  37 
Jahre  mit  wechselhaftem  Erfolg  durch  Altonaer,  Danziger  und  Stettiner  Diakonissen  be- 
trieben,  ebenso  eine  Sonntags-  und  eine  Warteschule.  Aus  der  Darstellung  Albrechts 
wird  deutlich,  wie  durch  gezielte  Kontaktpflege  zu  Vertreterinnen  und  Vertretern  der 
Inneren  Mission  diakonische  Projekte  der  adeligen  Familie  realisiert  werden  konnten. 
Die  aus  der  Erweckungsbewegung  aufgegriffenen  Impulse  wurden  dabei  von  den  Fami- 
lienmitgliedern  auf  jeweils  eigene  Weise  umgesetzt,  ohne  dass  sie  ihre  adelige  Herkunft 
und  entsprechende  Lebensfiihrung  vollstandig  aufgaben.  Ein  Zentrum  der  Erwek- 
kungsbewegung  wurde  Schloss  Ahrensburg  nicht;  Albrecht  hebt  jedoch  hervor,  dass  die 
vielfaltige  Partizipation  der  Familienmitglieder  als  eigenstandiger  Reflex  zur  „Akzep- 
tanz  der  frommen  Neuausrichtung  im  19.  Jahrhundert"  (S.  343)  beigetragen  habe. 

13.  Der  Beitrag  von  Hannelore  Erhart  schildert  den  im  Fahrwasser  der  preuBischen 
Annexion  des  Konigreichs  Hannover  als  Folge  des  preuBisch-osterreichischen  Krieges 
von  1866  entstandenen  erfolgreichen  Kampf  um  die  Eigenstandigkeit  der  neu  konstitu- 
ierten  evangelischen  Landeskirche  Hannovers.  Unter  dem  Zeichen  der  Unionsfurcht 
stand  die  erste  hannoversche  Landessynode  vom  3.  November  bis  13.  Dezember  1869 
gleichwohl.  Ihre  von  Ludwig  August  Briiel  gelenkten  Bemiihungen,  auch  die  Unterord- 
nung  unter  das  preuBische  Kultusministerium  zu  beseitigen,  blieben  vergeblich.  Neben 
der  Bekenntnisfrage  trennte  ihr  sehr  verschieden  ausgepragtes  Verhaltnis  zum  Staat  die 
hannoversche  und  preuBische  Landeskirche.  Leider  nur  angedeutet  wird  dieser  Um- 
stand  durch  den  Hinweis  auf  das  kirchliche  Organisationskonzept  fur  die  neuen  Landes- 
teile  vom  27.  Juli  1867,  in  dem  der  preuBische  Kultusminister  Heinrich  von  Muhler  die 
Ubertragung  der  Ehegerichtsbarkeit  vom  Konsistorium  auf  die  Gerichte  und  der 
Schulaufsicht  auf  neu  einzurichtende  Regierungen  vorgeschlagen  hatte  (S.  351). 

14.  Die  Entwicklung  und  Aufnahme  der  „Erweiterten  Gottesdienstordnung"  von  1901 
in  Oldenburg  stehen  im  Blickpunkt  des  Beitrags  von  Udo  Schulze.  Die  in  der  Kirchen- 
verfassung  von  1849  vorgesehene  gleichformige  Ordnung  fur  alle  Gemeinden  wurde 
1859  zunachst  durch  eine  an  der  badischen  Gottesdienstordnung  orientierte  schlichte 
Form  realisiert.  In  der  Folgezeit  mehrten  sich  die  Forderungen  nach  einer  reicheren  Li- 
turgie.  Auf  die  1899  erfolgte  Initiative  des  Generalpredigerverein  erarbeitete  ein  syn- 
odaler  Ausschuss  eine  der  altpreuBischen  Ordnung  ahnelnde,  am  11.  Marz  1901  einge- 
fiihrte  Form.  Diese  enthielt  weiterhin  kein  Glaubensbekenntnis  und  keine  Aussage  iiber 
die  Gestaltung  der  Abendmahlsfeier.  Ablehnung  und  Zustimmung  hielten  sich  die  Waa- 
ge;  den  Verweigerern  begegnete  man  mit  Toleranz.  So  kam  es  im  Verlauf  des  20.  Jahr- 
hunderts  zwar  zu  einer  Verbreitung,  zugleich  aber  zu  vielen  Abweichungen.  Dennoch 
habe  sich  die  „preuBische  Agende"  trotz  neuer  liturgischer  Impulse  noch  bis  in  die 
1970erjahre  vielerorts  gehalten;  insbesondere  in  Heimatvertriebenenkreisen  sei  sie  als 
schlesische  Liturgie  gefeiert  worden. 

15.  Uber  den  Versuch  einer  eigenstandigen  Schulpolitik  der  hannoverschen  Landes- 


502  Besprechungen 

kirche  in  der  Weimarer  Republik  berichtet  Hans  Otte.  Ihre  wichtigsten  Anliegen  waren 
die  Beibehaltung  der  Bekenntnisschulen,  die  Einf lussnahme  auf  den  Religionsunterricht 
und  die  Durchsetzung  des  Elternrechtes  in  Bezug  auf  die  Erziehung  ihrer  Kinder.  Unter 
Riickgriff  auf  einen  Schriftwechsel  des  Landeskirchenamtes  mit  dem  ehemaligen  Vorsit- 
zenden  des  Hannoverschen  Provinzial-Lehrervereins  Wilhelm  Brunotte  schildert  Otte 
ausfiihrlich  die  schulpolitischen  Strategien  des  konfessionellen  Lutheraners  und  landes- 
kirchlichen  Schuldezernenten  Paul  Fleisch.  Dieserhatte  die  kirchlichen  Schulinteressen 
nicht  nur  gegenuber  dem  eigenen  Landeskirchenausschuss  und  der  organisierten  Religi- 
onslehrerschaft,  sondern  auch  gegenuber  den  preuBischen  kirchlichen  Behorden  und 
der  Berliner  Ministerialbiirokratie  zu  vertreten.  Er  war  uberzeugt,  dass  der  Staat  keine 
MaBstabe  fur  die  Entscheidung  besitze,  ob  der  Religionsunterricht  mit  den  kirchlichen 
Grundsatzen  ubereinstimme,  und  warnte  mit  Blick  auf  die  Nationalsozialisten  ab  1928 
vor  unerwiinschten  staatlichen  Einflussen  auf  das  kirchliche  Bekenntnis  und  das  Gewis- 
sen  der  Religionslehrer.  Die  geplante  Erneuerung  des  Visitationsgesetzes  fachte  Ende 
desjahres  1927  den  Widerstand  der  Lehrer  gegen  jeder  Form  der  geistlichen  Schulauf- 
sicht  erneut  an,  da  sich  die  Visitation  weiterhin  auf  den  schulischen  Religionsunterricht 
erstrecken  sollte.  Nach  dem  Scheitern  des  geplanten  Reichsschulgesetzes  im  Februar 
1928  betonte  Fleisch  aus  taktischem  Kalkiil  die  alten  kirchlichen  Rechte  und  damit  die 
geistliche  Schulaufsicht,  die  de  facto  jedoch  nicht  ausgeiibt  wurde.  Nach  schwierigen 
Verhandlungen  gelang  es  Fleisch  1932,  einen  Religionsunterrichtsbeirat  beim  Landes- 
kirchenamt  zu  etablieren,  dem  neben  kirchlichen  Vertretern  auch  Lehrerinnen  und 
Lehrer  angehorten.  Er  begutachtete  Lehrplane,  befasste  sich  kritisch  mit  der  Padagogik 
und  Jugendarbeit  der  volkischen  Gruppen  und  Nationalsozialisten  und  begleitete  die 
evangelischen  Schulrate,  die  nun  im  Auftrag  der  Kirche  den  Religionsunterricht  begut- 
achten  sollten.  In  der  Weimarer  Zeit  waren  einer  eigenstandigen  Schulpolitik  der  hanno- 
verschen Landeskirche  in  PreuBen  viele  Grenzen  gezogen;  ein  dauerhafter  Konsens  mit 
den  Lehrern  gelang  ungeachtet  dieses  kurzfristigen  Teilerfolgs  noch  nicht.  Nach  1945 
gab  der  hannoversche  Schuldezernent  im  Landeskirchenamt  folgerichtig  das  Festhalten 
an  der  Konfessionsschule  auf. 

16.  Als  Kontrapunkt  gegen  das  lange  Zeit  fast  ausschlieBlich  mannlich  gepragte  kol- 
lektive  Gedachtnis  der  christlichen  Kirchen  versteht  Rainer  Hering  sein  ausfiihrliches 
Portrat  der  Hamburger  Theologin  Katharina  Gombert.  An  ihrem  Beispiel  wird  die 
schwierige  Situation  von  Theologinnen  im  20.  Jahrhundert  vor  Einfuhrung  der  Frau- 
enordination  verdeutlicht.  Zwarkonnten  sie  ab  Beginn  desjahrhunderts  das  erste  theo- 
logische  Examen  erlangen,  hatten  jedoch  wenig  kirchliche  Arbeitsmoglichkeiten.  Gom- 
bert engagierte  sich  im  Verband  Evangelischer  Theologinnen  Deutschlands  schon  friih 
und  selbstbewusst  fur  das  Recht  der  Frauen,  als  Pastorinnen  in  der  Kirche  zu  wirken.  Seit 
1930  arbeitete  sie  als  Gemeindehelferin  in  Fuhlsbuttel  unter  der  Aufsicht  eines  Geistli- 
chen. Die  „Z6libatsklausel"  (S.  417)  fur  weibliche  Gemeindehelferinnen  und  die  Vorent- 
haltung  von  Predigt  und  Sakramentsverwaltung  gehorten  zu  den  diskriminierenden  Ele- 
menten  im  Alltag  der  ersten  Theologinnen.  Mit  der  Leitung  der  Evangelischen  Frauen- 
hilfe  und  des  Evangelischen  Frauenwerks  in  Hamburg  erweiterten  sich  die  Befugnisse 
Gomberts.  Das  Abendmahl  durfte  sie  ab  1949  austeilen,  1952  wurde  sie  Krankenhaus- 
seelsorgerin.  Die  Ordination  wurde  ihr  erst  im  Ruhestand  zuteil,  nachdem  1969  das  Pa- 
storinnengesetz  verabschiedet  worden  war. 

17.  Thomas  Jan  Kiick  liefert  mit  seiner  biografischen  Skizze  iiber  die  Tatigkeit  des  Su- 
perintendenten  von  Bremervorde  Johannes  Schulze  einen  wichtigen  Beitrag  zurlokalen 


Kirchen-,  Geistes-  und  Kulturgeschichte  503 

Kirchengeschichte  der  NS-Zeit.  Am  Beispiel  der  Unterwanderung  des  Bremervordi- 
schen  Kirchenvorstandes  wird  das  nationalsozialistische  Bestreben  dertotalen  innerge- 
sellschaftlichen  Gleichschaltung  ebenso  verdeutlicht  wie  der  Handlungsspielraum  eines 
Geistlichen  der  Bekenntnisgemeinschaft.  Gegen  die  Berufung  Schulzes  als  Nachfolger 
des  verstorbenen  Deutschen  Christen  Bauer  in  Bremervorde  hatte  sich  erfolglos  Wider- 
stand  unter  den  Nationalsozialisten  im  Kirchenvorstand  erhoben.  Dem  Superintenden- 
ten  gelang  eine  personelle  Umbildung  des  Gremiums  nach  kirchlichen  Kriterien,  bald 
wurden  regelmaBige  Veranstaltungen  der  Bekenntnisgemeinschaft  durchgefiihrt.  Eine 
Gestapo-Uberwachung  Schulzes  blieb  folgenlos.  Offenen  Widerstand  gegen  die  Zersto- 
rung  und  Deportierung  der  jiidischen  Gemeinde  leistete  er  nicht.  Insgesamt  wertet  Kiick 
sein  kirchliches  Handeln  als  „AuBerung  gegen  den  Nationalsozialismus"  (S.  453). 

18.  Die  Entwicklung  des  Singens  in  der  evangelischen  Kirche  seit  1949  beschreibt 
Hans  Christian  Brandy  auf  der  Grundlage  evangelischer  Gesangbiicher  und  zahlreicher 
Liederhefte  fur  die  Kirchentage.  In  derNachkriegszeitbot  vor  allem  derreformatorische 
Choral  Orientierung,  ab  1960  suchte  man  nach  zeitgemaBen  musikalischen  Ausdrucks- 
formen.  Christliche  Schlager  entstanden,  heftig  umstrittene  Impulse  boten  Popmusik, 
Jazz  und  Spiritual.  Im  Bemiihen  um  mehr  Qualitat  verschoben  die  gesellschaftlichen 
Konfliktthemen  die  Akzente.  Inhaltlich  wurde  in  dem  neuen  geistlichen  Lied  der  Erfah- 
rungsbezug  entscheidend.  Weitere  Impulse  brachte  die  Friedensbewegung,  so  etwa  in 
Hannover  1983.  Die  Kategorien  Politik,  Ethik,  Umkehr,  Handeln  und  Verantwortung 
pragten  die  teilweise  stark  moralisierenden  Kirchenlieder.  Das  neue  Evangelische  Ge- 
sangbuch  von  1993/94  trage  den  neuen  geistlichen  Liedern  Rechnung,  indem  es  eine 
„breite  Pluralitat  des  Singens"  abbilde.  Der  unbefriedigende  Kompromisscharakter  vie- 
ler  zwischen  klassischem  Kirchenlied  und  popularer  Gegenwartskultur  angesiedelter 
Lieder  habe  jedoch  inzwischen  zu  einer  nachlassenden  Kenntnis  der  neuen  „01dies"  ge- 
fiihrt.  Neben  der  Gospelwelle  brachte  die  2005  gestartete  Initiative  fur  ein  neues  Kirchen- 
tagsliederbuch  mit  der  Aufnahme  etlicher  aus  der  Okumene  stammender  sowie  „from- 
merer"  Lieder  und  einer  groBen  Breite  von  Musikstilen  neue  Ansatze.  Bleibende  Heraus- 
forderung  fiir  die  Lieddichter  sei  es,  Grundfragen  des  Lebens  und  Glaubens  zeitgemaB 
zur  Sprache  zu  bringen,  heute  ginge  es  dabei  in  erster  Linie  um  neue  Sprache  und  Gewiss- 
heit  angesichts  weitgehender  Erosion  an  Glaubenstradition  und  Sprache. 

19.  Im  letzten  Beitrag  prasentiert  Martin  Cordes  als  Beispiel  fiir  kirchenhistorisches 
Lernen  in  einem  modular  strukturierten  Studium  zu  Praxis  und  Theorie  der  Diakonie 
den  Entwurf  einer  Lehrveranstaltung  iiber  sozialdiakonische  Arbeit  im  Spannungsver- 
haltnis  von  professionellem  Beruf  und  ehrenamtlicher  Tatigkeit.  Geschichtsdidaktische 
Ziele,  Bausteine  fiir  die  Lehrveranstaltung  und  zahlreiche  Themenfelder  werden  vorge- 
stellt.  Das  Lehrangebot  konne  auch  in  anderen  Modulen  und  Studiengangen  unterge- 
bracht  werden,  denn  im  Zentrum  der  kirchenhistorisch  prasentierten  Thematik  stehe 
die  Verhaltnisbestimmung  von  freiwilligem  Engagement  und  professionellem  Handeln 
als  bleibende  gesellschaftliche,  nicht  nur  berufspolitische  Aufgabe.  Damit  wird  der  ge- 
wachsenen  Bedeutung  des  freiwilligen  Ehrenamtes  in  der  heutigen  Diakonie  und  Sozia- 
len  Arbeit  Rechnung  getragen.  Sie  entstehe  jedoch  nicht  aus  Sparzwangen,  sondern  aus 
dem  Verstandnis  des  Ehrenamtes  als  Gabe  und  Aufgabe  freier  Christenmenschen  und 
sei  in  diesem  Sinn  eine  Grundkonstante  des  kirchlichen  Selbstverstandnisses  und  „ein 
Kontinuum  ihrer  Geschichte"  (S.  481). 

Wolfenbiittel  Birgit  Hoffmann 


504  Besprechungen 

Jager,  Helmut:  „Wohl  tobet  um  die  Mauern  der  Sturm  wilder  Wut .  .  ."  Das  Bistum  Osna- 
briick  zwischen  Sakularisation  und  Modernisierung  1802-1858.  Osnabriick:  Dom 
Dombuchhandlung  2007.  447  S.  Abb.  =  Das  Bistum  Osnabriick  Bd.  7.  Geb.  29,-  €. 

Die  von  Joachim  Kuropka,  Vechta,  betreute  Dissertation  Helmut  Jagers  behandelt  eine 
besonders  wichtige  und  kritische  Phase  in  der  Geschichte  der  Diozese  Osnabriick.  Die 
Sakularisation  im  Jahr  1802/03  beendete  die  Existenz  des  geistlichen  Fiirstentums,  des 
Hochstiftes,  belieB  aber  einstweilen  den  Kirchensprengel,  die  Diozese,  bestehen.  1857 
erfolgte  die  Dotation  des  durch  die  Zirkumskriptionsbulle  „Impensa  Romanorum  Pon- 
tificum"  von  1824  auf  den  westlich  der  Weser  gelegenen  Teil  des  Konigreichs  Hannover 
ausgedehnten  neuen  Bistums,  was  1858  zur  Ernennung  Paulus  Melchers'  zum  ersten  Di- 
ozesanbischof  nach  der  Sakularisation  fiihrte.  Die  Bulle  hatte  zwar  an  der  Existenz  des 
Bistums  Osnabriick  festgehalten,  seine  Dotation,  die  Fundierung  der  Diozesaneinrich- 
tungen,  wie  Bischof,  Domkapitel,  Generalvikariat,  Priesterseminar,  der  Initiative  der 
hannoverschen  Regierung  iiberlassen,  die  die  endgiiltige  Erledigung  dieser  Angelegen- 
heit  bis  nach  der  Jahrhundertmitte  hinauszogerte.  Der  Zustand  des  Bistums  zwischen 
1802  und  1858,  als  die  Weihbischofe  Karl  Klemens  Reichsfreiherr  von  Gruben 
(1795-1827)  und  Karl  Anton  Liipke  (1827-1855)  die  Diozesanleitung  wahrnahmen,  kann 
somit  als  eine  Art  „Provisorium"  bezeichnet  werden.  Einzelaspekte  dieses  Zeitraumes 
sind  bereits  in  einer  Reihe  wissenschaftlicher  Untersuchungen  bearbeitet  worden,  so  in 
Hans-Georg  Aschoff,  „Das  Verhaltnis  von  Staat  und  katholischer  Kirche  im  Konigreich 
Hannover",  1976,  wo  vor  allem  kirchenpolitische  und  staatskirchenrechtliche  Probleme 
beriicksichtigt  werden,  und  im  Werk  von  Engelbert  Bucholtz,  „Die  Einwirkungen  des 
Reichsdeputationshauptschlusses  zu  Regensburg  im  Jahre  1803  und  der  Bulle  ,Impensa 
Romanorum  Pontificum'  auf  das  Bistum  Osnabriick  . . .",  1930,  das  die  Auswirkungen  der 
Sakularisation  behandelt. 

Jager  legt  den  Schwerpunkt  seiner  Dissertation  auf  den  inneren  Ausbau  der  Diozese. 
Er  charakterisiert  Gruben  und  Liipke  und  sieht  im  ersten  einen  Vertreter  der  alten 
Reichskirche,  der  sich  gegeniiber  staatskirchlichen  Bestrebungen  pragmatisch  verhielt, 
wahrend  derbiirgerliche  Liipke  einen  neuen  Bischofstyp  darstellte  und  wegen  seines  en- 
gen  Anschlusses  an  Papst  und  Kurie  sowie  seiner  energischen  Verteidigung  kirchlicher 
Rechte  eine  „ultramontane"  Orientierung  aufwies.  Ein  Verdienst  beider  Weihbischofe 
bestand  in  ihren  Bemiihungen  um  Erhaltung  bzw.  Dotierung  der  Diozese  Osnabriick.  In 
uberzeugender  Weise  legt  der  Verfasser  dar,  wie  vor  allem  Liipke  durch  vollendete  Tat- 
sachen  sein  Bistum  als  eigenstandige  GroBe  erscheinen  lassen  wollte,  obwohl  es  formal- 
rechtlich  dem  Hildesheimer  Bischof  als  Administrator  unterstand.  Dazu  gehorten  nicht 
zuletzt  Reformen  im  diozesanen  Verwaltungsbereich,  die  nach  Jager  erheblich  zur  Ver- 
einheitlichung  des  Diozesangebietes  beitrugen  und  eine  „tragfahigen  Bistumsidentitat" 
(S.  382)  schufen. 

Von  den  vielfaltigen  Aspekten  und  MaBnahmen  im  Sinne  einer  Modernisierung 
des  Bistums  sind  die  Ausfiihrungen  iiber  das  Katholische  Konsistorium  in  Osnabriick 
(S.  217-268)  und  iiber  den  Pfarrklerus  (S.  273-334)  besonders  aufschlussreich.  Jager 
macht  deutlich,  wie  das  Konsistorium,  eine  staatliche  Behorde  zur  Wahrnehmung  der 
Rechte  der  staatlichen  Kirchenhoheit  gegeniiber  der  Katholischen  Kirche,  nicht  zuletzt 
durch  die  Besetzung  mit  kirchentreuen  Beamten,  wie  August  Ludwig  Vezin,  Heinrich 
August  Vezin  und  Ludwig  Windthorst,  und  durch  enge  Verbindungen  zum  Osnabru- 
cker  Generalvikariat  konfliktentscharfend  wirkte.  In  seinen  Aussagen  iiber  die  Geistli- 


Kirchen-,  Geistes-  und  Kulturgeschichte  505 

chen  gelingt  es  dem  Verfasser,  durch  Hinweise  u.  a.  auf  die  Klerikerausbildung  und  die 
Besoldung,  die  priesterlichen  Tatigkeiten  ein  Sozialprofil  des  Osnabrticker  Diozesan- 
klerus  zu  erstellen.  Bemerkenswert  sind  auch  die  Ausfiihrungen  iiber  die  Kirchenge- 
meinden,  die  sich  trotz  aller  Zentralisierungsbestrebungen  des  Generalvikariats  relative 
Selbstandigkeit  bewahren  konnten  und  deren  religioses  Leben  stark  vom  Engagement 
des  Seelsorgeklerus  abhing. 

Jagers  Arbeit  beruht  auf  einer  guten  Quellengrundlage.  Diese  umfasst  unveroffent- 
lichtes  Schriftgut  aus  staatlichen  Archiven  (Niedersachsisches  Hauptstaatsarchiv  Han- 
nover; Niedersachsisches  Staatsarchiv  Osnabriick)  sowie  aus  kirchlichen  Archiven 
(Diozesanarchive  von  Osnabriick,  Hildesheim  und  Miinster;  etliche  Dekanats-  und 
Pfarrarchive).  Insgesamt  sind  die  Ergebnisse  der  Arbeit  iiberzeugend.  Vielleicht  hatte 
ein  distanzierterer  Haupttitel  gewahlt  werden  konnen.  Zu  fragen  ist  auch,  ob  der  Unterti- 
tel  in  sich  schliissig  ist;  sind  „Sakularisation"  und  „Modernisierung"  als  Gegensatze  oder 
als  Zeitangaben  zu  verstehen?  Beides  trifft  wohl  nicht  zu.  Einige  kleine  Ungenauigkeiten 
-  Maximilian  Franz  von  Osterreich  war  erst  seit  1784  Kurfiirst,  nicht  seit  1774  (S.  33);  der 
SekretarderKonsistorialkongregation  hieB  Raffaele  Mazio,  nicht  Mazi  (S.  71)  -  mindern 
nicht  den  Wert  der  Arbeit,  die  einen  verdienstvollen  Beitrag  zur  regionalen  Kirchenge- 
schichte  leistet. 

Hannover  Hans-Georg  Aschoff 


Orden  und  Kloster  im  Zeitalter  von  Reformation  und  katholischer  Reform  1500-1700,  Bd.  3. 
Hrsg.  von  Friedhelm  Jurgensmeier  und  Regina  Elisabeth  Schwerdtfeger.  Miinster: 
Aschendorff  2007.  240  S.  Kt.  =  Katholisches  Leben  und  Kirchenreform  im  Zeitalter 
der  Glaubensspaltung  Bd.  67.  Kart.  22,80  €. 

„Ordensgeschichtliche  Fragestellungen  und  Forschungen  sind  wieder  aktuell",  mit  die- 
sem  optimistischen  Satz  beginnen  die  Herausgeber  des  anzuzeigenden  Bandes  ihr  Vor- 
wort.  Verbindet  man  mit  Ordensgeschichte  meistens  eine  religiose  Erscheinung  des 
Mittelalters,  so  ist  demgegeniiberzu  konstatieren,  dass  Orden  und  Kloster  auch  ein  Pha- 
nomen  der  Neuzeit  sind,  das  bis  in  die  Gegenwart  reicht  und  Auswirkungen  hat.  Zwar 
erlitten  viele  Orden  und  Kloster  durch  die  Reformation,  ausgelost  durch  den  Augusti- 
nermonch  Martin  Luther  und  dessen  radikale  Infragestellung  der  monastischen  Lebens- 
weise,  einen  herben  Einbruch,  doch  kam  es  sogar  im  16.  Jahrhundert  zu  neuen  Griin- 
dungen  und  Hochzeiten  einiger  Orden. 

Im  Rahmen  der  Schriftenreihe  „Katholisches  Leben  und  Kirchenreform  im  Zeitalter 
der  Glaubensspaltung"  (KLK)  ist  nun  der  abschlieBende  von  drei  Banden  zur  Rekon- 
struktion  der  Geschichte  der  Ordensgemeinschaften  des  deutschen  Sprachraumes  in 
der  Zeit  von  1500  bis  1700  erschienen.  Die  Wahl  des  Zeitraumes  ermoglicht  eine  Langs- 
schnittuntersuchung  der  Reformbemiihungen  am  Vorabend  der  Reformation,  der  Aus- 
einandersetzungen  mit  den  Anfechtungen  der  reformatorischen  Theologie  und  Politik 
und  schlieBlich  der  Konsolidierung  im  Zeitalter  der  Konfessionalisierung. 

Insgesamt  bietet  das  dreibandige  Handbuch  nun  31  Beitrage  von  27  Autoren  auf  rund 
720  Seiten  zur  Geschichte  der  Orden  und  Kloster  im  deutschsprachigen  Raum  zu  Be- 
ginn  derFriihen  Neuzeit.  Es  sei  darauf  hingewiesen,  dass  alle  Artikel  nach  dem  gleichen 
Schema  aufgebaut  sind,  beginnend  mit  statistischen  Angaben  iiber  Personalstarke,  Aus- 


506  Besprechungen 

bildungsorte  und  bedeutende  Personlichkeiten.  Besonders  erfreulich  sind  die  34  auf  der 
gleichen  Grundkarte  basierenden  graphischen  Darstellungen,  die  alle  Niederlassungen 
derjeweiligen  Ordensgemeinschaft  im  deutschen  Sprachraum  abbilden.  Unterschiedli- 
che  Symbole  verdeutlichen,  welche  Konvente  vor  der  Reformation  entstanden  sind,  wel- 
che  im  Zuge  der  Reformation  aufgelost  wurden  und  welche  spater  neu  gegriindet  wor- 
den  sind.  Eine  alphabetische  Tabelle  zu  jeder  Karte  listet  die  einzelnen  Konvente  mit 
dem  Zeitraum  ihres  Bestehens  auf.  Nach  dieser  Ubersicht  folgt  ein  Abschnitt  zur  Situa- 
tion der  Gemeinschaft  im  Ubergang  vom  Spatmittelalter  zur  Reformation,  wobei  auf 
Reformbemuhungen  und  Verfallserscheinungen  groBes  Gewicht  gelegt  wird.  Anschlie- 
Bend  wird  das  Verhaltnis  der  Kloster  zur  Reformation  sowie  ihre  Situation  wahrend  der 
Reformation  dargestellt,  die  meistens  mit  enormen  Verlusten  einherging.  AbschlieBend 
werden  die  Auswirkungen  von  Konfessionalisierung  und  Tridentinum  geschildert.  Am 
Ende  jedes  Beitrages  findet  sich  eine  Bibliographie. 

Der  dritte  Band  behandelt  die  aus  der  regulierten  Chorherrenbewegung  im  12.  und 
13.  Jahrhundert  hervorgegangenen  Pramonstratenser  und  Pramonstratenserinnen  (Jo- 
hannes Meier)  sowie  die  Augustiner-Chorherren  (Franz  Brendle)  und  Augustiner-Chor- 
frauen  (Annette  von  Boetticher),  dann  als  Zweige  des  Franziskanerordens  die  Franziska- 
ner-Konventualen  und  Martinianer  (Christian  Plath),  die  Franziskaner-Observanten 
(Walter  Ziegler)  und  die  im  16.  Jahrhundert  entstandenen  Kapuziner  (Matthias  Ilg)  und 
schlieBlich  die  aus  der  Eremitenbewegung  hervorgegangenen  und  von  den  Bettelorden 
beeinflussten  Wilhelmiten  (Friedhelm  Jiirgensmeier),  die  benediktinisch-eremitisch 
ausgerichteten  Colestiner  (Karl  Borchardt)  und  die  im  Hospitalwesen  tatigen  Antoniter 
(Adalbert  Mischlewski).  Es  fehlt  leider  ein  Beitrag  iiber  die  Dominikanerinnen. 

Da  es  im  Rahmen  der  Rezension  nicht  moglich  ist,  alle  Beitrage  zu  besprechen,  seien 
nur  einige  Schlaglichter  gesetzt:  Der  Beitrag  zu  den  Pramonstratenserinnen  und  Pra- 
monstratensern  hebt  -  zu  Recht  -  sehr  stark  auf  die  Reformbemuhungen  innerhalb  die- 
ses Ordens  wahrend  des  gesamten  Untersuchungszeitraumes  ab.  Damit  konnen  zum  ei- 
nen  Kontinuitaten  und  Briiche  verdeutlicht,  zum  anderen  kann  der  groBe  Einfluss  in  der 
Barockzeit  erklart  werden  (Johannes  Meier).  Gegenteiliges  wird  von  dem  Eremitenor- 
den  der  Wilhelmiten  ausgesagt,  der  seinen  Hohepunkt  um  die  Mitte  des  13.  Jahrhun- 
derts  erreicht  hatte  und  aufgrund  langfristiger  Reformunfahigkeit  bereits  um  die  Mitte 
des  14.  Jahrhunderts  begonnen  hatte,  zu  verfallen.  Mit  dem  Verlust  des  streng  eremiti- 
schen  monastischen  Ideals  setzte  der  Zerfall  des  Ordens  schon  lange  vor  der  Reformati- 
on ein  (Friedhelm Jiirgensmeier).  Demgegeniiber  ist  der  Einbruch  des  Antoniterordens 
eher  externen  Ursachen  zu  verdanken,  wie  Adalbert  Mischlewski  aufzeigt.  Hier  war  es 
ein  Konglomerat  von  papstlicher  Pfriindenpolitik,  fehlenden  Visitationen  und  einer 
Verbesserung  der  Ernahrung,  die  zu  einem  Riickgang  des  Antoniusfeuers  fiihrte  -  und 
somit  dem  Antoniusorden  seine  Existenzberechtigung  entzog,  was  dazu  fiihrte,  dass  ein 
hoch  angesehener  und  in  ganz  Europa  verbreiteter  Hospitalorden  innerhalb  weniger 
Jahrzehnte  vollig  verschwand.  Sehr  aufschlussreich  sind  auch  die  Ausfiihrungen  zu  den 
Zweigen  des  Franziskanerordens,  werden  doch  hier  die  Sprengkraft  der  Armutsfrage 
und  die  mit  ihr  verbundenen  Konsequenzen  besonders  deutlich.  Neben  dieser  theologi- 
schen  Diskussion  konnen  auch  die  politischen  Interessen  der  Landesherren  offengelegt 
werden,  die  sich  von  der  Einfuhrung  der  Observanz  groBere  Einflussmoglichkeiten  und 
finanzielle  Vorteile  versprachen  (Christian  Plath,  Walter  Ziegler). 

Das  Ziel  des  Handbuches  ist  es,  in  erster  Linie  fur  vergleichende  historische  Studien 
„eine  wissenschaftlich  fundierte  und  inhaltlich  kompakte  Ubersicht  zur  Verfugung  zu 


Kirchen-,  Geistes-  und  Kulturgeschichte  507 

stellen"  (7).  Dieses  Ziel  ist,  so  wird  man  urteilen  diirfen,  weitestgehend  erreicht  worden. 
Dazu  tragen  zum  einen  die  Bandbreite  der  vorgestellten  Orden  und  Kloster,  zum  ande- 
ren  die  Spannweite  des  zeitlichen  Horizonts  und  schlieBlich  die  prazisen  Karten  bei. 
Moglicherweise  werden  die  drei  Hefte  sogar  dank  der  in  den  Artikeln  aufgezeigten  zahl- 
reichen  Forschungsdesiderata  zu  neuen  Forschungen  anregen  und  AnstoB  geben.  Es  wa- 
re der  Ordenshistoriographie  zu  wiinschen.  Damit  bietet  das  Handbuch  einen  guten 
Uberblick  zu  ordensgeschichtlichen  Fragestellungen  in  der  Friihen  Neuzeit.  Dennoch 
sei  ein  Desideratum  angemerkt:  AuBerst  hilfreich  ware  ein  gemeinsames  Register  fiir  die 
drei  Bande  gewesen,  wo  schon  die  Einzelbande  ein  solches  vermissen  lassen.  Ein  schnel- 
ler  Uberblick  zu  Akteuren  und  Orten  ware  somit  moglich  gewesen  und  hatte  gerade  in 
komparationshistorischer  Sicht  das  Durchforsten  der  einzelnen  Beitrage  nach  gleichen 
Personen  oder  Ortschaften  eriibrigt.  So  waren  in  dem  angezeigten  Zeitraum  der  Einfluss 
und  der  Gestaltungswille  der  Landesherren  sowohl  vorreformatorisch  als  auch  (gegen-) 
reformatorisch  kaum  zu  iiberschatzen,  was  ein  Register  leicht  fiir  die  verschiedenen  Or- 
den und  Kloster  hatte  aufzeigen  konnen.  Inhaltlich  wiinschenswert  ware  eine  starkere 
Ausarbeitung  der  jeweiligen  Frommigkeit  gewesen,  wie  dies  in  einigen  wenigen  Artikeln 
geschehen  ist,  was  aber,  teilweise  schon  aufgrund  fehlender  Literatur  zu  diesem  Thema, 
kaum  realisierbar  ist. 

Trotz  dieses  Wermutstropfens  ist  den  Herausgebern  und  insbesondere  den  Autoren 
fiir  das  vorliegende  Handbuch  zu  danken,  das  als  eine  Bereicherung  der  ordensge- 
schichtlichen Literatur  anzusehen  ist.  Es  fasst  zahlreiche  Einzel-  und  Spezialunter- 
suchungen  zusammen,  bringt  sie  in  eine  einheitliche  Form  und  bietet  damit  fiir  den 
Bereich  der  fruhneuzeitlichen  Ordensgeschichte  eine  solide  und  empfehlenswerte  Ein- 
fiihrung. 

Hannover  Rajah  Soheepers 


Die  Rundschreiben  der  Deutschen  Christen  Hannovers  1934  -1940  im  Landeskirchlichen  Archiv 
Hannover.  Bearb.  von  Giinter  Goldbach  unter  Mitarb.  von  Britta  Perkams.  Hannover: 
Lutherisches  Verlagshaus  2006.  576  S.  Kart.  69,90  €. 

Mit  der  vorliegenden  Quellensammlung  wird  die  Kirchenkampfforschung  um  einen  ge- 
wichtigen  Aspekt  bereichert,  denn  es  handelt  sich  um  die  erste  kritische  Edition  einer 
geschlossenen  Sammlung  von  Rundschreiben  deutschchristlicher  Herkunft.  Erstmals 
ist  es  somit  moglich,  anhand  von  Quellen  die  Entwicklung  dieser  den  deutschen  Protes- 
tantismus  substantiell  bedrohenden  kirchenpolitischen  Gruppierung  der  NS-Zeit  in  ei- 
ner Landeskirche  nachzuvollziehen.  Man  mag  einwenden,  fiber  die  Deutschen  Christen 
sei  doch  alles  Wesentliche  bekannt  und  die  nahere  Beschaftigung  mit  diesem  etwas  un- 
appetitlichen  Forschungsgegenstand  sowieso  unerquicklich,  und  wird  dennoch  nicht 
abstreiten  konnen,  dass  eine  wenn  auch  nur  kurzzeitig  so  einflussreiche  Gruppierung 
wie  die  Deutschen  Christen  in  der  bisherigen  Editionsarbeit  zum  Kirchenkampf  eindeu- 
tig  unterreprasentiert  ist.  Diesem  Mangel  hilft  der  vorliegende  Band  fiir  den  Bereich  der 
hannoverschen  Landeskirche  ab. 

Mit  Hilfe  der  im  Landeskirchlichen  Archiv  Hannover  vorfindlichen  Rundschreiben 
von  1934  bis  1940  wird  der  Weg  der  Deutschen  Christen  Hannovers  in  deren  eigener 
Sicht  nachvollziehbar  -  mit  alien  seinen  Ungereimtheiten,  theologisch-kirchlichen  Un- 


508  Besprechungen 

moglichkeiten,  peinlichen  Anbiederungen  an  den  NS-Staat  und  mitunter  auch  naiven 
Hilflosigkeiten.  Enttauschung  iiber  die  eben  doch  nicht  vollendete  Ubernahme  und 
Gleichschaltung  der  Landeskirche  stent  unvermittelt  neben  der  Hetze  gegen  die  Beken- 
nende  Kirche;  der  Hoffnung  auf  den  lange  schwankenden  Landesbischof  Marahrens 
folgt  abrupt  die  harte  Kritik  an  seinem  Kurs,  als  klar  wurde,  dass  er  der  deutschchristli- 
chen  Ubernahme  der  Macht  in  Hannover  dann  doch  nicht  den  Weg  ebnen  wollte.  Sehr 
klartritt  auch  die  Vielgestaltigkeit  derDeutschen  Christen  zutage,  deren  Protagonisten  - 
unabhangig  von  ihrer  Einigkeit  in  der  Agitation  gegen  die  Bekennende  Kirche  -  doch 
von  durchaus  unterschiedlichen  Motivationen  geleitet  waren.  Subjektiv  ehrliches  Be- 
miihen  um  Volksmission,  dem  die  Enttauschung  iiber  den  „Unwillen"  bekenntniskirchli- 
cher  Kreise  anzumerken  ist,  steht  neben  plumpem  Machtstreben,  dem  die  Feme  zu  jeder 
Art  theologischen  Denkens  ebenso  anzumerken  ist. 

Der  Nutzen  einer  solchen  Edition  vor  allem  fur  die  landeskirchengeschichtliche  For- 
schung  ist  unbestreitbar,  auch  wenn  wirklich  „Neues"  nicht  enthiillt  wird.  Die  Genese 
bestimmter  Entscheidungen  und  die  Rolle  einzelner  Funktionstrager  sind  einfach  besser 
zu  rekonstruieren,  wenn  sie  einmal  auch  aus  der  Sicht  der  Handelnden  selbst  betrachtet 
werden  konnen.  Nutzlich  fur  auch  iiber  den  engeren  hannoverschen  Bereich  am  Kir- 
chenkampf  Interessierte  ist  zudem,  dass  in  den  Rundschreiben  sehr  viele  „sekundare" 
Dokumente  aus  der  Bekennenden  Kirche  wie  aus  anderen  deutschchristlichen  Richtun- 
gen  (Thiiringen!)  abgedruckt  wurden,  die  sonst  nur  schwer  zuganglich  sind  (ein  Ver- 
zeichnis  dieser  Dokumente  im  Anhang  hatte  diese  Niitzlichkeit  erheblich  verstarkt,  fehlt 
aber  leider) .  Die  Dokumente  sind  -  von  wenigen  bei  einer  solchen  Arbeit  wohl  nicht  zu 
vermeidenden  kleinen  Fehlern  abgesehen  -  sorgfaltig  ediert;  die  dem  Personenregister 
beigefiigten  Biogramme  diirften  iiber  die  Lekture  dieser  Edition  hinaus  hilfreich  sein. 

Leider  kann  man  das  von  der  der  Edition  vorangestellten  Einleitung  nicht  in  gleichem 
MaBe  behaupten.  Sie  beschreibt  den  „zeitgeschichtlichen  Kontext",  stellt  die  fiihrenden 
Reprasentanten  der  Deutschen  Christen  Hannovers  vor  und  skizziert  abschlieBend  -  be- 
sonders  auf  die  Rundschreiben  Bezug  nehmend  -  ihr  ,,kirchenpolitisches  Konzept"  und 
ihre  „Theologie".  Peinlicher  schon  als  die  kleinen  Fehler  in  der  Edition  erscheint  es, 
wenn  die  Berufung  August  Jagers  zum  Staatskommissar  fur  die  preuBischen  Kirchen  auf 
den  17.  Juni  datiert  wird  (S.  17),  richtig  ist  der  23.  Juni  (in  den  bewegtenJuni-Tagen  1933 
ein  nicht  unwichtiger  Unterschied).  Inhaltlich  spannend  wird  es,  wenn  die  Einsetzung 
des  Kapler- Ausschusses  (Loccumer  Verhandlungen),  dem  auch  der  hannoversche  Lan- 
desbischof Marahrens  angehorte  und  der  die  Verfassung  einer  einheitlichen  deutschen 
evangelischen  Kirche  beraten  sollte,  in  einen  direkten  Zusammenhang  mit  einem  ent- 
sprechenden  Verlangen  der  Nationalsozialisten  gebracht  wird  (S.  16) ;  bei  diesem  Schritt 
-  durch  die  radikalen  Forderungen  der  Deutschen  Christen  sicher  begiinstigt  und  be- 
schleunigt  -  hat  es  sich  doch  eher  um  die  Aufnahme  weit  verbreiteter  Gedanken  und  um 
vorauseilenden  Gehorsam  gehandelt,  aber  zu  diesem  Zeitpunkt  sicher  nicht  um  die  Re- 
aktion  auf  staatlichen  konkreten  Druck. 

An  der  Bewertung  der  schon  genannten  Abdrucke  von  „sekundaren"  Dokumenten  in 
den  Rundschreiben  entziindet  sich  dann  ein  grundsatzliches  Problem:  Der  Verfasser  der 
Einleitung  unternimmt  es  namlich,  anhand  von  Vergleichen  der  vor  allem  in  den  zitier- 
ten  Dokumenten  der  Thiiringer  Deutschen  Christen  zutage  tretenden  theologischen  An- 
sichten  mit  Aussagen  von  hannoverschen  Deutschen  Christen  zu  konstatieren,  letztere 
hatten  eine  „gemaBigte"  Theologie  vertreten,  seien  im  Vergleich  mit  jenen  also  wohl 
deutlich  „harmloser"  gewesen.  Dies  verwundert  umso  mehr,  als  nicht  kaschiert  werden 


Kirchen-,  Geistes-  und  Kulturgeschichte  509 

kann,  dass  nach  dem  offenkundigen  Scheitern  der  Bemiihungen  in  Hannover  eine  Hin- 
wendung  des  iiberwiegenden  Teiles  der  Deutschen  Christen  Hannovers  zuerst  nach  Bre- 
men, dann  abernach  Thiiringen  festzustellen  ist.  Das  Fehlenjeder  Art  von  Quellenkritik 
springt  spatestens  bei  solchen  Interpretationen  ins  Auge.  Kann  man  wirklich  aus  einem 
Vergleich  der  in  den  Rundschreiben  der  Deutschen  Christen  Hannovers  zustimmend 
abgedruckten  Beitrage  Thiiringer  Deutschen  Christen  mit  genuin  „hannoverschen" 
Hervorbringungen  ableiten,  diese  seien  im  Vergleich  zu  jenen  „gemaBigt"?  Muss  man 
nicht  vielmehr  gerade  im  Blick  auf  die  weitere  Entwicklung  fragen,  warum  solche  Beitra- 
ge dann  iiberhaupt  in  diesem  Tenor  abgedruckt  wurden?  Und  konnte  man  nicht  auch  in 
Erwagung  Ziehen,  dass  vielleicht  gerade  die  in  Hannover  lange  „unentschiedene"  Situa- 
tion viele  AuBerungen  dahingehend  beeinflusste,  dass  sie  nun  eben  nicht  explizit  „radi- 
kal"  argumentierten?  Im  Zusammenhang  damit  fallt  ebenfalls  auf,  dass  bei  der  Darstel- 
lung  des  „kirchenpolitischen  Konzeptes"  und  der  „Theologie"  der  Deutschen  Christen 
Hannovers  die  Darstellung  Kurt  Meiers,  der  diese  sehr  kritisch  bewertet  und  den  Kon- 
nex  zu  Thiiringen  hervorhebt,  gar  nicht  auftaucht,  wiewohl  sie  sonst  verwendet  wird. 
Sollen  hier  die  Deutschen  Christen  Hannovers  bewusst  „harmlos"  dargestellt  werden, 
um  eine  Begriindung  dafiir  zu  liefern,  warum  die  hannoversche  Kirchenleitung  und  spe- 
ziell  Landesbischof  Marahrens  sich  nicht  zu  einer  wirklich  eindeutigen  Haltung  ihnen 
gegeniiber  durchringen  konnten?  Oder  wie  hat  man  es  zu  verstehen,  wenn  einer  Weih- 
nachtsbotschaft  des  Landesleiters  Gerhard  Hahn  konzediert  wird,  sie  enthalte  eine  „to- 
tale  Rezeption  traditionell-kirchlicher  Sprache  und  Vorstellungen"?  Wenn  man  von 
jeder  AuBerung,  auch  einer  solchen  anlasslich  des  Weihnachtsfestes,  erwartet,  sie  miisse 
das  komplette  deutsch-christliche  Gedankengut  enthalten,  mag  das  iiberraschen  -  aber 
wer  erwartet  das?  Dass  es  innerhalb  der  Deutschen  Christen  durchaus  Abstufungen  hin- 
sichtlich  ihrer  Gebundenheit  an  „traditionelle  Kirchlichkeit"  gegeben  hat,  ist  doch  nicht 
wirklich  aufregend.  Zu  fragen  ist  aber  gerade  dann,  wie  es  zu  bewerten  ist,  dass  solche 
Vertreter  der  Deutschen  Christen  sich  von  ihren  wesentlich  radikaleren  Gesinnungsge- 
nossen  eben  nicht  abgrenzten,  sondern  deren  pseudotheologische  Ergiisse  zustimmend 
abdruckten! 

Es  erscheint  ein  wenig  bedauerlich,  dass  die  vorliegende  Edition,  deren  eigener  Wert 
dadurch  keineswegs  bestritten  sein  soil,  durch  solche  vorgegebenen  Interpretationen  in 
den  Verdacht  gerat,  den  umstrittenen  Kurs  von  Landesbischof  Marahrens,  auf  den  in 
der  Einleitung  (S.  14  f.)  dezidiert  hingewiesen  wird,  zu  rechtfertigen.  Sicherlich  wird  die 
Frage  nach  der  Rolle  des  Landesbischofs  in  der  NS-Zeit  wohl  weiter  ein  Thema  der  For- 
schung  bleiben  und  innerhalb  der  hannoverschen  Landeskirche  vielleicht  sogar  ein  kon- 
trovers  diskutiertes.  Bestimmt  aber  gibt  es  spannendere  Fragen  in  Zusammenhang  mit 
den  Deutschen  Christen,  etwa  die,  inwieweit  es  sich  bei  ihnen  um  eine  „moderne"  theo- 
logische  Bewegung  handelte  (erinnert  sei  nur  an  das  Stichwort  „kontextuelle  Theolo- 
gie").  Gerade  anhand  solcher  regionaler  Quellen,  die  eine  gewisse  Breite  des  Materials 
gewahrleisten,  kann  hervorragend  untersucht  werden,  welche  auch  „traditionell-kirchli- 
chen"  Vorstellungen  und  Stromungen  sich  in  dieser  Bewegung  zusammenfanden  und 
wie  diese  dort  bedient  wurden.  Forderungen  wie  etwa  die  nach  mehr  Nahe  zu  den  Men- 
schen  und  ihrer  Situation,  nach  weniger  theologischer  Fachsimpelei  und  mehr  prakti- 
scher  Umsetzung  des  Evangeliums,  nach  weniger  theologischem  Streit  und  mehr  Einmii- 
tigkeit,  nach  groBerer  Sichtbarkeit  von  Kirche  usw.  sind  ja  nicht  allein  dem  Programm 
einiger  Nazi-Theologen  von  Vorgestern  entsprungen,  sondern  stutzten  und  stiitzen  sich 
auf  weitverbreitete  Ansichten  und  Einstellungen  gegeniiber  der  evangelischen  Kirche, 


510  Besprechungen 

deren  vordergriindige  Plausibilitat  nicht  vor  groBen  Vereinfachungen  und  Irrtiimern 
schiitzt. 

Korrigenda:  Unschon  ist,  wenn  in  der  Einleitung  ein  „Wortfiihrer"  der  Deutschen 
Christen  mit  einem  Beitrag  auf  deren  erster  Reichstagung  zitiert  wird,  ohne  dass  dieses 
Zitat  belegt  wird  (S.  25).  In  Anm.  47  wird  auf  den  Aufsatz  von  Detlef  Schmiechen- 
Ackermann  mit  der  Seitenangabe  „S.  248"  verwiesen;  bei  der  erstmaligen  Erwahnung 
in  Anm.  1  steht  als  Seitenangabe  fur  den  ganzen  Aufsatz  jedoch  „S.  460 ff."  In  einem 
Dokument  aus  der  Bekennenden  Kirche  ist  in  einer  Reihe  mit  Hans  Freiherr  von  Soden 
(fehlt  im  Personenregister!)  und  Wilhelm  Flor  sicher  von  Eberhard  Fiedler,  nicht  von 
Georg  Fiedler  die  Rede  (S.  327);  auf  Letzteren  wird  aberim  Personenregister  verwiesen 
(S.  546). 

Miinster  PeterZocHER 


WESSELS,Bernhard:  Die  katholische Mission Bremerhaven.  Geschichte  derkatholischen  Kir- 
che an  der  Unterweser  von  1850  bis  1911.  Bremerhaven:  Stadtarchiv  Bremerhaven 
2007.  408  S.  Abb.,  Kt.  =  Veroff.  des  Stadtarchivs  Bremerhaven  Bd.  17.  Geb.  22,50  €. 

Das  1827  als  bremische  Exklave  gegriindete  Bremerhaven  erlebte  als  Auswandererha- 
fen  und  aufgrund  einer  rasant  wachsenden  Werftindustrie  einen  bemerkenswerten  Auf- 
schwung,  der  sich  auch  auf  die  benachbarten  hannoverschen,  rein  protestantischen  Ort- 
schaften  Lehe  und  Geestemunde  auswirkte.  Unter  den  zugewanderten  Bau-  und  Ffafen- 
arbeitern,  Kaufleuten  und  unter  den  Auswanderern  befand  sich  eine  groBere  Anzahl 
von  Katholiken,  die  seelsorglich  betreut  werden  mussten.  Dies  geschah  ab  1850  von  Bre- 
men aus.  Der  Antrag  auf  Errichtung  einer  katholischen  Missionsstation  wurde  zweijah- 
re  spater  genehmigt.  Jedoch  musste  der  vom  Bischof  von  Hildesheim  entsandte  erste 
Seelsorger  Friedrich  Karl  August  Goltermann,  der  noch  der  Bremer  St.-Johannis-Ge- 
meinde  unterstand,  einstweilen  seinen  Wohnsitz  in  Bremen  nehmen,  weil  ihm  nur  fiir 
einige  Tage  eine  Aufenthaltsgenehmigung  fiir  Bremerhaven  erteilt  wurde.  Erst  die  Dra- 
ining, diese  die  Seelsorge  beeintrachtigende  MaBnahme  einer  weiteren  Offentlichkeit  in 
Deutschland  und  Osterreich  bekannt  zu  machen,  bewog  den  zustandigen  Amtmann, 
Goltermann  einen  Dauerwohnsitz  in  Bremerhaven  einzuraumen.  Die  Furcht  vor  einem 
Riickgang  der  Auswandererzahlen  veranlasste  auch  in  den  folgenden  Jahren  den  Bre- 
mer Senat,  der  prinzipiell  an  den  aus  der  staatlichen  Kirchenhoheit  flieBenden  Rechten 
festhielt,  den  Katholiken  Zugestandnisse  zu  machen. 

Nachdem  das  Bremerhavener  Auswandererhaus  fiir  den  katholischen  Gottesdienst 
nicht  mehr  genutzt  werden  konnte,  wurde  dieser  in  eine  provisorische  Kapelle  verlegt. 
Das  Wachstum  der  katholischen  Gemeinde,  die  1862  ca.  500  Glaubige  zahlte,  machte 
den  Bau  einer  Kirche  notwendig.  Antrage  bei  den  Regierungsstellen  auf  Genehmigung 
zum  Kirchenbau  und  kostenlose  Uberlassung  eines  Bauplatzes  hatten  schlieBlich  Er- 
folg;  1867  konnte  die  St.-Marien-Kirche  konsekriert  werden.  Sie  blieb  einstweilen  Filial- 
kirche  von  St.  Johann  in  Bremen.  Von  St.  Marien  in  Bremerhaven,  das  kirchlich  zum 
Apostolischen  Vikariat  der  Norddeutschen  Missionen  gehorte,  wurden  auch  die  Katho- 
liken in  den  hannoverschen,  der  Diozese  Hildesheim  zugeordneten  Gemeinden  Gee- 
stemunde und  Lehe  betreut.  Goltermanns  Nachfolger  setzten  nach  1867  den  inneren 
Ausbau  der  Bremerhavener  Gemeinde  zielstrebig  fort,  die  1909  mit  Zustimmung  des 


Kirchen-,  Geistes-  und  Kulturgeschichte  511 

Bremer  Senates  die  voile  Selbstandigkeit  einschlieBlich  Steuererhebungsrecht  erhielt. 
Zur  gleichen  Zeit  hatten  sich  in  Geestemiinde  und  Lehe  eigenstandige  Kirchengemein- 
den  gebildet,  so  dass  diese  Orte  nicht  mehr  von  Bremerhaven  aus  versorgt  wurden. 

Bernhard  Wessels  stellt  in  seiner  von  Franklin  Kopitzsch,  Bremen,  betreuten,  auf 
breiter  Quellengrundlage  basierenden  Dissertation,  nach  den  leitenden  Seelsorgern  ge- 
gliedert,  diese  Entwicklung  der  katholischen  Kirchengemeinde  in  Bremerhaven  dar. 
Der  Endtermin  derUntersuchung,  dasjahr  1911,  Iasst  sich  mit  dem  Entstehen  rechtsfahi- 
ger  Kirchengemeinden  in  den  drei  Unterweserorten  rechtfertigen.  Aufschlussreich  sind 
Wessels  Ausfuhrungen  iiber  die  Beziehungen  der  Gemeinde  zur  protestantischen  Um- 
welt,  die  sich  im  Laufe  der  Zeit  erheblich  verbesserten,  iiber  das  katholische  Schulwesen, 
das  sich  wegen  der  unterschiedlichen  staatskirchenrechtlichen  Situation  in  Bremerha- 
ven in  kirchlicher,  im  hannoverschen  Teil  in  kommunaler  Tragerschaft  befand,  und  iiber 
den  Ausbau  des  katholischen  Vereinswesens  und  der  karitativen  Einrichtungen,  die  wie 
das  St.-Joseph-Krankenhaus  vornehmlich  in  der  Hand  der  Franziskanerinnen  zu  St. 
Mauritz  bei  Miinster  lagen.  Alle  diese  Aktivitaten  sollten  zur  Sicherung  der  konfessio- 
nellen  Identitat  in  einer  extremen  Diasporasituation  beitragen.  Trotzdem  erlitt  die  ka- 
tholische Gemeinde  nicht  zuletzt  infolge  der  hohen  Anzahl  konfessionsverschiedener 
Ehen  und  der  daraus  resultierenden  akatholischen  Kindererziehung  betrachtliche  Ver- 
luste,  wie  Wessels  anhand  etlicher  Tabellen  iiber  den  katholischen  Bevolkerungsanteil, 
Taufen,  Trauungen,  Beerdigungen,  Kirchenbesuch  etc.  verdeutlichen  kann.  Insgesamt 
zeichnet  der  Verfasser  in  einer  gut  lesbaren  Form  ein  iiberzeugendes  Bild  einer  katholi- 
schen Diasporagemeinde  in  Deutschland  vor  dem  Ersten  Weltkrieg  mit  all  ihren 
Schwierigkeiten  und  Chancen. 

Hannover  Hans-Georg  Aschoff 


Das  deutsche  Archivwesen  und  der  Nationalsozialismus.  75.  Deutscher  Archivtag  2005  in 
Stuttgart.  Redaktion:  Robert  Kretzsohmar  in  Verbindung  mit  Astrid  M.  Eckert, 
Heiner  Schmitt,  Dieter  Speck  und  Klaus  Wisotzky.  Essen.  Klartext  Verlag  2007. 
539  S.  Abb.,  graph.  Darst.  Geb.  32,-  €. 

Spater  als  andere  Berufsgruppen  haben  sich  die  deutschen  Archivare  mit  der  Geschich- 
te  ihrer  Zunft  im  Dritten  Reich  auseinandergesetzt.  Die  Zeit  von  1933  bis  1945  wurde  bis 
in  die  1990erjahre  hinein  iiblicherweise  nicht  unter  dem  Gesichtspunkt  der  Einbindung 
der  Archive  und  der  an  ihnen  tatigen  Archivare  in  das  Herrschaftssystem  des  National- 
sozialismus, sondern  vor  dem  Hintergrund  der  durch  Kriegseinwirkung  eingetretenen 
Gebaudeschaden  und  Archivalienverluste  betrachtet.  Wesentliche  AnstoBe  zur  Aufar- 
beitung  der  Geschichte  des  deutschen  Archivwesens  im  Dritten  Reich  sind  erst  jungeren 
Forschungen  zu  verdanken.  Die  Beschaftigung  mit  diesem  Thema  im  Rahmen  des  Deut- 
schen Archivtags  in  Stuttgart  2005  erschien  also  mehr  als  iiberlallig.  Die  Beitrage  des 
Stuttgarter  Archivtags  liegen  nunmehr  mit  dem  hier  zu  besprechenden  Tagungsband  im 
Druck  vor. 

Der  erste  der  sechs  Themenkreise,  in  welche  der  Band  gegliedert  ist,  nimmt  Aspekte 
nationalsozialistischer  Archivpolitik  in  den  Blick  und  beschaftigt  sich  mit  der  Nutzung 
archivischer  Instrumente  im  Sinne  des  Nationalsozialismus,  mit  der  Uberlielerungsbil- 
dung  im  Dritten  Reich  und  in  der  unmittelbaren  Nachkriegszeit,  mit  den  gescheiterten 


512  Besprechungen 

Bestrebungen  einer  reichseinheitlichen  Archivgesetzgebung  in  jener  Zeit,  mit  Arbeitsta- 
gungen  der  deutschen  Archivverwaltungen  und  mit  nationalsozialistischen  Archivbau- 
ten,  wobei  angemerkt  sei,  dass  dieser  Beitrag  sich  mangels  Masse  ausschlieBlich  mit  dem 
Reprasentationsbau  des  Staatsarchivs  Marburg  und  dem  Magazingebaude  des  Staatsar- 
chivs  Miinster  beschaftigt.  Die  1936/38  schon  weit  fortgeschrittenen  Planungen  eines 
neuen  Dienstgebaudes  fiir  das  Staatsarchiv  Hannover  sollten  schlieBlich  militarischen 
BaumaBnahmen  zum  Opfer  fallen. 

Im  zweiten  Abschnitt  zur  Geschichte  geraubter,  beschlagnahmter  und  missbrauchter 
Archive  finden  sich  -  hier  kompositorisch  sicherlich  nicht  gliicklich  vereint  -  einerseits 
Aufsatze  iiber  das  Schicksal  des  Internationalen  Archivs  der  Frauenbewegung  in  Am- 
sterdam, des  Archivs  der  Sozialdemokratischen  Partei  Deutschlands  und  des  Archivs 
der  jiidischen  Gemeinde  zu  Worms,  andererseits  Darstellungen  iiber  die  Beschaffung 
von  „Ariernachweisen"  in  bayerischen  Pfarrarchiven,  iiber  die  im  gleichen  Kontext  ste- 
hende  angedrohte  Enteignung  der  Kirchenbiicher  durch  den  Staat  sowie  iiber  die  Meck- 
lenburgische  Sippenkanzlei.  Der  dritte  Block  hat  die  „Deutsche  Archivpolitikim  besetz- 
ten  Ausland"  zum  Gegenstand.  Der  Beitrag  von  Stefan  Lehr  beschaftigt  sich  mit  den  in 
das  Generalgouvernement  abgeordneten  deutschen  Archivaren  (S.  166-174),  wahrend 
andere,  starker  auf  die  Biographie  einzelner  Personen  ausgerichtete  Beitrage  die  Tatig- 
keit  deutscher  Archivare  im  besetzten  Frankreich,  im  Elsass,  in  Belgien  und  in  den  Nie- 
derlanden  in  den  Blick  nehmen.  Die  im  Tagungsband  noch  angekiindigte,  sehr  lesens- 
werte  Dissertation  Lehrs  iiber  den  Einsatz  deutscher  Archivare  im  Generalgouverne- 
ment und  im  Reichskommissariat  Ukraine  liegt  inzwischen  im  Druck  vor. 

Der  vierte  Abschnitt  zur  Geschichte  der  staatlichen  Archive  im  Dritten  Reich  besteht 
aus  biographischen  Beitragen  iiber  Eckart  Kehr,  den  Neffen  des  ehemaligen  Generaldi- 
rektors  der  preuBischen  Staatsarchive  Paul  Fridolin  Kehr  und  iiber  den  Schweriner 
Staatsarchivar  Georg  Tessin  sowie  aus  Darstellungen  zur  Geschichte  der  staatlichen  Ar- 
chive in  Wien,  in  der  Rheinpfalz,  im  Saargebiet,  im  Moseldepartement  und  in  Wiirttem- 
berg.  Der  fiinfte  Block  zur  Geschichte  kommunaler  Archive  wartet  mit  Beitragen  zu  rhei- 
nischen  und  westfalischen  Stadtarchiven  sowie  zu  den  Stadtarchiven  Frankfurt/M.,  Eger 
und  Amberg,  Hof,  Saarbriicken  und  Stuttgart  auf.  Aus  niedersachsischer  Perspektive  ist 
das  Fehlen  entsprechender  Fallstudien  fiir  den  Bereich  des  heutigen  Bundeslandes  sehr 
zu  bedauern. 

Der  sechste  Abschnitt  zum  Thema  „Kontinuitat  und  Vergangenheitsbewaltigung 
nach  1945"  schlagt  den  Bogen  von  der  NS-Zeit  nahezu  bis  in  die  Gegenwart.  Das  Kern- 
stiick  dieses  Blockes  -  der  Beitrag  von  Astrid  M.  Eckert,  „Im  Fegefeuer  der  Entbrau- 
nung"  -  vermag  allein  schon  aufzuzeigen,  weshalb  die  Aufarbeitung  der  eigenen  Ge- 
schichte wahrend  des  Dritten  Reiches  durch  den  Archivarsstand  erst  rund  50  Jahre  nach 
Kriegsende  eingesetzt  hat:  Der  Generaldirektor  der  preuBischen  Staatsarchive,  Ernst 
Zipfel,  war  gleichsam  das  Bauernopfer,  welches  das  deutsche  Archivwesen  im  Rahmen 
der  Entnazifizierung  bringen  musste.  Fast  alle  anderen  Archivare  waren  iiber  kurz  oder 
lang  wieder  im  Amt  und  pragten  das  bundesrepublikanische  Archivwesen  iiber  Jahr- 
zehnte.  Weitere  Beitrage  dieser  Sektion  beschaftigen  sich  mit  dem  Sudwestdeutschen 
Archivtag  von  1946,  mit  personellen  Briichen  und  Kontinuitaten  im  deutschen  Wirt- 
schaftsarchivwesen  und  mit  dem  Umgang  mit  der  NS-Vergangenheit  im  zentralen  Ar- 
chivwesen der  DDR.  SchlieBlich  sei  auch  das  informative  Protokoll  der  engagiert,  aber 
sachlich  gefiihrten  Podiumsdiskussion  zur  Lekture  sehr  empfohlen. 


Kirchen-,  Geistes-  und  Kulturgeschichte  513 

Fur  die  Geschichte  des  staatlichen  Archivwesens  in  Niedersachsen  sind  die  Beitrage 
des  Bandes  unter  vielfaltigen  Gesichtspunkten  interessant.  Die  iiberwiegende  Mehrzahl 
der  zwischen  1933  und  1945  an  den  staatlichen  Archiven  im  Bereich  des  heutigen  Bun- 
deslandes  Niedersachsen  tatigen  Archivare  wurde  wahrend  des  Zweiten  Weltkriegs  zur 
Wehrmacht  eingezogen.  Auslandseinsatze  als  Archivare  sind  nur  fur  den  Osnabrucker 
Staatsarchivrat  Ernst  Beins  und  den  hannoverschen  Archivdirektor  Georg  Schnath  zu 
verzeichnen.  Eine  entsprechende  Tatigkeit  des  als  Soldat  in  Griechenland  stationierten 
oldenburgischen  Archivleiters  Hermann  Lubbing  wurde  1944  nicht  genehmigt. 

Somit  fallt  aus  niedersachsischer  Perspektive  der  Blick  in  erster  Linie  auf  den  Beitrag 
von  Wolfgang  Hans  Stein  iiber  „Georg  Schnath  und  die  franzosischen  Archive  unter 
deutscher  Besatzungsverwaltung"  (S.  175-194).  Der  langjahrige  Leiter  des  Staatsarchivs 
Hannover  war  von  August  1940  bis  Marz  1944  Leiter  der  „Gruppe  Archivwesen"  beim 
Militarbefehlshaber  Frankreich  in  Paris.  Gestiitzt  v.  a.  auf  Schnaths  Tagebuchaufzeich- 
nungen  zeichnet  Stein  den  Archivarsalltag  in  der  Hauptstadt  des  besetzten  Frankreich 
nach.  In  Schnaths  Tagebuchern  zeigt  sich  -  so  bilanziert  Stein  -  ,,insgesamt  doch  eine 
eher  geringe  Distanz  zum  Nationalsozialismus"  (S.  179).  Es  finden  sich  aber  auch  niich- 
terne  Betrachtungen  der  Aktivitaten  der  franzosischen  Resistance,  fur  die  Schnath  ein 
gewisses  Verstandnis  aufbringt,  Bemerkungen  iiber  den  „krampfhaften  Optimismus" 
der  deutschen  Propaganda  (S.  180)  und  -  immerhin  schon  am  1.  September  1941  -  ernst- 
hafte  Zweifel  am  deutschen  „Endsieg". 

Nach  dem  Zweiten  Weltkrieg  fanden  zahlreiche  Archivare,  die  vor  1945  entweder  in 
den  von  Deutschland  besetzten  Gebieten  oder  in  den  deutschen  Gebieten  ostlich  von  El- 
be und  Saale  zum  Einsatz  gekommen  waren,  in  den  staatlichen  Archiven  des  sich  konsti- 
tuierenden  Landes  Niedersachsen  Aufnahme.  Der  damalige  Leiter  der  niedersachsi- 
schen  Archivverwaltung,  der  unbelastete  und  personlich  vollig  untadelige  Rudolf  Grie- 
ser,  hatte  selbst  der  Versuchung  widerstanden,  aus  Karrieregrunden  der  Partei 
beizutreten,und  dafiirberufliche  Nachteile  in  Kauf  genommen.  Ersahjedoch  Kollegen, 
deren  groBe  fachliche  Kompetenz  er  schatzte,  Parteizugehorigkeit  und  bis  zu  einem  ge- 
wissen  Grad  auch  Verstrickung  in  das  NS-System  durchaus  nach;  zweifellos  ist  hier 
noch  ein  unmittelbares  Nachwirken  des  im  preuBischen  Archivbeamtentum  herrschen- 
den  Korpsgeists  deutlich  spiirbar.  Fur  viele  der  geflohenen  und  heimatvertriebenen  Ar- 
chivare blieb  die  Beschaftigung  in  Niedersachsen  nur  eine  Episode  in  ihrer  Karriere,  in- 
dem  es  sie  in  erster  Linie  an  das  1952  neugegrundete  Bundesarchiv  weiterzog. 

Kein  Ruhmesblatt  fur  die  junge  niedersachsische  Archivverwaltung  war  die  Beschaf- 
tigung des  ehemaligen  Schweriner  Archivars  Georg  Tessin,  mit  dessen  Biographie  sich 
Matthias  Manke  beschaftigt  (S.  281-312).  Nur  kurze  Zeit  -  von  April  bis  Dezember  1954 
-  am  Staatsarchiv  Wolfenbiittel  und  im  Staatlichen  Archivlager  in  Gottingen  tatig, 
machte  Tessin  spater  am  Bundesarchiv  aus  seiner  unverbesserlichen  braunen  Gesin- 
nung  keinen  Hehl.  Er  verschwieg  in  Publikationen  vorsatzlich  den  Massenmord  an  den 
europaischen  Juden,  beschonigte  die  NS-Herrschaft  und  drohte  sogar  einem  jiingeren 
Kollegen  am  Bundesarchiv  offen,  dieser  miisse  sich  -  „wenn  wir  wieder  an  die  Macht 
kommen"  [sic!]  -  eine  neue  Stelle  suchen  (S.  310f.  und  S.  492). 

Andere  ostvertriebene  Archivare  sollten  zu  festen  GroBen  der  niedersachsischen  Ar- 
chivverwaltung werden,  so  etwa  der  erste  Leiter  des  Staatsarchivs  Biickeburg,  Franz 
Engel,  und  der  Griindungsdirektor  des  Staatsarchivs  Stade,  Erich  Weise.  Gerade  an  der 
Biographie  Weises  lasst  sich  die  ganze  Ambivalenz  derHaltung  deutscher  Archivare  vor 


514  Besprechungen 

dem  Hintergrund  der  nationalsozialistischen  Weltanschauung  aufzeigen.  Uber  sein  Aus- 
scheiden  aus  dem  Dienst  durch  Erreichen  der  Altersgrenze  1960  hinaus  als  Archivar 
von  groBer  Arbeitskraft  geschatzt,  finden  heute  befremdlich  wirkende  AuBerungen  wie 
auf  dem  Deutschen  Archivtag  in  Konigsberg  im  September  1933,  als  Weise  den  Archiva- 
ren  in  den  deutschen  Ostgebieten  eine  wichtige  Aufgabe  bei  der  Abwehr  v.  a.  polnischer 
Anspriiche  zuwies  (S.  14  und  S.  509),  nach  1945  ihre  Fortsetzung  in  revisionistischen 
Forschungen  mit  deutlich  antipolnischer  Tendenz. 

Der  Ertrag  des  Bandes  fur  die  niedersachsischen  Kommunalarchive  ist  leider  denkbar 
gering.  Erwahnung  findet  die  kurzzeitige  Tatigkeit  des  Griindungsdirektors  des  Bundes- 
archivs,  Georg  Winter,  als  Stadtarchivar  in  Liineburg  1946  bis  1952  (S.  433).  Auch  dem 
Stadtarchiv  Goslar  bescherte  die  Unterbringung  ostvertriebener  Archivare  mit  dem  ehe- 
maligen  Kattowitzer  Archivdirektor  Karl  Gustav  Bruchmann  von  1948  bis  1960  einen 
prominenten  Stelleninhaber.  Der  ehemalige  Stader  Stadtarchivar  Martin  Granzin,  der 
von  November  1941  bis  Mai  1943  fur  den  Einsatzstab  Reichsleiter  Rosenberg  in  der 
Ukraine  tatig  gewesen  war,  wurde  imjuli  1945  von  der  sowjetischen  Geheimpolizei  ver- 
haftet  und  zunachst  fiinf  Jahre  lang  in  Sachsenhausen  inhaftiert,  um  1950  in  Waldheim 
verurteilt  und  erst  1952  wieder  freigelassen  zu  werden  (S.  283,  S.  431  und  S.  482). 

Die  Erforschung  der  Geschichte  des  deutschen  Archivwesens  im  Dritten  Reich  kann 
mit  dem  vorliegenden  Band  sicherlich  noch  nicht  als  abgeschlossen  gelten.  Interessante 
Informationen  und  wichtige  Anregungen  zur  weiteren  Beschaftigung  mit  diesem  Thema 
stellen  die  Tagungsbeitrage  jedoch  in  groBer  Fiille  zur  Verfugung.  Fur  biographische 
Studien  zu  den  deutschen  Archivaren  jener  Zeit  sei  abschlieBend  auf  die  fur  solche 
Zwecke  noch  viel  zu  wenig  genutzten  Entnazifizierungsakten  hingewiesen.  Diese  Quel- 
lengattung  verschweigt  sicherlich  vieles,  was  den  jeweiligen  Antragsteller  hatte  belasten 
konnen,  und  bauscht  banale  Reibereien  mit  Parteidienststellen  zum  Widerstand  auf.  Bei 
Auswertung  unter  quellenkritischen  Gesichtspunkten  allerdings  haben  diese  Akten 
zweifellos  eine  groBere  Aussagekraft  als  panegyrische  Nachrufe  in  landesgeschichtli- 
chen  und  archivischen  Fachzeitschriften. 

Hannover  Christian  Hoffmann 


Crusius,  Gabriele:  Aufkldrung  und Bibliophilie.  Der  Hannoveraner  Sammler  Georg  Fried- 
rich  Brandes  und  seine  Bibliothek.  Heidelberg:  Universitatsverlag  Winter  2008.  219 
S.  Abb.  =  Beihefte  zum  Euphorion  H.  54.  Geb.  34,-  €. 

Um  es  vorweg  zu  nehmen,  mit  Aufkldrung  und  Bibliophilie  stellt  Gabriele  Crusius  ein 
sehr  interessantes  und  lesenswertes  Buch  vor,  das  zudem  noch  uber  den  Vorzug  verfiigt, 
lesbar  zu  sein.  In  konsequent  schnorkelloser  Sprache,  die  fur  jedermann  verstandlich  ist 
und  dennoch  dem  anspruchsvollen  Gegenstand  gerecht  wird,  geht  Crusius  ihr  Thema 
an.  Dieses  Thema  mit  nur  einer  Aussage  zu  fassen  fallt  schwer,  behandelt  sie  doch  um 
den  Hannoveraner  Sammler  Georg  Friedrich  Brandes  herum  eine  Vielzahl  von  Ge- 
sichtspunkten, die,  jeder  fur  sich  genommen,  neue  Erkenntnisse  versprechen  und  lie- 
fern.  Ausgehend  von  der  Person  des  Georg  Friedrich  Brandes,  dem  Vater  des  weit  be- 
kannteren  Ernst  Brandes,  beschaftigt  sie  sich  mit  dessen  ausgepragten  Sammelleiden- 
schaften  fur  Biicher  und  Kupferstiche.  Zentral  geht  es  ihr  um  die  Bibliothek  Brandes', 
die  als  Griindungsbestand  der  Oldenburgischen  Landesbibliothek  die  Zeit  als  geschlos- 


Kirchen-,  Geistes-  und  Kulturgeschichte  515 

senes  Ensemble  iiberdauert  hat,  doch  wirft  sie  mehr  als  nur  ein  Schlaglicht  auf  die  be- 
deutende  Kupferstichsammlung,  die  Brandes  im  Laufe  seines  Lebens  zusammengetra- 
gen  hat.  Urn  die  Sammelleidenschaft  Brandes'  ansatzweise  zu  verstehen,  ist  es  notwen- 
dig,  mehr  als  nur  dessen  uberlieferte  Bibliothek  zu  betrachten  und  zu  analysieren,  auch 
der  Blick  auf  die  zerschlagene  Kupferstichsammlung,  die  zu  ihrer  Zeit  zu  den  bedeu- 
tendsten  ihrer  Art  in  Deutschland  zahlte,  fiihrt  zu  wichtigen  Erkenntnissen.  Notwendig 
ist  es  ebenfalls,  die  Person  Brandes'  aus  den  vorliegenden  Quellen  heraus  darzustellen 
und  deren  Charakterziige  herauszuarbeiten.  FuBend  auf  einer  offensichtlich  exzellen- 
ten  Kenntnis  der  Buchbestande  und  der  listenmaBig  bekannten  Kupferstichbestande 
ebenso  wie  auf  intensiver  Quellenarbeit,  besonders  der  im  Cod.  Ms.  Heyne  in  der 
Staats-  und  Universitatsbibliothek  Gottingen  iiberlieferten  ca.  1.500  Briefe  Brandes'  an 
seinen  Freund  und  spateren  Schwiegersohn  Christian  Gottlob  Heyne,  vermag  sie  ein 
Bild  der  Person  Brandes'  und  seiner  Sammlungen  sowie  seiner  Sammeltatigkeit  heraus- 
zuarbeiten. Dabei  entsteht  weit  mehr  als  nur  das  Bild  eines  Mannes  und  seiner  Eigen- 
heiten  sowie  ihrer  Ergebnisse,  es  entsteht  gleichfalls  eine  Vorstellung  davon,  welche 
Funktion  das  Sammeln  und  die  Presentation  der  Ergebnisse  zu  jener  Zeit  hatte.  Auf  ei- 
nem  soliden  theoretischen  Fundament  und  eingebettet  in  das  historische  Umfeld  von 
Zeit  und  Ort,  bietet  Crusius  weit  mehr  als  nur  eine  Bibliotheksgeschichte.  Sie  liefert  ei- 
ne Analyse  biirgerlichen  Sammelns,  biirgerlicher  Bibliotheken,  biirgerlichen  Lesens  im 
achtzehnten  Jahrhundert  in  Norddeutschland,  wie  sie  bisher  noch  nicht  bekannt  sind. 
Somit  bedient  dieses  Buch  neben  bibliothekshistorischen  Fragestellungen  auch  Fragen 
zur  Sozialgeschichte  allgemein,  zur  Bildungsgeschichte,  zur  Wirtschaftsgeschichte,  be- 
sonders der  Buchhandelsgeschichte,  und  naturlich  zur  Kulturgeschichte  jener  Zeit. 

In  einer  bemerkenswerten  Analyse  des  Buchbestandes  zeigt  Crusius  auf,  wie  Brandes 
den  Bestand  zusammengetragen  hat,  welche  Schwerpunkte  er  dabei  gesetzt  hat.  Dem 
Leser  wird  vor  Augen  gefiihrt,  dass  Brandes  mit  seinem  Bestand  in  seinem  Umfeld  ganz 
erheblichen  Einfluss  auf  das  Leseverhalten  nahm  und  damit  pragend  fur  die  Wahrneh- 
mung  der  intellektuellen  und  teils  auch  politischen  Stromungen  wurde.  Besonders 
schon  gelingt  dies  Crusius,  wenn  sie  die  Reflexe  der  englischen  Literatur  in  Brandes'  Bi- 
bliothek und  deren  Rezeption  durch  sein  Umfeld  analysiert.  Gut  gelungen  ist  auch  die 
Darstellung  der  Stromungen,  deren  Rezeption  Brandes  nicht  mehr  gelang.  So  zeigt  sich 
an  Brandes'  Bibliothek,  aber  auch  in  seiner  Korrespondenz  an  Heyne,  wie  das  aufstre- 
bende  Biirgertum  mittels  Bildung  seinen  Platz  in  der  Gesellschaft  neu  definiert. 

Neben  allem  Lob  tauchen  naturlich  auch  kritische  Anmerkungen  auf.  Ungefragt 
bleibt,  warum  Brandes  nach  einem  Leben  des  Sammelns  zum  Ende  seines  Lebens  hin 
selbst  die  Entscheidung  fallte,  seine  Bestande  zu  verauBern  und  diese  fur  seine  Biicher- 
sammlung  auch  praktisch  umsetzte  und  fiir  seine  Kupferstichsammlung  einleitete.  War 
es  die  nachlassende  Gesundheit  Brandes',  waren  es  Geldverlegenheiten,  war  es  man- 
gelndes  Interesse  seines  Sohnes  an  der  Fortfuhrung  der  Sammlungen,  waren  es  Erban- 
spriiche  der  Kinder,  war  es  eine  allgemeine  Sammelmudigkeit?  Crusius'  Hinweise  auf 
Brandes  nachlassende  Gesundheit  (S.  40,  49),  auf  seine  Vermogensverhaltnisse  (S.  40- 
45) ,  ein  mangelndes  Interesse  seines  Sohnes  Ernst  (S.  10) ,  auf  Erbanspriiche  (S.  54)  oder 
auch  ihr  Brandeszitat,  „dass  auf  einen  Sammler  ein  Zerstreuer  folgen  muss"  (S.  55) ,  las- 
sen  keinen  definitiven  Riickschluss  auf  die  Griinde  fiir  die  Auflosung  der  Sammlungen 


1    z.B.  der  Gottineer  Ha 


516  Besprechungen 

zu.  Wenn  das  Quellenmaterial  keine  Aussage  hierzu  erlaubt,  ware  auch  diese  Aussage 
fiir  den  Leser  hilfreich  gewesen. 

Verwunderlich  ist  ebenfalls,  dass  die  Konigliche  Bibliothek  in  Hannover  in  Crusius 
Uberlegungen  eine  derart  untergeordnete  Rolle  spielt.  Sicher  war  sie  zu  Brandes  Zeit 
nicht  mehr  das  Haus  mit  iiberregionaler  Strahlkraft,  das  sie  zu  Leibniz'  Zeiten  gewesen 
war.  Andererseits  verfiigte  sie  iiber  einen  fiir  ihre  Zeit  bemerkenswert  guten  Altbestand, 
der  einen  Sammler  wie  Brandes  bestimmt  bei  seiner  eigenen  bibliophilen  Sammeltatig- 
keit  angeregt  hat.  Als  hoher  Staatsbeamter  in  Hannover  verfiigte  er  zudem  iiber  einen 
ungehinderten  Zugang  zur  Bibliothek.  Auch  fallt  in  seine  Amtszeit  als  Universitatsdezer- 
nent  fiir  die  Universitat  Gottingen  beispielsweise  auch  die  Abgabe  der  knapp  2000  Stii- 
cke  umfassenden  Sammlung  medizinischer  Handschriften  an  die  Universitatsbibliothek 
Gottingen.  Ebenso  fehlen  Hinweise  auf  die  ebenfalls  bedeutende  Ratsbibliothek  in 
Hannover,  die  heutige  Stadtbibliothek.  Auch  das  Literaturverzeichnis  gibt  keinerlei 
Hinweis  darauf,  dass  Titel  zur  Geschichte  dieser  Bibliothek  konsultiert  wurden. 

Als  nachteilig  erweist  sich  auBerdem,  dass  Crusius  nur  ein  Register  der  genannten 
Personen  beigefiigt  hat.  Weder  Institutionen  noch  Sachbegriffe  sind  gezielt  suchbar. 
Zum  Schluss  bleibt  noch,  darauf  hinzuweisen,  dass  eine  Anzahl  von  Druckfehlern,  wie 
man  sie  beim  Universitatsverlag  Winter  aus  Heidelberg  nicht  erwartet,  das  Lesevergnii- 
gen  ein  wenig  stort.  Insgesamt  ist  festzuhalten,  dass  Crusius,  einigen  blinden  Flecken 
zum  Trotz,  ein  wichtiges  Buch  zur  Bibliotheks-,  Bildungs-  und  Kulturgeschichte  Nord- 
deutschlands  im  18.  Jahrhundert  geschrieben  hat. 

Melle  Friedrich  Hulsmann 


Quellen  zur  Geschichte  der  Welfen  und  die  Chronik  Burchards  von  Ursberg.  Hrsg.  und  libers,  von 
Matthias  Beoher  unter  Mitarbeit  von  Florian  Hartmann  und  Alheydis  Plassmann. 
Darmstadt:  Wissenschaftliche  Buchgesellschaft  2007.  328  S.  =  Ausgewahlte  Quellen 
zur  deutschen  Geschichte  des  Mittelalters  Bd.  18b.  Geb.  99,90  €. 

Matthias  Becherund  seine  Mitarbeiter  legten  2007  in  derbekannten  Reihe  „ Ausgewahl- 
te Quellen  zur  deutschen  Geschichte  des  Mittelalters"  einen  Band  mit  „Quellen  zur  Ge- 
schichte der  Welfen"  vor.  Dieser,  entsprechend  den  Reihenrichtlinien,  zweisprachige 
Band  (lateinisch-deutsch)  versammelt  die  aus  welfischer  Umgebung  stammenden  Quel- 
len: ,Genealogia  Welforum',  ,Anhang  IV  der  sachsischen  Weltchronik',  ,Historia  Welfo- 
rum  cum  continuatione  Steingademensi',  ,Die  welfischen  Annalen  aus  Weingarten', 
,  Aus  der  Weingartner  Fortsetzung  der  Chronik  des  Hugo  von  St.  Viktor'  sowie  -  quasi  als 
auBenstehende  Erganzung  -  ,Die  Chronik  des  Propstes  Burchard  von  Ursberg'.  Damit 


2  Weimann,  Karl-Heinz,  Dreihundert  Jahre  staatliche  Bibliothek  in  Hannover,  in:  Die  Nieder- 
sachsische  Landesbibliothek  in  Hannover,  hg.  v.  Wilhelm  Totok  und  Karl-Heinz  Weimann, 
Frankfurt /M.,  1976,  S.  30.  Zur  Geschichte  der  Koniglichen  Bibliothek  taucht  allein  ein  Titel 
auf:  Ohnsorge,  Werner,  Zweihundert  Jahre  Geschichte  der  Koniglichen  Bibliothek  zu  Hanno- 
ver (1665-1865).  Gottingen,  1962. 

3  z.B.  Busch,  Jiirgen,  Die  Ratsbibliothek  in  Hannover.  Beitrage  zur  Geschichte  der  Stadt- 
bibliothek vom  15.  bis  zum  Beginn  des  19.  Jahrhunderts.  Hannover,  1957. 


Kirchen-,  Geistes-  und  Kulturgeschichte  517 

dient  der  Band  einerseits  der  akademischen  Lehre,  kann  aber  andererseits  auch  dem  des 
Lateins  nicht  geiibten  Leser,  Laie  oder  Fachmann,  bei  der  Beschaftigung  mit  den  Quel- 
len  zur  Geschichte  der  Welfen  niitzen. 

Einen  Einstiegin  die  „  Quellen  zur  Geschichte  der  Welfen"  bietet  eine  kurze,  aberpra- 
gnante  Einleitung,  die  die  Quellen  einzeln  vorstellt,  ihre  Uberlieferung  und  die  bisheri- 
gen  Editionen  darlegt  und  die  mit  einem  ausfiihrlichen  und  aktuellen  Quellen-  und  Lite- 
raturverzeichnis  erganzt  wird.  Ein  detailliertes  Orts-  und  Personenregister  beschlieBt 
die  Ausgabe. 

Die  Welfen-Quellen  des  12.  Jahrhunderts  blicken  zuriick  auf  eine  Familie,  die  bereits 
seit  der  karolingischen  Zeit  belegt  ist.  Allerdings  zeigen  sie  auch  deutlich,  dass  im  12. 
Jahrhundert  die  Kenntnis  iiber  die  Vorfahren  nur  noch  schwammig  vorhanden  war.  Si- 
cher  werden  die  Berichte  erst  relativ  zeitnah,  etwa  ab  derzweiten  Halfte  des  11.  Jahrhun- 
derts. Die  Erinnerung  an  die  Vorfahren  musste  also  im  Auftrag  der  Welfen  rekonstruiert 
werden,  was  in  diesen  Texten  gezeigt  wird.  Gleichzeit  wird  dadurch  das  welfische  Selbst- 
verstandnis  verdeutlicht.  Darin  liegt  die  Bedeutung  dieser  Texte,  da  sie  zu  den  friihesten 
Quellen  gehoren,  die  sich  ausschlieBlich  einer  Familie  widmen. 

Der  Reihe  entsprechend  liegt  in  dem  Band  aber  keine  Neuedition  der  Quellen  vor. 
Die  welfischen  Quellen  beruhen  auf  der  Edition  von  Erich  Konig  (Historia  Welforum. 
Neu  herausgegeben,  iibersetzt  und  erlautert.  Stuttgart/ Berlin  1938;  ND  Sigmaringen 
1978),  da  er  die  altere  Altomunsteraner-Handschrift  edierte,  anders  als  die  MGH-Editi- 
on  von  Georg  Waitz,  der  diese  Handschrift  noch  nicht  kannte.  Burchard  von  Ursberg  be- 
ruht  auf  der  MGH-Ausgabe  (Die  Chronik  des  Propstes  Burchard  von  Ursberg.  Hrsg.  von 
Oswald  Holder-Egger,  Bernhard  von  Simson.  Hannover  1916).  Alle  Quellen  wurden 
neu  iibersetzt,  Burchard  sogar  erstmalig.  Erganzt  wird  die  Edition  durch  knappe,  aber 
weiterfuhrende  Kommentare  zu  den  in  den  Texten  genannten  Personen  und  Orten. 

Die  ,Genealogia  Welforum',  die  alteste  der  Welfen-Quellen,  entstand  vor  1126  in 
welfischer  Umgebung.  Zeitnah  folgt  dann  die  verlorene  sogenannte  ,sachsische  Welfen- 
quelle',  die  zwischen  1132  und  1137  wahrscheinlich  im  Kloster  St.  Michael  in  Liineburg 
niedergeschrieben  wurde.  Sie  ist  im  , Anhang  IV  der  sachsischen  Weltchronik'  sowie  ver- 
streut  in  der  Chronik  des  Annalista  Saxo  (siehe  Neuausgabe  der  Chronik:  Die  Reichs- 
chronik  des  Annalista  Saxo.  Hrsg.  von  Klaus  Nass.  Hannover  2006)  teilweise  erhalten. 
Sodann  folgt  die  wichtigste  und  umfangreichste  Quelle,  die  , Historia  Welforum'.  Das 
Chronicon  Altorfensium,  wie  ihr  urspriinglicher  Titel  lautete,  entstand  im  schwabisch- 
bayerischen  Raum  (Weingarten,  Ravensburg,  Steingaden  oder  Altomiinster  werden  als 
Entstehungsorte  genannt)  zwischen  1167  und  1184,  vermutlich  um  1170.  Sie  erfuhr  eine 
Fortsetzung  in  Steingaden,  die  sich  mit  dem  Leben  Welfs  VI.  beschaftigt  und  den  Uber- 
gang  des  siiddeutschen  Welfenerbes  an  Friedrich  Barbarossa  charakterisiert;  entstanden 
ist  diese  nach  1191.  Die  ,Annales  Welfici'  sind  in  zwei  Handschriften  enthalten  und  stel- 
len  Erganzungen  fur  die  Jahre  1180-1184  zur  Verfiigung,  die  vor  allem  Weingarten  be- 
treffen.  Ein  starkerer  rechtshistorischer  Kontext  ist  in  ihnen  zu  bemerken.  Die  , Fort- 
setzung Hugos  von  St.  Victor'  stammt  aus  Weingarten  und  enthalt  eine  Wiirdigung 
Welfs  VI.,  die  Grundung  Steingadens  und  seine  dortige  Bestattung  sowie  die  Erbrege- 
lungen  zugunsten  Friedrichs  Barbarossa.  Die  , Chronik  Burchards  von  Ursberg'  wirkt  in 
einer  Sammlung  von  welfischen  Quellen  iiberraschend,  gilt  ihr  Autor  als  treuer  Anhan- 
ger  der  Staufer  und  durchaus  als  Gegner  der  Herzogsfamilie.  Er  bietet  in  seiner  Chronik 
einerseits  einen  Exkurs  De  generatione  Welfonum  an,  der  sich  in  vielem  mit  der  , Historia 
Welforum'  deckt,  andererseits  verstreut  er  weitere  Nachrichten  iiber  die  Welfen  in  sei- 


518  Besprechungen 

nem  Werk.  Eine  andere  Sicht,  wie  sie  Burchard  bietet,  ist  zudem  interessant  und  bildet 
Erganzungen  zu  den  eigentlichen  Welfen-Quellen. 

Insgesamt  liegt  in  den  „Quellen  zur  Geschichte  der  Welfen"  eine  Sammlung  von  zen- 
tralen  Quellen  zur  Geschichte  eines  der  bedeutendsten  Adelsgeschlechter  des  Mittelal- 
ters  vor.  Sie  wird  sicherlich  weiterhin  zur  Beschaftigung  mit  dieser  Familie,  die  man  fast 
als  ein  Lieblingsobjekt  der  Mediavistik  bezeichnen  konnte,  reizen.  Zusammen  mit  den 
anderen  zeitnahen  Banden  der  Freiherr-vom-Stein-Gedachtnisausgabe  bietet  sie  ein  di- 
rektes  Bild  des  Mittelalters. 

Gottingen  Nathalie  Kruppa 


Saage-Maass,  Miriam:  Die  Gottinger  Sieben  -  demokratische  Vorkampfer  oder  nationale  Hel- 
den?  Zum  Verhaltnis  von  Geschichtsschreibung  und  Erinnerungskultur  in  der  Re- 
zeption  des  Hannoverschen  Verfassungskonfliktes.  Gottingen:  V&R  unipress  2007. 
240  S.  Abb.  Geb.  38,90  €. 

Die  vorliegende  Veroffentlichung  entstand  als  rechtswissenschaftliche  Dissertation  an 
der  Humboldt-Universitat  Berlin,  angeregt  und  gefordert  u.  a.  durch  die  Politikwissen- 
schaftler  Michael  Stolleis  und  Wilhelm  Bleek.  Die  niedersachsische  Landesgeschichte 
hat  den  Hannoverschen  Verfassungskonflikt  wie  auch  insbesondere  die  Gottinger  Sie- 
ben bislang  eher  als  Randthema  ihres  Untersuchungsgebiets  wahrgenommen  und  die- 
ses traditionell  den  Verfassungs-  und  Rechtshistorikern  iiberlassen.  Umso  erfreulicher 
ist  es  daher,  dass  diese  Thematik  nun  Gegenstand  einer  eigenen  Untersuchung  gewor- 
den  ist,  die  neben  der  Darstellung  der  Deutungs-  und  Rezeptionsgeschichte  der  Gottin- 
ger Sieben  auch  deren  Wirkung  auf  die  Entwicklung  der  politischen  Kultur  in  der  Bun- 
desrepublik  berucksichtigt. 

Mit  groBem  FleiB  hat  Miriam  Saage-MaaB  samtliche  Literatur,  die  sich  bislang  mit 
dem  Verfassungskonflikt  von  1837  beschaftigt  hat,  zusammengetragen  und  zu  einer 
schliissigen  Interpretationslinie  zusammengefugt.  Die  Verfasserin  verknupft  den  Be- 
ginn  der  Rezeptionsgeschichte  direkt  mit  dem  Anlass,  der  einseitigen  Verfassungsaufhe- 
bung  durch  den  hannoverschen  Konig  Ernst  August  vom  1.  November  1837,  die  die  Pro- 
testation der  Gottinger  Sieben  am  18.  November  und  daraufhin  deren  Entlassung  aus 
dem  Amt  nach  sich  zog.  Die  Dissertation  stellt  zunachst  die  unmittelbar  mit  diesen  Er- 
eignissen  beginnende  Wirkungsgeschichte  in  der  offentlichen  zeitgenossischen  Diskus- 
sion  dar,  zu  der  die  Professoren  mit  ihren  eigenen  Streitschriften,  in  denen  sie  ihr  konsti- 
tutionelles  Verfassungsdenken  darlegten,  wesentlich  selbst  beitrugen.  Zahlreiche  sym- 
pathisierende  Streitschriften  sowie  im  Gegensatz  dazu  das  Beharren  des  Monarchen  auf 
seiner  koniglichen  Prerogative  sorgten  innerhalb  des  liberal  gesinnten  deutschen  Biir- 
gertums  fur  die  moralische  Legitimation  der  Protestation  und  fur  eine  breite  Anerken- 
nung  der  gemaBigten  Verfassungsforderungen  der  Gottinger  Sieben.  Wie  die  Verfasse- 
rin nachweist,  zeigte  sich  eine  deutliche  Rezeption  bis  weit  in  die  Verfassungsdiskussion 
durch  das  Paulskirchenparlament  und  seiner  Forderung  nach  Gewahrung  der  Wissen- 
schaftsfreiheit. 

Im  Zuge  der  Reichsgriindung  erfuhren  die  Gottinger  Professoren  und  ihr  Protest 
gegen  den  Verfassungsbruch  erstmals,  v.  a.  durch  die  Beurteilung  Heinrich  von 
Treitschkes,  eine  Inanspruchnahme  und  Umwertung  durch  die  sich  etablierende  klein- 


Kirchen-,  Geistes-  und  Kulturgeschichte  519 

deutsch-nationale  Geschichtsschreibung.  Treitschke  betonte  weniger  das  Einstehen  der 
Gottinger  fiir  die  Verfassung  und  die  biirgerliche  Freiheiten.  Stattdessen  wurde  die  mit 
der  Protestation  verbundene  Eides-  und  Gewissensfrage  als  eher  unpolitische  Motiva- 
tion zum  eigentlichen  bedeutenden  Kernpunkt  des  Widerstandes  erklart.  Der  Vorge- 
schichte  von  1837  entkleidet,  wurden  die  Gottinger  Sieben  in  den  1880er  Jahren  fort- 
schreitend  historisiert  und  ihre  Tat  vornehmlich  als  eine  Etappe  auf  dem  Weg  der 
deutschen  Nationalbewegung  zur  Bildung  eines  Nationalstaates  umgedeutet.  Liberale 
Vorbilder  benotigte  -  so  die  Schlussfolgerung  der  Verlasserin  -  das  Kaiserreich  nun 
nicht  mehr.  Wie  Saage-MaaB  hervorhebt,  waren  fiir  Historiker  wie  Ranke,  Burkhardt, 
Droysen,  aber  auch  fiir  Schmoller  oder  Gierke  die  Gottinger  Sieben  kein  Thema  mehr 
in  ihren  Darstellungen. 

Deutsche  freiheitliche  Traditionen  sollten  in  der  Weimarer  Republik  wieder  Auf- 
merksamkeit  gewinnen,  wie  die  positive  Besetzung  des  Protests  der  Gottinger  Sieben  in 
den  Veroffentlichungen  von  Franz  Schnabel  und  Veit  Valentin  zeigt.  Deren  Urteil  nah- 
men  erst  wieder  die  Verfassungshistoriker  der  jungen  Bundesrepublik  an  und  deuteten 
es  weiter  aus.  Um  eine  zwischenzeitige  Vereinnahmung  der  Gottinger  Professoren  und 
einer  Umwertung  ihrer  politischen  Ziele  im  Sinne  der  nationalsozialistisch-volkischen 
Ideologie  bemiihten  sich  nach  Saage-MaaB  u.  a.  die  Staatsrechtler  Ernst  Rudolf  Huber 
und  Rudolf  Smend  wie  auch  der  Carl  Schmitt-Schuler  Ernst  Forsthoff,  dennoch  gingen 
die  Gottinger  Sieben  nicht  in  die  offizielle  NS-Geschichtsideologie  ein.  Nach  der  Ein- 
schatzung  der  Verfasserin  war  der  staatsrechtliche  Hintergrund  des  Verfassungskampfs 
von  1837  zu  komplex,  um  fiir  die  Konstruktion  des  Fiihrer-Kults  Verwendung  zu  finden. 

Die  Aufgabe  der  „Wertorientierung  und  Identitatsstiftung"  sollte  den  Sieben  endgiil- 
tig  in  den  1950erjahren  zufallen,  als  1955  die  sogen.  Schliiter-Affare  und  1957  die  Erkla- 
rung  der  achtzehn  Gottinger  Atomwissenschaftler  Studenten,  Professoren  und  Offent- 
lichkeit  zum  Protest  und  zur  Diskussion  iiber  die  Rechtsgrundlagen  der  jungen  Bundes- 
republik aufriefen.  Von  nun  wurden  die  Gottinger  Professoren  zu  Kronzeugen  einer 
moralisch  legitimierten  burgerlich-demokratischen  Kritik  an  dem  bisherigen  Umgang 
mit  der  NS-Vergangenheit,  der  Wiederbewaffnung  und  der  Studentenbewegung  von 
1968.  Nach  den  Gedenkfeierlichkeiten  zum  150.  Jahrestag  der  Protestation  imjahr  1987 
suchte  das  niedersachsische  Landesparlament  die  inhaltliche  Ankniipfung  an  die  frei- 
heitlich-demokratischen  Traditionen  Niedersachsens,  die  von  diesem  historischen  Er- 
eignis  ausgingen.  Die  Bemiihungen  sowohl  in  Gottingen  wie  auch  in  Hannover,  das  Ge- 
schehen  von  1837  durch  Benennung  offentlicher  Platze  und  Errichtung  eines  Denkmals 
dem  Vergessen  zu  entreiBen  und  zu  ,verorten',  kann  allerdings  nicht  dariiber  hinwegtau- 
schen,  dass  das  Erinnern  an  dieses  Ereignis  der  niedersachsischen  und  deutschen  Ge- 
schichte  bislang  iiberwiegend  als  akademische  Diskussion  gefuhrt  und  in  der  Offentlich- 
keit  nur  begrenzt  wahrgenommen  wurde.  Die  Dissertation  von  Saage-MaaB  kann  fiir 
sich  verbuchen,  diese  Diskussion  umfassend,  minutios  und  historiographiegeschichtlich 
einordnend  dargestellt  zugestellt  zu  haben. 

Hannover  Christine  van  den  Heuvel 


520  Besprechungen 

Break  on  through  to  the  other  side.  Tanzschuppen,  Musikclubs  und  Diskotheken  im  Weser- 
Ems-Gebiet  in  den  1960er,  70er  und  SOerJahren.  Hrsg.  von  Peter  Schmerenbeck.  Ol- 
denburg: Isensee  Verlag  2007.  239  S.  Abb.  =  Kataloge  und  Schriften  des  Schlossmu- 
seums  Jever  H.  26.  Kart.  19,80  €. 

Zur  Kulturgeschichte  bestimmter  Regionen  zahlen  Alltag  und  Freizeit.  Das  ist  zwar  eine 
Binsenweisheit,  dennoch  finden  sich  immer  noch,  vor  allem  auf  regionaler  und  lokaler 
Ebene,  eher  selten  Ausstellungen  und  Tagungen  dazu.  Umso  erfreulicher,  dass  das 
Schlossmuseum  zu  Jever  sich  vor  einiger  Zeit  fur  eine  genauere  Betrachtung  der  lokalen 
Musikclubs  im  Weser-Ems-Gebiet  engagiert  hat.  Dass  solche  Themen  absurderweise  bis 
heute  als  nicht  unbedingt  museumsreif  gelten,  zeigt  etwa  die  Bemerkung  im  GruBwort 
des  Geschaftsfiihrers  der  Oldenburgischen  Landschaft,  dass  sich  das  Schlossmuseum 
„immer  wieder  auch  mit  iiberraschenden  Facetten  der  Kulturgeschichte"  (S.  6)  beschafti- 
ge.  Direkt  anschlieBend  erwahnt  Michael  Brandt  den  Erfolg  einer  Ausstellung  zu  Kor- 
setts  und  Nylonstriimpfen  lobend.  Nun  haben  Modeartikel  sicherlich  mit  Alltag,  Musik 
und  Ausgehen  zu  tun,  iiberraschend  erscheint  jedoch  deren  museale  Behandlung  kei- 
neswegs,  wenn  man  sich  die  Bedeutung  der  Musikclubs  fur  die  nach  dem  zweiten  Welt- 
krieg  heranwachsenden  jungen  Frauen  und  Manner  mitdenkt.  Wobei  zur  Verteidigung 
des  Genres  GruBwort  konstatiert  werden  muss,  dass  es  hier  gilt,  verschiedene  Leser- 
schaften  zu  bedienen  und  dass  Brandt  anschlieBend  selbst  einraumt,  wie  naheliegend 
die  Behandlung  der  musikalischen  Freizeitraume  und  -orte  doch  eigentlich  sei. 

Nach  einem  Song  der  Rockband  Doors  bezeichnet  („Break  on  through  to  the  other  si- 
de") ,  der  wiederum  auf  einen  Text  des  britischen  Literaten  Aldous  Huxley  („Die  Pforten 
der  Wahrnehmung")  rekurriert,  geht  es  hier  also  um  die  anderen,  rauschhaften  Welten, 
die  jenseits  von  Arbeit,  Elternhaus  und  sonstigen  Pflichten  bestehen.  Diese  Raume,  ob 
Jugendzentrum,  Diskothek,  Club,  Bar  oder  Gaststatte,  entwickelten  sich  in  Deutschland 
und  eben  auch  im  Weser-Ems-Gebiet  zwischen  Norddeich  und  Mesum  mit  den  Metro- 
polen  Oldenburg  und  Osnabriick  (siehe  die  hilfreiche  Ubersichtskarte  S.  235)  mit  dem 
Aufkommen  des  Beat  und  Rock'n'Roll  in  den  fiinfzigerjahren  und  differenzierten  sich 
in  den  folgenden Jahrzehnten  bis  heute  stark  aus  nach  Szenen,  Musikgenres  und  Lebens- 
stilen.  Erst  in  der  letzten  Zeit  wurde  mit  einer  Aufarbeitung  dieser  lokalen  und  regiona- 
len  Phanomene  begonnen  -  zuletzt  etwa  auch  intensiv  fur  Popkultur  und  -musik  im 
Rheinland.  Interessant  daran  erscheint  neben  der  historisierenden  und  bewahrenden 
Aufarbeitung  vielmehr  die  Beobachtung,  dass  sich  in  Zeiten  weltweiter  Globalisierungs- 
effekte  und  der  ,Superkultur'  (James  Lull)  Pop  eben  auch  wieder  starke  Bediirfnisse 
nach  lokalen  und  regionalen  Beziigen  ergeben,  die  sich  dann  in  Szenen  mit  ganz  spezifi- 


1  Vgl.  zur  Musealisierung  von  Popkultur  und  insbesondere  -musik  Jacke,  Christoph/MEi- 
necke,  Thomas:  Voriibergehende  Vergegenwartigungen  in  der  Popkultur.  Ein  Gesprach  iiber 
das  Sprechen  iiber  und  das  Erinnern  von  Pop.  In:  Jacke,  Christoph;  Zierold,  Martin  (Hrsg.): 
Populare  Kultur  und  soziales  Gedachtnis.  Theoretische  und  exemplarische  Uberlegungen  zur 
dauervergesslichen  Erinnerungsmaschine  Pop.  Siegener  Periodicum  zur  Internationalen  Em- 
pirischen  Literaturwissenschaft.  Heft  24/2,  2008,  239-256. 

2  Vgl.  den  Sammelband  Matejovski,  Dirk;  Kleiner,  Marcus  S.;  Stahl,  Enno  (Hrsg.):  Pop 
in  R(h)einkultur:  Oberflachenasthetik  und  Alltagskultur  in  der  Region.  Essen:  Klartext  2008, 
der  an  eine  Reihe  von  Veranstaltungen  und  Ausstellungen  gekoppelt  ist. 


Kirchen-,  Geistes-  und  Kulturgeschichte  521 

schen  Orten  niederschlagen,  siehe  die  Beitrage  von  Peter  Schmerenbeck,  stellvertreten- 
der  Leiter  des  Schlossmuseums,  und  der  Musikwissenschaftlerin  Susanne  Binas-Preisen- 
dorfer  von  derUniversitat  Oldenburg.  Binas-Preisendorfer,  die  aus  der,Schule'  des  wohl 
bekanntesten  deutschsprachigen  Popmusikwissenschaftlers  Peter  Wicke  aus  Berlin 
stammt,  beschreibt  sehr  treffend  die  offentliche  Wahrnehmung  von  Popmusik  iiber  Me- 
dien  und  Orte,  die  wiederum  oftmals  medial  mitkonstruiert  werden.  Immer  changiert 
dabei  Popmusik  zwischen  wichtiger  „Sozialisationsinstanz"  und  potentem  Markt,  womit 
die  grundlegende  Widerspriichlichkeit  von  Pop  erklart  wird,  die  sich  auch  an  den  Orten 
der  Popmusik  wie  den  Clubs  ablesen  lasst:  Popmusik  etwa  im  Charts  in  Harkebriigge 
oder  im  Hyde  Park  in  Osnabriick  ist  stets  Sound  des  Auflehnens,  des  Artikulierens  der 
eigenstandigen  Entwicklung  Heranwachsender  und  genauso  Bestandteil  einer  umfas- 
senden  Vermarktung,  vom  Eintrittsgeld  bis  zu  den  Getranken.  Man  hat(te)  also  standig 
das  Gefiihl,  mit  dem  Eintritt  in  diese  Diskotheken  etwas  Besonderes,  Exklusives  zu  sein 
und  war  doch  gleichzeitig  nur  eine(r)  unter  vielen  an  der  Theke  oder  auf  der  Tanzflache. 
Diese  einfiihrenden  Beitrage  rahmen,  gemeinsam  mit  den  Ausfiihrungen  zum  Zusam- 
menhang  von  Technik  und  Musik  des  Kunsthistorikers  und  Journalisten  Torsten  Poschk 
und  dem  Beitrag  „Protest  und  Kommerz.  Jugendmoden  der  1960er  und  70erjahre"  der 
Padagogin  Maria  Diederichs-Bolsenkotter,  die  eher  konkret  auf  das  Weser-Ems-Gebiet 
bezogenen  Texte,  die  sich  mit  unterschiedlichen  Fan-Szenen  (Fred  Ritzel,  Musikwissen- 
schaftler  an  der  Universitat  Oldenburg),  Orten  der  Popmusik  und  des  Freizeitvergnii- 
gens  in  bestimmten  Regionen  innerhalb  des  Weser-Ems-Gebiets  (derjournalist  Werner 
Jiirgens  iiber  ostfriesische  Diskotheken,  derjournalist  und  Kneipier  Wolle  Willig  iiber 
selbiges  in  Wilhelmshaven,  der  Medienwissenschaftler  Gisbert  Wegener  iiber  diese  Rau- 
me  im  sudlichen  Weser-Ems-Gebiet)  oder  der  eigenen  Erfahrungals  DJ  im  Oldenburger 
Land  (Otto  Sell)  auseinandersetzen. 

Auch  wenn  man  die  Ausstellung  nicht  besucht  hat  und  sie  sich  nicht  zu  dem  Katalog 
denken  kann  (die  Ausstellung  lauft  ubrigens  ab  28.  Juni  dieses  Jahres  und  bis  auf  weite- 
res  wieder  in  modifizierter  Form),  so  erscheint  dieser  Katalog  als  weitaus  mehr  als  eine 
reine  Dokumentation.  Selbst  wenn  man  kein  Heranwachsender  im  Weser-Ems-Gebiet 
war,  so  erschlieBen  sich  einem  die  Texte  und  Bilder  durch  ganz  ahnliche  eigene  Erfah- 
rungen,  ob  nun  im  Ostwestfalischen,  im  Miinsterland  oder  im  Weserbergland.  Denn 
iiberall,  in  Stadt  und  Land,  gab  und  gibt  es  diese  Orte  und  Platze,  die  Heranwachsenden 
und  Berufsjugendlichen  ein  Refugium  sind  und  deswegen  oftmals  mit  Tat  und  Kraft  von 
diesen  selbst  und  seltener  von  offentlicher  Hand  unterstiitzt  werden.  Dort,  jenseits  des 
virtuellen  Alles-Moglichen  im  Internet,  schlagt  das  Reale  in  voller  Wucht  und  dement- 
sprechend  mit  voller  Faszination  zu:  Ein  langer,  durchgetanzter  Abend  inklusive 
Rausch,  Flirt  und  Ohrenfiepen  durch  die  zu  lauten  Sounds  lasst  sich  erfreulicherweise 
noch  nicht  wirklich  (!)  simulieren.  Um  dies  bei  den  alteren  Lesenden  in  Erinnerung  zu 
rufen  und  den  jiingeren  mit  auf  den  Weg  zu  geben,  erscheint  „Break  on  through  to  the 
other  side"  bestens  geeignet;  insbesondere  wegen  seiner  sehr  groBen  und  lobenswerten 
Detail-  und  Bildfiille  und  sachlichen  Art  der  Beschreibung,  die  selten  in  Nostalgie  ver- 
fallt.  Geben  wir  es  zu,  wer  erzahlt  nicht  gerne  von  kleinen  Kellerclubs,  in  denen  er  oder 
sie  die  erste  Liebe  traf  oder  mit  fiinfzehn  weiteren  zahlenden  Gasten  Bands  auf  der  Biih- 
ne  stehen  sah,  die  spater  weltberiihmt  wurden.  Fur  die  Aufarbeitung  dieser  wichtigen 
popkulturellen  Phasen  und  Ereignisse  und  gegen  ein  „Friiher  war  alles  besser!"  (S.  27) 
bedarf  es  zukiinftig  einer  intensiveren  fachiibergreifenden  Zusammenarbeit  insbeson- 
dere zwischen  Zeitzeugen,  Institutionen  sowie  Musik-,  Medien-  und  Geschichtswissen- 


522  Besprechungen 

schaftlern.  Ansonsten  drohen  diese  Entwicklungen  mit  dem  Verschwinden  ihrer  Prota- 
gonisten  ebenfalls  im  kollektiven  Gedachtnis  zu  erblassen. 

Paderborn  Christoph  Jacke 


Fuchs,  Thomas:  Bibliothek  und Militdr.  Militarische  Biichersammlung  in  Hannover  vom 
18.  bis  zum  20.  Jahrhundert.  Mit  einem  Katalog  der  Handschriften  der  ehemaligen 
Wehrreichsbibliothek  II  in  der  Gottfried  Wilhelm  Leibniz  Bibliothek.  Frankfurt:  Vit- 
torio  Klostermann  2008.  205  S.  Abb.  =  Zeitschrift  fur  Bibliothekswesen  und  Biblio- 
graphie  Sonderbd.  93.  Geb.  64,-  €. 

Seit  dem  Jahr  2004  befinden  sich  die  Altbestande  der  Wehrbereichsbibliothek  (WBB)  II 
Hannover  in  der  Gottfried  Wilhelm  Leibniz  Bibliothek  -  Niedersachsischen  Landesbi- 
bliothek  (GWLB).  Die  historischen  Bestande  der  von  1956  bis  2004  bestehenden  Wehr- 
bereichsbibliothek stammen  weitgehend  aus  alten  Hannoverschen  Buchersammlungen 
und  Militarbibliotheken.  Die  Bestande,  deren  Verbleib  bereits  1994  durch  einen  zwi- 
schen  der  Bundesrepublik  Deutschland  und  dem  Land  Niedersachsen  abgeschlossenen 
Depositalvertrag  als  Dauerleihgabe  an  die  Landesbibliothek  geregelt  worden  war,  wur- 
den  2004  endgiiltig  iibernommen.  Offizielle  Eigentumerin  der  Sammlung  ist  seit  2003 
jedoch  weiterhin  eine  Diensstelle  der  Bundeswehr,  das  Militargeschichtliche  For- 
schungsamt  in  Potsdam.  Die  GWLB  kam  so  mit  „einer  der  bedeutendsten  historischen 
Sammlungen  innerhalb  der  Bundeswehr"  zu  ihrem  umfangreichsten  Zugang  ihrer  Ge- 
schichte  (insgesamt  handelt  es  sich  um  60.000  Bande,  darunter  144  Handschriften). 
Dieser  Vorgang  ist  insofern  bemerkenswert,  da  hinsichtlich  der  Bestande  der  anderen 
Wehrbereichs-  und  sonstigen  Bibliotheken  im  Besitz  der  Bundeswehr  ganzlich  anders 
verfahren  wurde:  Sie  blieben,  in  verschiedenen  Konstellationen  sowie  unter  sich  mehr- 
fach  wandelnden  Strukturen  und  ortlichen  Veranderungen,  immer  unter  der  Hoheit  und 
Verwaltung  der  Bundeswehr.  Bei  dieser  Bestandsabgabe  spielten  neben  praktisch-bi- 
bliothekarischen  Gesichtspunkten  wohl  auch  politisch-(landes-)geschichtliche  Griinde 
eine  groBe  Rolle. 

Die  vorliegende  Studie  von  Thomas  Fuchs,  dem  Leiterdes  Bereichs  Sondersammlun- 
gen  der  Universitatsbibliothek  Leipzig  und  Privatdozent  an  der  Universitat  Potsdam, 
eines  ehemaligen  Mitarbeiters  der  GWLB,  zeigt  anhand  der  Hannoveraner  Militarbi- 
bliotheken und  ihrer  Bestande  die  wechselvolle  Geschichte  und  die  strukturellen  Beson- 
derheiten  auf,  die  das  militarische  Bibliothekswesen  vom  spaten  18.  bis  in  das  20.  Jahr- 
hundert in  Deutschland  nahm.  Erganzt  wird  die  Untersuchung  durch  einen  Katalog  der 


1  Vgl.  hierzu  Uta  Moritzen-Ulzen,  Wehrbereichsbibliothek  II,  in:  Bernhard  Fabian 
(Hrsg.),  Handbuch  der  historischen  Buchbestande,  Bd.  2.2,  Hildesheim  1998,  S.  70-72. 

2  Hauke  Schroder,  Historische  Literaturbestande  in  Bibliotheken  der  Bundeswehr.  Be 
standsaufnahme  und  Zukunftskonzeption,  Berlin  2004,  S.  23. 

3  Vgl.  Thomas  Fuchs,  Ulrich  Karlauf,  Die  Wehrbereichsbibliothek  II  (Hannover)  in  der 
Niedersachsischen  Landesbibliothek,  in:  Militar  und  Gesellschaft  in  der  Friihen  Neuzeit  8, 
2004,  Heft  2,  S.  169-176  sowie  Thomas  Fuchs,  Ulrich  Karlauf,  Kostbarkeiten  der  ehemaligen 
Wehrbereichsbibliothek  II  Hannover,  Hameln  2004. 

4  Vgl.  Schroder  (wie  Anm.  2),  S.  23. 


Kirchen-,  Geistes-  und  Kulturgeschichte  523 

144  Handschriften,  die  von  der  Wehrbereichsbibliothek  II  als  Depositum  in  die  GWLB 
gelangten.  Diese  erhalten  ihren  besonderen  Wert  laut  dem  Verfasser  vor  allem  durch 
„ihren  Zeugnischarakter  fur  Sammlungen,  die  zerstreut  oder  vernichtet  sind"  (S.  124). 

Es  geht  dem  Autor  in  seiner  Darstellung  weniger  um  eine  Geschichte  der  Wehrbe- 
reichsbibliothek II  als  vielmehrum  die  Geschichte  der  Buchbestande  selbst.  Der  Verfas- 
ser ordnet  das  militarische  Bibliothekswesen  -  exemplarisch  anhand  der  Hannoveraner 
Verhaltnisse  -  in  allgemeine  historische  Prozesse  ein:  Von  der  Entstehung  des  militari- 
schen  Bibliothekswesens  aus  dem  aufklarerischen  Bildungsgedanken,  iiber  den  Wandel 
im  Zeichen  des  PreuBentums,  die  Professionalisierung  des  militarischen  Bibliotheks- 
wesens nach  dem  1.  Weltkrieg  bis  hin  zur  Marginalisierung  der  Militargeschichte  (und 
damit  auch  der  militarischen  Bibliotheksgeschichte)  nach  1945.  Mit  der  akribischen 
Rekonstruktion  der  diversen  Biichersammlungen  und  Bibliotheken,  ihrer  Nutzbarma- 
chung  und  Aufgabenzuschreibung  gelingt  ihm  in  eindrucksvoller  Weise  eine  Tiefenboh- 
rung  in  die  deutsche  Bibliotheksgeschichte  und  zugleich  in  die  politisch-gesellschaftli- 
chen  sowie  kulturellen  Rahmenbedingungen  der  vergangenen  dreijahrhunderte.  Denn 
auch  wenn  militarische  Biichersammlungen  aktuell  und  in  den  letzten  Jahrzehnten  eher 
ein  abseits  des  bibliothekswissenschaftlichen  oder  gar  des  offentlichen  Interesses  liegen- 
des  Thema  darstellen  mogen,  so  gilt  dies  keineswegs  fur  die  hier  beschriebenen  histori- 
schen  Zeitraume  bis  etwa  1945,  im  Gegenteil:  Vielfach  konnen  an  den  Militarbibliothe- 
ken  gesellschaftliche  Wandlungsprozesse  nachvollzogen  werden.  Der  Autor  arbeitet 
dies  prazise  heraus.  Als  Stichworte  seien  hier  vor  allem  genannt:  Die  Bildungs-  und  Aus- 
bildungsbestrebungen  fur  die  Offiziere  in  der  Zeit  der  Aufklarung  sowie  die  Rolle  der 
Militar-Bibliotheken  und  -Bibliothekare  nach  1918  fur  das  neue  aufkommende  Thema 
Wehrwissenschaften. 

Ein  wichtiges  Ergebnis  der  Studie  ist  die  Feststellung,  dass  im  Vergleich  zum  zivilen 
Bibliothekswesen  in  Militarbibliotheken  iiber  die  Jahrhunderte  die  Sicht  auf  Bibliothe- 
ken als  eines  iiberlieferungswiirdigen  Zusammenhangs  nicht  vorhanden  ist.  Die  eher 
funktionale  Sicht  des  Buches  und  der  Bibliothek  als  solcher  im  militarischen  Biblio- 
thekswesen erklart  die  iiber  die  Jahrhunderte  und  diversen  Umbriiche  hinweg  zu  beob- 
achtenden  Umschichtungs-,  Vernichtungs-  und  Wiederaufbauprozesse  in  und  von  mili- 
tarischen Bibliotheken.  Die  vom  Autor  beschriebene  Marginalisierung,  Zerschlagung 
und  vor  allem  raumliche  Entwurzelung  der  militarbibliothekarisch  bedeutsamen  Be- 
stande aus  ihrem  historisch-kulturellen  und  vor  allem  raumlichen  Kontext  konnte  fur 
die  in  der  Wehrbereichsbibliothek  II  und  nun  in  der  GWLB  versammelten  Hanno- 
verschen  Bestande  vermieden  werden.  Sie  stehen  der  Offentlichkeit  und  derForschung 
weiter  dort  zur  Verfugung,  wo  sie  iiber  die  vergangenen  Jahrhunderte  hinweg  erworben, 
zusammengestellt  und  genutzt  worden  sind. 

Dem  Verfasser  ist  eine  konzise  Darstellung  dieses  wenig  bekannten  Kapitels  der  deut- 
schen  Bibliotheksgeschichte  gelungen.  An  dieser  Stelle  muss  aber  auch  denjenigen  Per- 
sonen  Dank  ausgesprochen  werden,  die  es  vermocht  haben,  die  landes-  und  kulturge- 
schichtlich  bedeutenden  Bestande  im  Land  Niedersachsen  zu  halten  und  sie  nicht  dem 
Schicksal  anderer  militarischer  Biichersammlungen  anheim  zu  geben. 

Hamburg  Matthias  Sohulze 


524  Besprechungen 

Zur  Geschichte  der  Erziehung  und  Bildung  in  Schaumburg.  Hrsg.  von  Hubert  Hoing.  Biele- 
feld: Verlag  fur  Regionalgeschichte  2007.  610  S.  Abb.  =  Schaumburger  Studien 
Bd.  69.  Geb.  39,- €. 

Die  vorliegende  Publikation  fasst  die  Beitrage  (mit  Erganzungsbeitragen)  des  6.  Kollo- 
quiums  der  Historischen  Arbeitsgemeinschaft  fur  Schaumburg  zusammen,  das  im  De- 
zember  2005  unter  dem  Titel  „Zwischen  Tradition  und  Innovation  -  Zur  Geschichte  der 
Erziehung  und  Bildung  in  Schaumburg"  stattgefunden  hat.  So  speziell  und  unterschied- 
lich  die  17  Beitrage,  die  einen  zeitlichen  Rahmen  vom  16.  bis  ins  20.  Jahrhundert  um- 
spannen,  auch  sind,  so  zeigen  sie  dennoch  jene  Entwicklungslinien  auf,  die  fur  die  Ge- 
schichte von  Erziehung  und  Bildung  allgemein  gelten  (S.  9/10). 

Die  erste  Sektion  „Allgemeinbildendes  Schulwesen"  wird  durch  einen  Aufsatz  von 
Stefan  Brudermann  iiber  die  landlichen  Elementarschulen  in  Schaumburg-Lippe  im 
18.  Jahrhundert  unter  Berucksichtigung  der  Aspekte  „Lehrerschaft,  Schulverwaltung, 
Schulbesuch,  Schulabschluss,  Schulunterricht  und  Lernziele"  eingeleitet.  Seinen  allge- 
mein gehaltenen  Ausfiihrungen  iiber  landliche  Elementarschulen  in  Schaumburg  folgt 
der  Beitrag  iiber  die  Niedernwohrener  Schule  unter  der  Lehrerfamilie  Tecklenburg  von 
Ulrich  Bartels.  Der  Autor  untersucht  die  Bereiche  „Besoldung,  Stellenbesetzung  und 
Ausbildung  der  Lehrer"  exemplarisch  am  Beispiel  einer  schaumburg-lippischen  Land- 
schule  fiir  die  Zeit  des  17.  bis  19.  Jahrhunderts.  Parallel  zu  diesen  Entwicklungslinien 
zeichnet  er  den  beruflichen  und  privaten  Werdegang  der  Lehrerfamilie  Tecklenburg 
nach. 

Silke  Wagener-Fimpel  thematisiert  am  regionalen  Beispiel  des  jiidischen  Schulwe- 
sens  in  der  hessischen  Grafschaft  Schaumburg  die  tiefgreifende  Neuordnung  des  jiidi- 
schen Schul-  und  Erziehungswesens  im  Rahmen  der  Emanzipation  der  Bevolkerung  jii- 
dischen Glaubens  zu  Beginn  des  19.  Jahrhunderts  und  ihrer  damit  verbundenen  Integra- 
tion in  die  biirgerliche  Gesellschaft  in  Deutschland.  Die  Autorin  untersucht  auBerst 
detailliert  unterschiedliche  Aspekte  des  jiidischen  Schul-  und  Erziehungswesens  (u.a. 
Lehrziele,  Entwicklung  der  Schulerzahlen  an  jiidischen  Schulen,  Schulvisitationen 
durch  die  Schulbezirksinspektion,  Gehalter  der  Lehrer  sowie  ihre  Nebentatigkeiten  in 
religiosen  Funktionen  (u.a.  Vorsanger,  Schachter),  Beziige  zum  christlichen  Schulwe- 
sen) .  Neben  der  Differenzierung  nach  Glaubenszugehorigkeit  ist  die  geschlechtsspezifi- 
sche  Bildung  ein  weiterer  Untersuchungsgegenstand  im  Erziehungs-  und  Bildungswe- 
sen.  Ihre  Entwicklung  im  lokalgeschichtlichen  Umfeld  untersucht  Karin  Ehrich  in  ih- 
rem  Aufsatz  zur  hoheren  Bildung  von  Madchen  in  Schaumburg  im  19.  Jahrhundert  und 
in  der  1.  Halfte  des  20.  Jahrhunderts  und  erganzt  die  Frauen-  und  Genderforschung  um 
einen  weiteren  Beitrag  mit  regionalgeschichtlichem  Bezug. 

Die  adaquate  Ausbildung  der  Lehrer  und  Lehrerinnen  ist  ein  grundlegender  Be- 
reich  innerhalb  des  Erziehungs-  und  Bildungswesens.  GroBeres  Interesse  an  diesem 
Forschungsgegenstand  der  Bildungsgeschichte  ist  weder  bei  Sozialhistorikern  noch  bei 
Vertretern  der  Bildungs-  bzw.  Universitatsgeschichte  zu  finden.  Deshalb  steht  eine  de- 
taillierte  Gesamtgeschichte  der  deutschen  Lehrerausbildung  nach  wie  vor  aus.  Umso 
lobenswerter  ist  der  Beitrag  von  Claudia  Bei  der  Wieden  iiber  die  Grundziige  der 
schaumburg-lippischen  Lehrerseminargeschichte,  der  die  Entwicklung  des  einzigen 
Lehrerseminars  (gegriindet  1783,  geschlossen  1926)  dieser  Region  nachzeichnet  und  so 
einen  „wei6en"  Fleck  innerhalb  der  Geschichte  der  Lehrerausbildung  schlieBt. 

Mit  einem  Aufsatz  von  Gudrun  Husmeier  iiber  die  Regentenerziehung  im  konfessio- 


Kirchen-,  Geistes-  und  Kulturgeschichte  525 

nellen  Zeitalter  am  Beispiel  der  Erziehung  der  Schaumburger  Grafensohne  beginnt  die 
zweite  Sektion,  die  dem  Themenschwerpunkt  „Standeserziehung  und  berufliche  Bil- 
dung"  gewidmet  ist.  Lassen  sich  die  bescheidenen  Schaumburger  Verhaltnisse  auch  nur 
bedingt  mit  der  Regentenerziehung  anderer  fiirstlicher  Hofe  vergleichen,  so  sind  doch 
grundsatzliche  Prinzipien  nachweisbar,  die  in  den  zeitgenossischen  Fiirstenspiegeln 
propagiert  werden  (S.  289).  Erziehung  im  Allgemeinen  und  Regentenerziehung  im  Be- 
sonderen  garantiert  nicht,  dass  die  Ergebnisse  dieser  Erziehungsform  den  Idealen  und 
Absichten  entspricht,  sie  stellt  jedoch  fur  die  Betroffenen  einen  wichtigen  Lebensab- 
schnitt  dar,  der  personlichkeitsbildend  sein  kann  (S.  289).  Einen  solchen  wechselvollen 
Lebensweg  bei  der  Erziehung  zum  Landesherren  beschreibt  Martin  Fimpel  am  Beispiel 
des  Erbgrafen  Albrecht  Wolfgang  zu  Schaumburg-Lippe  (1699-1748). 

Zum  Aspekt  „berufliche  Bildung"  dieser  zweiten  Sektion  stellt  Ortrud  Worner-Heil  in 
ihrem  Aufsatz  die  Ausbildung  von  adeligen  Frauen  am  Beispiel  der  Landfrauenschule 
Obernkirchen  (1901-1970)  vor.  Ziel  dieser  Schulausbildung  ist,  ,,gebildete  junge  Mad- 
chen  mit  alien  Zweigen  der  wirtschaftlichen  Arbeit  vertraut"  zu  machen  (S.  319),  um  so 
eine  Basis  fur  berufliche  Tatigkeiten  in  sozialen,  pflegerischen  oder  ernahrungswissen- 
schaftlichen  Bereichen  zu  schaffen.  Nachfolgend  spannt  Anke  Sawahn  in  ihrem  Beitrag 
iiber  die  Frauenbildung  auf  dem  Land  den  zeitlichen  Bogen  vom  Landmadchen  in  der 
Haushaltungsschule  zurLandfrau  im  Internet.  Bis  Mitte  des  20.Jahrhunderts  sind  Land- 
frauenvereine  in  Schaumburg  nicht  nachweisbar,  erste  Landfrauenvereine  werden  nach 
Ende  des  Zweiten  Weltkrieges  gegriindet  und  leiten  damit  die  Landfrauenbildung  mo- 
derner  Pragung  ein. 

Am  Anfang  der  dritten  Sektion  „Universitaten  und  Volkshochschulen"  steht  der  Auf- 
satz von  Helge  Bei  der  Wieden  zur  humanistischen  Bildung  im  16.  und  17.  Jahrhundert 
am  Beispiel  Schaumburgs.  Der  Autor  kommt  in  seinen  Ausfiihrungen  zu  dem  Ergebnis, 
dass  der  Humanismus  erst  spat  Schaumburg  erreicht.  Als  Grund  hierfiir  nennt  er  das 
Fehlen  eines  Tragers  der  humanistischen  Gedankenwelt,  namlich  ein  reiches  und  gebil- 
detes  Burgertum,  das  neben  seinen  Geschaften  die  MuBe  besaB,  sich  mit  den  Schriftstel- 
lern  der  Antike  zu  befassen.  Erst  als  dieses  Gedankengut  die  Hofe  und  mit  ihnen  eine 
sehr  schmale  Fiihrungsschicht  erreicht,  wird  humanistische  Bildung  in  Schaumburg  er- 
kennbar  (S.  403).  Im  Anschluss  zeichnet  Gerhard  Menkin  seinem  Beitrag  „Die  schaum- 
burgische  Hohe  Schule  in  der  Universitatslandschaft  des  Reiches  in  der  Friihen  Neuzeit" 
die  Anfange  der  ersten  und  einzigen  lutherischen  Volluniversitat  Nordwestdeutschlands 
nach,  die  1610  zunachst  als  akademisches  Gymnasium  in  Stadthagen,  ab  1619  als  Alma 
Ernestina  in  Rinteln  (geschlossen  1809)  ihren  Lehrbetrieb  aufnimmt. 

Den  zweiten  Aspekt  „Volkshochschulen"  dieser  Sektion  beginnt  Karin  Ehrich  mit  ih- 
rem Beitrag  iiber  die  60-jahrige  Entwicklung  der  Volkshochschulen  in  Schaumburg. 
Volkshochschulen  als  Bildungszentren  mit  unterschiedlichen  Bildungsangeboten  fur  al- 
le  Bevolkerungsschichten  zu  etablieren,  setzt  sich  erst  nach  Ende  des  Zweiten  Weltkrie- 
ges durch.  Diese  Idee  des  ganzheitlichen  Bildungsauftrages  greift  Annette  von  Stieglitz 
in  ihrer  Geschichte  der  Volkshochschulen  in  Gegenwart  und  Zukunft  auf.  Neben  einer 
sehr  allgemeinen  Darstellung  zur  Entwicklungsgeschichte  der  Volkshochschulen  stellt 
die  Autorin  Ankniipfungspunkte  zur  Entwicklung  des  Volkshochschulwesens  in 
Schaumburg  her. 

Die  vierte  und  letzte  Sektion  ist  den  beiden  Themenbereichen  „Einzelne  Erzieher 
und  Medien"  gewidmet,  die  mit  einem  Beitrag  von  Roswitha  Sommer  iiberjohann  Gott- 
fried Herder  als  Padagogen  (von  1770  bis  1776  in  Diensten  des  Schaumburger  Grafen) 


526  Besprechungen 

eingeleitet  wird.  Herders  Ideen  fur  die  Erziehung  derjugend  sowie  deren  Unterweisung, 
die  in  der  1777  erlassenen  Schulordnung  ihren  Niederschlag  finden,  sollen  zu  einer  Ver- 
besserung  der  Schulsituation  in  der  Grafschaft  Schaumburg  fiihren. 

Der  lesenswerte  Beitrag  von  Irmtraud  Sahmland  iiber  den  Arzt  und  Gesundheitser- 
zieher  Bernhard  Christoph  Faust  (1755-1842)  iiberrascht  im  Kontext  dieser  Sektion. 
Fausts  Ziel  ist  eine  medizinische  Volksaufklarung  breiter  Bevolkerungsschichten  iiber 
die  Schulen  zu  erreichen.  Diese  Verbindung  von  Padagogik  und  Medizin  versucht  er  in 
seinen  Schulbuch  „Gesundheitskatechismus  zum  Gebrauche  in  den  Schulen  und  beym 
hauslichen  Unterrichte"  umzusetzen,  dessen  erste  Auflage  1794  erscheint,  bis  1830  sind 
11  weitere  Auflagen  nachweisbar. 

Die  beiden  letzten  Aufsatze  widmen  sich  der  Thematik  „Medien".  Der  Begriff  „Medi- 
en"  wird  heute  mit  sehr  unterschiedlichen  Bedeutungsformen  belegt.  Christoph  Schot- 
ten  geht  in  seinen  Aufsatz  auf  die  Entwicklung  von  Printmedien  am  Beispiel  der 
„Schaumburg-Lippischen  Landes-Zeitung"  ein.  Ein  weiterer  Bereich  des  groBen  Spek- 
trums  „Medien"  sind  Bibliotheken.  Hans  Peter  Schramm  stellt  in  seinem  Beitrag  drei 
schaumburgische  Bibliotheken  von  der  Friihen  Neuzeit  bis  zur  Moderne  vor,  die  auf- 
grund  ihres  Entstehungszusammenhangs  eher  den  Charakter  einer  offentlichen  Biicher- 
sammlung  denn  einer  offentlichen  Leihbibliothek  tragen. 

Die  Autoren  und  Autorinnen  versuchen  in  ihren  teilweise  sehr  umfangreichen  und 
detaillierten  Beitragen  den  facettenreichen  Aspekten  von  Erziehung  und  Bildung  im  je- 
weiligen  historischen  Zeitkontext  nach  zugehen,  wobei  regionale  Besonderheiten  mehr 
oder  weniger  Berucksichtigung  finden.  Hilfreich  fur  den  Leser  ware  es  gewesen,  die  in 
den  einzelnen  Sektionen  sehr  isoliert  nebeneinander  stehenden  Beitrage  durch  ein  ab- 
schlieBendes  Resiimee  zu  verbinden.  Trotz  dieses  kleinen  Mangels  leistet  der  Aufsatz- 
band  nicht  nur  einen  wichtigen  Beitrag  zur  allgemeinen  Geschichte  von  Erziehung  und 
Bildung,  sondern  erweitert  und  erganzt  auch  die  lokale  und  regionale  Geschichtsschrei- 
bung  fur  den  norddeutschen  Raum.  Ebenso  erfolgt  eine  Vernetzung  zu  Nachbardiszipli- 
nen  wie  der  Frauen-  und  Genderforschung,  der  Sozialgeschichte,  der  Geistesgeschichte, 
der  Wissenschaftsgeschichte  und  auch  der  Geschichte  einzelner  Individuen. 

Hannover  PetraDiESTELMANN 


Inszenierungen  derKiiste.  Hrsg.  von  Norbert  Fischer,  Susan  Muller-Wusterwitz  und  Bri- 
gitta  Schmidt-Lauber.  Berlin:  Reimer2007.  287  S.  Abb.  =  Schriftenreihe  derlsaLoh- 
mann-Siems  Stiftung  Bd.  1.  Geb.  49,-  €. 

„  ,Landschaft'  -  als  asthetisch-kontemplative  Wahrnehmung  der  Natur  -  ist  ein  kultu- 
relles  und  damit  historisch  veranderliches  Konstrukt"  (S.  7)  -  diese  These  auf  die 
Geschichte  des  Landschaftsverstandnisses  der  Nordseekiiste  zu  iibertragen  und  den 
Veranderungen  der  Sichtweisen  nachzugehen,  war  das  Ziel  einer  interdisziplinaren  Ta- 
gung  im  Jahre  2007  in  Hamburg,  veranstaltet  von  der  Isa  Lohmann-Siems-Stiftung,  mit 
dem  Thema  „Inszenierungen  der  Kiiste".  Der  Band  sammelt  Beitrage  der  beteiligten 
Wissenschaftler  zu  dieser  Tagung,  die  Vertreter  der  verschiedensten  Facher  zu  Wort 
kommen  lieB.  Die  Herausgeber  sehen  die  Anfange  einer  klassisch-burgerlichen  Land- 
schaftsasthetik  bereits  im  16.  Jahrhundert,  als  „Landschaft"  als  Ort  einer  geistigen  und 
korperlichen   Rekreation   wahrgenommen   wird,   nachdem   sich   das   mittelalterliche 


Kirchen-,  Geistes-  und  Kulturgeschichte  527 

Weltbild  aufgelost  hatte.  Dies  und  die  „gesellschaftliche  Herrschaft"  iiber  die  Natur  sei- 
en  die  Voraussetzungen  dafiir  gewesen.  Auf  die  Kiiste  bezogen,  war  festzustellen,  dass 
sie  mit  Beginn  der  Neuzeit  als  wenig  attraktiv,  als  Ort  bedrohlicher  Katastrophen  und 
Naturphanomene  gesehen  wurde,  im  spaten  18.  Jahrhundert  dagegen  als  erholsam 
und  gesundheitsfordernd  -  die  Griindung  des  ersten  deutschen  Seebades  Heiligen- 
dimm  an  der  Ostsee  ist  ein  Indiz  dafiir  -  und  im  19.  Jahrhundert  als  eine  zivilisierte,  ja 
sogar  romantische  Landschaft  erschien.  Diese  unterschiedlichen  Sichtweisen  wurden 
in  derTagung  als  „Inszenierungen"  verstanden,  deren  Entstehungen  erst  etwa  seit  1990 
Forschungsgegenstand  sind.  Ihren  Ursachen  sollte,  bezogen  auf  die  Nordseekiiste,  auf 
dem  Symposium  nachgegangen  werden. 

Der  Biologe  Hansjorg  Kiister  („Die  Entwicklung  der  Kiistenlandschaft  an  der  Nord- 
see",  S.  17-31)  stellt  als  Voraussetzung  fur  weitere  Uberlegungen  die  Nordseekiiste  als 
eine  im  Verlauf  ihrer  Geschichte  dynamische  Erscheinung  dar,  in  der  der  naturliche 
Wandel  und  der  Versuch  des  Menschen,  Stabilitat  im  Kustenraum  zu  erreichen,  ihr  heu- 
tiges  Bild  bestimmen.  -  In  der  Folge  gibt  der  Hamburger  Germanist  Ludwig  Fischer 
das  Thema  vor  („Naturlandschaft,  Kulturlandschaft  -  Zur  Macht  einer  sozialen  Kon- 
struktion  am  Beispiel  Nordseekiiste",  S.  33-45):  Unsere  Vorstellungen  von  Natur-  und 
Kulturraumen  seien  abhangig  von  unserer  Existenz  als  soziale  Wesen,  die  mit  unter- 
schiedlichen Deutungsmustern,  abhangig  von  den  jeweiligen  sozialen  Voraussetzungen 
des  Deutenden,  diesen  Raumen  gegeniibertreten.  Riickgreifend  auf  die  Vorstellungen 
des  franzosischen  Soziologen  Pierre  Bourdieu,  sieht  er  dabei  „symbolische  Kampfe"  um 
die  „richtige",  und  das  heiBt:  gesellschaftlich  maBgebliche  Sicht  des  einzelnen  Natur- 
oderKulturraumes,in  diesem  Fall  der  Nordseekiiste.  Es  geht,mit  seinen  Worten,um  die 
„Benennungsmacht".  Das  jeweilige  touristische,  kiinstlerische,  aber  auch  das  wissen- 
schaftliche  Verstandnis  von  Landschaft  sei  Ergebnis  der  Definitionsmacht  einzelner  Ak- 
teure  oder  Gruppen  und  damit  soziales  Konstrukt.  Fischer  erlautert  diesen  Gedanken- 
gang  an  den  Bestrebungen  Eugen  Traegers,  des  Initiators  zur  ,,Rettung"  der  Halligen  En- 
de  des  19.  Jahrhunderts.  Fur  Fischer  ist  Traeger  ein  typischer  Vertreter  des  Biirgertums, 
das  den  Modernisierungsprozess  der  Zeit  zwar  verloren,  im  Bildungsbereich  aber  die 
Deutungsmacht  behalten  hatte:  Hier  wurden  die  Halligen  als  Denkmal  der  Vormoderne 
verstanden,  und  es  sei  gelungen,  diese  Sicht  gesellschaftlich  verbindlich  zu  machen.  Mo- 
derne  wirtschaftliche  Argumente,  die  Traeger  fur  den  Kiistenschutz  zusatzlich  vorbringt, 
versteht  der  Vf.  als  inneren  Widerspruch  dazu.  In  einem  weiteren  Beitrag  („Gedachtnis- 
landschaft  Nordseekiiste:  Inszenierungen  des  maritimen  Todes",  S.  150-183)  entwirft 
Fischer  eine  Geschichte  der  Denkmaler  fur  die  Opfer  der  Nordsee  bei  Sturmfluten  und 
Schiffbruchen  und  zeigt  dabei,  wie  die  zugrunde  liegenden  Uberzeugungen  zunehmend 
den  Einfluss  der  Historisierungstendenzen  stadtisch-biirgerlicher  Kultur  widerspiegeln. 
Ebenfalls  um  Denkmalsgeschichte  geht  es  in  dem  Beitrag  der  Volkskundlerin  Brigitta 
Schmidt-Lauber  („Maritime  Denkmals[er]findung.  Ein  Kiistenort  inszeniert  seine  Ge- 
schichte", S.  184-218).  Sie  berichtet  iiber  die  Errichtung  eines  Denkmals  in  Carolinensiel 
anlasslich  eines  Ortsjubilaums  im  Jahre  2005,  das  einen  mit  dem  Ort  verbundenen, 
letztlich  fiktionalen  literarischen  Begriff  („cliner  Wind")  darstellen  und  damit  einen  in- 
szenierten  Ort  der  historischen  Identifikation  fur  die  Bewohner  bieten  will.  Der  gesamte 
Prozess  der  Denkmalsentstehung  wird  verfolgt  und  abschlieBend  in  das  Tagungsthema 
eingeordnet.  -  Fur  die  Kunsthistorikerin  Susan  Miiller-Wusterwitz  („Das  Bild  der  Kiiste 
in  der  niederlandischen  Kunst  des  16.  und  17.  Jahrhunderts",  S.  46-85)  ist  die  Diinen- 
landschaft  der  niederlandischen  Kiiste  des  16.  und  17.  Jahrhunderts  in  der  Kunst  vor 


528  Besprechungen 

allem  als  ein  Bollwerkgegen  die  spanische  Intervention  inszeniert,  nach  dem  beendeten 
Kampf  gegen  Spanien  im  17.  Jahrhundert  als  ein  Ort  der  republikanischen  Gleichheit, 
an  dem  keinerlei  soziale  Hierarchie  evident  werde.  Dem  kann  hier-  weil  auBerhalb  Nie- 
dersachsens  -  nicht  weiter  nachgegangen  werden,  es  muss  auf  den  Text  verwiesen  wer- 
den.  -  Eindrucksvoll  wird  die  Methode  der  Inszenierung  der  Kiiste  vorgestellt  in  zwei 
weiteren  Aufsatzen:  Martin  Rheinheimer  beschaftigt  „Der  Mythos  der  Seebader.  Visua- 
lisierung  und  Vermarktung  der  Nordfriesischen  Inseln  durch  Postkarten"  (S.  219-237), 
der  Geograph  Jiirgen  Hasse  stellt  dagegen  Werbematerial  der  Seebader  in  den  Mittel- 
punkt  seiner  Untersuchungen,  iiber  die  er  in  seinem  Beitrag  („  ,Nordseekiiste'  -  Die  tou- 
ristische  Konstruktion  besserer  Welten.  Zur  Codierung  einer  Landschaft",  S.  239-258) 
berichtet.  Rheinheimer  zeigt,  wie  durch  die  z.T.  standardisierten  Motive  der  Postkarten 
des  19.  Jahrhunderts  sich  die  Seebader  selbst  darstellen,  sich  aber  auch  einen  moglichst 
unverwechselbaren  „Mythos"  zu  schaffen  versuchen  (neudeutsch:  „Alleinstellungs- 
merkmal").  Sehr  instruktiv  sind  dabei  die  dargebotenen  Nachweise  von  Bildmontagen, 
in  denen  der  Realitat,  wenn  im  touristischen  Marketing  erwiinscht,  inszenatorisch  aufge- 
holfen  wird  (siehe  die  Beispiele  S.  235!).  Hasse  stellt  in  der  Tourismuswerbung  „eine 
Konstruktionsbasis  fur  das  asthetische  Erleben  der  Kiiste  wie  des  Meeres"  (S.  244)  fest 
und  sieht  unter  diesem  Gesichtspunkt  Fremdenverkehrsprospekte  der  Nordseebader 
des  Jahres  2005  durch,  in  denen  „Erlebnisschablonen"  aus  Bild  und  Text  aufgebaut  wer- 
den. Erfreulich  ist  in  seinem  Beitrag,  daB  er  daraus  kein  determiniertes  Verhalten  des 
Touristen  im  Sinne  des  touristischen  Marketing  ableitet,  ihm  also  einen  Freiraum  im  tat- 
sachlichen  Verhalten  zutraut  (S.  254f.):  „Kein  Urlaub  am  Meer  ist  auf  die  individuelle 
Kopie  von  Marketingvorlagen  gezwungen"  (S.  255). 

Nicht  alle  12  Beitrage  konnten  hier  vorgestellt  werden,  es  war  allenfalls  moglich,  den 
Grundgedanken  der  Tagung  zu  skizzieren,  wie  er  aus  den  Beitragen  abzuleiten  war.  Der 
Vollstandigkeit  wegen  seien  die  ferneren  Beitrager  wenigstens  genannt:  Die  Historike- 
rin  Marie  Luisa  Allemeyer  widmet  sich  Kontroversen  um  den  Kiistenschutz  im  17.  und 
18.  Jahrhundert  (S.  87-106),  der  niederlandische  Soziologe  Otto  S.  Kottnerus  schildert 
Gefahren  und  Chancen  der  Kiistengesellschaft  im  Umgang  mit  dem  Meer  in  der  Friihen 
Neuzeit  (S.  107-149),  und  die  Volkskundlerin  Julia  Meyn  beschaftigt  sich  abschlieBend 
mit  Biographien  von  Menschen,  deren  Alltags-  und  Berufsleben  zum  Meer  in  engem  Be- 
zug  stehen. 

Uelzen  Hans-Jurgen  Vogtherr 


Jagdin  der  Liineburger  Heide.  Beitrage  zurjagdgeschichte.  Begleitpublikation  zur  Ausstel- 
lung.  Hrsg.  vom  Bomann-Museum  Celle  und  vom  Landwirtschaftsmuseum  Liinebur- 
ger Heide  e.V.  Suderburg-Hosseringen.  Celle:  Bomann-Museum  Celle  2006.  376  S. 
Abb.  =  Veroff.  des  Landwirtschaftsmuseums  Liineburger  Heide  Bd.  15.  Geb.  19,80  €. 

Der  im  Vorwort  als  Begleitband  zur  „aktuellen  Sonderausstellung  Jagd  in  der  Liine- 
burger Heide"  vorgestellte,  von  den  oben  genannten  Museen  in  Kooperation  heraus- 
gegebene,  von  Christiane  Schroder  und  Martin  Stober  (Niedersachsisches  Institut  fur 
Historische  Regionalforschung)  redigierte,  vom  Liineburgischen  Landschaftsverband 
finanzierte  und  mit  Jagdforschungsmitteln  des  Landes  Niedersachsen  geforderte  Sam- 
melband  vereinigt  eine  Reihe  von  Beitragen,  die  verschiedene  Aspekte  der  Jagdge- 


Kirchen-,  Geistes-  und  Kulturgeschichte  529 

schichte,  vornehmlich,  aber  nicht  ausschlieBlich,  in  der  Liineburger  Heide  behandeln. 

Werner  Rosener,  ausgewiesener  Kenner  der  mittelalterlichen  Jagdgeschichte,  fiihrt  in 
einem  knappen  Beitrag  „Jagd  und  Jager.  Reflexionen  zu  einem  Phanomen  der  europai- 
schen  Kulturgeschichte"  in  das  Thema  ein.  Ahnlich  wie  viele  jagdbegeisterte  Autoren 
und  Rezensenten  der  letzten  drei  Jahrzehnte  verwahrt  sich  auch  Rosener  gegen  die  In- 
terpretation der  herrschaftlichen  Jagd  als  Statussymbol,  Ersatzbefriedigung  und  Mittel 
gegen  existentielle  Langeweile  mit  erheblichen  sozialen,  okonomischen  und  okologi- 
schen  Folgeschaden,  wie  sie  Hans  Wilhelm  Eckardt  1976  mit  Blick  auf  die  Zeit  vom  17. 
bis  zum  19.  Jahrhundert  vorgelegt  hat  („Herrschaftliche  Jagd,  bauerliche  Not  und  biir- 
gerliche  Kritik.  Zur  Geschichte  der  fiirstlichen  und  adligen Jagdprivilegien  vornehmlich 
im  siidwestdeutschen  Raum")  und  die  wohl  bis  heute  vonjagern  als  Angriff  auf  die  eige- 
ne  Passion  empfunden  wird:  ein  schones  Beispiel  fur  die  Wirkungsgeschichte  einerkriti- 
schen,  von  den  Rezipienten  stets  aufs  Neue  aktualisierten  geschichtswissenschaftlichen 
Grundlagenarbeit. 

Die  iibrigen  Autoren  tragen  aus  ihren  speziellen  Interessengebieten  zum  Gesamtthe- 
ma  bei:  Lutz  Kriiger  skizziert  den  Weg  derjagdrechtsgeschichte  vom  mittelalterlichen 
Jagdregal  zur  biirgerlichen  Jagd,  Norbert  Steinau  widmet  sich  der  Hofjagd  im  Fiirsten- 
tum  Liineburg  im  17.  und  18.  Jahrhundert.  Forst-  und  Jagduniformen  im  Konigreich 
Hannover  stellt  Gerhard  GroBe  Loscher  vor,  derselbe  Autor  beschaftigt  sich  auch  spezi- 
ell  mit  dem  „Hirschfanger  zur  koniglich  hannoverschen  Jagd-  und  Forstuniform".  Aus- 
kunft  iiber  das  „Jagdhorn  in  der  Heide"  gibt  Georg  Volquardts,  der  auch  die  Lebensbil- 
der  der  beiden  Forstmannerjohann  Christian  von  During  d.  A.  und  d.  J.  vorstellt,  wah- 
rend  Heinrich  Uhde  die  „Geschichte  des  Jagdhundewesens  in  der  Liineburger  Heide" 
nachzeichnet.  Einen  informativen  Beitrag  zu  einer  heute  fast  vergessenen  Jagdart,  dem 
Entenfang  in  groBen,  eigens  dazu  hergerichteten  Anlagen,  liefert  Rainer  Voss.  Anhand 
alter  Karten  und  moderner  Luftaufnahmen  kann  er  anschaulich  die  historische  Bedeu- 
tung  und  den  jetzigen  Zustand  der  letzten  heute  noch  museal  erhaltenen  Entenfang-An- 
lage  bei  Celle  als  Element  der  Kulturlandschaft  darlegen.  Einen  Uberblickzu  den  erhal- 
tenen Jagddenkmalern  im  Raum  Celle,  bei  denen  es  sich  uberwiegend  um  Tierdenkma- 
ler  und  Gedenksteine  fur  Forster  handelt,  die  durch  Wilderer  ermordet  wurden,  liefert 
Kathrin  Panne.  Mit  „Hermann  Lons  als  kritischer  Jager"  befasst  sich  Hans  Schonecke, 
dessen  Beitrag  zum  groBten  Teil  aus  Lons-Zitaten  besteht.  Als  Fazit  gewinnt  er  die  Ein- 
sicht,  dass  „der  Jager  Lons  in  der  heutigen  Zeit  auf  die  meisten  Mitjager  sicherlich  ein 
wenig  stolz  ware"  und  „ihn  der  zum  Teil  starke  Bestandsruckgang  bei  den  Hasen,  Reb- 
hiihnern  und  besonders  Birkhiihnern  sehr  bedenklich  stimmen  wiirde". 

Den  groBten  Teil  des  Sammelbandes  bestreitet  Jiirgen  Delfs,  Forstdirektor  und  ehe- 
maliger  Leiter  des  Niedersachsischen  Forstamtes  Knesebeck.  In  seinen  vier  Beitragen 
befasst  er  sich  kenntnisreich  und  detailliert  mit  den  verschiedenen  Jagdarten,  mitjagd- 
diensten  und  Jagdfronden,  mit  Wolfen  und  ihrer  Bejagung  sowie  mit  „Wilderer[n]  aus 
Not,  Habgierund  Leidenschaft".  Sein  Beitrag  „W6lfe  -  verteufeltund  verkannt"  entlehnt 
den  Titel  der  von  Gabriella  Machini-Warnecke  gestaltete  Publikation  des  Museumsdorfs 
Hosseringen  von  2005  („Auf  Isegrimms  Spuren.  Der  Wolf:  verfolgt  -  verteufelt  -  ver- 
kannt") und  greift  zum  Teil  auch  auf  deren  Bildmaterial  zuriick.  Bei  den  von  Delfs  zitier- 
ten  friihneuzeitlichen  Archivalien  konnte  es  fur  den  Leser  ebenso  wie  fur  die  Archivare 
des  Niedersachsischen  Landesarchivs  aufschlussreich  sein  zu  erfahren,  welche  Proveni- 
enz  und  welcher  Aufbewahrungsort  sich  hinter  der  Angabe  „Nds.  Forstamt  Knesebeck, 
unverzeichnete  Akten"  verbergen. 


530  Besprechungen 

Insgesamt  wird  der  schon  gestaltete  und  ansprechend  bebilderte  Band  seinem  An- 
spruch  gerecht,  einen  ersten  Uberblick  zum  Themajagd  in  der  Liineburger  Heide  zu  ge- 
ben  und  „keine  vollstandige,  alle  Themenbereiche  abdeckende  Jagdgeschichte"  bieten 
zu  wollen.  Ein  breitgestreuter,  jagdgeschichtlich  interessierter  Leserkreis  wird  darin 
manche  Anregung  finden. 

Hannover  Gerd  van  den  Heuvel 


Voigt,  Vanessa-Maria:  Kunsthandler  und  Sammler  der  Moderne  im  Nationalsozialismus.  Die 
Sammlung  Sprengel  1934  bis  1945.  Berlin:  Reimer  Verlag  2007.  331  S.  Abb.  =  Spren- 
gel-Museum  Hannover  -  Materialien  zur  Kunst  des  20.  Jahrhunderts.  Geb.  49,-  €. 

Vanessa-Maria  Voigt  legt  mit  ihrer  am  Lehrstuhl  von  Prof.  Dr.  Sebastian  Schiitze  an 
der  Universitat  Munster  abgeschlossenen  Dissertation  eine  Studie  vor,  die  die  Vernet- 
zung  zwischen  Sammlern,  Kunsthandlern  und  als  ,entartet'  verfemten  Kiinstlern  im 
Dritten  Reich  aufzeigt.  Zu  diesem  Thema  sind  aufgrund  der  von  privater  wie  offizieller 
Seite  erfolgten  Recherchen  nach  dem  Verbleib  der  durch  das  nationalsozialistische 
Regime  beschlagnahmten  Kunstwerke  dieser  Kiinstler  in  den  letzten  Jahren  mehrere 
regional-  oder  personenbezogene  Pionierarbeiten  verfasst  worden,  die  sie  in  ihrer  Ein- 
leitung  auffuhrt  und  als  Matrix  fur  ihre  Studie  heranzieht.  Die  folgende  Kurzbiogra- 
phie  zur  Familie  Sprengel  beruht  im  Wesentlichen  auf  der  Schrift  zum  lOOjahrigen 
Jubilaum  der  Firma  Sprengel  von  Friedrich  Euler  aus  dem  Jahr  1951.  Die  Hauptkapitel 
zum  Aufbau  der  Sammlung  und  zur  Ankaufspolitik  beruhen  auf  Voigts  fruherer  Tatig- 
keit  im  Sprengel-Museum,  bei  der  sie  die  Provenienz  der  Sammlung  Sprengel  derjahre 
1934  bis  1945  zu  klaren  versucht  hat,  und  ihrer  Magisterarbeit  zum  Verhaltnis  zwi- 
schen den  Familien  Sprengel  und  Nolde.  Zum  ersten  Thema  ist  bereits  ein  grundlegen- 
der  Aufsatz  von  Ulrich  Krempel,  dem  Leiter  des  Sprengel-Museums,  erschienen,  zum 
zweiten  Thema  einer  von  Marcus  Heinzelmann,  beide  im  Katalog  zur  Nolde-Ausstel- 
lung  in  Hannover  1999  publiziert.  Frau  Voigt  versteht  es,  ausgehend  von  den  Kontak- 
ten  der  Sprengels  mit  einzelnen  Kiinstlern,  Kunsthandlern  und  Sammlern  den  Aufbau 
der  Sammlung  detailliert  zu  rekonstruieren.  Ein  Werkverzeichnis  im  Anhang  schafft 
den  notigen  Uberblick,  zeigt  aber  auch  die  Liicken  auf.  Sie  strebt  allerdings  auch  nicht 
Vollstandigkeit  an,  sondern  konzentriert  sich  auf  die  wesentlichen  Kontaktpersonen 
und  schildert  minutios  deren  Werdegang  wahrend  des  Dritten  Reichs,  vor  allem  auf- 
grund autobiographischer  und  biographischer  Notizen  sowie  von  Interviews  mit  Fa- 
milienangehorigen.  In  der  Zusammentragung  dieser  untereinander  vernetzten  Einzel- 
biographien  liegt  die  Starke  dieser  Dissertation.  Sie  verlasst  sich  allerdings  in  ihren 
Ausfiihrungen  und  Ergebnissen  durch  ihre  Konzentration  auf  personliche  Zeugnisse 
weitgehend  auf  die  problematische  Sicht  der  Betroffenen.  AuBer  der  Korrespondenz 
betroffenen  Personen  werden  nur  in  seltenen  Fallen  (die  Unterkapitel  zu  Hildebrand 
Gurlitt,  Karl  Edgar  Lehmann  und  Max  Rudenberg)  andere  Archivalien  in  groBerem 
Umfang  herangezogen.  Auf  die  Uberlieferung  staatlicher  Einrichtungen,  der  NSDAP 
oder  von  Verbanden  auf  zentraler  wie  lokaler  Ebene  wurde  nicht  zuriickgegriffen.  So 
werden  die  staatlichen  Rahmenbedingungen  des  ,Kunstmarkts'  der  Zeit  ebenso  wenig 
wie  die  Entwicklung  der  Firma  Sprengel  als  wirtschaftliche  Basis  des  Aufbaus  der 
Sammlung  Sprengel  diskutiert.  Eine  neue  Erkenntnis  ihrer  Dissertation  ist,  dass  die 


Geschichte  einzelner  Landesteile  und  Orte  531 

Sprengels  trotz  aller  gegenteiligen  Behauptungen  offenbar  bereits  kurz  vor  ihrem  Be- 
such  der  beriihmten  Ausstellung  in  Miinchen  iiber  ,entartete  Kunst'  im  November  1937 
anfingen,  moderne  Kunst  zu  kaufen  (S.  47).  Nur  in  wenigen  Fallen  scheinen  allerdings 
auBer  der  privaten  Korrespondenz  Sprengels  Archivalien  anderer  Quellenbestande  di- 
rekt  herangezogen  worden  zu  sein.  Viele  Archivalien  zitiert  sie  nach  der  Literatur  (z.  B. 
das  Beckmann-Archiv  in  Miinchen  oder  das  Archiv  des  Landschaftsverbandes  Rhein- 
land  in  Bonn  oder  die  National  Archives  in  Washington).  Im  Quellenverzeichnis  ist 
zwar  eine  beeindruckende  Liste  der  konsultierten  Archive  aufgefiihrt,  doch  bezeich- 
nenderweise  nur  die  Namen  der  Archive  ohne  Hinweis  auf  die  darin  benutzten  Quel- 
lenbestande oder  gar  auf  die  Quellen  selbst.  So  muss  man  miihsam  anhand  der  Anmer- 
kungen  rekonstruieren,  woher  ihre  Erkenntnisse  im  Einzelnen  stammen.  Im  Resumee 
stellt  sie  richtig  den  Zwiespalt  in  der  Bewertung  des  Mazenatentums  von  Sprengel  her- 
aus.  Einerseits  schutzte  er  mit  dem  Aufbau  seiner  Sammlung  moderner  Kunst,  die  als 
einzige  erst  im  Verlauf  des  nationalsozialistischen  Regimes  entstand,  zwar  viele  Werke 
vor  ihrem  Ausverkauf  ins  Ausland  und  trug  erfolgreich  dazu  bei,  einen  privaten  Markt 
fur  diese  Kunst  im  Dritten  Reich  am  Leben  zu  halten.  Andererseits  ist  nicht  zu  bestrei- 
ten,  dass  Sprengel  von  der  Notsituation  vieler  Kiinstler,  Kunsthandler  und  Sammler  be- 
wusst  profitierte,  die  Werke  zu  auBerst  giinstigen  Konditionen  erwarb  und  damit  den 
Grundstein  zu  seinem  Ruhm  als  Kunstmazen  legte. 

Stade  Thomas  Bardelle 


GESCHICHTE  EINZELNER  LANDESTEILE 
UND  ORTE 


GeschichtsLandschaft  Emsland/Bentheim.  Tagung  zum  25-ja.hrigen  Bestehen  des  Arbeits- 
kreises  Geschichte  der  Emslandischen  Landschaft  fur  die  Landkreise  Emsland  und 
Grafschaft  Bentheim  (1981-2006)  am  3.  November  2006.  Hrsg.  von  Birgit  Kehne.  So- 
gel:  Verlag  der  Emslandischen  Landschaft  e.V.  2007.  119  S.  Abb.  =  Emsland/Bent- 
heim. Beitrage  zur  Geschichte  Bd.  19.  Geb.  12,70  €. 

Imjahr  1981  entstand  auf  Initiative  des  ehemaligen  Osnabriicker  Staatsarchivdirektors 
Theodor  Penners  der  Arbeitskreis  Emsland  /Bentheim  als  lose  Vereinigung  verschiede- 
ner  an  der  Geschichte  des  Emslandes  und  der  Grafschaft  Bentheim  interessierter  Archi- 
vare,  Historiker  und  Lehrer.  Ziel  der  Griindung  des  Arbeitskreises  war  die  „Initiierung 
und  Forderung  landeskundlicher  und  regionalgeschichtlicher  Forschung"  zur  Geschich- 
te der  beiden  bis  dahin  von  der  allgemeinen  Landesgeschichte  eher  als  nachrangig  ange- 
sehenen  Landkreise  (Geleit  S.  7). 

In  den  25Jahren  seines  Bestehens  konnte  der  Arbeitskreis  die  Zahl  seiner  Mitarbeiter 
auf  inzwischen  iiber  50  verdoppeln.  Markantestes  Produkt  seiner  Tatigkeit  ist  die  1985 
begonnene  Schriftenreihe  „Emsland/ Bentheim.  Beitrage  zur  [bis  1986:  neueren]  Ge- 


532  Besprechungen 

schichte".  Diese  Veroffentlichungsreihe  war  zunachst  zur  Presentation  von  Forschungen 
zur  Geschichte  des  19.  und  20.  Jahrhunderts  gedacht,  wo  man  die  groBten  Forschungs- 
defizite  festgestellt  hatte,  wurde  aber  schon  bald  auch  fiir  mittelalterliche  und  fruhneu- 
zeitliche  Themen  geoffnet.  Aus  Anlass  des  25-jahrigen  Bestehens  des  Arbeitskreises 
wurde  am  3.  November  2006  in  Meppen  eine  Tagung  zum  Thema  „GeschichtsLand- 
schaft  Emsland/Bentheim"  durchgefuhrt.  Die  hier  zu  besprechende  Publikation  -  Band 
19  der  genannten  Schriftenreihe  des  Arbeitskreises  -  prasentiert  die  Beitrage  dieser  Ju- 
bilaumstagung  einem  breiten  Publikum.  Eingeleitet  wird  der  Band  durch  ein  Geleitwort 
des  Prasidenten  der  Emslandischen  Landschaft,  Hermann  Broring,  eine  Vorbemerkung 
von  Heinrich  Voort  und  eine  Einfiihrung  der  Herausgeberin  Birgit  Kehne  (S.  7-12). 

Peter  Johanek  wirft  mit  seinem  Beitrag  iiber  die  Erforschung  der  „Landesgeschichte 
in  Nordwestdeutschland"  den  Blick  aus  Westfalen  auf  Niedersachsen  und  liefert  einen 
Uberblick  iiber  Grundlagen  und  Entwicklung  der  landesgeschichtlichen  Forschung  in 
Deutschland  mit  besonderem  Augenmerk  auf  den  deutschen  Nordwesten,  iiber  die  Or- 
ganisation landesgeschichtlicher  Forschung  durch  die  Bildung  von  Geschichtsvereinen 
im  Lauf  des  19.  Jahrhunderts  und  ihre  Professionalisierung  durch  die  Entstehung  der 
Historischen  Kommissionen  in  der  Zeit  um  1900  (S.  13-34).  Gerd  Steinwascher  gibt  in 
seinem  Beitrag  „Das  Emsland  -  Annaherungen  an  eine  Region"  (S.  35-45)  einen  fun- 
dierten  Uberblick  iiber  die  1000-jahrige  Geschichte  der  Landschaft  an  der  Ems  zwi- 
schen  Rheine  und  Papenburg.  Er  ruft  dabei  ins  Bewusstsein,  dass  sich  „die  Identitat  stif- 
tenden  Entwicklungslinien"  fiir  das  heutige  Emsland  „in  der  Vergangenheit  schnell  ver- 
lieren"  (S.  37).  Im  Mittelalter  stellte  der  heutige  Landkreis  Emsland  weder  in 
siedlungsgeschichtlicher  noch  in  kirchenorganisatorischer  Hinsicht  eine  Einheit  dar. 
Territorial  gehorte  das  Gebiet  des  heutigen  Kreises  sogar  bis  zum  Ausgang  des  Ancien 
Regimes  zu  unterschiedlichen  Landesherrschaften.  Identitatsstiftende  Faktoren  wie  et- 
wa  das  iiberwiegend  katholische  Bekenntnis  der  Bevolkerung  bildeten  sich  erst  nach 
und  nach  heraus. 

Peter  Veddeler  iiberpriift  in  seinem  Aufsatz  „Dichtung  und  Wahrheit  -  Die  mittelal- 
terlichen  Grafen  von  Bentheim  in  der  Geschichte"  (S.  47-51)  die  von  den  Historiogra- 
phen  des  18.  und  19.  Jahrhunderts  gelieferten  Informationen  iiber  die  Grafen  von  Bent- 
heim im  Mittelalter  anhand  der  zeitgenossischen  Quellen.  Der  zentrale  Befund  Vedde- 
lers  besteht  in  der  entschiedenen  Feststellung,  dass  es  „Grafen  von  Bentheim  vor  der 
zweiten  Halfte  des  12.  Jahrhunderts  eben  noch  nicht  gegeben  hat"  (S.  51). 

Andreas  Eiynck  beschaftigt  sich  in  seinem  Beitrag  „Das  Emsland  und  die  Grafschaft 
Bentheim  als  historischer  Grenzraum"  (S.  53-100)  mit  der  wechselvollen  Geschichte  der 
deutsch-niederlandischen  Grenze  vom  Hochmittelalter  bis  zur  Gegenwart.  Eine  bemer- 
kenswerte  Kuriositat  stellen  dabei  die  „Hauser  auf  der  Grenze"  dar,  zwei  Hofe  in 
Haddorf  und  in  Brecklenkamp,  auf  denen  -  historisch  bedingt  -  die  heutige  Staatsgren- 
ze  zwischen  der  Bundesrepublik  und  den  Niederlanden  mitten  durch  die  Wohnhauser 
verlauft(S.  59 f.). 

Hans-Georg  Aschoff  geht  derFrage  nach,  ob  „Ludwig  Windthorst  ,klerikal'  und  ,ultra- 
montan'"  war  (S.  101-110).  Diese  beiden  Attribute  waren  zu  Windthorsts  Zeiten  (1812- 
1891)  durchaus  negativ  besetzt  und  wurden  von  seinen  politischen  Gegnern  gezielt  zur 
Diskreditierung  der  Zentrumspartei,  deren  fiihrender  Reprasentant  er  war,  eingesetzt. 
Am  Beispiel  der  Beilegung  des  Kulturkampfes  kann  Aschoff  aufzeigen,  dass  Windthorst 
sich  keineswegs  von  der  romischen  Kurie  zu  faulen  Kompromissen  notigen  lieBen, 
mithin  also  keineswegs  als  „ultramontan"  oder  „klerikal"  bezeichnet  werden  kann. 


Geschichte  einzelner  Landesteile  und  Orte  533 

Heiner  Schiipp  stellt  mit  der  Kreisbeschreibung  des  Landkreises  Emsland  ein  ehrgei- 
ziges,  imjahr2002  zum  erfolgreichen  Abschluss  gebrachtes  Projekt  vor  (S.  111-119).  Das 
25-jahrige  Bestehen  des  1977  aus  der  Zusammenlegung  der  Altkreise  Aschendorf- 
Hummling,  Meppen  und  Lingen  hervorgegangen  Landkreises  diente  als  Anlass,  „in  ei- 
ner  landeskundlichen  Beschreibung  des  Landkreises  Emsland  eine  Bestandsaufnahme 
anzugehen".  62  Autoren  aus  Wissenschaft,  Bildung  und  Verwaltung  -  darunter  viele 
Mitarbeiter  des  Arbeitskreises  Emsland/Bentheim  -  haben  schlieBlich  dazu  beigetra- 
gen,  dass  ein  eindrucksvoller  Band  mit  Vorbildcharakter  fiir  ahnliche  Projekte  anderer 
Landkreise  vorgelegt  werden  konnte. 

Der  Arbeitskreis  Geschichte  in  der  Emslandischen  Landschaft  hatte  alien  Grund, 
sein  25-jahriges  erfolgreiches  Bestehen  gebiihrend  mit  einer  wissenschaftlichen  Tagung 
zu  feiern.  Es  bleibt  zu  wiinschen,  dass  der  Tagungsband  mit  seinen  interessanten  Beitra- 
gen  weitere  Kreise  fiir  die  Beschaftigung  mit  der  emslandisch-bentheimischen  Ge- 
schichte begeistert. 

Hannover  Christian  Hoffmann 


Die Lehnregister  der Herrschaften  Everstein  und Homburg.  Erganztum  einige  weitere  register- 
formige  Quellenstiicke  aus  dem  spaten  Mittelalter.  Bearb.  von  Uwe  Ohainski.  Biele- 
feld: Verlag  fiir  Regionalgeschichte  2008.  184  S.  =  Gottinger  Forschungen  zur  Lan- 
desgeschichte  Bd.  13.  Kart.  19,-  €. 

Der  Herausgeber  teilt  wesentliche  Quellen  zu  zwei  fiir  den  siidniedersachsischen  Raum 
nicht  unbedeutenden  Herrschaften  mit,  die  bereits  vor  ihrem  Ubergang  an  die  Welfen 
(1409)  deutliche  Ansatze  zur  Landesherrschaft  entwickelt  hatten.  Sie  gehoren  zugleich 
zu  den  wenigen  Herrschaften  an  den  Grenzen  zu  den  welfischen  Territorien,  die  verhalt- 
nismaBig  lange  ihre  Eigenstandigkeit  behaupten  konnten.  Gerade  im  Hinblick  auf  die 
entstehenden  Landesherrschaften  sind  die  Lehnregister  von  einiger  Bedeutung,  weil, 
wie  erst  jiingst  Friedhelm  Biermann  (Der  Weserraum  in  hohen  und  spaten  Mittelalter, 
Bielefeld  2007)  nochmals  deutlich  gezeigt  hat,  die  Lehnsbindungen  fiir  die  Entwicklung 
von  Landesherrschaft  von  einiger  Bedeutung  waren.  Sie  zeigen  die  vielfaltigen  Verflech- 
tungen  von  Gruppen  und  Personen  in  der  Region  und  verweisen  somit  auch  (wenn- 
gleich  nicht  zwingend)  auf  den  fiir  die  avisierte  Landesherrschaft  relevanten  Raum. 

Die  meisten  Uberlieferungstrager  der  mitgeteilten  Stiicke  sind  1943  im  Staatsarchiv 
Hannover  bei  einem  Luftangriff  verbrannt.  Die  Lehnregister  selbst  waren  also  zum 
groBten  Teil  verloren,  hatte  sie  nicht  bereits  1921  Georg  Schnath  transkribiert.  Die  meis- 
ten Originale  lagen  aber  auch  Schnath  nicht  mehr  vor.  Seine  Abschriften  fertigte  er 
selbst  zumeist  auf  der  Basis  der  welfischen  Uberlieferung  der  Lehnregister.  Fiir  den  Her- 
ausgeber ist  das  eine  schwierige  Situation.  Was  gibt  er  eigentlich  heraus,  den  (vermeint- 
lich)  originalen  Text,  die  welfische  Uberlieferung  oder  den  Text  von  Schnath?  Da  er  sich 
aber  gegen  eine  eigentliche  Edition  entschied,  konnte  er  dieses  Problem  in  gewisser  Wei- 
se  umgehen.  Er  teilt  folglich  die  Abschriften  von  Schnath  mit,  die  dieserwohl  bereits  im 
Hinblick  auf  eine  spatere  Drucklegung  bereits  mit  einem  Kommentar  versehen  hatte.  So 
bleibt  fiir  die  meisten  Stiicke  ein  (unausraumbarer  aber  vertretbarer)  Vorbehalt  gegen- 
iiber  der  Authentizitat. 


534  Besprechungen 

Die  Entscheidung,  die  Stiicke  dennoch  mitzuteilen  und  mit  getrennten  Orts-  und  Per- 
sonenregister  versehen  in  Buchform  erscheinen  zu  lassen,  ist  zu  begriiBen,  vor  allem  in 
so  ansprechender  und  kompakter  Form. 

Paderborn  Jiirgen  Strothmann 


Casemir,  Kirsten  und  Uwe  Ohainski:  Die  Ortsnamen  des  Landkreises  Holzminden.  Nebst 
einem  Anhang  der  archaologisch  lokalisierten  Wiistungen  und  Burgen  sowie  weiterer 
Siedlungsstellen  von  Detlef  Creydt  und  Christian  Leiber.  Bielefeld:  Verlag  fur 
Regionalgeschichte  2007.  305  S.  Kt.  =  Niedersachsisches  Ortsnamenbuch  Teil  6; 
Veroff.  des  Instituts  fiir  Historische  Landesforschung  der  Universitat  Gottingen 
Bd.  51.  Geb.  34,-€. 

Das  erklarte  Ziel  des  Niedersachsischen  Ortsnamenbuches,  „auf  der  Grundlage  der  heu- 
tigen  Landkreise  und  kreisfreien  Stadte  flachendeckend  samtliche  niedersachsischen 
Ortsnamen  zu  erfassen  und  zu  deuten",  verfolgen  die  Mitarbeiterinnen  und  Mitarbeiter 
des  Instituts  fiir  historische  Landesforschung  der  Universitat  Gottingen  mit  steter  Publi- 
kationsdisziplin.  Sie  konnen  nunmehr  nicht  nur  auf  eine  kontinuierliche  Leistung,  son- 
dern  auch  auf  das  Erreichen  eines  ersten  Etappenzieles  verweisen:  Nach  der  Vorlage  der 
Bande  zu  den  Ortsnamen  der  Landkreise  Osterode  (2000),  Gottingen  (2003)  und  Nort- 
heim  (2005)  ist  mit  dem  vorliegenden  sechsten  Band  des  Niedersachsischen  Ortsnamen- 
buches zu  den  Ortnamen  des  Landkreises  Holzminden  die  Erfassung  des  historischen 
Siedlungsnamenbestandes  Siidniedersachsen  abgeschlossen.  Damit  sind  alle  in  den 
Schriftquellen  belegbaren  1200  bestehenden  oder  ausgegangenen  Orte  auf  einer  Ge- 
samtflache  von  3772  km2  erfasst.  Daruberhinaus  liegen  zwei  weitere  Bande  zu  den  Orts- 
namen des  Landkreises  und  der  Stadt  Hannover  (1998)  sowie  des  Landkreises  Wolfen- 
biittel  und  der  Stadt  Salzgitter  (2003)  vor.  Auch  wenn  damit  erst  fiir  sechs  der  insgesamt 
37  Landkreise  und  zwei  der  insgesamt  acht  kreisfreien  Stadte  des  Bundeslandes  Nie- 
dersachsen  eine  Bearbeitung  der  historischen  Siedlungsnamen  vorliegt,  ist  dem  Ge- 
samtprojekt  fiir  das  ziigige  Voranschreiten  bei  Wahrung  eines  hohen  Qualitatsniveaus 
hochster  Respekt  zu  zollen.  Nicht  unerwahnt  bleiben  soil,  dass  die  Anlage  des  Nieder- 
sachsischen Ortsnamenbuches  Vorbildfunktion  fiir  das  Projekt  „Ortsnamen  zwischen 
Rhein  und  Elbe  -  Onomastik  im  europaischen  Raum"  und  fiir  das  neu  begriindete  Orts- 
namenbuches von  Sachsen-Anhalt  besitzt. 

Die  Bearbeitung  des  Landkreises  Holzminden  fiigt  sich  im  Wesentlichen  in  das  in 
den  vorangegangenen  Banden  bewahrte,  im  Niedersachsischenjahrbuch  (Bd.  28,  2006, 
S.  422f.)  bereits  vorgestellte  Schema.  Einzige  Neuerung  ist  die  Diskussion  derBelegent- 
wicklung,  die  aus  Punkt  I  (Quellenkritische  Angaben)  in  Punkt  III  (Eigene  Deutung)  ver- 
schoben  wurde,  um  sie  und  die  Etymologie  zusammenhangend  darzustellen.  Zudem 
wird  im  Anhang  von  Detlef  Creydt  und  Christian  Leiber  eine  Zusammenstellung  der  ar- 
chaologisch lokalisierten  Wiistungen  und  Burgen  sowie  weiterer  Siedlungsstellen  gebo- 
ten.  Dies  gehort  zwar  streng  genommen  nicht  zu  den  nach  den  Arbeitsrichtlinien  eines 
Ortsnamenbuches  zu  erhebenden  Nachweisen  und  Informationen,  stellt  aber  fiir  den 
Benutzer  sicher  eine  wertvolle  Erganzung  dar.  Zugleich  dokumentiert  sich  auf  diese 
Weise  die  fruchtbare  Zusammenarbeit  des  Instituts  fiir  historische  Landesforschung  mit 


Geschichte  einzelner  Landesteile  und  Orte  535 

dem  Heimat-  und  Geschichtsvereins  fur  Landkreis  und  Stadt  Holzminden,  der  den 
Band  ebenfalls  in  seine  Schriftenreihe  (Nr.  11)  aufgenommen  hat. 

Beginnend  mit  f  Ackenhusen  und  endend  mit  f  Wockensen  sind  insgesamt  189  Lem- 
mata erfasst,  in  71  Fallen  noch  bestehende  Orte,  in  118  Fallen  Wiistungen  bzw.  tempora- 
re  Wiistungen.  Wie  schon  bei  den  Ortsnamen  des  Landkreises  Northeim  stellen  die  Na- 
men  auf  -husen  sowie  die  des  speziellen  Bildungstyps  -inge-husen  mit  Abstand  die  groBte 
Ortsnamengruppe  dar.  Die  zweitgroBte  Ortsnamengruppe  bilden  die  -Aagra-Namen. 
Immer  noch  haufig,  aber  insgesamt  seltener  begegnen  wiederum  Ortsnamen  mit  den 
Grundwortern  -bekeuxid  -born.  Anders  als  in  den  Kreisen  Gottingen  und  Northeim  aber 
umfasst  die  Gruppe  der  -rode-Namen  im  Kreis  Holzminden  prozentual  weitaus  weniger 
Orte.  Von  diesen  Befunden  lassen  sich  unschwer  mit  entsprechender  kartographischer 
Darstellung  kreis-  und  regioniibergreifend  relative  Altersschichtungen  und  die  Bezie- 
hungen  der  Gruppen  untereinander  ableiten. 

Nachdriicklich  kann  man  den  Band  zu  den  Ortsnamen  des  Landkreises  Holzminden 
des  Niedersachsischen  Ortsnamenbuches  alien  landeskundlich  interessierten  Lesern 
empfehlen  und  erneut  dem  Gesamtprojekt  anhaltend  langen  Atem  bei  der  Erfassung  des 
historischen  Siedlungsnamensbestandes  weiterer  Landkreise  wiinschen.  Mit  freudiger 
Erwartung  darf  man  dabei  dem  Erscheinen  derbereits  in  Bearbeitungbzw.  in  Vorberei- 
tung  befindlichen  Bande  zu  den  Ortsnamen  des  Landkreises  Helmstedt  und  der  Stadt 
Wolfsburg  sowie  des  Landkreises  Goslar,  der  Stadt  Braunschweig  und  des  Landkreises 
Hildesheim  entgegensehen. 

Marburg  Ulrich  Ritzerfeld 


Neubert-Preine,  Thorsten:  Die  Rittergiiter  der Hoya-Diepholz'schen  Landschaft.  Mit  Beitra- 
gen  von  Hilmar  Hieronymus  Freiherr  von  Munchhausen  und  Jiirgen  Stegemann. 
Nienburg:  Hoya-Diepholz'sche  Landschaft  2006.  473  S.  Abb.,  Kt.  Geb.  39,90  €. 

Der  vorliegende  Band  entstand  im  Auftrag  der  Hoya-Diepholz'schen  Landschaft,  einer 
Korporation,  welche  die  einst  getrennt  organisierten  Landschaften  der  beiden  vormali- 
gen  Grafschaften  seit  den  letzten  Jahren  des  Konigreichs  Hannover  vereint.  Verf. 
scheint  als  ehemaliger  Assistent  von  Bernd  Ulrich  Hucker  (Universitat  Vechta)  mit  der 
untersuchten  Region  gut  vertraut,  auf  dessen  zahlreichen  Arbeiten  zur  Geschichte  der 
beiden  Grafschaften  er  aufbaut.  Daneben  stiitzt  er  sich  im  Wesentlichen  auf  das  Archiv 
der  Landschaft  im  Hauptstaatsarchiv  Hannover  sowie  auf  Dokumente  aus  Privatbesitz. 
Verf.  untersucht  nicht  nur  die  38  aktiven  Mitglieder  der  Ritterschaft,  darunter  auch  das 
Damenstift  Bassum,  sondern  auch  die  ehemaligen,  insgesamt  also  um  120  Sitze.  Aus  ei- 
ner beigegebenen  Karte  geht  hervor,  wie  die  groBe  Mehrheit  der  Sitze  in  der  Grafschaft 
Hoya  liegt,  iiberwiegend  am  Lauf  der  Weser  sowie  als  Burgmannshofe  bei  den  landes- 
herrlichen  Burgen  (Nienburg,  Hoya,  Drakenburg),  andere  in  der  Grafschaft  Diepholz 
entsprechend  am  Lauf  der  Hunte. 

Die  einzelnen,  mit  Anmerkungen  versehenen  Artikel  folgen  einer  einheitlichen  Kon- 
zeption.  Dem  Versuch  etymologischer  Deutung  der  Ortsnamen  folgen  Angaben  zur 
Ersterwahnung  des  Ortes,  dann  zur  Besitzfolge  bis  in  die  Gegenwart,  wobei  Verf.  in  der 
Regel  die  Lebensdaten  auch  der  Ehepartner  mitteilt  -  insgesamt  eine  groBe  Fiille  von 
Personendaten  also,  die  auf  umfangreiche  Familienforschung  schlieBen  lassen  und  ge- 


536  Besprechungen 

wissen  Einblick  in  die  sozialen  Verhaltnisse  vermitteln.  Verf.  beschreibt  anschaulich  die 
diversen  Gutsanlagen  und  ihre  Wohnhauser,  ihre  baugeschichtliche  Qualitat  und  wiir- 
digt  die  denkmalgerechte  Pflege  der  Hauser  seitens  der  Besitzer.  Die  Artikel  sind  alpha- 
betisch  angeordnet.  Sie  bilden  sozusagen  ein  gutsgeschichtliches  Nachschlagewerk,  wo- 
bei  durch  die  Vereinzelung  gewisse  Zusammenhange  naturgemaB  weniger  sichtbar  wer- 
den,  zumal  eine  Zusammenfassung  der  wichtigsten  Ergebnisse  fehlt.  Auch  die  beiden 
Grafschaften  betrachtet  Verf.  ziemlich  isoliert.  Der  vergleichende  Blick  iiber  die  Gren- 
zen,  und  zwar  auf  die  beiden  mit  ahnlichen  Untersuchungen  schon  erschlossenen  Nach- 
barterritorien,  die  Fiirstentiimer  Osnabriick  (R.  von  dem  Bruch,  1930)  und  Minden 
(K.A.  Freiherr  von  der  Horst,  1894),  ware  hilfreich  gewesen.  Verband  die  beiden  Graf- 
schaften seit  dem  spaten  Mittelalter  mit  diesen  Nachbarn  doch  viele  strukturelle  Ge- 
meinsamkeiten:  Adel  und  Freie  als  Trager  der  Landstandschaft  in  gemeinsamer  Ritter- 
kurie,  subsidiares  weibliches  Erbrecht,  haufig  praktizierte  Privilegierung  eines  Meier- 
hofs  mit  dem  Recht  der  Landstandschaft  („landtagsfahiger  Meierhof"),  Verschiebung 
bzw.  Verkauf  von  Ritterstimmen,  haufiger  Besitzwechsel  durch  Verkauf.  Zu  besichtigen 
ist  somit  in  den  Grafschaften  Hoya  und  Diepholz  eine  erstaunlich  mobile  Welt  von  Adel 
und  Freien,  wie  sie  in  den  vom  Lehnrecht  gepragten  welfischen  Landen  nicht  bestand,  in 
die  sie  seit  dem  spaten  16.  Jh.  freilich  eingebunden  waren.  Als  Reprasentanten  des  alten 
einheimischen  Adels,  welche  die  Kontinuitat  noch  heute  vergegenwartigen,  nennt  Verf. 
die  von  Behr  auf  ihrem  Burgmannshof  in  Hoya,  einem  heute  unter  Landwirten  bekann- 
ten  Gutsbetrieb,  und  die  von  Miinchhausen  auf  dem  sog.  Freihof  in  Stolzenau.  Die  meis- 
ten  der  Hoyaer  Adelsfamilien,  so  ist  den  Artikeln  zu  entnehmen,  gaben  seit  dem  16.  Jh. 
ihren  zum  Teil  erheblichen  Grundbesitz  auf  (von  Klencke,  von  Frese)  oder  starben  aus 
(von  Hasbergen,  von  Weyhe,  von  Staffhorst).  An  ihre  Stelle  traten  Mitglieder  des  Adels 
aus  benachbarten  Furstentiimern  wie  die  von  Bothmer,  von  der  Decken  (Afrikafor- 
scher!),  von  Arenstorff,  von  Hardenberg  sowie  bemerkenswerterweise  die  Inhaber  von 
einheimischen  Meierhofen.  Zwar  taucht  fur  die  Adelssitze  der  iibliche  Begriff  „Sattel- 
hof"  auf  (gelegentlich  auch  „Edelhof",  deren  Inhaber  Verf.  falschlich  als  „Edelherren" 
bezeichnet,  S.  132  u.  152).  Man  findet  aber  nur  selten  Hinweise  auf  etwaige  daran  han- 
gende  grundherrliche  Rechte;  oft  ist  der  Blick  allein  auf  den  „Hof",  d.h.  auf  die  Eigen- 
wirtschaft  gerichtet,  wahrend  doch  Zehnteinkiinfte,  Abgaben  und  Hofzins  von  nachge- 
sessenen  Bauern  (in  Streulage  oderganzen  Dorfern)  im  allgemeinen  die  Haupteinkunfte 
eines  Rittersitzes  ausmachten.  Offensichtlich  war  dies  in  den  Grafschaften  aber  nur  sel- 
ten der  Fall.  Wie  man  den  Artikeln  entnehmen  kann,  waren  die  grundherrlichen  Rechte 
weniger  entwickelt  als  etwa  in  den  welfischen  Landen.  Die  strukturellen  Unterschiede 
zwischen  Adelssitz  und  Freiem  Meierhof  waren  somit  relativ  gering.  Ein  groBes  Ver- 
dienst  dieser  Arbeit  ist  die  Ermittlung  der  zahlreichen  Burgmannshofe,  welche  durch  ih- 
re besondere  Aufgabe  die  enge  Verbindung  von  Landesherr,  Adel,  Freien  und  Stadt 
bzw.  Flecken  vergegenwartigen.  Verf.  kann  zeigen,  wie  gerade  die  Burgmannshofe  lan- 
gerfristig  dem  Besitzwechsel  unterworfen  waren  und  wie  zahlreiche  Inhaber  von  Meier- 
hofen im  18.  und  19.  Jh.  den  Zugang  zur  Ritterschaft  durch  Erwerb  einer  solchen  Ritter- 
stimme  gewannen,  was,  wie  aus  mehreren  Artikeln  hervorgeht,  in  altererZeit  allein  auf 
entsprechendem  landesherrlichem  Privileg  beruht  hatte.  Das  Beispiel  Leeseringen  (1) 
zeigt,  dass  Freie  um  1600  nicht  unbedingt  die  Landstandschaft  erstrebten.  Die  unter- 
schiedlich  situierten  Meier  bezeichnet  Verf.  als  „Hofbesitzer"  (Grundherr,  S.  170),  „herr- 
schaftlicher  Dienstmeier",  „Hofmeier",  „leibeigener  Lehnsmeier"  -  sollten  es  wirklich 
Quellenbegriffe  sein,  bediirften  sie  der  Erlauterung.  Am  Beispiel  der  Familie  Stegemann 


Geschichte  einzelner  Landesteile  und  Orte  537 

kann  Verf.  sozialen  Aufstieg  zeigen,  wenn  der  Sohn  eines  Heuerlings  als  Pachter  des  von 
Sloensche  Guts  Dorpel  in  der  Grafschaft  Diepholz  das  Lehngut  Dorrieloh  (2)  in  der 
Grafschaft  Hoya  kaufte  und  1734  auch  seine  Landstandschaft  durchsetzte,  Ahnherr  des 
heutigen  Prasidenten  derLandschaft,Jiirgen  Stegemann  auf  Mehringen.  Als  eine  beson- 
dere  Gruppe  stellt  Verf.  die  „Siebenmeierh6fe"  der  Stiftskirche  Biicken  vor,  die  mit  im- 
merhin  begrenzten  Privilegien  die  Landtagsfahigkeit  in  der  friihen  Neuzeit  beanspruch- 
ten,  sie  aber  erst  im  Verlauf  des  19.  Jh.  zu  erlangen  vermochten. 

Mancher  Meier  bewirtschaftete  einen  groBeren  Besitz  als  der  eine  oder  andere  adlige 
Gutsbesitzer,  der  nicht  selten  Haus  und  Hof  verpachtete  (was  Verf.  stets  genau  ver- 
merkt) ,  etwa  weil  es  nur  ein  Nebensitz  war,  er  noch  andere  grundherrliche  Einkiinfte  ge- 
noss  bzw.  im  Fiirstendienst  stand.  Seitdem  die  beiden  Grafschaften  im  spaten  16.  Jh. 
zum  Furstentum  Luneburg  bzw.  spater  zu  Hannover  gehorten,  wird  eine  besondere 
Gruppe  beim  Erwerb  von  Rittergutern  sichtbar,  namlich  hohe  Beamte  der  Regierung  zu 
Celle  und  dann  Hannover,  wie  Kanzler  Hedemann,  Geheimrat  von  Fabrice  (dann  von 
Schwicheldt),  Kammerrat  von  Ramdohr  und  der  Schriftsteller  Basilius  von  Ramdohr, 
Hofmarschall  von  Malortie.  Ein  ebenfalls  mobiler  Bewohner  wird  noch  in  der  Mitte  des 
18.  Jh.  gemeldet,  der  Hausgeist  Hinzelmann  („Rintzelmann"  geht  wohl  auf  fehlerhafte 
Textvorlage  zuriick),  den  kiirzlich  Brage  Bei  der  Wieden  als  Zubehor  eines  Rittersitzes 
im  16.  Jh.  aspektreich  betrachtete  (in:  S.  Lesemann  (Hrsg.),  Stand  und  Representation, 
2004)  -  der  Kobold  nun  ein  Pendler  zwischen  dem  von  Freytag'schen  Gut  Estorf  und  sei- 
nem  Ursprungsort  Hudemuhlen  im  Luneburgischen.  Am  Beispiel  von  Eickhof  und  H6- 
nisch  kann  Verf.  zeigen,  wie  gegen  Ende  des  19.  Jh.  landwirtschaftliche  GroBbetriebe 
dank  stadtischen  Kapitals  gegriindet  wurden,  Eickhoff  (mitsamt  Liebenau)  durch  den 
Prasidenten  der  Eisenbahndirektion  Hannover,  der  den  Namen  des  Guts  annahm  und 
sich  damit  adeln  lieB  („von  Eickhof  gen.  Reitzenstein").  Das  Gut  Honisch  griindete  der 
Brennereibesitzer  Carl  Hesse  aus  Bremen  auf  Domanengut.  Auch  diese  Investoren  bzw. 
ihre  Nachkommen  engagierten  sich  in  der  Ritterschaft.  Dass  diese  Institution  seit  dem 
spaten  Mittelalter  einem  starken  Wandel  unterzogen  war,  lassen  die  Einzelartikel  des 
Bandes  indes  weitgehend  offen.  Der  fur  diese  Thematik  wichtige  Beitrag  von  Brigitte 
Streich  iiber  Hoya  und  Diepholz  im  Handbuch  der  niedersachsischen  Landtags-  und 
Standegeschichte  1500-1806  (2004)  konnte  leider  nicht  mehr  beriicksichtigt  werden.  Mit 
einem  eher  familien-  und  kulturgeschichtlichen  Ansatz  wollte  Verf.  den  „historischen 
Dornroschenschlaf"  der  Rittergiiterbeenden,  das  istihm  im  Interesse  von  Heimatfreun- 
den  und  Landeshistorikern  gelungen. 

Von  ihm  selbst  stammen  viele  schone  farbige  Fotos  von  der  AuBenansicht  der  Guts- 
hauser  sowie  baulicher  Details  (ein  Luftbild  zeigt  das  malerische  Rittergut,  welches  1975 
der  Fernsehstar  Rudi  Carrell  erwarb  und  komplett  renovierte).  Man  findet  Reminiszen- 
zen  der  Weserrenaissance,  allgemein  viel  Fachwerk  mit  oder  ohne  Mittelgiebel,  Walm- 
dach;  sog.  „Niedersachsenhaus"  (Verf.  vermeidet  den  Begriff  niedersachsisches  „Bau- 
ern"-Haus,  es  trifft  die  Sache  nicht)  -  in  den  Varianten  liegt  der  Reiz!  Eine  Zeittafel, 
Karten  und  ein  vorbildliches  Personenregister  sowie  Beitrage  von  Prasident  Stegemann 
und  nicht  zuletzt  Hilmar  Hieronymus  Freiherr  von  Munchhausen,  Motor  des  Unterneh- 
mens,  runden  das  gut  ausgestattete  Buch  ab. 

Rheden  Armgard  von  Reden-Dohna 


538  Besprechungen 

Przybilla,  Peter  (f) :  Die  Edelherren  von  Meinersen.  Genealogie,  Herrschaft  und  Besitz  vom 
12.  bis  zum  14.  Jahrhundert.  Aus  dem  Nachlass  hrsg.  von  Uwe  Ohainski  und  Gerhard 
Streich.  Hannover:  Verlag  Hahnsche  Buchhandlung  2007.  727  S.,  Kt.  =  Veroff.  der 
Historischen  Kommission  fiir  Niedersachsen  und  Bremen  Bd.  236.  Geb.  49,-  €. 

Die  Entstehung  des  vorliegenden  Bandes  ist  ungewohnlich.  Es  handelt  sich  hierbei  um 
eine  unvollendet  gebliebene  Dissertation  des  2001  verstorbenen  Historikers  Peter  Przy- 
billa aus  der  Gottinger  Schule  des  Hans  Goetting.  Die  Herausgeber,  Dr.  Gerhard  Streich 
und  Uwe  Ohainski  vom  Institut  fiir  Historische  Landesforschung  der  Universitat  Gottin- 
gen,  iibernahmen  die  Aufgabe,  das  Manuskript  im  Rahmen  der  Veroffentlichungen  der 
Historischen  Kommission  fiir  Niedersachsen  und  Bremen  fiir  den  Druck  vorzubereiten. 
Dabei  ging  es  ihnen  vor  allem  darum,  Przybilla  mit  all  seinen  Starken,  aber  auch  Schwa- 
chen,  so  weit  wie  moglich  im  Original  zu  belassen,  so  dass  die  Eingriffe  in  den  Text  letzt- 
lich  formaler  Natur  blieben  und  die  Publikation  mit  akzeptierbaren  Liicken  vorliegt.  Be- 
merkbar  wird  dies  u.a.  angesichts  der  verwendeten  Literatur,  die  bis  Anfang  der  90er 
Jahre  des  20.  Jahrhunderts  reicht,  als  Przybilla  die  Arbeit  an  den  „Edelherren  von  Mei- 
nersen" abbrach.  Die  Herausgeber  weisen  in  ihrem  Vorwort  auf  einige  seitdem  erschie- 
nene  einschlagige  Veroffentlichungen,  vor  allem  Urkundeneditionen,  die  der  Autor  si- 
cher  benutzt  hatte.  Allerdings  arbeitete  der  hilfswissenschaftlich  ausgebildete  Przybilla 
lieber  mit  den  Originalquellen. 

Die  weiteren  Liicken  des  Buches  betreffen  vor  allem  das  Kapitel  III  „Besitz  und  Herr- 
schaftselemente  der  Edelherren  von  Meinersen  seit  der  Zeit  vor  1 147  bis  zum  Jahr  1366", 
in  dem  die  drei  Unterkapitel  6-8  fehlen.  Das  Fehlen  kann  durch  die  beigefiigten  Karten 
(2,  3a,  3b,  9,  10),  die  nach  den  Entwiirfen  Przybillas  von  Uwe  Ohainski  angefertigt  wur- 
den,  aufgefangen  werden.  Mit  ihrer  Hilfe  kann  der  Leser  in  etwa  rekonstruieren,  was  der 
Autor  in  diesen  Kapiteln  darlegen  wollte.  Ferner  fehlen  die  Einleitung  und  die  Zusam- 
menfassung.  Neu  hinzugekommen  bzw.  verandert  wurden  zwei  Punkte,  einerseits  legt 
Uwe  Ohainski  eine  Neuedition  der  Meinersenschen  Lehensregister  vor  (S.  573-596),  an- 
dererseits  wurden  von  den  Herausgebern  die  Lokalisierungen  der  Ortlichkeiten  moder- 
nisiert  und  an  die  Verwaltungsgliederung  von  2006  angepasst.  Die  beigefiigten  Karten, 
Tabellen  und  Stammtafeln  wurden  nach  den  Entwiirfen  und  Skizzen  Przybillas  vorge- 
nommen  und  das  Buch  um  ein  Register  erganzt. 

Die  Untersuchung  beschaftigt  sich  mit  dem  bedeutenden  Adelsgeschlecht  der  Edel- 
herren von  Meinersen,  die  zwischen  1147  und  1390  im  nordlichen  Harzvorland  eine  ein- 
drucksvolle  Herrschaft  aufgebaut  haben.  Entsprechend  widmet  sich  das  erste  Kapitel 
der  Familie  „Genealogie  und  Verwandtschaft"  (S.  15-235),  in  dem  nicht  nur  alle  bekann- 
ten  Mitglieder  der  Familie  vorgestellt  werden,  sondern  auch  die  wahrscheinlichen  sowie 
das  Konubium.  Das  zweite  Kapitel,  „Die  Edelherren  von  Meinersen  von  ihren  Anfangen 
bis  zur  Aufgabe  der  Herrschaft  (1142-1353)"  (S.  237-374),  behandelt  die  Herkunft  der 
Edelherren;  letztendlich  geht  es  aber  um  ihre  politische  Stellung  und  ihr  Verhaltnis  zu 
den  benachbarten  Fiirsten,  den  Welfen  und  Bischofen  von  Hildesheim,  Halberstadt  und 
Magdeburg.  Das  dritte  Kapitel  untersucht  „Besitz  und  Herrschaftselemente  der  Edelher- 
ren von  Meinersen  seit  der  Zeit  vor  1147  bis  zum  Jahr  1366"  (S.  375-461).  Hier  wird  auch 
auf  die  beiden  sehr  friihen  Lehnsregister  (I:  1218/20,  II:  1278/80)  eingegangen  (S.  447- 
461),  deren  Neuedition  im  Anhang  3  vorliegt.  Daneben  umfassen  die  Anhange  noch  ein 
Besitzverzeichnis  (S.  463-547),  eine  Liste  der  Lehensleute  (S.  549-572)  sowie  eine  Editi- 
on von  „Quellen  zur  Fundation  und  Dotierung  der  Kapelle  und  der  Vikarie  St.  Anna  im 


Geschichte  einzelner  Landesteile  und  Orte  539 

Kreuzgang  des  Hildesheimer  Domes  durch  den  Domkantor  Bernhard  I.  von  Meinersen 
(t  1311)"  (S.  597-605).  Quellen-  und  Literaturlisten,  ein  ausfiihrliches  Personen-  und 
Ortsregister  sowie  Stammtafeln  und  Karten  beschlieBen  das  umfangreiche  und  „quel- 
lengesattigte"  (S.  10)  Werk. 

Das  vorliegende  Buch  iiber  die  Edelherren  von  Meinersen  verfolgt  sicherlich  nicht 
immer  die  modernsten  Fragestellungen  der  Adelsforschung,  kann  es  angesichts  seiner 
Entstehungsgeschichte  auch  gar  nicht,  bietet  aber  eine  solide  -  im  besten  Sinne  des  Wor- 
tes  -  Grundlage  fur  die  weitere  Beschaftigung  mit  dem  mittelalterlichem  Adel  des  Harz- 
vorlandes  und  des  weiteren  Umkreises,  seine  Verhaltnisse  zu  anderen  Geschlechtern 
und  geisdichen  Institutionen.  Bei  unterschiedlichsten  Fragen  zur  Landesgeschichte  Nie- 
dersachsens  im  Allgemeinen  und  des  Harzlandes  im  engeren  Raum  wird  man  kiinftig 
an  Przybilla  nicht  vorbeikommen  konnen. 

Gottingen  Nathalie  Kruppa 


Feme  Fursten.  Dasjeverland  in  Anhalt-Zerbster  Zeit.  Bd.  1:  Bibliophile  Kostbarkeiten: 
die  Bibliothek  der  Fursten  von  Anhalt-Zerbst  im  Schloss  zu  Jever  [Begleitband  zur 
gleichnamigen  Ausstellung  im  Schlossmuseum  Jever  vom  26.10.2003  bis  zum  28.3. 
2004].  Hrsg.  von  Antje  Sander  und  Egbert  Koolman.  Oldenburg:  Isensee  Verlag 
2003.  568  S.  Abb.,  graph.  Darst.  =  Kataloge  und  Schriften  des  Schlossmuseums  Jever 
H.  24;  Schriften  der  Landesbibliothek  Oldenburg  38.  Geb.  20,-  €.  -  Bd.  2:  Der  Hof, 
die  Stadt,  das  Land  [Begleitband  zur  gleichnamigen  Ausstellung  im  Schlossmuseum 
Jever  vom  26.10.2003  bis  zum  28.3.2004].  Hrsg.  von  Antje  Sander.  Oldenburg:  Isen- 
see Verlag  2004.  288  S.  Abb.  =  Kataloge  und  Schriften  des  Schlossmuseums  Jever 
H.  25.  Geb.  14,- €. 

Das  Schicksal  einer  Existenz  als  Nebenland  einer  mehr  oder  weniger  weit  entfernten 
Landesherrschaft  ist  bei  den  Vorgangerterritorien  des  heutigen  Bundeslandes  Nieder- 
sachsen  so  haufig  zu  finden,  dass  man  versucht  sein  konnte,  es  fur  einen  pragenden 
Grundzug  der  friihneuzeitlichen  niedersachsischen  Landesgeschichte  zu  halten.  In  der 
Reihe  der  davon  betroffenen  Territorien  (z.B.  Ostfriesland,  Oldenburg,  Bremen-Ver- 
den,  zeitweilig  Osnabriick,  auch  Kurhannover)  darf  dasjeverland  zweifellos  als  ein  be- 
sonders  eigenartiger  Fall  gelten:  hier  begann  die  „Fernherrschaft",  erwachsen  aus  der 
Abwehr  der  Herrschaftsanspriiche  der  Grafen  von  Ostfriesland  im  16.  Jahrhundert, 
nicht  nur  friiher  und  dauerte  mit  annahernd  250  Jahren  langer  als  anderswo,  sie  hatte 
zudem  mit  Jevers  Zugehorigkeit  zum  Kaiserreich  Russland  am  Ende  dieses  Zeitraums 
auch  eine  geradezu  exotische  Dimension.  Voraussetzung  dazu  war  die  Tatsache,  dass 
Jever  nach  dem  Tod  seiner  letzten  autochthonen  Regentin  Maria  1575  als  burgundi- 
sches  Lehen  nicht  integraler  Teil  der  Grafschaft  Oldenburg  geworden,  sondern  nur  in 
Personalunion  mit  dieser  verbunden  war.  Von  den  1653  zwischen  Graf  Anton  Giinther 
von  Oldenburg  und  der  Krone  Danemark  sowie  dem  Haus  Gottorp  getroffenen  Erbre- 
gelungen  fur  die  Grafschaft  Oldenburg  war  Jever  daher  nicht  betroffen  und  fiel,  weil  es 
auch  in  weiblicher  Linie  vererbt  werden  konnte,  nach  Anton  Giinthers  Tod  im  Jahr 
1667  an  dessen  jungere  Schwester  Magdalene,  verwitwete  Furstin  von  Anhalt-Zerbst, 
bzw.,  da  diese  damals  schon  nicht  mehr  am  Leben  war,  an  deren  Sohn  Johann.  Fortan 
gehorte  dasjeverland  zum  Fiirstentum  Anhalt-Zerbst  und  kam  nach  dem  Tod  des  kin- 


540  Besprechungen 

derlos  verstorbenen  Fiirsten  Friedrich  August  1793  an  dessen  Schwester,  Zarin  Kathari- 
na  die  GroBe,  ehe  es  nach  dem  Intermezzo  der  napoleonischen  Zeit  1813  von  Russland 
an  das  inzwischen  wieder  selbstandig  gewordene  und  zum  Herzogtum  aufgestiegene 
Oldenburg  abgetreten  wurde. 

Die  annahernd  130  Jahre  wahrende  Zugehorigkeit  der  Herrschaft  Jever  zu  Anhalt- 
Zerbst  war  2003  und  2004  Gegenstand  eines  Ausstellungszyklus'  im  Schlossmuseum 
Jever,  mit  dem  die  gemeinsame  Geschichte  beiderTerritorien  erstmals  systematisch  pra- 
sentiert  wurde.  Die  wissenschaftliche  Grundlage  dazu  lieferten  diverse  Untersuchun- 
gen,  in  denen  erstmals  versucht  wird,  das  besondere  Verhaltnis  zwischen  Jever  und 
seiner  fernen  Landesherrschaft  auszuleuchten  und  auf  diese  Weise  zu  erkennen,  wie  und 
in  welchem  MaBe  die  jeversche  Geschichte  zwischen  1667  und  1793  von  dieser  Konstel- 
lation  gepragt  worden  ist.  Die  Ergebnisse  dieser  Untersuchungen,  die  vielfach  nur  ein 
Stuck  weit  in  die  Quellen  eindringen  konnten  und  daher  kunftig  durch  weitere  Archiv- 
studien  erganzt  werden  miissen,  sind  in  den  beiden  hier  vorzustellenden  Begleitbanden 
zusammengefasst. 

Der  erste  Band  ist  der  Rekonstruktion  der  ehemaligen  Schlossbibliothek  gewidmet, 
eingeleitet  von  einem  Beitrag,  in  dem  Egbert  Koolman  deren  Geschichte  und  Bandbrei- 
te  nachzeichnet.  Zu  Recht  verwendet  er  dabei  den  Plural  „Biichersammlungen",  denn  es 
handelte  sich  zwar  auBerlich  um  nur  eine  Bibliothek,  tatsachlich  bestand  diese  jedoch 
aus  mehreren  Schichten,  die  von  den  etwa  200  Drucken  des  16.  Jahrhunderts  aus  dem 
Nachlass  Fraulein  Marias  und  ihres  Kanzlers  Remmer  von  Seediek  bis  zu  den  mehr  als 
2000  Titeln  reichten,  um  die  Fiirstjohann  Ludwig  von  Anhalt-Zerbst,  von  1720  bis  1742 
Statthalter,  Oberlanddrost  und  President  aller  Kollegien  der  Zerbster  Regierung  in  Je- 
ver, den  Bestand  systematisch  vermehrt  hat.  Alle  iibrigen  Zerbster  Fiirsten  haben  dage- 
gen  eher  zufallig  einige  Biicher  beigesteuert.  Schon  bald  nach  dem  Wiederanfall  Jevers 
an  Oldenburg  im  Jahre  1813  wurde  der  gesamte  Biicherbestand  des  Schlosses  zunachst 
dem  dortigen  Mariengymnasium  iiberwiesen,  ehe  in  den  1830er  Jahren  Teile  davon  in 
die  Landesbibliothek  nach  Oldenburg  gelangten.  Da  diese  ZerreiBung  nur  unvollstan- 
dig  dokumentiert  ist,  lieBen  sich  Umfang  und  Zusammensetzung  der  ehemaligen  Je- 
verschen  Schlossbibliothek  nur  muhsam  durch  Autopsie  rekonstruieren,  gestiitzt  auf  au- 
Bere  Merkmale,  z.B.  charakteristische  Einbande,  aber  auch  einen  gelegentlich  notwen- 
digen  kriminalistischen  Spiirsinn.  Der  auf  diese  Weise  von  Sybille  Heinen  sorgfaltig 
bearbeitete  Katalog,  der  diesen  Band  im  wesentlichen  ausmacht,  weist  im  Ergebnis  2456 
Titel  in  1863  Banden  nach,  die  sich  systematisch  auf  12  Katalogfacher  verteilen. 

Dem  eigentlichen  Thema,  d.h.  dem  Verhaltnis  zwischen  den  Fiirsten  von  Anhalt- 
Zerbst  und  der  von  ihren  Stammlanden  nicht  nur  weit  entfernten,  sondern  von  diesen  in 
vielen  Belangen  auch  so  stark  unterschiedenen  Herrschaft  Jever,  ist  der  zweite,  in  drei 
Themenkomplexe  gegliederte  Band  gewidmet.  Der  erste  Themenkomplex  „Die  Fiirsten 
und  ihre  friesischen  Untertanen  -  politische,  soziale  und  wirtschaftliche  Strukturen", 
vereinigt  sieben  Beitrage,  unter  denen  dem  von  Heinrich  Schmidt  verfassten  nicht  nur 
wegen  seines  Umfangs  (55  Seiten)  das  mit  Abstand  groBte  Gewicht  zukommt.  Unter 
dem  programmatischen  Titel  „Schwierige  Untertanen",  iibernommen  aus  der  Bemer- 
kung  eines  schon  in  oldenburgischer  Zeit  in  Jever  tatig  gewesenen  Beamten  gegeniiber 
den  1667  zur  Entgegennahme  der  Erbhuldigung  angereisten  Bevollmachtigten  der  neu- 
en  Landesherrschaft,  zeichnet  er  souveran,  anschaulich  und  auf  der  Basis  eines  grundli- 
chen  Quellenstudiums  die  Geschichte  der  jeverschen  „Landschaft"  im  17.  und  18.  Jahr- 
hundert  nach.  Zwar  gab  es  in  Jever  keine  ausgeformte  landstandische  Verfassung  mit 


Geschichte  einzelner  Landesteile  und  Orte  541 

Landtagen  und  einer  von  der  Landesherrschaft  grundsatzlich  anerkannten  politischen 
Partizipationsberechtigung  ihrer  Untertanen,  doch  kam  die  Landesherrschaft  auch  hier 
nicht  ohne  deren  Mitwirkung  aus,  insbesondere  in  Deich-  und  Sielangelegenheiten,  bei 
denen  die  auf  ihrem  freien  Eigen  sitzenden  und  wirtschaftlich  potenten  friesischen  Bau- 
ern  nicht  nur  die  Lasten  trugen,  sondern  auch  weitgehend  selbstverantwortlich  handel- 
ten.  So  gab  es  in  Jever  eine  Landschaft  zwar  nicht  dem  Begriff  nach  -  das  Wort  erscheint 
daher  auch  durchgehend  in  Anfiihrungszeichen  -,  sehr  wohl  aber  eine  entsprechende 
verfassungsrechtliche  Funktion.  DemgemaB  war  die  gesamte  anhalt-zerbstische  Epoche 
Jevers  davon  gepragt,  dass  die  hiesigen  Bauern,  orientiert  am  Vorbild  der  hochentwik- 
kelten  landstandischen  Gegebenheiten  im  benachbarten  Ostfriesland,  diese  „land- 
schaftliche"  Mitwirkung  bei  jeder  sich  bietenden  Gelegenheit  zu  formalisieren  und  aus- 
zuweiten  suchten,  wahrend  umgekehrt  die  Landesherrschaft  dies  strikt  zu  vermeiden 
trachtete  und  stets  auf  deren  moglichst  deutliche  Begrenzung  bedacht  war.  Schmidts 
Darstellung  gelingt  es,  die  Mechanismen  des  bislang  weitgehend  unbekannten  friihneu- 
zeitlichen  Verfassungslebens  injever  ebenso  ans  Licht  zu  holen  wie  dessen  Reibungsfla- 
chen  gegeniiber  einer  Landesherrschaft  deutlich  zu  machen,  die  von  ganz  anderen 
staatsrechtlichen  Vorstellungen  gepragt  war,  als  sie  in  diesem  von  friesischen  Freiheits- 
traditionen  bestimmten  Kiistenterritorium  iiblich  waren. 

Die  ubrigen  Beitrage  des  ersten  Themenkomplexes  seien  nur  kurz  benannt.  Antje 
Sander  gibt  in  „Ferne  Fursten.  Das Jeverland  in  Anhalt-Zerbster  Zeit"  einen  instruktiven 
systematischen  Uberblick  iiber  die  geographischen  und  wirtschaftlichen  Grundstruktu- 
ren,  iiber  die  jeverlandische  Gesellschaft  und  soziale  Ordnung  sowie  iiber  die  Verwal- 
tung  und  Herrschaftspraxis  in  diesem  Zeitraum.  Poetische  Gelegenheitsergiisse,  ent- 
standen  aus  Anlass  von  Besuchen  der  „fernen  Fursten"  injever  oder  zu  Huldigungen 
bzw.  Todesfallen,  stehen  im  Mittelpunkt  der  Beitrage  von  Werner  Menke  und  Rolf  Scha- 
fer.  Christiane  Rochner  skizziert  die  stadtische  Verwaltungsstruktur  in  Jever,  Christiane 
Schalles  stellt  die  jeverschen  Stadtansichten  aus  der  Zerbster  Zeit  vor,  und  Rolf  Schafer 
analysiert  am  Beispiel  des  jeverschen  Stadtkirchenaltars  von  1764,  der  1959  beim  Brand 
dieser  Kirche  vernichtet  worden  ist,  die  Anhalt-Zerbstische  Konfessionspolitik. 

Der  zweite  Themenkomplex  steht  unter  der  Uberschrift  „Herrschaftliche  Representa- 
tion -  Bauten,  Ausstattung  und  hofische  Selbstdarstellung"  und  wird  eroffnet  mit  einem 
anschaulichen  Beitrag  „Der  Fiirst  kommt!"  von  Antje  Sander,  in  dem  es  um  den  bauli- 
chen  Zustand  des  Schlosses  Jever  und  dessen  Verbesserung  bzw.  Veranderung  geht,  um 
das  Hofpersonal,  um  die  vor  jedem  anstehenden  Besuch  erforderlichen  umfangreichen 
Vorbereitungen  und  schlieBlich  um  den  Ablauf  dieser  Besuche  selbst.  Maren  Siems 
stellt  die  furstliche  Gemaldegalerie  im  -  heute  mustergiiltig  rekonstruierten  -  ehemali- 
gen  Speisesaal  des  Schlosses  Jever  vor,  Ilka  Voermann  widmet  sich  den  prachtigen  Go- 
belins des  Schlosses,  und  Antje  Koolman  beschreibt  unter  dem  Titel  „Im  finstersten  Ost- 
friesland" den  wenig  freiwilligen  Aufenthalt  der  skandalumwitterten  Reichsgrafin  Char- 
lotte Sophie  von  Bentinck  im  Schloss  Jever  in  der  Zeit  von  1761  bis  1767.  Der  Beitrag  von 
Dirk  Herrmann  iiber  das  gegen  Ende  des  17.  Jahrhunderts  vollig  neu  und  groBziigig  er- 
baute  Zerbster  Residenzschloss  zeigt,  von  welchen  baulichen  Reprasentationsvorstel- 
lungen  sich  die  Anhalt-Zerbster  Fursten  wohl  hatten  leiten  lassen,  waren  sie  denn  auf  die 
Idee  verfallen,  das  Schloss  in  Jever  zeitgemaB  umgestalten  zu  wollen.  Was  an  sonstigen 
Staatsbauten  Mitte  des  18.  Jahrhundert  injever  entstanden  ist,  zeigt,  vorgestellt  vonju- 
liane  Jiirgens-Moser,  das  Werk  des  damals  hier  tatig  gewesenen  fiirstlichen  Baumeisters 
Jobst  Christoph  von  Rossing;  von  ihm  stammt  u.a.  der  Neubau  der  Stadtkirche  nach 


542  Besprechungen 

deren  Brand  von  1728.  Am  Ende  dieses  Themenkomplexes  steht  ein  Beitrag  von  Martin 
Senner  iiber  die  jeversche  Miinzpragung  in  Anhalt-Zerbstischer  Zeit. 

Der  letzte  Themenkomplex  „Das  Land  am  Meer  -  Forschungen  und  Arbeiten  zur  Si- 
cherung  und  Nutzung"  umfasst  nur  vier  kurze  Beitrage  von  Enno  Schonbohm,  Stephan 
Horschitz,  Lars  Lichtenberg  und  Enno  Jiirgens.  In  den  ersten  drei  Texten  geht  es  um  das 
Wirken  des  jeverschen  Arztes  und  Naturforschers  Paul  Heinrich  Gerhard  Mohring 
(1710-1792),  des  in  Sophiengroden  geborenen  Orientforschers  und  Naturwissenschaft- 
lers  Ulrichjasper  Seetzen  (1767-1811)  sowie  des  Deichinspektors  und  Geometers  Albert 
Brahms  aus  Sande  (1692-1758).  Im  letzten  wird  dagegen  der  1722  gegrundete  und  nach 
der  Gemahlin  des  Fiirsten  Johann  August  von  Anhalt-Zerbst  benannte  Sielhafenort 
Friedrikensiel  vorgestellt,  die  einzige  Neusiedlung  aus  Zerbster  Zeit. 

Beide  groBziigig  bebilderten,  in  ihrer  inhaltlichen  Streuung  jedoch  gelegentlich  etwas 
willkurlich  wirkenden  Bande  geben  insgesamt  einen  hochst  aufschlussreichen  Einblick 
in  die  bislang  fast  gar  nicht  untersuchte  anhalt-zerbstische  Periode  der  jeverschen  Lan- 
desgeschichte. 

Hannover  Bernd  Kappelhoff 


Fischer,  Norbert:  Im  Antlitz  der  Nordsee.  Zur  Geschichte  der  Deiche  in  Hadeln.  Stade: 
Landschaftsverband  Stade  2007.  486  S.  Abb.,  Kt.  =  Schriftenreihe  des  Landschafts- 
verbandes  der  ehemaligen  Herzogtiimer  Bremen  und  Verden  Bd.  28.  Geb.  29,80  €. 

Das  zu  besprechende  Buch  setzt  nach  dem  Erscheinen  der  Untersuchungen  iiber  die 
Deiche  des  Landes  Kehdingen  (Norbert  Fischer,  2003)  und  des  Alten  Landes  (Michael 
Ehrhardt,  2003)  die  Analyse  der  Geschichte  des  Kustenschutzes  im  Elbe-Weser-Raum 
fort. 

Das  Land  Hadeln  liegt  im  Miindungsgebiet  der  Elbe.  Es  wurde  nicht  nur  durch  die 
Veranderungen  des  Flusses  gepragt,  sondern  auch  durch  den  Einfluss  der  Nordsee.  Bei 
Sturmfluten  entstehen  durch  den  Riickstau  der  Elbe  sehr  hohe  Flutpegel,  die  an  den 
Deichbau  hohe  Anforderungen  stellen.  Norbert  Fischer  analysiert  zunachst  die  geomor- 
phologische  Entwicklung  des  Landes  Hadeln  und  charakterisiert  seine  Siedlungsge- 
schichte.  Dabei  wird  deutlich,  dass  die  Bewohner  nicht  nur  durch  Sturmfluten,  sondern 
auch  durch  das  Binnenwasser  bedroht  wurden.  Nur  die  hoher  gelegenen  Uferwalle  blie- 
ben  im  Winter  und  im  Friihjahr  trocken.  Das  niedriger  gelegene  Sietland  stand  in  nieder- 
schlagsreichen  Zeiten  oft  unter  Wasser,  so  dass  auch  die  Sommerbestellung  der  dortigen 
Felder  nicht  risikolos  war.  Um  das  Land  iiberhaupt  bestellen  zu  konnen,  war  die  Schaf- 
fung  eines  funktionierenden  Abwasserungssystems  notwendig.  Der  Deichbau  an  der  El- 
be musste  das  Problem  der  Abbruche  des  Ufers  durch  die  Stromverlagerungen  des  Flus- 
ses losen,  wenn  nicht  durch  dauernde  Riickverlegung  der  Deichlinie  Landverluste  in 
Kauf  genommen  werden  sollten.  Fischer  beschreibt  anschaulich  die  technische  Pro- 
blemlosung.  Zu  Beginn  der  Frtihen  Neuzeit  sollten  Holzkonstruktionen  und  Faschinen 
das  Ufer  vor  Abbriichen  schiitzen  und  als  positive  Wirkung  fur  neue  Sedimentablage- 
rungen  sorgen.  Im  19.  Jahrhundert  wurde  das  Holz  durch  dauerhaftere  Steinwerke  er- 
setzt.  Auch  die  Deiche  selbst  mussten  steigenden  Sturmfluten  angepasst  werden.  Sturm- 
fluten, wie  die  Weihnachtsflut  von  1717  oder  die  Fastnachtsflut  von  1825  sowie  die  Fe- 
bruarfluten  des  Jahres  1962  durchbrachen  die  Deichlinie  und  richteten  verheerende 


Geschichte  einzelner  Landesteile  und  Orte  543 

Schaden  an.  Sie  blieben  den  Bewohnern  der  betroffenen  Gebiete  fiir  Generationen  ins 
kollektive  Gedachtnis  haften.  Norbert  Fischer  beschreibt  die  Konsequenzen  von  Flutka- 
tastrophen  und  analysiert  die  Bemiihungen  der  Bewohner  des  Landes  Hadeln,  mit  ihnen 
fertig  zu  werden.  Dabei  lassen  sich  Analogien  mit  den  benachbarten  Landschaften  und 
entfernteren  Kiistengegenden  an  der  Nordsee  bilden. 

Die  Unterhaltung  der  Deiche  und  des  Entwasserungssystems  stellte  die  Bewohner  des 
Landes  vor  einergroBen  Herausforderung.  Sie  erforderte  einen  Teil  der  wirtschaftlichen 
Ressourcen  und  die  Lasten  mussten  gleichmaBig  auf  die  einzelnen  Landbesitzer  verteilt 
werden.  Bis  zurfriihen  Neuzeit  entstand  im  Land  Hadeln  ein  genossenschaftlich  organi- 
siertes  Deichsystem,  das  dem  einzelnen  Landbesitzer  eine  proportional  zu  seinem  Besitz 
eingeteilte  Deichstrecke  zur  Unterhaltung  zuwies.  Die  Deichgenossenschaft  setzte  die 
Normen  der  Deichunterhaltung  fest  und  leistete  Nothilfe  bei  groBeren  flutbedingten 
Schaden.  War  der  Deichpflichtige  nicht  mehr  in  der  Lage,  die  ihm  zugewiesene 
Deichstrecke  zu  unterhalten,  verlor  er  seinen  Besitz  nach  dem  Grundsatz  „Wer  nich  will 
dieken,  de  mutt  wieken".  Nach  dem  Spatenrecht  konnte  ein  vermogender  Interessent  das 
Land  iibernehmen.  Dieses  System  der  Deichunterhaltung  war  an  der  gesamten  Nordsee- 
kiiste  verbreitet.  Es  wurde  im  Verlauf  der  friihen  Neuzeit  teilweise  durch  das  System  der 
Kommunionsdeichung  ersetzt.  Dieses  System  legte  die  Organisation  der  Deichunterhal- 
tung in  die  Hande  der  Deichgenossenschaft.  Die  Deichpflichtigen  zahlten  einen  be- 
stimmten  Beitrag  in  die  Deichkasse.  Die  Unterhaltungspflicht  des  Einzelnen  wurde  mo- 
netarisiert.  Im  Land  Hadeln  ging  die  Initiative  zur  Einfuhrung  des  neuen  Systems  von 
der  seit  1714  regierenden  hannoversch-welfischen  Landesherrschaft  aus,  die  nach  dem 
Ende  des  spanischen  Erbfolgekrieges  die  seit  Ende  des  DreiBigjahrigen  Krieges  beste- 
hende  schwedische  Landeshoheit  abloste.  Die  Zielrichtung  der  Landesherrschaften  der 
Territorien  an  der  Nordsee  ging  dahin,  die  Autonomie  der  Deichgenossenschaften  zu 
brechen.  Sie  sollten  zu  Herrschaftsinstrumenten  werden.  Allerdings  setzten  die  betroffe- 
nen Genossenschaften  diesen  Bestrebungen  einen  Widerstand  entgegen,  den  Fischer  am 
Beispiel  des  Landes  Hadeln  nachweist.  Eingriffsmoglichkeiten  fiir  die  Landesherrschaft 
entstanden  aus  groBen  Sturmflutkatastrophen.  Die  Zerstorungen  der  Weihnachtsflut 
des  Jahres  1717,  der  Neujahrsflut  1721  und  der  Februarflut  von  1825  iiberforderten  das 
bestehende  System.  Zum  Wiederaufbau  der  Deiche  bedurften  die  Deichgenossenschaf- 
ten die  von  der  Landesherrschaft  vermittelte  Hilfe  des  ganzen  Territorialstaates.  Des- 
halb  setzten  sie  neuen  Deichordnungen  und  Reformen  der  Deichunterhaltung  weniger 
Widerstand  entgegen  als  in  normalenjahren  mit  intakten  Deichen.  Fiir  das  Land  Hadeln 
kam  als  weitere  Bedrohung  der  Deiche  neben  den  groBen  Sturmfluten  die  stetige  Strom- 
verlagerung  der  Elbe  hinzu.  Teure  Schutzbauten  aus  Holz,  spater  aus  Stein  mussten  die 
Deiche  vor  den  Angriffen  des  Stroms  schiitzen.  Ihr  Bau  und  die  Unterhaltung  erforder- 
ten  weitere  Ressourcen  des  Landes.  Bis  zum  19.  Jahrhundert  wurde  das  alte  Pfand- 
deichsystem  durch  ein  System  der  Kirchspielskommunionsdeichung  aufgehoben. 

Norbert  Fischer  schildert  die  Entwicklung  des  Hadelner  Deichsystems  vor  diesem 
Hintergrund.  Er  zeigt  den  technischen  Fortschritt  im  Deichbau  und  beim  Bau  der 
Stromschutzwerke  auf.  Deutlich  wird  der  Einfluss  der  rational  wissenschaftlichen  Er- 
kenntnisse  und  Entdeckungen  seit  dem  18.  Jahrhundert.  Techniker  des  Deichbaus  ge- 
wannen  an  Bedeutung.  Als  Beispiel  fiir  das  Land  Hadeln  sei  an  dieser  Stelle  das  Wirken 
des  Ingenieurs  Reinhard  Woltmann  genannt.  Fischer  fiihrt  neben  ihn  noch  weitere  Per- 
sonlichkeiten  an,  die  das  Deichwesen  rationalisierten  und  wissenschaftliche  Erkenntnis- 
se  durchsetzten. 


544  Besprechungen 

Vor  dem  Leser  baut  Norbert  Fischer  das  Panorama  der  Deichgeschichte  des  Landes 
Hadeln  auf,  das  die  Reaktion  auf  die  Bedrohungen  durch  Sturmfluten  und  Stromveran- 
derungen  der  Elbe  bis  zur  Gegenwart  beschreibt.  Dabei  entstehen  die  Bedrohungen 
nicht  nur  durch  Fluten  und  natiirliche  Stromveranderungen,  sondern  auch  durch  Ein- 
griffe  des  Menschen  in  die  Stromverhaltnisse  der  Elbe,  gemeint  sind  die  Elbvertiefun- 
gen,  die  den  Hamburger  Hafen  fiir  immer  groBere  Frachtschiffe  erreichbar  machen  sol- 
len.  Diese  Eingriffe  gefahrden  die  Standfestigkeit  der  Deiche  und  erfordern  immer  auf- 
wendigere  bauliche  MaBnahmen.  Als  Fazit  halt  der  Autor  fest,  dass  die  Herausforderung 
zum  Schutz  des  Landes  bestehen  bleibt  und  damit  eine  historische  Konstante  bildet. 

Der  Autor  belegt  die  Einordnung  des  Landes  Hadeln  in  ein  System  der  Deichun- 
terhaltung,  das  im  gesamten  Nordseekustengebiet  verbreitet  war.  Er  arbeitet  die  spezifi- 
schen  Strukturen  des  Landes  Hadeln  heraus,  die  Folgen  einer  spezifischen  regionalen 
Entwicklung  sind.  Der  besondere  Wert  der  Untersuchung  liegt  in  der  Einreihung  der  re- 
gionalen Auspragung  der  Deichunterhaltung  des  Landes  Hadeln  in  der  Gesamtentwick- 
lung  in  Norddeutschland.  So  ist  es  nicht  nur  fiir  Leser  aus  dem  analysierten  Gebiet,  son- 
dern auch  fiir  die  iiberregionale  Forschung  von  groBer  Bedeutung.  Der  Autor  hat  ein 
Buch  vorgelegt,  das  nicht  nur  lesenswert  ist,  sondern  durch  zahlreiche  Abbildungen  und 
Fotos  sehr  anschaulich  gestaltet  ist.  Die  Reihe  der  Deichgeschichte  des  Landes  zwischen 
Weser  und  Elbe  wurde  durch  ein  weiteres  Werk  wertvoll  erganzt,  und  es  ist  zu  wiinschen, 
dass  sie  eine  Fortsetzung  findet.  Ihre  Bedeutung  fiir  die  sozialhistorische  Forschung  des 
Nordseekiistengebietes  kann  durch  die  Hereinnahme  von  Untersuchungen,  wie  die  vor- 
liegende  Analyse  von  Norbert  Fischer  nicht  hoch  genug  eingeschatzt  werden.  Dem 
Buch  ist  eine  weite  Verbreitung  zu  wiinschen. 

Emden  RolfTJpHOFF 


Weber,  Karl-Klaus:  Beschliisse  der  Genemlstaaten  1576-1625.  Regesten  zur  Geschichte 
Ostfrieslands  und  der  Stadt  Emden.  Norderstedt:  Books  on  Demand  2007.  504  S. 
Geb.  42,-€. 

Die  Resolutionen  der  Generalstaaten  sind  auch  fiir  die  friihneuzeitliche  Geschichte 
Nordwestdeutschlands  eine  ergiebige  Quelle.  Doch  obgleich  fiir  die  im  Haager  Reichs- 
archiv  verwahrten  Originale  seit  langerem  eine  (bislang  bis  1625  gefiihrte,  bis  1670  kon- 
zipierte)  Text-  und  Regestenedition  vorliegt,  sind  sie  -  auch  wegen  deren  geringer  Ver- 
breitung -  noch  wenig  benutzt.  Um  so  mehr  ist  deshalb  der  deutschsprachige  Auszug  zu 
begriiBen,  den  der  Bearbeiter  hier  zur  ostfriesischen  Geschichte  erstellt  hat.  Ihm  ist  be- 
reits  eine  gleichartige  Auswahl  zur  spaten  Hansegeschichte  (2004)  zu  verdanken.  Der 
vorliegende  Band  versammelt  nach  einer  Einfuhrung  in  das  Material  und  den  histori- 
schen  Hintergrund  1324  Regesten  in  chronologischer  Folge.  Trotz  gewisser  Straffungen 
gegeniiber  den  Vorlagen  ist  deren  Umstandlichkeit  teilweise  erhalten  geblieben  und 
hatte  sich  eine  Reihe  sprachlicher  Unebenheiten  in  der  Ubersetzung  vermeiden  lassen; 
ein  Lapsus:  Emdens  Schuldzinsen  waren  erheblich,  aber  kaum  achtstellig  (S.  260),  viel- 
mehr  achterstellig,  also  in  Riickstand.  Die  Ubersichtlichkeit  wird  aber  durch  die  ange- 
hangte  Liste  mit  Betreff-Stichworten  sehr  erleichtert,  ebenso  die  Verstandlichkeit  durch 
ein  Glossarund  eine  Zeittafel  und  die  Benutzbarkeit  durch  Personen-  und  Ortsregister. 


Geschichte  einzelner  Landesteile  und  Orte  545 

Die  Edition  umspannt  den  groBten  Teil  des  Niederlandischen  Unabhangigkeitskrie- 
ges  und  die  Friihphase  des  DreiBigjahrigen  Krieges,  fiir  Ostfriesland  die  Regierungszei- 
ten  Edzards  II.  und  Ennos  III.  Sie  zeigt,  wie  der  Krieg  den  Handel  mit  Licenten,  Kon- 
vooien  und  Blockaden  beeintrachtigte  und  mit  Truppendurchziigen,  Pliinderungen  und 
Uberfallen  auch  vermeintlich  Unbeteiligte  traf.  Zahlreiche  weitere  Fragen  werden  be- 
riihrt.  Ihr  Hauptthema  ist  jedoch  der  fortwahrende  Konflikt  zwischen  den  ostfriesischen 
Grafen,  den  Standen  und  besonders  der  Stadt  Emden.  Das  intensive  Engagement,  mit 
dem  die  Generalstaaten  finanziell,  diplomatisch  und  militarisch  insbesondere  Emdens 
Unabhangigkeit  sicherten  und  sich  -  vom  Vertrag  von  Delfzijl  iiber  den  Haager  Akkord 
bis  zum  Akkord  von  Osterhusen  -  immer  wieder  um  Vermittlung  bemiihten,  entsprang 
durchaus  eigenen  Interessen,  zumal  die  Grafen  lange  der  spanischen  Seite  zuneigten.  Es 
ist  ein  Verdienst  des  vorliegenden  Bandes,  diese  bislang  wenig  beachteten  Zusammen- 
hange  zu  dokumentieren,zudenen  auch  deriiberraschende,  vonEnno  III.  1615  verfolgte 
Plan  eines  Anschlusses  an  die  Generalstaaten  gehort.  Webers  Werk  bietet  fiir  die  Erfor- 
schung  dieser  und  weiterer  Themen  vielerlei  Anregungen  und  wertvolle  Hilfestellungen. 

Hamburg  RainerPosTEL 


Stephan,  Joachim:  Die  Vogtei  Salzwedel.  Land  und  Leute  vom  Landesausbau  bis  zur  Zeit 
der  Wirren.  Frankfurt:  Peter  Lang  2006.  XIII,  578  S.  =  Quellen,  Findbiicher  und  In- 
ventare  des  Brandenburgischen  Landeshauptarchivs  Bd.  17.  Kart.  86,-  €. 

Die  Dissertation  besteht  aus  einer  thematisch  vom  Titel  abgedeckten  Abhandlung  sowie 
aus  Quellenanhangen,  die  etwas  mehrals  ein  Drittel  des  Buches  ausmachen.  Die  Verbin- 
dung  der  Studie  mit  der  Edition  einer  ihrer  Hauptquellen,  dem  altesten  Stadtbuch  Salz- 
wedels  mit  Eintragen  aus  den  Jahren  von  1309  bis  1360,  ist  eine  sinnvolle  Kombination, 
denn  so  wird  einmal  mehr  deutlich,  welches  Potenzial  mittelalterliche  Stadtbiicher  ber- 
gen.  Die  wichtigste  Leistung  der  Arbeit  ist  denn  auch  die  Zusammenschau  der  bekann- 
ten  Quellen  zur  altmarkischen  Geschichte  mit  den  im  Salzwedeler  Stadtbuch  enthalte- 
nen  Informationen. 

Als  zentrale  Frage,  unter  der  die  Vogtei  Salzwedel  vornehmlich  in  der  Zeit  vom  zwolf- 
ten  bis  zum  Anfang  des  fiinfzehntenjahrhunderts  betrachtet  werden  soil,  formuliert  Ste- 
phan: „Wie  pragten  die  natiirlichen  Gegebenheiten  das  Zusammenleben  der  Menschen 
und  wie  veranderten  diese  die  Landschaft?"  und  erklart  an  gleicher  Stelle:  „Die  vorlie- 
gende  Arbeit  will  nach  Land  und  Leuten  in  der  Vogtei  Salzwedel  fragen."  (S.  1).  Dies  wa- 
ren  rhetorische  Startblocke,  um  eine  Studie  in  traditionsreiche  Forschungsfragen  einzu- 
ordnen,  die  eine  erschopfende  Behandlung  durchaus  noch  nicht  erfahren  haben,  zumal 
fiir  den  norddeutschen  Raum.  Jedoch  unterbleibt,  zumindest  sehr  weitgehend,  die  Ver- 
ortung  der  Arbeit  vor  Horizonten,  wie  sie  von  der  Schule  der  Annales  hinsichtlich  der 
Rolle  naturraumlicher  Verhaltnisse  und  in  Bezug  auf  die  Konstituenten  herrschaftlicher 
Gefiige  durch  Historiker  von  Otto  Brunner  bis  hin  zu  Ernst  Schubert  (dieser  immerhin 
mit  einem  Seitenverweis  in  der  ersten  FuBnote  genannt)  aufgezeigt  wurden. 

Der  eigentliche  Schwerpunkt  von  Stephans  Arbeit  ist  die  enzyklopadische  Auswer- 
tung  der  sproden  Quellenbasis  aus  mittelalterlichen  Urkunden  und  Registereintragen, 
die  eine  auf  schlagende  Plausibilitaten  hoffende  Thesensuche  so  oft  enttauscht.  Ste- 


546  Besprechungen 

phans  Verdienst  ist  es  hier,  eine  strukturgeschichtlich  und  prosopografisch  ausgerichte- 
te  Ubersicht  der  in  den  Quellen  verstreuten  Einzelerscheinungen  zu  geben.  Seine  Unter- 
suchung  erfasst  wesentliche  Elemente  der  greifbaren  Strukturen:  Siedlungsgeschichte, 
Rechtsverhaltnisse  und  Gliederung  der  landlichen  Bevolkerung,  die  fiir  das  Untersu- 
chungsgebiet  charakteristische  ethnische  Differenzierung,  die  Geschichte  der  Kir- 
chenorganisation  und  einzelner  geistlicher  Einrichtungen,  Sozialstruktur  und  Besitzge- 
schichte  des  Adels,  die  Verhaltnisse  der  Stadt  Salzwedel  und  schlieBlich  Stande  und 
Einungen  „des  Landes  Salzwedel  und  der  Altmark"  (S.  303). 

Hervorzuheben  ist,  dass  Stephan  Befunde  der  Archaologie,  Siedlungsgeografie  und 
Toponymie  sowie  Personennamen  einbezieht.  Dies  ermoglicht  es,  eine  markante  Bin- 
nendifferenzierung  des  Untersuchungsgebietes  nach  Siedlungsphasen  und  Arten  der 
Beteiligung  von  Deutschen  und  Slawen  an  den  Siedlungsvorgangen  aufscheinen  zu  las- 
sen.  Von  besonderem  Interesse  ist  in  diesem  Zusammenhang  auch  die  Betrachtung  von 
Rechtsverhaltnissen  der  deutschen  und  slawischen  Landbevolkerung,  die  durch  ein  Ne- 
beneinander  von  Freiheit  und  Unfreiheit  gekennzeichnet  sind. 

Eine  besondere  Bereicherung  erfahrt  die  Stadtgeschichte  von  Salzwedel.  Man  kann 
dankbar  sein  fiir  die  strukturierte  Darbietung  von  Nachrichten  tiber  die  Zusammenset- 
zung  des  Rates,  die  Handwerker,  Gilden  und  geistlichen  Anstalten.  Die  Zusammenfiih- 
rung  von  Urkunden-  und  Registeriiberlieferung  eroffnet  einen  neuen  Blick  auf  die  Salz- 
wedeler  Stadtgesellschaft.  Neben  den  ratsfahigen  Familien  mit  ihrer  unklaren  Abgren- 
zung  gegeniiber  dem  Adel  treten  als  eigene  Gruppe  die  im  Handwerk  tatigen  Burger 
hervor,  wie  dies  fiir  eine  Stadt  wie  Salzwedel  erwartbar,  aber  angesichts  der  Quellensi- 
tuation  als  Arbeitsergebnis  anzuerkennen  ist.  Ein  spezifischer  Befund  ist  die  Verringe- 
rung  iiberregionaler  Beziige  der  stadtischen  Fiihrungsschicht  im  Laufe  des  spaten  Mit- 
telalters.  Besondere  Aufmerksamkeit  verdienen  auch  Stephans  Hinweise  auf  die  Hand- 
habung  des  sogenannten  ,Wendenparagrafen',  der  Slawen  aus  den  Ziinften  ausschloss. 

Uberlokale  Vorgange  thematisiert  Stephan  vor  allem  mit  den  im  Zusammenhang  mit 
der  ,Krise  des  14.Jahrhunderts'  stehenden  Wiistungen,  den  Prozessen  derTerritorialisie- 
rung  und  Besitzarrondierung,  der  Binnendifferenzierung  des  Adels  sowie  den  auf  das 
Aussterben  der  Askanier  folgenden  Veranderungen  und  Konflikten. 

Nutzer,  die  vorrangig  an  Details  aus  dem  Spektrum  der  behandelten  Gegenstande 
oder  an  der  Stadtbuchedition  interessiert  sind,  werden  sich  iiber  Stephans  Arbeit  in  ho- 
hem  MaBe  freuen.  Eine  Lektiire,  die  eher  auf  Ergebnisse  zu  den  Ausgangsfragen  und  auf 
Synthesen  zu  den  Hauptgegenstanden  ausgerichtet  ist,  wird  hingegen  durch  einige 
Schwierigkeiten  herausgefordert.  Die  Verbindung  zwischen  dem  eingangs  formulierten 
Interesse  und  der  Durchfiihrung  der  Arbeit  bleibt  hinter  den  geweckten  Erwartungen 
zuriick.  Die  Frage  nach  dem  Einfluss  der  naturraumlichen  Gegebenheiten  spielt  bei  der 
umfanglichen  und  verdienstvollen  Darstellung  von  Besitzverhaltnissen  und  geistlichen 
Anstalten  sowie  den  Ausfuhrungen  zur  Struktur  der  Stadtbevolkerung  nur  selten  eine 
Rolle.  Weiterhin  hat  sich  ein  Leser  damit  auseinanderzusetzen,  dass  die  Argumentati- 
onsstrukturen  hin  und  wieder  Schwachen  aufweisen,  mit  denen  sich  die  Aufgabe  einer 
sorgfaltigen  Priifung  der  jeweiligen  Aussage  stent.  Dies  gilt  auch  fiir  Befunde  zu  Ethnizi- 
tat,  Sozial-  und  Verfassungsstruktur.  Stephan  verzichtet  an  mancher  Stelle  auf  einfiih- 
rende  Klarungen,  Belege  fiir  eigene  Annahmen  und  auf  die  Verortung  von  Befunden  vor 
dem  Hintergrund  der  Forschungsliteratur.  Auch  wird  das  MaB  seiner  Eigenleistungen 
aus  dem  Text  heraus  nicht  in  dem  wiinschenswerten  MaB  einschatzbar.  Nahere  Ausfuh- 
rungen iiber  das  Wesen  der  titelgebenden  Vogtei  Salzwedel  in  ihrer  Eigenschaft  als 


Geschichte  einzelner  Landesteile  und  Orte  547 

Herrschaftsgebilde  oder  aber  zu  der  Schwierigkeit,  hieriiber  Aussagen  zu  machen,  wa- 
ren  nach  Ansicht  des  Rezensenten  unerlasslich  gewesen.  An  mancher  Stelle  wird  man 
sich  ein  Urteil  dariiber  zu  bilden  haben,  ob  fur  eine  bestimmte  Quelleninterpretation  an- 
gefiihrte  Argumente  wirklich  zwingend  sind.  Weiterhin  kann  moniert  werden,  dass  in  ei- 
ner  Reihe  von  Fallen  die  Sprache  der  Quellen  den  Weg  in  die  Abhandlung  gefunden  hat, 
wo  dies  teils  unnotig  oder  sogar  irrefiihrend  ist  (z.B.  ,,Freundschaft"  als  Bezeichnung  fur 
Verwandtschaft  auf  S.  143) .  Unsicherheit  in  einem  wesentlichen  Punkt  zeichnet  sich  mit 
zwei  in  ihrem  Nebeneinander  schwer  nachvollziehbaren  Interpretationen  der  Formel 
„geburen,  edel  und  unedel"  in  jeweils  derselben  Urkunde  ab,  wenn  es  einerseits  heiBt: 
„Die  freien  Bauern  werden  hier  im  Gegensatz  zu  den  unfreien  Bauern  als  adlig  bezeich- 
net."  (S.  91)  und  andererseits:  „Ein  Begriff,  derseinen  Trager  als  adlig  kennzeichnet,  fehlt 
in  den  Quellen.  Das  Adjektiv  edelbedeutet  nicht  adlig,  sondern  frei"  (S.  100).  SchlieBlich 
enthalt  der  Text  manche  Wiederholung  und  Unebenheiten  auf  redaktioneller  Ebene,  die 
mitunter  dem  fliissigen  Nachvollzug  im  Wege  stehen.  Von  daher  ist  Stephans  Arbeit  ein 
grundlegender  Beitrag  zur  Geschichte  Salzwedels  und  seiner  Umgebung,  der  mit  kriti- 
scher  Aufmerksamkeit,  aber  durchaus  verwendet  werden  muss. 

Karlsruhe  Klaus  Nippert 


Schaumburger Profile.  Ein  historisch-biographisches  Handbuch.  Hrsg.  von  Hubert  Hoing. 
Bielefeld:  Verlag  fur  Regionalgeschichte  2008.  362  S.  Abb.  =  Schaumburger  Studien 
Bd.  66.  Geb.  29,- €. 

Historisch-biographische  Nachschlagewerke  erfreuen  sich  nicht  nur  im  niedersachsi- 
schen  Raum  seit  vielen  Jahren  zu  Recht  einer  guten  Konjunktur,  denn  es  sind  nicht  nur 
Strukturen,  die  den  geschichtlichen  Verlauf  einer  historischen  Landschaft  und  ihrer 
Menschen  pragen.  Territorien  iibergreifend  sind  vor  allem  die  Deutsche  Biographische 
Enzyklopadie  und  die  Neue  Deutsche  Biographie  (NDB)  als  biographische  Lexika  zu 
nennen.  Das  vorliegende  Handbuch  folgt  in  seinen  einzelnen  Artikeln  in  Form  und  Ge- 
stalt  dem  Vorbild  der  NDB.  Welche  historischen  Personen  finden  in  dem  auf  mehrere 
Bande  angelegten  Werk  Erwahnung?  Hubert  Hoing,  der  Herausgeber  und  Leiter  des 
Staatsarchivs  Biickeburg,  nennt  als  Hauptaufnahmekriterien:  -  Regionalerund  nicht  nur 
marginaler  Bezug  zu  Schaumburg,  -  Todesdatum  vor  30 Jahre  und  alter,  -  herausragende 
und  bedeutende  Personlichkeit.  Das  wissenschaftliche  Nachschlagewerk,  das  beim  Le- 
ser  und  Nutzer  mehr  als  nur  rudimentare  historische  Kenntnisse  voraussetzt,  aber  den- 
noch  durchweg  gut  lesbar  ist  und  daher  auch  zum  langeren  „Schmokern"  anregt,  hat  lexi- 
kalischen  Charakter.  Die  Artikel  sind  alle  systematisch  nach  dem  Schema:  Vorspann  mit 
personlichen  Daten  und  Angaben  zur  Familie,  Text  mit  Lebenslauf  und  Wirken  sowie 
Hinweise  auf  Quellen,  Werke,  Darstellungen  und  Portrats,  in  drei  Teile  gegliedert. 

Der  bisher  erschienene  erste  Band  beinhaltet  75  alphabetisch  geordnete  Artikel  auf 
ca.  280  Seiten,  so  dass  die  durchschnittliche  Kurzbiographie  knapp  vier  Seiten  umfasst. 
Die  meisten  Verfasser  hatten  sich  an  die  Vorgabe  des  Herausgebers  gehalten  und  den 
Umfang  der  Beitrage  auf  drei  Druckseiten  bemessen;  einige  jedoch  iiberschritten  das 
vorgegebene  MaB  um  das  Doppelte.  Bei  kiinftigen  Banden  sollte  auf  eine  starke  Beach- 
tung  dieser  vernunftigen  Richtlinie  mehr  Wert  gelegt  werden.  Rund  die  Halfte  der  Bei- 
trage stammt  aus  der  Feder  von  (niedersachsischen)  Archivaren/innen.  Die  gewollt  he- 


548  Besprechungen 

terogene  Reihe  reicht  vom  „Hofmohren"  Alexander,  iiber  den  Theologen  und  Philoso- 
phen  Johann  Gottfried  Herder  und  den  Militarreformer  Gerhard  von  Scharnhorst  bis 
hin  zum  NS-Landesprasidenten  Karl  Dreier.  Mithin  hochst  verschiedenartige  Person- 
lichkeiten  -  darunter  sieben  Frauen  -  aus  ganz  unterschiedlichen  Bereichen  des 
menschlichen  Lebens,  die  vom  Hochmittelalter  bis  zur  jiingeren  Vergangenheit  mit 
Schaumburg  auf  vielfaltige  Art  und  Weise  mehr  oder  weniger  intensiv  verbunden  waren 
und  sind  und  dort  -  und  auch  teilweise  dariiber  hinaus  -  historische  Bedeutung  erlang- 
ten.  Die  Familien  der  Grafen  zu  Holstein-Schaumburg,  der  Grafen  bzw.  Fiirsten  zu 
Schaumburg- Lippe,  sowie  der  Freiherren  von  Munchhausen  werden  zusatzlich  summa- 
risch  von  Helge  bei  der  Wieden  und  Dieter  Brosius  dargestellt,  die  beide  auch  fur  weite- 
re  Beitrage  verantwortlich  zeichnen.  Man  merkt  den  einzelnen  Artikeln  an,  dass  sich  die 
Autoren  zuvor  zum  ganz  uberwiegenden  Teil  in  der  ein  oder  anderen  Form  bereits  naher 
mit  den  Personlichkeiten  und  Familienverbanden  beschaftigt  haben,  wie  auch  den  je- 
weiligen  Literaturverzeichnissen  zu  entnehmen  ist. 

Sinnvoll  abgerundet  wird  der  Band  durch  einen  zuverlassigen  Orts-  und  Personenin- 
dex,  durch  ein  Verzeichnis  der  ausgeiibten  Berufe  (von  „Abt"  bis  „Zeitungsverleger")  so- 
wie eine  chronologische  Auflistung  der  Biographien,  die  zeitlich  vom  11.  Jahrhundert 
(Adolf  v.  Santersleben,  dem  vermeintlichen  Urahnen  des  Schaumburger  Dynastenge- 
schlechts)  bis  1989  (Todesjahr  des  Stadthagener  OKDs  und  KPD-Politikers  Karl  Meier) 
reichen.  Wertvoll  sind  auch  die  einleitenden  Hinweise  des  Herausgebers  auf  annahernd 
tausend  prominente  Schaumburger/innen,  denen  schon  teils  mehrfach  in  rund  drei 
Dutzend  anderen  biographischen  Nachschlagewerken  mehr  oder  weniger  kurz  gedacht 
wurde.  Von  diesen  Personlichkeiten  finden  bereits  einige  Erwahnung  im  anzuzeigen- 
den  Werk,  wie  der  bekannte  Kommunist  Ernst  Torgler  oder  der  Chemieprofessor  Fried- 
rich  Accum. 

Ein  hohes  MaB  an  quantitativer  und  qualitativer  Arbeit  liegt  noch  vor  Hubert  Hoing 
und  seinem  Autorenteam;  selbst  dann,  wenn  auch  nur  ein  Teil  dieser  vielzahligen  Promi- 
nenten  eine  so  aufwandige  und  profunde  historische  Wiirdigung  erfahren  sollte,  wie  es 
im  iiberaus  gelungenen  ersten  Band  Standard  ist.  Dem  sehr  ansprechend  vom  Verlag  fur 
Regionalgeschichte  Bielefeld  gestalteten  Handbuch  mit  seinen  zahlreichen  s/w-Portrats, 
eingebettet  in  einem  Einband  in  den  alten  Schaumburger  Farben,  ist  eine  mehrbandige 
Fortsetzung  und  weite  Verbreitung  zu  wiinschen.  Zudem  hat  das  historisch-biographi- 
sche  Handbuch  fur  Schaumburg  sicherlich  auch  Vorbildcharakter  fur  andere  historische 
Territorien,  z.B.  fur  das  benachbarte  Lippe,  wo  ein  solches,  modernes  Nachschlagewerk 
z.Z.  noch  fehlt,  aber  in  Planung  ist. 

Detmold  Wolfgang  Bender 


Biermann,  Friedhelm:  Der  Weserraum  im  Mittelalter.  Adelsherrschaften  zwischen  welfi- 
scher  Hausmacht  und  geistlichen  Territorien.  Bielefeld:  Verlag  fur  Regionalgeschich- 
te 2007.  800  S.  =  Veroff.  des  fnstituts  fur  Historische  Landesforschung  Gottingen 
Bd.  49.  Geb.  49,-€. 

Der  Weserraum,  dessen  Geschichte  Friedhelm  Biermann  schreibt,  definiert  sich  weitge- 
hend  aus  seiner  Lage  zwischen  groBen  politischen  Kraften.  Untersuchungsgegenstand 
ist  der  Raum  im  mittleren  Sachsen,  der  mit  der  Entmachtung  Heinrichs  des  Lowen  auf 


Geschichte  einzelner  Landesteile  und  Orte  549 

dem  Hoftag  von  Gelnhausen  1180  und  mit  dem  Verlust  der  herzoglichen  Funktion  der 
Welfen  von  einer  Oberherrschaft  „frei"  wird.  Bis  dahin  hatte  Heinrich  der  Lowe  weitge- 
hend  die  politische  Kontrolle  im  Herzogtum  Sachsen  besessen.  Der  solchermaBen  frei- 
gegebene  Raum  wurde  zum  Handlungsraum  zahlreicher  adeliger  und  kirchlicher  Ak- 
teure,  deren  Zahl  Biermann  mit  74  angibt  (659),  die  allesamt  in  neuer  politischer  Lage 
sich  zu  behaupten  suchten. 

Wahrend  nach  der  Entmachtung  Heinrichs  des  Lowen  zunachst  die  staufische  Seite 
die  groBte  Sicherheit  versprach,  wandelte  sich  die  Lage  mit  dem  Ende  des  staufischen 
Kaisertums  und  auf  der  Basis  des  Wiedereintretens  der  Welfen  in  das  regionale  Gesche- 
hen  grundlegend.  Wer  von  diesen  Akteuren  nicht  die  Moglichkeit  hatte,  sich  wirkungs- 
voll  in  den  Schutz  einer  anderen  „Gro6macht"  zu  begeben,  etwa  der  Erzbischofe  von 
Koln,  hatte  meist  das  Nachsehen.  Und  auch  groBe  Nahe  zu  den  Welfen  schutzte  nicht 
notwendigerweise  vor  dem  Verlust  selbstandiger  Herrschaft,  sondern  konnte  unter  das 
Dach  der  sich  nach  Westen  erneut  ausbreitenden  neuen  welfischen  Hegemonie  fiihren. 

Es  ist  wie  ein  groBes  „Monopoly",  was  im  Laufe  des  Untersuchungszeitraumes  in  die- 
sem  breiten  Grenzraum  zu  beobachten  ist.  Und  das  ist  im  wesentlichen  Thema  des  vor- 
liegenden  Buches.Jeder  der  Akteure,  zu  denen  im  Ubrigen  nicht  nur  adelige  Herrschaf- 
ten  gehoren,  sondern  auch  die  geistlichen,  wie  neben  den  Erzbistiimern  Koln  und  Mainz 
v.  a.  die  Bistiimer  Paderborn,  Hildesheim  und  Minden  sowie  die  Abteien  Corvey  und 
Herford,  ist  mit  individuellen  Voraussetzungen  ausgestattet.  Verfiigen  die  einen  iiber 
eine  ausgepragte  Grundherrschaft,  zeichnen  sich  andere  etwa  durch  eine  besondere 
Starke  im  Bereich  der  Gerichtsbarkeit  aus,  wiederum  andere  verfiigen  iiber  einen 
Schwerpunkt  im  Bereich  bestehender  Lehnsbindungen. 

Biermann  behandelt  in  einem  zentralen  Kapitel  die  Parameter,  die  fur  Erfolg  in  die- 
sem  von  mehrfachen  Kontingenzen  gepragten  „Spiel  der  Krafte"  maBgeblich  sein 
konnten.  Dazu  gehoren  „herrschaftsbildende  Basiselemente"  wie  Allodialbesitz,  Lehen, 
Grafen-  und  Vogteirechte  sowie  die  weiteren  Elemente,  die  im  wesentlichen  vom  Han- 
deln  der  Akteure  bestimmt  werden,  namlich  Engagement  in  den  Bereichen  Grundherr- 
schaft, Lehnswesen,  politische  Funktionen  wie  die  eines  Grafen,  Vogts  oder  Gerichts- 
herrn,  Burgenbau  und  Stadtegrundung,  verschiedene  Rechte,  wie  zur  Rodung  und  zur 
Munzpragung. 

Dabei  ist  -  anders  als  der  zuruckhaltende  Titel  des  Buches  zunachst  erwarten  lieBe  - 
die  zentrale  Frage  des  Autors  auf  die  Bildung  von  Territorien  gerichtet  und  damit  letzt- 
lich  auf  die  Entstehung  von  staatlichen  Systemen  moderner  Pragung.  Wie  erreichten 
manche  der  Akteure  ein  geschlossenes  Territorium  und  wieso  gelang  es  anderen  nicht 
bzw.  nur  unvollkommen?  Was  sind  die  Parameter  bei  diesem  Prozess  und  in  welchem 
Verhaltnis  stehen  sie  zueinander?  Ziel  des  Autors  ist  es,  eine  Basis  zu  schaffen  fur  weiter- 
gehende  Fragestellungen. 

Die  Komplexitat  des  Geschehens  ist  aufgrund  der  hohen  Zahl  der  Akteure  eine  Her- 
ausforderung  an  jeden,  der  die  Geschichte  dieses  Raumes  zu  schreiben  beabsichtigt.  Mit 
der  skizzierten  Fragestellung  wird  dieses  Vorhaben  nicht  eben  einfacher.  Und  da  Bier- 
mann versucht,  ein  Konzept  zu  entwickeln,  das  den  Erfolg  von  Herrschaften  in  einer  sol- 
chen  Phase  der  territorialen  Entwicklung  erklaren  kann  oder  zumindest  Vorarbeiten  da- 
zu liefern  will,  gibt  es  zur  Untersuchung  eines  Raumes  solch  hoher  Komplexitat  des  Ge- 
schehens keine  Alternative. 

Am  Ende  des  Buches  prasentiert  Biermann  eine  detaillierte  Aufstellung  zu  alien  Ak- 
teuren und  den  relevanten  Parametern,  die  er  dann  im  Hinblick  auf  ihren  Wert  fur  Erfolg 


550  Besprechungen 

in  der  territorialen  Entwicklung  gewichtet.  Es  entsteht  also  erne  Art  Evaluation  der 
„Kandidaten".  Es  stellt  sich  heraus,  dass  wesentlich  fur  den  Aufbau  einer  Landesherr- 
schaft  mehr  als  der  oft  verstreute  Allodialbesitz  der  flexiblere  Lehensbesitz  und  rau- 
mumgreifende  Faktoren  wie  Burgenbau,  Stadtegrundungen  und  Grafenrechte  waren. 
Von  besonderer  Bedeutung  ist  schlieBlich  die  Einrichtung  von  Amtern  mit  absetzbaren 
Amtstragern  (668).  Leider  gerat  der  Abschnitt  „Ergebnisse"  (662-703)  zu  einer  Zusam- 
menfassung  des  Geschilderten  mit  einem  starken  Gewicht  auf  den  „Personlichkeiten" 
(672-679),  in  dem  von  den  zahlreichen  wertvollen  Beobachtungen  und  Erkenntnissen 
aus  den  einzelnen  Untersuchungen  die  Gelegenheit  zur  Synthese  nicht  so  genutzt  wur- 
de,  wie  das  Buch  es  verdient  hatte.  Dazu  gehorte  eine  intensivere  Diskussion  der  Entste- 
hung  moderner  Formen  von  Staatlichkeit  mit  der  Landesherrschaft,  der  dieses  Buch 
aber  dennoch  wertvolle  Anregungen  geben  kann. 

Mit  der  Bewertung  des  adeligen  Engagements  bei  kirchlichen  Stiftungen  als  vorwie- 
gend  aus  Frommigkeit  zu  erklaren  (377,  379)  verschenkt  der  Autor  nach  Ansicht  des  Re- 
zensenten  wertvolle  Erkenntnismoglichkeiten,  denn  es  scheint  ihm  unnotig,  Frommig- 
keit gegen  politisches  Handeln  auszuspielen.  Problematisch  scheint  auch  das  gelegentli- 
che  Bewerten  des  Handelns  der  Akteure  (etwa  569-571  zu  Koln)  und  die  Beurteilung  der 
Intelligenz  einzelner  Protagonisten.  Dazu  reichen  die  Kenntnisse  iiber  die  jeweiligen 
Entscheidungsvoraussetzungen  und  die  Moglichkeiten  zur  Einschatzung  von  Entwick- 
lungen  aus  dem  Zeithorizont  heraus  nicht  aus.  Eine  Beurteilung  ex  eventu  scheint  in  die- 
serForm  unangemessen,  zumal  das  „richtige"  Handeln  einzelner  Akteure  durchaus  auch 
Gliick  gewesen  sein  kann  im  Hinblick  auf  kommende  Entwicklungen.  Ein  weiteres  Mo- 
ment bei  der  Entstehung  der  Landesherrschaften  ist  eine  mogliche  emotionale  Bindung 
der  Bewohner  an  das  Territorium  bzw.  die  herrschende  Familie,  was  eine  eigene  Unter- 
suchungsaufgabe  darstellte,  so  dass  der  Autor  nur  gelegentlich  ein  „Wir-Gefiihl"  vermu- 
ten  kann  (439,  655,  665),  etwa  im  Hinblick  auf  die  welfischen  Territorien. 

Die  von  Biermann  dargestellten  Parameter  zur  Entstehung  der  Landesherrschaft  kon- 
nen  durchaus  als  grundsatzlich  gelten,  und  eine  Ubertragung  auf  andere  Untersu- 
chungsraume  erscheint  folglich  sinnvoll.  Das  Buch  ist  fliissig  geschrieben,  sehr  klar  und 
sinnvoll  gegliedert  und  mit  einem  Orts-  und  Personenregister  ausgestattet.  Der  umfang- 
reiche  Anmerkungsapparat  aber  lasst  nicht  immer  sicher  erkennen,  was  aus  dem  vorauf- 
gehenden  Text  eigentlich  zu  welchem  Beleg  gehort. 

Die  hier  vorgelegte  Geschichte  des  Weserraumes  im  hohen  und  spaten  Mittelalter  als 
solche  darf  wohl  als  mustergiiltig  gelten.  Uber  die  Darstellung  der  Geschichte  dieses 
Raumes  hinaus  bietet  es  ganze  Reihe  von  Beobachtungen  und  Einzelanalysen,  die  fur 
die  Forschung  von  einiger  Bedeutung  sein  werden. 

Paderborn  Jiirgen  Strothmann 


Meibeyer,  Wolfgang:  Die  Stadt  Braunschweig  im  18.Jahrhundert.  Stadtbild  und  Grundbe- 
sitz  in  Braunschweig  nach  der  Vermessung  von  Andreas  Carl  Haacke  1762  bis  1765. 
Hrsg.  von  der  Biirgerstiftung  Braunschweig.  Braunschweig:  Appelhans  2007.  160  S. 
Kt.  Geb.  28,50  €. 

Die  im  Jahre  2003  gegrundete  Biirgerstiftung  Braunschweig  hat  unter  dem  Motto  „Mit- 
tragen  -  Mitdenken  -  Mitgestalten"  im  Rahmen  biirgerschaftlicher  Selbsthilfe  auch  die 


Geschichte  einzelner  Landesteile  und  Orte  551 

Forderung  wichtiger  Vorhaben  und  Projekte  beispielsweise  in  Kunst,  Kulturund  Denk- 
malpflege  zu  ihren  Zielen  erklart.  Sie  sieht  die  Kenntnis  und  Wertschatzung  der  eigenen 
Geschichte  als  maBgebliche  Voraussetzung  fur  biirgerschaftliches  Selbstbewusstsein 
und  fur  die  Bereitschaft,  sich  fiir  das  Gemeinwesen  zu  engagieren.  Unter  diesen  Voraus- 
setzungen  konnte  auch  die  o.  g.  Veroffentlichung  zum  Druck  gebracht  werden. 

Bei  der  anzuzeigenden  Arbeit  handelt  es  sich  um  eine  Quellenedition  der  friihesten 
exakt  detaillierten  kartographischen  Aufnahme  des  gesamten  Gebietes  der  Stadt  Braun- 
schweig innerhalb  der  Umflutgraben  bzw.  der  neuzeitlichen  Befestigungsanlagen  aus 
den  Jahren  1762  bis  1765  sowie  des  zugehorigen  handschriftlichen  Verzeichnisses  der 
Grundstiicks-  und  Hauseigentiimer.  Beide  Quellen  werden  einschlieBlich  der  zugehori- 
gen Akteniiberlieferung  im  Niedersachsischen  Landesarchiv  -  Staatsarchiv  Wolfenbiit- 
tel  aufbewahrt.  Sie  stellen  zusammen  ein  erstes  Kataster  der  Stadt,  gewissermaBen  ein 
„Braunschweiger  Adressbuch  von  1762/65"  dar.  Ausfiihrender  Vermessungsingenieur 
war  seinerzeit  der  Braunschweigische  Ingenieuroffizier  und  Leutnant  Andreas  Carl 
Haacke,  der  von  Herzog  Carl  I.  bzw.  dessen  Ftirstlicher  Kammer  1762  den  Auftrag  zur 
Herstellung  bekommen  hatte.  Haacke  gehorte  bereits  seit  1750  zu  den  Mitarbeitern  des 
als  Kommandeurs  der  Artillerie  und  des  Ingenieurkorps  fiir  das  Festungsbauwesen  und 
die  Wegebesserung  in  der  Stadt  Braunschweig  zustandigen  Oberstleutnants  Blum. 
Haacke  wurde  1767  zum  Kapitan  befordert  und  starb  1776.  Schon  1754  fertigte  er  einen 
ahnlichen  Grundrissplan  fiir  die  Stadt  Wolfenbiittel  an,  spater  dann  zahlreiche  Grund- 
und  Standrisse  zu  Wohn-  und  Wirtschaftsgebauden  vieler  herzoglicher  Amter  und 
Schlosser,  darunter  Sophiental,  Hessen  und  Gandersheim.  Seine  herausragende  vermes- 
sungstechnische  Leistung  war  allerdings  die  beschriebene  Aufnahme  der  Stadt  Braun- 
schweig in  sechs  Rissen  der  1758  eingerichteten  stadtischen  Distrikte  A  bis  F.  Nach  der 
vorgegebenen  Instruktion  mussten  die  anzufertigenden  Risse  die  Grundstiicksgrenzen 
genau  erkennen  lassen.  Jedes  Haupt-,  Seiten-,  Nebenhaus  und  Hofgebaude  einschlieB- 
lich der  Garten  war  nach  Breite  und  Lange  auszumessen  und  aufzutragen.  Die  Brunnen 
und  Zisternen  auf  den  Hofen  samt  den  von  den  Kunstmeistern  nachzuweisenden  Roh- 
renwasserleitungen  und  kleinen  Kanalen  waren  mit  aufzufiihren.  Alle  Not-  und  offentli- 
chen  Brunnen  sollten  angegeben  werden.  Die  Okerkanale  sollten  mit  maBrichtiger  Brei- 
te und  alien  Briicken  erscheinen.  Bei  den  Hausern  war  die  Nummer  der  1753  gegriinde- 
ten  Brandversicherung  zu  vermerken,  unbebaute  Grundstiicke  mussten  schwarz 
hervorgehoben  werden.  Das  Ergebnis  der  Vermessung  hatte  Haacke  in  sechs  Inselkar- 
ten  im  MaBstab  1  :  1.000  zu  iibertragen.  Diese  geradezu  mustergiiltig  angefertigten  Kar- 
ten  haben  Ihren  Zweckbis  ins  19.  Jahrhundert  vorziiglich  erfiillt,  wovon  zahlreiche  Ko- 
pien  zeugen,  die  die  Stadtverwaltung  bis  zur  Neuvermessung  im  Jahre  1876  durch  Carl 
Allers  anfertigen  lieB. 

Nachdem  die  sechs  Distrikt-Karten  bereits  1981  im  sogenannten  „Historischen  Atlas 
der  Stadt  Braunschweig"  als  verkleinerte  Faksimiles  wiedergeben  worden  waren,  hat 
Wolfgang  Meibeyer  nunmehr  einen  farbigen  Neudruck  in  reproduktionstechnisch  ver- 
besserter  Form  im  ebenfalls  verkleinerten  MaBstab  von  ca.  1  :  2.000  vorlegen  konnen. 
Der  besseren  Ubersicht  halber  hat  Meibeyer  zusatzlich  noch  den  Culemannschen  Stadt- 


1  Jiirgen  Mertens,  Die  neuere  Geschichte  der  Stadt  Braunschweig  in  Karten,  Planen  und 
Ansichten,  Braunschweig  1981,  Seite  140f.  sowie  Blatt  35/1-6;  die  fraheren  Versionen  des  so- 
genannten Braunschweig-Atlasses  sind  beschrieben  bei  Theodor  Muller,  Ein  historischer  At- 
las der  Stadt  Braunschweig,  in:  Braunschweigisches  Jahrbuch  Band  38/1957,  Seite  150-155. 


552  Besprechungen 

plan  von  1798  als  farbiges  Faksimile  in  verkleinertem  MaBstab  beigefiigt.  Wahrend  in 
der  Zusammenstellung  des  Historischen  Atlasses  der  Stadt  Braunschweig  jedoch  die 
bislang  nicht  bekannten  zugehorigen  Listen  der  Grundstiicks-  und  Hauseigentiimer  feh- 
len,  konnte  Meibeyer  diese  bei  seinen  Nachforschungen  im  Staatsarchiv  Wolfenbiittel 
aufspiiren  und  als  SchwarzweiB-Vollfaksimile  zum  zweiten  wichtigen  Bestandteil  dieser 
Edition  machen. 

Der  erste  Teil  des  Buches  umfasst  24  Seiten  und  enthalt  Erlauterungen  des  Verfassers 
zu  den  friihen  Ansichten,  Stadtplanen  und  Vermessungen  der  Stadt  Braunschweig,  zum 
zeitlichen  Kontext  der  behandelten  Quellen,  zu  der  der  Vermessung  seinerzeit  vorausge- 
gangenen  Instruktion,  zum  Ablauf  und  zu  den  Kosten  der  Vermessungsarbeiten  sowie 
zur  Biographie  des  Vermessungsingenieurs  Haacke.  Dariiber  hinaus  enthalt  er  einen 
40  Nummern  umfassenden  Anmerkungsapparat  und  einen  Nachweis  der  erhalten  ge- 
bliebenen  Karten-Unterlagen.  Den  zweiten  Teil  des  Buches  im  Umfang  von  137  Seiten 
macht  die  SchwarzweiB-Wiedergabe  der  handschriftlichen  Repertorien  der  Grund- 
stiickseigentiimer  als  Vollfaksimile  aus.  Diese  Listen  sind  nach  den  stadtischen  Distrik- 
ten  A  -  F  und  darunter  straBenweise  angelegt.  Sie  fiihren  die  Grundstucksnummer  zu 
dem  zugehorigen  Riss,  die  Brandassekuranznummer,  den  Namen  des  Eigentiimers  und 
die  GrundstucksgroBe  in  Quadratruten  auf.  Im  dritten  Teil  des  Buches  bietet  der  Verfas- 
ser  auf  zwanzig  Druckseiten  ein  Register  der  Hauser  und  Grundstucke  privater  Eigentii- 
mer  in  alphabetischer  Reihenfolge  der  Familiennamen  sowie  der  nichtprivaten  Hauser 
und  Grundstucke  ebenfalls  in  alphabetischer  Reihenfolge.  Die  farbig  faksimilierten 
Karten  sind  schlieBlich  in  einer  Umschlagtasche  gefaltet  beigelegt. 

Meibeyers  Veroffentlichung  schlieBt  die  Liicke  zwischen  dem  im  Jahre  1942  von 
Werner  SpieB  edierten  Burger-  und  Gewerbeverzeichnis  fur  das  Jahr  1671,  den  im  Jahre 
2004  edierten  Kopfsteuerlisten  aus  den  Jahren  1672  und  1687  sowie  den  im  19.  Jahrhun- 
dert  einsetzenden  Adressbiichern.  Sie  eroffnet  der  Forschung  iiber  wirtschafts-  und  so- 
zialgeschichtliche  sowie  namenkundliche  Fragen  zur  Stadt  Braunschweig  bzw.  deren 
Einwohnerschaft,  dariiber  hinaus  auch  zur  Entwicklung  des  Stadtgrundrisses  neue  Mog- 
lichkeiten. 

Braunschweig  Hans-Martin  Arnoldt 


Urkundenbuch  der  Stadt  Braunschweig.  Bd.  8, 1-II  1388-1400  samt  Nachtragen.  Bearb.  von 
Josef  Dolle.  Hannover:  Verlag  Hahnsche  Buchhandlung  2008.  1843  S.  =  Veroff.  der 
Historischen  Kommission  fur  Niedersachsen  und  Bremen  Bd.  240.  Geb.  79,90  €. 

Anzuzeigen  ist  der  achte  und  letzte  Band  des  Urkundenbuches  der  Stadt  Braunschweig 
in  der  vorgegebenen  Konzeption  eines  Pertinenzurkundenbuches,  zu  wiirdigen  die  ganz 
vorziigliche  Leistung  des  Bearbeiters  der  Bande  5-8  Josef  Dolle  und  der  Ertrag  der  Editi- 


2  Vgl.  Mertens  wie  FuBnote  1 

3  Heinrich  Medefind,  Die  Kopfsteuerbeschreibungen  der  Stadt  Braunschweig  von  1672 
und  1687,  Hannover  2004  (Rezension  hierzu  in:  Niedersachsisches  Jahrbuch  fur  Landesge- 
schichte  77,  2005,  Seite  421);  Werner  Spiess,  Braunschweigisches  Burger-  und  Gewerbever- 
zeichnis fur  das  Jahr  1671,  Braunschweig  1942;  Braunschweigisches  Adressbuch,  Braun- 
schweig 1805ff. 


Geschichte  einzelner  Landesteile  und  Orte  553 

on  fur  Stadt-  und  Landesgeschichte.  Der  Band  umfasst  die  Jahre  1388  -  1400,  die  beweg- 
te  Phase  der  Konsolidierung  und  Neuordnung  stadtischer  Verhaltnisse  nach  den  wohl 
einschneidendsten  Ereignissen  der  spatmittelalterlichen  Stadtgeschichte,  der  GroBen 
Schicht  von  1374  mit  Verhansung  bis  1380  und  dem  Luneburger  Erbfolgekrieg.  Am  An- 
fang  stehen  die  abschlieBende  Aussohnung  des  Rates  mit  zwei  prominenten  Vertriebe- 
nen  von  1374,  Bertram  van  Damme  und  Gerd  Pawel  (Nrn.  55-57,  78),  und  die  reich  doku- 
mentierte  Auseinandersetzung  Braunschweigs  mit  Liineburg  nach  der  Schlacht  bei  Win- 
sen  im  Juni  1388,  die  den  Erbfolgekrieg  auch  dank  Braunschweigs  Beteiligung 
zugunsten  der  welfischen  Landesherren  gegen  die  Askanier  und  das  mit  ihnen  verbiin- 
dete  Liineburg  entschied  (Nrn.  93-95,  100-102,  lllf,  143,  145,  155,  162,  168),  -  am  Ende 
die  Ermordung  Herzog  Friedrichs  bei  Fritzlar  am  5.  Juni  1400,  Huldigungseid  des  Ge- 
meinen  Rats  fur  die  Nachfolger,  deren  Huldebrief  und  Belehnung  Braunschweiger  Bur- 
ger (Nrn.  1463,  1465-1469).  Sprunghaft  steigende  Einbiirgerungen  in  Altstadt,  Neustadt, 
Altenwiek  wie  die  Zunahme  der  Privatrechtsgeschafte  in  den  Degedingbiichern  der 
5  Weichbilde  ab  1397  deuten  auf  wiedergewonnene  Starke  und  Aufschwung  hin.  Vor- 
aussetzung  waren  strukturelle  Reformen  von  Ratsverfassung,  Rechtswesen,  Finanzver- 
waltung,  wie  sie  u.a.  die  Uberarbeitung  des  Stadtrechts,  MaBnahmen  zur  Entschuldung 
1399  (Nr.  1323) ,  Anlage  neuer  Stadtbiicher  belegen.  Die  Relevanz  der  MaBnahmen,  oh- 
nehin  eher  indirekt  fassbar,  ist  in  der  kaleidoskopischen  Fiille  des  hier  vereinten  Materi- 
als weniger  leicht  auszumachen  als  die  der  urkundlich  fixierten,  wie  bisher  auf  begrenzte 
Zeit  abgeschlossenen  Einungen  und  Stadtebiinde,  die  nunmehr  vor  allem  auf  die  Star- 
kung  stadtischer  Gerichtsbarkeit  gegeniiber  Landfriedensgerichten  (1393,  Nrn.  586- 
589),  westfalischen  Femegerichten  (1396,  Nr.  859)  und  geistlichen  Gerichten  abzielen. 
Mit  der  papstlichen  Gewahrung  eines  eigenen  Offizials  in  der  Stadt  gegen  den  Wider- 
stand  der  zustandigen  Bischofe  und  Archidiakone  1390-398  (Nrn.  231,  345,  380f.,  445, 
759,  803,  827,  898,  1129,  1141,  1151)  baut  die  Stadt  ihre  Unabhangigkeit  aus.  Zahlreiche 
Verwahrbriefe,  gegeniiber  den  Vorbanden  im  2.  Gedenkbuch  der  Stadt  nunmehr  mit 
Schreiber  und  Boten  sorgsam  notiert,  illustrieren  die  unsichere  Lage  im  Fiirstentum 
nach  1388  und  das  Verhaltnis  zu  Landesherm  und  Adel  (z.B.  Nrn.  566-570,  597,  1127) . 

In  diesen  grob  skizzierten  Rahmen  ordnet  sich  wie  in  den  Vorbanden  ein  stark  ange- 
stiegenes,  nach  Form,  Inhalt  und  Bedeutung  hochst  unterschiedliches  Material  zu  alien 
Bereichen  stadtischen  Lebens  ein,  das  der  Bearb.  in  29  Institutionen  zusammengetragen 
hat,  insgesamt  1530  Nummern  (Bd.  7:  1203)  zuzuglich  59  Nachtriige  (ca.  1200-1387)  - 
darunterin  Abschrift  die  friiheste  urkundliche  Erwahnung  von  burgenses und  concives  des 
Hagens  (Nr.  1531:  [1193-1201])vor  dem  Hagenrecht  1227  -  und  ca.  1300  (Bd.  7:  746)  vor 
den  Weichbildraten  getatigte  Privatrechtsgeschafte  in  den  Degedingbiichern.  Die  vor- 
ziiglichen,  detailliert  ausgebauten  Indices,  die  dieses  disparate  Material  iiberhaupt  erst 
nutzbar  machen,  fiillen  einen  Sonderband.  Die  Originale  der  Urkundenbestande  im 
Stadtarchiv  Braunschweig  und  vor  allem  Staatsarchiv  Wolfenbiittel  machen  noch  kein 
Drittel  der  1530  Nummern  aus,  von  denen  zwei  Drittel  und  die  Eintrage  in  den  Dege- 
dingbiichern bislang  ungedruckt  sind.  Manch  erstaunenden  Liicken  in  der  originalen 
und  abschriftlichen  Uberlieferung  deriiberregionalen  Beziehungen  (Konflikt  mit  Liine- 
burg 1388,  Stadtebiinde  z.B.),  die  aus  den  Bestanden  fremder  Archive  auszugleichen 
sind,  steht,  wie  schon  fur  die  Vorbande  zu  konstatieren,  die  dichte  Dokumentation  all- 
taglicher  Geschafte  in  der  Stadt  und  ihrem  Nahbereich  gegeniiber. 

Uberschlagig  berechnet,  hat  der  Bearb.  zwischen  1994  und  2008  in  den  Banden  5-8 
fur  die  Jahre  1351-1400  4283  Nummern  (Bd.  2-4, 1031-1350:  2473  Nrn.)  und  ca.  4400  Ein- 


554  Besprechungen 

trage  in  den  Degedingbuchern  mustergiiltig  ediert;  eine  bewundernswerte  Leistung,  mit 
der  die  Stadt  Braunschweig  iiber  eine  herausragende  Bearbeitung  ihrer  zentralen  nicht- 
chronistischen  Uberlieferung  in  Ein-  und  Ausgang  verfiigt  und  die  Landesgeschichte 
iiber  ein  in  seinem  Ertrag  noch  gar  nicht  abzuschatzendes  Quellenwerk. 

Der  vorliegende  Band  ist,  wie  festgestellt,  zugleich  der  letzte  in  der  alten  Konzeption. 
Mit  ihm  stoBt  das  um  1870  unter  anderen  wissenschaftlichen  und  gesellschaftlichen 
Voraussetzungen  und  Bediirfnissen  als  Pertinenzurkundenbuch  konzipierte  Quellen- 
werk ersichtlich  an  seine  naturliche  Grenze  angesichts  Umfang  und  zunehmender  Dif- 
ferenzierung  des  einzubeziehenden  Materials.  Die  grundsatzlichen  Argumente  gegen 
eine  Fortfuhrung  des  Urkundenbuches  iiber  1350  hinaus  nach  dem  Pertinenzprinzip, 
das  stadtischen  Urkundenbiichern  des  19.  Jh.  i.d.R.  zugrunde  liegt  und  Mitte  des  14.  Jh. 
zu  Kollaps  oder  nicht  sehr  befriedigenden  Ausweichlosungen  fiihrte  (vgl.  die  ausge- 
zeichnete  Ubersicht  U.  Ohainskis  in:  Ndsjb  77,  2005,  S.  68-89,  darin  auch  erganzende 
Quellenpublikationen  zu  Braunschweig,  S.  69 f.),  waren  Herausgeber  und  Bearbeiter 
bewusst  und  sind  hinlanglich  thematisiert  worden  (u.a.  Ndsjb  67,  1995,  S.  429-431;  76, 
2004,  S.  468-471).  Hier  seien  im  Uberblick  iiber  die  8  Bande  Erstrebtes  und  Erreichtes 
kurz  skizziert. 

Die  Kontinuitat  der  Bande  5-8  zu  den  1873-1912  erschienenen  Banden  1-4  ist  -  bei  der 
Benutzung  zu  beachten  -  nicht  bruchlos.  Den  Entschluss,  die  Edition  bis  an  das  Jahr 
1400  heranzufiihren  und  neuere  Editionsformen  dem  anschlieBenden  Schriftgut  vorzu- 
behalten,  verbanden  Herausgeber  und  Bearbeiter  mit  dem  Ziel,  dann  aber  „samtliche  er- 
haltenen  und  irgendwie  nachweisbaren  Materialien  zur  Geschichte  der  Stadt  .  .  .  einzu- 
bringen".  Das  geht  iiber  Hanselmanns  restriktiveres  Aufnahmekriterium  alles  dessen, 
was  seinem  „Wesen  nach  urkundlich  ist  und  die  eigentliche  Stadtgemeinde  angeht",  hin- 
aus, fiihrt  zu  raumlicher  und  sachlicher  Ausdehnung  der  Ermittlungen,  zur  Einbezie- 
hung  in  den  Vorbanden  ausgeschlossener  Fonds  vor  allem  der  Stifter  und  Kloster  in  und 
um  Braunschweig,  zur  Kollision  mit  projektierten  Fondseditionen  und  lasst  die  Anzahl 
allein  der  auszuwertenden  Stadtbiicher  (Bestand  B  I)  in  verwaltungsgeschichtlich  be- 
dingten  Schiiben  von  20  in  Bd.  5  auf  43  in  Bd.  8  anschwellen.  Bereits  Hanselmann  war 
klar,  „daB  manches  dafiir  spricht,  Stadtbiicher  unzerstiickt  und  gesondert  von  eigent- 
lichen  Urkunden  wiederzugeben",  mochte  ihres  eminenten  Quellenwertes  fiir  „das  in- 
nere  Getriebe  der  Stadt"  halber  aber  nicht  auf  sie  verzichten,  zumal  eine  gleichzeitige 
Herausgabe  nicht  moglich  sei,  ein  Argument,  das  bis  heute  nicht  widerlegt  wurde  und 
sich  auf  die  meisten  der  fiir  die  Stadtgeschichte  wichtigen  Urkundenbestande  des  Fiirs- 
tentums  Braunschweig  und  andernorts  ausdehnen  lieBe. 

Man  darf  die  gestellte  Aufgabe  als  voll,  in  Einzelfallen,  iiber  die  nicht  zu  rechten  ist, 
als  iibererfullt  ansehen.  Das  Quellenwerk  bietet,  grob  umrissen,  in  strikt  chronologi- 
scher  Ineinanderordnung  bis  1400  eine  Edition  der  Fonds  des  stadtischen  Urkundenar- 
chivs  (Rats-,  Glide-,  Geistliche,  Familienarchive,  Varia)  und  der  zugehorigen  kopialen 
Uberlieferung,  Teileditionen  der  Fonds  von  Stiftern  und  Klostern  in  der  Stadt  im  Staats- 
archiv  Wolfenbiittel  1351-1400,  Ausstellerprovenienz  in  Original  und  Abschrift  sowie 
die  Beziehungen  zu  Braunschweig  erhellendes  Material  in  fremden  Archiven,  eine  jahr- 
weise  angelegte  Paralleledition  der  Degeding-,  Neubiirger-  und  Verfestungsbiicher  von 
Altstadt,  Neustadt  und  Altenwiek,  welcher  lediglich  eine  einleitende  Beschreibung  der 
Handschriften  wie  in  Bd.  1-4  fehlt.  Welche  chronologisch  oder  nicht  chronologisch  ge- 
fiihrten  Biicher  zwar  gestiickelt,  aber  doch  vollstandig  ediert  werden,  lasst  sich  in  der 
chronologischen  Gemengelage  nur  schwer  ermitteln.  Vorerst  bleibt  man  auf  gelegentli- 


Geschichte  einzelner  Landesteile  und  Orte  555 

che  wertvollste  Hinweise  zu  Anlage,  Umfang,  Inhalt,  Schreiberhanden  u.a.  angewiesen. 
Wenn  die  Edition  derBande  5-8  einen  Wunsch  offen  lasst,  dann  den  nach  einem  einlei- 
tenden,  dem  weniger  kundigen  Benutzer  Orientierung  bietenden  quellenkritischen 
Uberblick  iiber  die  Handschriften.  Er  wiirde  es  erleichtern,  das  disparate  Material  in 
der  buchformigen  Uberlieferung,  das  hier  der  Forschung  erstmals  zuganglich  und  er- 
schlossen  wird,  in  seinem  groBen  Quellenwert  fiir  wirtschafts-,  sozial-,  personenge- 
schichtliche  und  topographische  Untersuchungen  in  Quer-  und  Langsschnitten  prazi- 
ser  einzuschatzen. 

Im  Gesamtiiberblick  vermittelt  das  Urkundenbuch  in  der  Zusammenfiihrung  korres- 
pondierender  wie  im  Nebeneinander  unterschiedlichster  Quellen  einen  fesselnden, 
wohl  auch  aussagekraftigen  Eindruck  Braunschweigs  als  des  lebensvollen  stadtischen 
Mittelpunktes  im  Fiirstentum  Wolfenbiittel  in  seiner  vielfaltigen  funktionalen  Bedeu- 
tung  fiir  das  nahere  und  fernere  Umland,  wie  er  dieser  Bedeutung  angemessen  erscheint 
und  gesonderten  Fonds-  und  Stadtbucheditionen  so  nicht  abzugewinnen  ware. 

Fiir  die  ErschlieBung  des  Schriftgutes  des  15.  Jahrhunderts,  der  ca.  2500  Urkunden 
und  der  wichtigsten  Stadtbiicher,  wird  ein  Gesamtkonzept  erarbeitet,  das  bis  zur  1000- 
Jahrfeier  der  Ersterwahnung  Braunschweigs  1031  iiber  Online-Findmittel  den  Zugang 
wesentlich  erleichtern  soil  und  mit  der  abgeschlossenen  vortrefflichen  Edition  der  Quel- 
len 1351-1400  auf  festem  Fundament  aufsetzen  kann.  Fiir  diese  gebiihren  Bearbeiter, 
Herausgeber,  alien  Forderern  und  dem  Verlag  Dank  und  hohe  Anerkennung. 

Wennigsen  Karin  Gieschen 


Bubke,  Karolin:  Die  Bremer  Stadtmauer.  Schriftliche  Uberlieferung  und  archaologische 
Befunde  eines  mittelalterlichen  Befestigungsbauwerks.  Bremen:  Staatsarchiv Bremen 
2007.  320  S.  Abb.  =  Veroff.  aus  dem  Staatsarchiv  der  Freien  Hansestadt  Bremen 
Bd.  68.  Geb.  20,- €. 

Die  Stadtmauer  als  eines  der  konstitutiven  Merkmale  der  mittelalterlichen  Stadt  hat  seit 
jeher  groBe  Aufmerksamkeit  gefunden.  Umfassende  Dokumentationen,  die  auch  wis- 
senschaftlichen  Anspriichen  geniigen,  liegen  jedoch  fiir  nur  wenige  groBe  Stadte  vor. 

Diesem  Mangel  hilft  die  vorliegende  Bremer  Dissertation  bei  dem  Mediavisten  Die- 
ter Hagermann  und  dem  Archaologen  Manfred  Rech  fiir  die  Hansestadt  ab.  Sie  zeichnet 
sich  durch  die  notwendige  gleichgewichtige  Zusammenstellung  und  Auswertung  der 
Schriftquellen,  des  Bildmaterials  und  der  archaologischen  Funde  aus.  Ausgenommen 
wird  die  Befestigung  der  Domburg  und  der  friihen  Marktsiedlung,  wodurch  sich  fiir  die 
Friihzeit  schwierige  quellenkundliche  Abgrenzungsprobleme  ergeben.  Uber  die  friihe 
Siedlungsentwicklung  und  der  Bedeutung  des  Balgehafens  muss  sich  der  nicht  ortskun- 
dige  Leser  weiterhin  etwa  bei  Schwarzwalder  oder  Weidinger  informieren.  Die  Arbeit 
konzentriert  sich  konsequent  auf  die  zu  1229  erstmals  urkundlich  belegte  und  nicht  viel 
altere  Stadtmauer  bis  hin  zu  ihrem  vollstandigen  Verschwinden  aus  dem  Stadtbild  -  und 
dem  Bewusstsein  -  durch  Uberbauung  und  Abriss  im  18./19.  Jahrhundert.  Erst  die  Be- 
seitigung  der  Bombenschaden  haben  wieder  groBere  Teile  zutage  treten  lassen,  und  zu- 
sammen  mit  jiingeren  archaologischen  Befunden  und  Bildmaterial  kann  die  Verfasserin 
ihren  Verlauf  und  Aussehen  und  die  Turm-  und  Torsituationen  rekonstruieren.  Die  alte- 
re Landmauer,  die  offenbar  von  vornherein  auch  die  Domimmunitat  einschloss  und 


556  Besprechungen 

dem  Stadtherrn  lediglich  einen  anscheinend  nur  rechtlich  gesicherten  Anspruch  auf  den 
Zutritt  durch  die  „Bischofsnadel"  lieB,  wurde  bald  durch  die  Wesermauer  erganzt,  die 
dasjiingere  Martinikirchspiel  auf  der  Balgeinsel  einschloss.  Die  spatestens  im  12.Jahr- 
hundert  einsetzende  Aufsiedlung  der  Insel  wurde  anscheinend  seit  der  zweiten  Halfte 
des  Jahrhunderts  zunachst  durch  mehrere  starkwandige  Steinkammern  bzw.  Saalge- 
schosshauser  nach  der  Weser  und  zum  Schlachtehafen  hin  gesichert.  Mit  der  eigenstan- 
digen  Ummauerung  der  Stephanivorstadt  seit  dem  friihen  14.  Jahrhundert  war  das  Be- 
festigungswerk,  erganzt  durch  friihneuzeitlichen  Rondell-  und  Wallbefestigungen  und 
schlieBlich  ersetzt  durch  das  Bastionarsystem  im  17.  Jahrhundert  (unter  Einbeziehung 
der  Neustadt),  fur  das  Mittelalter  abgeschlossen.  Fur  die  Anlage  eines  eigentlich  nach 
Vergleichsbeispielen  schon  fur  das  15.  Jahrhundert  vorauszusetzenden  Walles  vor  der 
Mauer  fehlen  direkte  Belege.  Die  Konstruktion  fiigte  sich  weitgehend  in  das  fur  andere 
norddeutsche  Hansestadte  bekannte  Bild  ein:  die  sich  verjiingende  Backsteinmauer  (un- 
ten  1,8-2,2  m)  griindete  auf  einem  Feldsteinfundament,  fur  die  Altstadt  zweischalig,  die 
jiingere  Stephanimauer  durchmauert,  verstarkt  durch  Entlastungsbogen  und  Pfeiler  so- 
wie  in  regelmaBigen  Abstanden  durch  Halbrundtiirme.  Fiir  den  Wehrgang  fehlen  An- 
haltspunkte.  Der  Wachdienst  auf  den  durch  representative  Turmaufbauten  verstarkten 
9  Toren  wurde  kirchspielweise  durch  Nachbarschaften  (Rotten)  organisiert.  Die  kost- 
spielige  Unterhaltung  lasst  sich  seit  1369  in  den  Stadtrechnungen  verfolgen.  U.  a.  aus  der 
allmahlich  zugestandenen  Nutzung  von  anliegenden  Grundstiicken,  zuerst  auf  der  In- 
nenseite  seit  1420,  entstand  eine  eigenstandige  Einnahmequelle  (Mauerkasse),  die  durch 
ein  schon  1369  belegtes,  fiir  die  Mauer  verantwortliches  Gremium  („Mauerherren")  ver- 
waltet  wurde.  Nach  dem  sukzessiven  Funktionsverlust  seit  dem  16.  Jahrhundert  wurden 
die  Kosten  auf  die  nutznieBenden  Anlieger  abgewalzt. 

Der  in  der  stadtischen  Chronistik  noch  Erzbischof  Johann  Grand  fiir  die  Jahre  um 
1311/12  zugeschriebene  Konflikt  um  den  Mauerbau  ist  vermutlich  auf  eine  Fehldeutung 
ihrer  Vorlage  zuriickzufuhren.  Der  Beginn  des  Mauerbaues  im  friihen  13.  Jahrhundert 
markiert  aber  eine  entscheidende  Phase  der  stadtischen  Gemeindebildung,  die  die  ver- 
fassungsgeschichtliche  Forschung  starker  beriicksichtigen  muss.  Zu  deren  Verstandnis 
ware  eine  siedlungs-  und  verfassungstopographische  Einfiihrung  auch  unter  Beriick- 
sichtigung  der  Vorfeldsituation  sowie  ein  Register  in  der  ansonsten  verdienstvollen  Ar- 
beit niitzlich  gewesen. 

Gottingen  Gerhard  Streich 


Duderstddter  HduserBuch.  Hrsg.  von  der  Stadt  Duderstadt.  Gesamtbearbeitung  Hans- 
Reinhard  Fricke.  Mit  Beitragen  von  Bettina  Bommer,  Hans-Heinrich  Ebeling,  Ulrike 
Ehbrecht,  Jens  Otto  Erdbrugger,  Maria  Hauff  und  Sabine  Wehking.  Duderstadt: 
Mecke  Druckund  Verlag  2007.  Abb.,  graph.  Darst.  +  1  CD-ROM.  =  Beitrage  zur  Ge- 
schichte  der  Stadt  Duderstadt  Bd.  V.  Geb.  19,90  €. 

Das  Stadtarchiv  Duderstadt  hat  in  denjahren  seit  1990  kontinuierlich  an  dem  Projekt  ei- 
ner  auf  die  einzelne  Pazelle  bezogenen  ErschlieBung  der  besitzergeschichtlich  auswert- 
baren  Quellen  gearbeitet.  Dass  diese  Untersuchung  mit  einer  Publikation  abgeschlossen 
werden  konnte,  ist  eine  groBartige  Leistung. 


Geschichte  einzelner  Landesteile  und  Orte  557 

Fluch  und  Segen  liegen  wie  so  oft  nahe  beieinander.  So  wie  das  Stadtbild  mit  seiner 
dominierenden  und  in  seltener  Geschlossenheit  erhaltenen  Fachwerksichtigkeit  der 
Hauser  beriihmt  ist,  ist  auch  die  Uberlieferung  der  Stadtarchivalien  auBergewohnlich 
dicht.  Damit  aber  war  der  schier  unglaublich  Berg  von  275.000  (S.  15)  oder  gar  420.000 
(so  in  einer  Besprechung  bzw.  Selbstanzeige  in  der  „Roten  Mappe  2008"  des  Niedersach- 
sischen  Heimatbundes,  S.  35)  Eintragen  in  den  Archivalien  zu  transkribieren,  zu  erfas- 
sen  und  so  aufzubereiten,  dass  sinnvolle  Verkniipfungen  in  Sinne  der  Fragestellung, 
namlich:  werwann  wo  in  derStadt  Duderstadt  gelebt  hat,  moglich  wurden.  Fiinf  Wissen- 
schaftler  haben  mit  Ein-  bis  Dreijahresvertragen  ausgestattet  daran  gearbeitet,  jeweils 
unterstutzt  von  einer  sog.  Schreibkraft,  also  Frauen,  die  iiber  die  Jahre  sicher  selbst  zu 
Fachkraften  fur  fruhneuzeitliche  Texte  geworden  sind.  Von  1990  bis  1999  dauerte  die 
Datenerfassung  durch  externe  Krafte,  der  Band  ist  aber  erst  achtjahre  spaterund  17Jah- 
re  nach  dem  Start  des  Projektes  erschienen.  Es  scheinen  die  Faszination,  die  von  dem  Ge- 
samtkunstwerk  „Stadt  Duderstadt"  ausgeht,  erganzt  durch  den  dichten  Archivbestand 
und  dem  -  mit  neuer  Methodik  verfolgte  -  Ansatz  der  „Kompletterfassung"  gewesen  zu 
sein,  die  das  Durchhalten  bis  zur  Vollendung  der  gestellten  Aufgabe  moglich  gemacht 
haben.  Das  Projekt  wurde  von  den  Gemeindevertretungen  der  Stadt  trotz  gleichzeitig 
laufender,  kostenintensiver  Stadtsanierung  mitgetragen.  Weitere  finanzielle  Unterstiit- 
zung  kam  von  den  Stiftungen  des  Landes  und  dem  Landschaftsverband  der  Region. 

Der  Duderstadter  Untersuchung  vergleichend  an  die  Seite  zu  stellen  ist  das  „GroBin- 
ventar"  der  Stadt  Minden,  an  dem  ebenfalls  seit  den  friihen  1990er  Jahren  gearbeitet 
wurde  und  das  2008  seinen  Abschluss  fand  (Bau-  und  Kunstdenkmaler  von  Westfalen 
Band  50  -  Stadt  Minden,  herausgegeben  durch  Fred  Kaspar,  Peter  Berthold,  Ulf-Diet- 
rich  Korn,  Roland  Piper  und  Kevin  Lynch,  Minden  1998-2008).  Auch  in  Minden  hat 
man  die  Parzellenstruktur  der  Stadt  zum  Ordnungsprinzip  gewahlt,  aber  sehr  viel  starker 
als  in  Duderstadt  die  Baugeschichte  der  Hauser,  Briicken,  Festungsbauten  etc.  selbst 
zum  Thema  gemacht  und  seit  1998  publiziert.  So  sind  dort  10  Bande  zur  Beschreibung 
der  gebauten  Stadtgeschichte  mit  durchschnittlich  700  Seiten  Umfang,  zusammen  0,5 
Regalmeter  gedruckt  worden!  Das  noch  laufende  GroBprojekt  in  der  Stadt  Bamberg 
hebt  ahnlich  dem  Duderstadter  stark  auf  elektronische  Medien  ab,  allerdings  mit  dem 
Ziel  der  Visualisierung  aller  denkbaren  historischen  Sachverhalte  durch  Grafiken  und 
Karten. 

Das  Duderstadter  Buch  nimmt  sich  mit  256  Seiten  (plus  zwei  Vorgangerbanden  zur 
Stadtbefestigung)  angenehm  handlich  und  benutzerfreundlich  aus.  Am  Beginn  stehen 
die  Geschichte  des  Projektes,  methodische  Fragen  und  eine  Beschreibung  der  verwen- 
deten  Quellen.  Wichtig  ist  hier  der  Hinweis  auf  die  seinerzeit  noch  als  experimentell  zu 
bezeichnende  intensive  Nutzung  der  Datenverarbeitung,  in  die  das  Gottinger  Max- 
Planck-Institut  fur  Geschichte  einbezogen  war.  Das  „Digitale  Hauserbuch"  ist  in  Form 
einer  Computerdatei  im  Archiv  der  Stadt  nutzbar.  Dem  Buch  liegt  eine  Datentrager- 
scheibe  bei,  die  die  wichtigsten  Ausziige  daraus  enthalt.  Nach  einigem  Suchen  findet 
man  zu  den  37  StraBen  der  Stadt  unter  jeder  Hausnummer  ein  bis  drei  Folien,  die  die  Rei- 
henfolge  der  Besitzer,  Fotos  des  Hauses  und  Inschriften  am  Haus  wiedergeben.  Dane- 
ben  sind  auf  der  CD  die  Quellen  in  tabellarischer  Form,  Stadtplane  und  Konkordanzen 
zwischen  heutiger  Hauskennung  und  alter  (Feuerversicherungs-)nummer  enthalten. 

Im  Buch  selbst  folgen  den  Einleitungskapiteln  18  Einzelbeitrage  zu  Themen  der 
Stadtgeschichte.  Die  Kunsthistorikerin  Maria  Hauff  gibt  einen  kurzen  Uberblick  iiber 


558  Besprechungen 

die  Phasen  aus  denen  Hauser  dieser  von  den  Zerstorungen  des  2.  Weltkrieges  verschont 
gebliebene  Stadt  erhalten  sind.  Hans-Reinhard  Fricke  beschreibt  die  topographische 
Entwicklung  der  Stadt  und  die  „Brande  als  stadtbildpragende  Ereignisse".  Bei  der  Mehr- 
zahl  und  der  Schwere  der  geschilderten  Brande  verwundert  es  fast  schon,  dass  heute 
noch  ein  so  harmonisches  Stadtbild  vorzufinden  ist.  Vom  gleichen  Autor  werden  die 
Hausbesitzer  des  16.  Jahrhunderts  und  der  Wert  der  Hauser  dargestellt,  wobei  wieder 
einmal  der  vergleichsweise  geringe  Wert,  den  man  den  Bauten  in  dieser  Zeit  zumaB,  auf- 
fallt.  Der  DreiBigjahrige  Krieg  hatte  Duderstadt  (wie  auch  andere  Mittelstadte)  schwer 
in  Mitleidenschaft  gezogen,  wie  die  abnehmende  Zahl  der  Steuerpflichtigen  und  auch 
die  zunehmende  Zahl  der  unbebauten  Grundstiicke  besonders  (aber  keineswegs  nur)  au- 
Berhalb  der  Stadtmauern  zeigen.  Die  Pestepedemien  der  zweiten  Halfte  des  17.  Jahrhun- 
derts waren  mit  hohen  Verlustzahlen  aber  nur  geringer  wirtschaftlicher  Depression  ver- 
bunden  (gemeinsamer  Aufsatz  von  H.-H.  Ebeling  und  H.-R.  Fricke).  Ein  Brandkassen- 
kataster  des  fruhen  19.  Jahrhunderts  gibt  Auskunft  iiber  Wert  der  Hauser  und  lasst  so  auf 
die  unterschiedliche  Giite  der  Wohngegenden  schlieBen.  Weiter  sind  dort  Informatio- 
nen  zu  Mehrfachbesitz  von  Hausern  und  die  Berufe  der  Besitzer  zu  ermitteln  (H.-H. 
Ebeling)  .  Der  Anschluss  Duderstadts  an  die  neue  Bahnlinie  fiihrte  1889  zu  der  -  von  den 
gewahlten  Vertretern  der  Stadt  bekampften  -  Anlage  einer  neuen  BahnhofstraBe.  Dies 
wurde  der  erste  schwere  Eingriff  in  die  spatmittelalterliche  Stadtstruktur  (H.-R.  Fricke). 
In  einem  informativen  Kapitel  liefert  Sabine  Wehking  Duderstadter  Hausinschriften 
und  ihre  Deutung.  Sie  liefert  Inschriftbeispiele  fur  die  biirgerliche  Widerstandigkeit  der 
protestantischen  Hausbesitzer  gegen  die  von  der  Mainzer  Landesregierung  betriebene 
Rekatholisierung.  Die  Hausnummerierung  wie  auch  das  entstehende  Feuerversiche- 
rungswesen  (M.  Hauff  und  H.-R.  Fricke)  weisen  beide  auf  die  Versicherungskataster  als 
wichtige  bauhistorische  Quelle  hin,  aber  auch  auf  die  Zufalligkeit  der  Auffindung  dieses 
im  Kern  privatwirtschaftlichen  Archivgutes.  Fiirmich  sind  Bemiihungen  um  eine  syste- 
matische  Erfassung  und  Publizierung  der  Aufbewahrungsorte  dieser  Quellengattung 
seit  langem  ein  Desiderat.  Die  fruhen  Personennamen  des  14.  und  15.  Jahrhunderts 
(H.-H.  Ebeling)  spiegeln  den  Prozess  der  Namensbildung  und  in  diesem  Zusammen- 
hang  die  haufige  Verwendung  von  Herkunftsorten  als  Nachnamen.  Zugleich  werden  die 
weitraumigen  Beziehungen  der  Stadt  im  Spatmittelalter  deutlich.  Ulrike  Ehbrecht  weist 
aus  Notizen  des  Stadtarchivs  auf  das  „Wohnen  in  Tiirmen  und  Toren"  hin.  Problem  fur 
die  Stadt  war  der  Unterhalt  dieser  Gebaude,  soweit  sie  zu  der  alten  Stadtmauer  gehorten. 
Diese  war  nach  der  Anlage  des  auBeren  Befestigungsringes  um  1550  fur  die  Verteidi- 
gungsaufgaben  nutzlos  geworden.  Die  Mieter  wurden  verpflichtet  einen  Teil  dieses  Un- 
terhaltes  zu  iibernehmen. 

Maria  Hauff  hat  mehrere  Beitrage  zur  Baugeschichte  von  Hausern  der  Stadt  beige- 
steuert.  So  beschreibt  sie  das  stadtische  Brauwesen  mit  dem  zum  Brau  zugelassenen 
Stadthausern,  separaten  Brauhausern  und  den  Orten  des  Bierausschanks.  Sie  fand  in  der 
Erlaubnis  zum  „Sonnabendbrau"  und  seiner  exklusiven  Verbindung  mit  dem  Hausbau 
ein  aufschlussreiches  Datierungskriterium  furNeubauten.  Weiter  beschreibt  sie  die  Nut- 
zungsgeschichte  des  machtigen  Fachwerkhauses  Hinterstrasse  33,  das  urspriinglich  als 
Stadthof  des  Klosters  Polde  erbaut  worden  war  und  kann  iiber  die  Besitzergeschichte 
des  Hauses  JiidenstraBe  29  interessante  Riickschliisse  zu  Neu-  und  Umbaugeschichte 
beibringen.  Das  machtige  -  als  Spolie  wieder  verwendete  -  Eingangsportal  dieses  Hau- 
ses steht  in  Verbindung  mit  einer  Verputzung  des  zeituntypisch  schlichten  Fachwerks. 
Zu  diesem  -  einen  Steinbau  imitierenden  -  Putz  gehorten  kunstvolle,  die  Fenster  bekro- 


Geschichte  einzelner  Landesteile  und  Orte  559 

nende  Metallmasken.  Beides  bezieht  sie  auf  den  weit  gereisten  Architekten,  Gold- 
schmied  und  Juwelenhandlerjohann  Christoph  Fritz  (1699-1757),  der  1729  Besitzer  des 
Hauses  wurde. 

Trotz  der  punktuellen  Hereinnahme  der  Baugeschichte  vorhandener  Hauser  bleibt 
der  Namen  „Hauserbuch"  fiir  den  vorliegenden  Band  kritisch  zu  hinterfragen.  Primares 
Erkenntnisziel  des  Gesamtprojektes  waren  nicht  die  rezenten  Hauser  sondern  die  Par- 
zelle  als  langlebiger  Fixpunkt  der  Stadtstruktur.  Den  Grundstiicken  werden  die  Besitzer 
und  anderen  Bewohner  in  einem  aufwendigen,  riickwartsschreitenden  Verfahren  zuge- 
ordnet.  Obwohl  in  der  Vergangenheit  regelmaBig  so  benutzt  („Ein  Hauserbuch  enthalt 
die  Besitzerfolge  der  Hauser  in  einer  Stadt  oder  in  einem  Dorf"  -  Wikipedia)  ist  der  Be- 
griff  anachronistisch  und  tendenziell  verwirrend,  da  er  aus  einer  Zeit  stammt,  in  der  eine 
Wissenschaft  von  den  Hausern  (die  historische  Hausforschung)  noch  nicht  existierte.  Es 
fehlen  in  dem  Band  weitgehend  die  Ergebnisse  moderner  Hausforschung,  wie  sie  durch 
Stadtarchaologie,  Gefiigeforschung,  Dendrochronologie  oder  restauratorische  Befund- 
erhebung  bei  Stadtkernsanierungen  produziert  werden  oder  zumindest  werden  sollten. 
Eine  weitere  kritische  Anmerkung  betrifft  die  Abbildungen.  Die  Qualitat  der  Farbwie- 
dergabe  ist  enttauschend  und  die  Sorgfalt  bei  der  Fotographie  mangelt  mitunter  erheb- 
lich.  Ungiinstige  Lichtverhaltnisse  und  Aufnahmewinkel  sowie  storende  Passanten,  Au- 
tos oder  Sonnenschirme  beeintrachtigen  die  Aussagekraft  vieler  Fotos.  Die  Fotos  der 
neu  angelegten  Parkplatze  im  Stadtkern  (S.  229-230)  sind  trostlos  und  iiberflussig. 

Insgesamt  aber  ist  ein  groBartiges  Projekt  zu  einem  guten  Abschluss  gebracht  wor- 
den.  Man  muss  hoffen,  dass  die  Dateien  so  gepflegt  werden  konnen,  dass  sie  noch  lange 
lesbarbleiben  und  man  darf  hoffen,  dass  fiber  die  Verknupfung  derDaten  des  „Digitalen 
Hauserbuchs"  noch  viele  interessante  Forschungsergebnisse  aus  Duderstadt  die  Offent- 
lichkeit  erreichen  werden. 

Gyhum  Wolfgang  Dorfler 


„Leiden  verwehrt  Vergessen".  Zwangsarbeiter  in  Gtittingen  und  ihre  medizinische  Versor- 
gung  in  den  Universitatskliniken.  Hrsg.  von  Volker  Zimmermann.  Gottingen:  Wall- 
stein  Verlag  2007.  301  S.  Abb.  Kart.  28,-  €. 

Als  Ende  der  1990er  Jahre  ehemalige  Zwangsarbeitende  vor  US-amerikanischen  Ge- 
richten  Sammelklagen  gegen  ihre  damaligen  Arbeitgeber  anstrengten,  fiihrte  dies  in 
Deutschland  nicht  nur  zu  einer  heftig  gefiihrten  Entschadigungsdebatte,  sondern  auch 
zu  einer  Intensivierung  der  historischen  Forschung  zu  diesem  bis  dahin  eher  randstandi- 
gen  Bereich  der  NS-Geschichte.  Nachdem  zunachst  die  Ausnutzung  von  Zwangsarbeit 
durch  groBe  Industrie-  und  Wirtschaftsunternehmen  im  Mittelpunkt  des  Interesses  ge- 
standen  hatte,  erscheinen  seit  einigenjahren  zunehmend  regionale  Studien,  die  verdeut- 
lichen,  in  welchem  MaBe  Zwangsarbeit  wahrend  des  Zweiten  Weltkrieges  zum  ganz  nor- 
malen  Alltag  gehorte. 

Der  hier  zu  besprechende  Sammelband,  von  Professor  Volker  Zimmermann  heraus- 
gegeben,  reiht  sich  in  diese  Regionalstudien  ein.  Neben  Ergebnissen  des  am  Institut  fiir 
Ethikund  Geschichte  derMedizin  der  Georg-August-Universitat  Gottingen  verankerten 
Forschungsprojektes  zur  Rolle  der  Zwangsarbeitenden  an  der  Medizinischen  Fakultat, 
die  Susanne  Ude-Koeller  in  zwei  Aufsatzen  iiber  die  medizinische  Versorgung  dieser 


560  Besprechungen 

Zwangsarbeitenden  in  Gottingen  darstellt,  beleuchten  die  einzelnen  Beitrage  das  Aus- 
maB  von  Zwangsarbeit  und  die  Lebensverhaltnisse  von  Zwangsarbeitenden  in  Gottin- 
gen und  den  Kreisen  Gottingen,  Goslar  und  Northeim.  Besonders  hervorzuheben  sind 
hier  die  Arbeiten  iiber  das  AusmaB  der  Zwangsarbeit  von  Cordula  Tolmien  in  der  Stadt 
Gottingen  und  von  Marc  Czichy  im  Gebiet  des  heutigen  Landkreises  Northeim.  Deut- 
lich  wird  bei  beiden  Aufsatzen  wie  auch  bei  dem  Beitrag  iiber  das  Sanatorium  Rasen- 
miihle  (Rusch,  Dimmek  und  Fangerau),  dass  die  oft  einzigen  verfiigbaren  Quellen  (z.B. 
Krankenkassenunterlagen,  Einwohnermeldekarteien  und  Auslanderverzeichnisse)  zwar 
in  Hinblick  auf  die  Quantitat  der  geleisteten  Zwangsarbeit  wertvolle  Informationen  ver- 
mitteln,  Lebens-  und  Leidensumstande  der  Betroffenen  jedoch  im  Dunkeln  bleiben. 
Dietmar  Selaczek  gelingt  es,  anhand  von  Zeitzeugenberichten  auf  eindrucksvolle  Weise 
den  Haftlingsalltag  im  Jugend-KZ  Moringen  darzustellen.  Vorangestellt  sind  den  ver- 
schiedenen  Abschnitten  zwei  Beitrage  (Volker  Zimmermann  und  Ursula  Komen),  die 
sich  mit  den  Professoren  der  Medizinischen  Fakultat  der  Gottinger  Universitat  sowie  der 
Heil-  und  Pflegeanstalt  Gottingen  wahrend  der  NS-Zeit  befassen.  Abgeschlossen  wird 
der  Sammelband  von  Uberlegungen  (Nolte/Janssen)  zur  Gestaltung  eines  angemesse- 
nen  und  wirksamen  Gedenkens  der  Leiden  von  Zwangsarbeitenden  in  den  Kliniken  der 
medizinischen  Fakultat.  Gleich  einer  Klammer  wirken  Prolog  und  Epilog.  Ersterer  fasst 
in  aller  Kiirze  die  bisherigen  Ergebnisse  des  Forschungsprojektes  zur  Rolle  der  Zwangs- 
arbeitenden an  der  Medizinischen  Fakultat  zusammen,  letzterer  liefert  die  Inschrift  der 
mittlerweile  am  8.  Mai  2008  vor  dem  Gebaude  der  alten  Frauenklinik  enthiillten  Ge- 
denktafel  fur  die  Zwangsarbeitenden,  die  in  den  Klinken  der  Universitat  Gottingen 
eingesetzt  waren  oder  dort  medizinisch  versorgt  wurden. 

Der  Herausgeber  und  seine  Mitarbeiterin  Susanne  Ude-Koeller  mochten  den  Band 
als  einen  „Baustein  der  Erforschung  der  Zwangsarbeit  unter  der  NS-Diktatur"  verstan- 
den  wissen  und  gleichzeitig  auch  als  „Appell  an  die  Bereitschaft,  durch  aktive  Erinne- 
rungsarbeit  Verantwortung  fur  einen  Teil  ,vergessener'  Lokalgeschichte  zu  iiberneh- 
men"  (S.12).  Diesem  Anspruch  wird  der  Sammelband,  besonders  wenn  man  sich  von 
dem  Untertitel  lost,  durchaus  gerecht.  Er  leistet  nicht  zuletzt  durch  die  insgesamt  detail- 
reichen,  gut  recherchierten  Aufsatze  einen  wichtigen  Beitrag  zur  Geschichte  der 
Zwangsarbeit  und  erganzt  die  Reihe  der  bereits  erschienen  Arbeiten  zum  Thema  fur  die 
Kreise  Gottingen  und  Osterode.1  Zudem  gelingt  es  Susanne  Ude-Koeller  mit  ihren  bei- 
den Beitragen  iiber  die  Krankenakten  der  Universitatskliniken  und  die  Versichertenkar- 
tei  der  Gottinger  AOK,  die  Forschungsergebnisse  zur  Geschichte  der  medizinischen 
Versorgung  von  Zwangsarbeitenden  zu  bereichern  und  gleichzeitig  ein  Licht  auf  die  we- 
gen  der  schwierigen  Quellenlage  nur  miihsam  zu  ermittelnden  Lebens-  und  Alltagsver- 
haltnisse  der  Zwangsarbeitenden  zu  werfen. 

Trotzdem  hinterlasst  der  Sammelband  auch  gemischte  Gefiihle.  Der  Titel,  insbeson- 
dere  der  Untertitel,  die  Klammer  aus  Epilog  und  Prolog  und  auch  die  Einleitung  (beson- 
ders S.  11)  wecken  Erwartungen,  die  nicht  eingelost  werden.  Verantwortlich  hierfiir  ist 
das  Ungleichgewicht  der  einzelnen  Abschnitte;  nur  fiinf  der  insgesamt  elf  Beitrage  the- 
matisieren  Zwangsarbeitende  in  Gottingen  und  bzw.  oder  deren  medizinische  Versor- 
gung in  der  Universitatsklinik.  Die  beiden  Aufsatze  von  Zimmermann  und  Komen  bil- 

1  Siedburger,  Giinther:  Zwangsarbeit  im  Landkreis  Gottingen  1939-1945.  Duderstadt 
2005:  Gattermann,  Claus  Heinrich:  Der  Auslandereinsatz  im  Landkreis  Osterode  1939-1945. 
Wernigerode  und  Berlin  2003  [Harz-Forschungen  18] 


Geschichte  einzelner  Landesteile  und  Orte  561 

den  zudem  im  Gesamtzusammenhang  einen  Fremdkorper,  da  der  Schwerpunkt  des  ei- 
nen  Beitrags  auf  dem  Karriereverlauf  und  den  politischen  Verstrickungen  einzelner 
Dozenten  der  Medizinischen  Fakultat  der  Universitat  Gottingen  liegt,  der  andere  in  der 
Hauptsache  die  Umsetzung  der  nationalsozialistischen  Rassenpolitik  in  der  Heil-  und 
Pflegeanstalt  Gottingen  thematisiert.  Die  Qualitat  der  Beitrage  variiert  von  hervorra- 
gend  (z.B.  Tollmien,  Sedlaczek,  Czerny)  iiberpassabel  bis  mangelhaft.  So  sind  z.B.  Zim- 
mermann  und  Komen  auBerordentlich  sparsam  beim  Einsatz  von  Belegen.  Zimmer- 
mann  ist  dafiir  jedoch  umso  groBziigiger  bei  der  Verwendung  von  wortlichen  Zitaten. 
AuBerdem  verwundert,  dass  beide  in  ihren  knappen  Literaturlisten  wichtige  Arbeiten 
zum  Thema  nicht  nennen.  So  werden  weder  die  Veroffentlichung  zur  Geschichte  der 
Universitat  Gottingen  in  der  NS-Zeit  (Becker  u.  a.),  noch  die  Arbeit  von  Aniko  Szabo 
iiber  die  Vertreibung  Gottinger  Hochschullehrer  oder  auch  die  zahlreichen  Publikatio- 
nen  von  Raimond  Reiter  zur  Euthanasie  in  Niedersachsen  erwahnt.  Ferner  erscheint  der 
Beitrag  von  Knolle,  Braedt  und  Schyga  zum  Zwangsarbeitereinsatz  im  Westharz  zwar 
sehr  engagiert,  dennoch  muss  der  Umgang  mit  Belegen  und  Quellennachweisen  kriti- 
siert  werden.  In  einer  FuBnote  am  Kapitelanfang  darauf  zu  verweisen,  dass  die  Nachwei- 
se  der  verwendeten  Quellen  und  Aussagen  in  einer  anderen  Veroffentlichung  nachzule- 
sen  seien,  ist  nicht  nur  ungewohnlich,  sondern  schlichtweg  argerlich;  und  dies  umso 
mehr,  als  sich  hier  die  Frage  stellt,  ob  die  Autoren  durch  einen  solchen  Umgang  mit  Bele- 
gen nicht  riskieren,  unglaubwiirdig  zu  werden,  und  so  ihre  durchaus  lobenswerten  Ab- 
sichten  am  Ende  selbst  sabotieren.  Unvollstandige  Signaturangaben  von  Archivalien 
(z.B.  S.  52,  61,  78,  251),  Tempuswechsel  in  einem  Aufsatz  (S.  247f.)  sowie  die  offensicht- 
lich  falsche  Platzierung  von  Abbildungen  (S.  262  f.)  sprechen  schlieBlich  dafiir,  dass  dem 
Band  eine  griindliche  Schlussredaktion  vorenthalten  blieb. 

AbschlieBend  sei  jedoch  festgehalten,  dass  der  Gewinn  des  Bandes  nicht  zuletzt  darin 
besteht,  dass  das  von  den  Zwangsarbeitenden  wahrend  des  Nationalsozialismus  erlitte- 
ne  Leid  nicht  ihnen  allein  unvergesslich  bleibt. 

Hannover  Kirsten  Hoffmann 


Herrenhausen.  Die  Koniglichen  Garten  in  Hannover.  Hrsg.  von  Marieanne  von  Konig. 
Mit  Fotos  von  Wolfgang  Volz.  Gottingen:  Wallstein  Verlag  2006.  292  S.  Abb.,  graph. 
Darst.  Geb.  34,-  €. 

Der  groBformatige  Band  beschreibt  erstmals  in  ansprechender  Weise  alle  vier  „Herren- 
hauser  Garten"  in  Hannover,  die  bei  all  ihrer  unterschiedlichen  Entstehung  und  bei  ih- 
rem  unterschiedlichen  Aussehen  ein  einmaliges  Ensemble  historischer  Gartenformen 
bilden:  den  barocken  „GroBen  Garten"  -  nach  Versailles  wohl  der  groBte  erhaltene 
Garten  seiner  Zeit  iiberhaupt,  die  beiden  englischen  Landschaftsgarten,  den  „Georgen- 


2  Becker,  Heinrich;  Dahms,  Hans-Joachim  und  Cornelia  Wagner:  Die  Universitat  Gottin- 
gen unter  dem  Nationalsozialismus.  2.  uberarbeitete  Ausgabe,  Miinchen  1998.  Aniko  Szabo: 
Vertreibung,  Ruckkehr,  Wiedergutmachung.  Gottinger  Hochschullehrer  im  Schatten  des  Na- 
tionalsozialismus. Gottingen  2000  [  Veroffentlichungen  des  Arbeitskreises  Geschichte  des 
Landes  Niedersachsen  nach  1945,  Bd.  151. 


562  Besprechungen 

garten"  und  den  „Welfengarten",  sowie  als  botanischen  Garten  den  ebenfalls  dazugeho- 
renden  „Berggarten". 

Der  Herausgeberin  ist  es  gelungen,  zehn  hervorragende  Autoren  zu  gewinnen,  die  in 
insgesamt  22  Beitragen  ausfiihrlich  auf  die  einzelnen  Anlagen,  Gebaude  und  Kunstwer- 
ke  eingehen.  Neben  hervorragenden  Ubersichtskarten  und  einer  Vielzahl  kleinerer  Ab- 
bildungen  meist  historischer  Karten  und  Gemalde  finden  sich  in  der  Mitte  des  Bandes 
liber  fiinfzig  Seiten  mit  kiinstlerischen  Fotos  des  renommierten  Fotografen  Wolfgang 
Volz,  die  einen  sinnlichen  Eindruck  der  jeweiligen  Garten  in  unterschiedlichen  Jahres- 
zeiten  vermitteln. 

Besondere  Erwahnung  verdient  die  Darstellung  der  allgemeinen  Geschichte  des  Gro- 
Ben  Gartens  von  Heike  Palm,  die  in  knapper  Form,  aber  doch  umfassend  die  Entwick- 
lung  der  Barockanlage  vom  17.  Jahrhundert  bis  heute  nahe  bringt.  Weitere  Beitrage  sich 
den  Springbrunnen  (den  „Wasserkiinsten"),  den  Skulpturen  und  den  Bauten  gewidmet. 
In  seinem  Artikel  „Theater,  Feste,  Maskeraden"  verfolgt  Gotthardt  Friihsorge  die  Bedeu- 
tung  des  Gartens  fiir  die  mimische  Kunst,  sei  es  anfangs  zur  Inszenierung  landesherr- 
licher  Macht,  heute  zur  nostalgischen  Freude  eines  breiten  Publikums.  Als  aktuellen 
Beitrag  zu  den  derzeitigen  Planen,  das  im  Zweiten  Weltkrieg  zerstorte  Schloss  wieder 
aufzubauen,  mag  ein  kiirzerer  Zwischenruf  von  Cord  Meckseper  zu  verstehen  sein,  in 
dem  er  die  bisherigen  Plane  zur  Neugestaltung  des  Schlossplatzes  vorstellt  und  dabei 
auch  die  Fotomontage  einer  futuristischen  Vision  des  danischen  Architekten  Arne  Ja- 
cobsen  aus  dem  Jahre  1964  nicht  ubergeht. 

Doch  ist  es  gerade  die  Starke  des  Buches,  dass  auch  die  ubrigen  Teile  der  Herrenhau- 
ser  Garten  nicht  zu  kurz  kommen.  Neben  einer  allgemeinen  Darstellung  der  Geschichte 
des  Berggartens  und  der  dortigen  Pflanzenwelt  ist  an  dieser  Stelle  die  Beschreibung  des 
Welfenmausoleums  von  Urs  Boeck  besonders  zu  erwahnen.  Der  Entstehung  des  Geor- 
gengartens  als  englischer  Parkanlage  des  18.  und  19.  Jahrhunderts  geht  ausfiihrlich  Mi- 
chael Rohde  nach,  wobei  auch  unterschiedliche  Planungsvarianten  angemessene  Be- 
riicksichtigung  finden.  In  speziellen  Beitragen  hervorgehoben  werden  die  dortigen 
Brucken,  die  von  Georg  Ludwig  Friedrich  Laves  entworfen  wurden,  sowie  der  Leibniz- 
tempel,  der  erst  1935  seinen  heutigen  Standort  gefunden  hat  -  wenn  auch  die  entschei- 
dende  Biiste  des  Universalgelehrten  aufgrund  von  standigem  Vandalismus  vorlaufig  an 
anderer  Stelle  untergebracht  wurde. 

Dass  der  GroBe  Garten  als  barocke  Anlage  die  Jahrhunderte  iiberdauert  hat  und  da- 
neben  mit  dem  Georgengarten  ein  „modernerer"  Landschaftspark  entstanden  ist,  steht 
im  Wesentlichen  im  Zusammenhang  mit  der  langjahrigen  Abwesenheit  der  hanno- 
verschen  Landesherren  wahrend  der  Zeit  der  Personalunion  zwischen  Hannover  und 
GroBbritannien.  Die  scheidenden  Kurfursten  lieBen  ihren  Barockgarten  zuriick,  die  im 
19.  Jahrhundert  zuriickkehrenden  Konige  riihrten  das  Vermachtnis  ihrer  Voreltern 
nicht  an,  sondern  schufen  eine  neue  Gartenwelt.  Eine  andere,  die  „normale",  Entwick- 
lung  machte  der  Welfengarten  durch,  der  sich  urspriinglich  in  adeligem  Besitz  befand. 
Der  anfangliche  Barockgarten,  an  den  nichts  mehr  erinnert,  wurde  hier  zum  heute  sicht- 
baren  Landschaftspark  umgewandelt.  Und  da  das  Hauptgebaude  der  heutigen  Universi- 
tat  Hannover  einen  Teil  des  Welfengartens  darstellt,  fehlt  auch  nicht  dessen  Beschrei- 
bung: Den  Ausbau  des  ehemaligen  Schlosschens  Monbrillant  zum  zentralen  Residenz- 
schloss  des  Konigreichs  Hannover,  das  diese  Funktion  nie  erhielt,  sondern  nach  1866 
von  der  preuBischen  Regierung  der  Technischen  Hochschule  ubertragen  wurde,  ver- 
folgt minutios  Cord  Meckseper.  Besonders  zu  verweisen  ist  auf  die  im  Anhang  erstmals 


Geschichte  einzelner  Landesteile  und  Orte  563 

in  knappe  Form  gebrachten  Lebenslaufe  der  wichtigsten  „groBen  Gartner"  Herrenhau- 
sens,  die  durch  ihre  teilweise  Jahrzehnte  dauernde  Planung  und  Arbeit  wesentlich  zum 
Aussehen  der  heutigen  Anlagen  beigetragen  haben. 

Auch  wenn  von  einer  Autorin  mehrfach  die  „popularwissenschaftliche  Konzeption" 
des  Buches  beklagt  wird,  durch  die  das  Anbringen  von  FuBnoten  beschrankt  war:  Wort- 
liche  Zitate  sind  stets  nachgewiesen,  in  keinem  Fall  fehlt  am  Ende  eines  Beitrags  ein  Hin- 
weis  auf  weiterfuhrende  Literatur.  Ein  wissenschaftlicher  Wert  ist  dem  Band  damit  kei- 
nesfalls  abzusprechen.  Sorgfaltigzusammengetragene  Abbildungsnachweise  unterstrei- 
chen  am  Ende  des  Bandes  nicht  nur  noch  einmal  die  korrekte  Arbeitsweise  der  Autoren, 
sondern  erlauben  zugleich  den  Einstieg  in  weitere  Untersuchungen.  Ein  ebenfalls  sorg- 
faltig  erstelltes  Personenregister  erlaubt  einen  raschen  Zugang  zu  eigenen  Fragen  iiber 
die  einzelnen  Beitrage  hinweg.  Der  einzige  Nachteil  des  beeindruckenden  Werkes,  an 
dem  kunftige  Untersuchungen  zu  den  Herrenhauser  Garten  wie  auch  zu  historischen 
Garten  in  Deutschland  und  Europa  insgesamt  nicht  vorbeikommen  werden:  Um  es  bei 
einem  Besuch  der  hannoverschen  „K6niglichen  Garten"  vor  Ort  dabeizuhaben,  ist  es  zu 
unhandlich. 

Hannover  Annette  von  Boetticher 


Berlit,  Anna  Christina:  Notstandskampagne  und  Rote-Punkt-Aktion.  Die  Studentenbewe- 
gung  in  Hannover  1967-1969.  Bielefeld:  Verlag  fur  Regionalgeschichte  2007.  160  S. 
Abb.  =  Hannoversche  Schriften  zur  Regional-  und  Lokalgeschichte  Bd.  20.  Geb. 
19,- €. 

Bei  dem  hier  zu  besprechenden  Werk,  einer  im  Jahr  2005  an  der  Universitat  Hannover 
eingereichten  Magisterarbeit,  handelt  es  sich  um  eine  Lokalstudie,  die  die  Erforschung 
der  bundesdeutschen  Studentenbewegung,  der  auBerparlamentarischen  Opposition 
(APO)  und  derjahre  1967  bis  1969  um  eine  neue  Perspektive  erweitert:  Mit  der  Konzen- 
tration  auf  die  Ereignisse  in  Hannover  wendet  Berlit  ihren  Blick  bewusst  von  den  be- 
kannten  Zentren  der  Proteste  und  Aktionen  (Berlin  und  Frankfurt  am  Main)  hin  zu  ei- 
nem Nebenschauplatz,  der  jedoch  mit  seinen  spezifischen  Auspragungen  einen  interes- 
santen  Untersuchungsgegenstand  darstellt.  Die  Autorin  spannt  einen  zeitlichen  Bogen 
von  den  ersten  studentischen  Protesten  gegen  die  Notstandsgesetze  bis  zur  so  genannten 
„Rote-Punkt-Aktion"  im  Sommer  1969.  Bei  Letzterer  handelte  es  sich  um  einen  bundes- 
weit  einzigartigen,  noch  dazu  erfolgreichen  Protest  gegen  angekiindigte  Fahrpreiserho- 
hungen  im  offentlichen  Nahverkehr  Hannovers. 

Die  Arbeit  prasentiert  sich  klar  und  schlussig  gegliedert.  Besonders  Leser,  die  mit  der 
Studentenbewegung  und  ihrer  Zeit  noch  nicht  vertraut  sind,  bemerken  dankbar,  dass  die 
Autorin  ihrer  Einleitung  zunachst  eine  Vorstellung  der  Biihne  und  der  wichtigsten  Ak- 
teure  der  zu  schildernden  Ereignisse  folgen  lasst.  Biihne  waren  Stadt  und  Universitat 
Hannover,  wobei  Berlit  den  sehr  geringen  Anteil  geistes-  und  sozialwissenschaftlicher 
Studierender  an  den  9.000  Immatrikulierten  betont.  Hierdurch  unterstreicht  sie  den  - 
offensichtlich  von  ihr  akzeptierten  -  Status  der  im  Folgenden  vorgestellten  Akteure  als 
selbsternannte  Elite  oder  Avantgarde,  die  jedoch  zugleich  Minderheit  war.  Im  Einzel- 
nen stellt  Berlit  den  Sozialistischen  Deutschen  Studentenbund  (SDS)  mit  seinem  Bundes- 
verband  und  seiner  Untergruppe  in  Hannover,  den  Sozialdemokratischen  Hochschulbund 


564  Besprechungen 

(SHB),  den  Allgemeinen  Studenten-Ausschuss  (AStA)  der  Technischen  Universitat  Hanno- 
ver und  den  Club  Voltaire  vor.  Besonders  die  Vorbemerkungen  zu  SDS  und  SHB,  ihrerje- 
weiligen  Vorgeschichte  und  Unterschiede  sind  fur  das  Verstandnis  der  Arbeit  notwen- 
dig,  da  es  eines  der  wichtigsten  Anliegen  Berlits  ist,  die  von  ihr  attestierte  Dominanz  des 
SDS  in  der  bisherigen  Forschungsliteratur  zu  uberpriifen.  Die  Autorin  stellt  in  diesem 
Kapitel  die  Strukturen  der  Studentenbewegung  in  lebendiger  Weise  vor. 

Als  das  Herzstiick  der  Arbeit  kann  zweifellos  Kapitel  4  bezeichnet  werden:  Berlit 
zeichnet  hier  minutios  die  Aktionen  und  Kampagnen  der  Studentenbewegung  in  Han- 
nover nach.  Ausgehend  von  den  ersten  Protesten  gegen  die  so  genannten  Notstandsge- 
setze  schildert  sie,  wie  die  Aktionen  durch  den  Tod  des  aus  Hannover  stammenden  Stu- 
denten  Benno  Ohnesorg  in  Berlin  im  Verlauf  der  Demonstrationen  gegen  den  Besuch 
des  Schahs  von  Persien  eine  enorme  Dynamik  entwickelten.  Mit  der  Beisetzung  Ohnes- 
orgs  und  der  daran  anschlieBenden  Veranstaltung  des  prominent  besuchten  Kongresses 
„Bedingung  und  Organisation  des  Widerstands"  riickte  Hannover  fur  kurze  Zeit  in  den 
Mittelpunkt  der  bundesdeutschen  Ereignisse.  Danach  war  es  erneut  ein  Gewaltakt,  der 
zu  einer  Verscharfung  der  Auseinandersetzung  fiihrte.  Durch  das  Attentat  auf  Rudi 
Dutschke  gewann  der  bereits  begonnene  Protest  gegen  die  Rolle  der  Massenmedien  und 
insbesondere  den  Springer- Verlag  an  Intensitat.  Den  Hohepunkt  der  Ereignisse  stellte, 
wie  Berlit  zeigt,  das  Osterwochenende  1968  dar,  an  dem  die  studentischen  Demonstran- 
ten  die  Auslieferung  der  Bild-Zeitung  mit  alien  Mitteln  zu  verhindern  suchten  und  die 
Protestaktionen  zu  immer  scharfer  gefuhrten  Auseinandersetzungen  mit  der  Polizei 
fiihrten. 

Das  folgende  Kapitel  „Auseinandersetzung  mit  dem  Kapitalismus  der  Elterngenera- 
tion"  ist  mehr  den  Themen  und  Gedanken  der  Studentenbewegung  gewidmet:  Kapitalis- 
muskritik,  Dritte-Welt-Problematik,  die  Positionen  zum  Vietnamkrieg  und  zum  Prager 
Friihling,  die  Gestaltung  einer  Hochschulreform  und  nicht  zuletzt  die  Auseinanderset- 
zung mit  dem  Nationalsozialismus  und  der  1967  in  den  niedersachsischen  Landtag  ein- 
gezogenen  NPD  werden  von  Berlit  detailreich,  jedoch  stets  iiberwiegend  in  der  Sprache 
der  Zeit,  wiedergegeben. 

Wahrend  mit  den  geschilderten  Aktionen  die  Studentenbewegung  in  den  bisher  von 
der  Forschung  betrachteten  Zentren  langsam  an  Fahrt  verliert  und  sich  ihr  Ende  abzu- 
zeichnen  beginnt,  kann  Berlit  fur  Hannover  noch  ein  weiteres,  umso  faszinierenderes 
Kapitel  hinzufugen.  Im  Sommer  des  Jahres  1969  bietet  iiberraschend  die  Ankiindigung 
einer  Fahrpreiserhohung  im  offentlichen  Personennahverkehr  durch  das  hannoversche 
Unternehmen  USTRA  ein  Ziel  fur  neue  Demonstrationen  und  auch  die  Moglichkeit, 
breite  Gruppen  der  Bevolkerung  zur  Teilnahme  am  Protest  zu  bewegen.  Ahnlich  dem 
vierten  Kapitel  gelingt  der  Autorin  eine  spannende  Schilderung  der  „Rote-Punkt-Ak- 
tion",  in  deren  Rahmen  nicht  nur  ein  vollstandiger  Boykott  des  Verkehrsunterneh- 
mens  durchgesetzt,  sondern  auch  ein  funktionierender  Ersatzverkehr  etabliert  werden 
konnte. 

Trotzdem  muss  an  diesem  Punkt  auch  Kritik  an  Berlits  Arbeit  geauBert  werden,  da 
nach  einer  kurzen  Schilderung  des  Endes  der  Studentenbewegung  der  im  achten  Kapitel 
der  Arbeit  gebotene  „Ausblick"  zu  knapp  ausgefallen  ist.  Hier  hatte  sich  der  Leser  ein 
klares  und  deutliches  Fazit  gewiinscht.  Auch  sollten  viele  der  zuvor  geschilderten  Ereig- 
nisse und  wiedergegebenen  Ansichten  aus  heutiger  Perspektive  nicht  unkommentiert 
stehen  bleiben.  Ganz  offensichtlich  liegt  die  Ursache  fur  dieses  Versaumnis  in  einem 
grundsatzlichen  Problem  der  vorliegenden  Arbeit.  Die  Autorin  formuliert  in  ihrer  Ein- 


Geschichte  einzelner  Landesteile  und  Orte  565 

leitung  ein  ambitioniertes  Ziel:  Das  Thema  ,,1968"  solle  das  Feld  der  Erinnerungslitera- 
tur  verlassen  und  zum  Gegenstand  der  historischen  Forschung  werden.  Zur  Umsetzung 
dieses  Ziels  trifft  Berlit  allerdings  eine  zwar  bemerkenswert  groBe,  jedoch  leider  einseiti- 
ge  Quellenauswahl.  Die  Quellenbasis  ihrer  Arbeit  ist  nahezu  ausschlieBlich  „linker" 
Provenienz,  was,  verbunden  mit  den  streckenweise  zu  hohen  Zitatanteilen,  beim  Leser 
mit  fortschreitender  Lektiire  immer  mehr  den  Wunsch  wachsen  lasst,  auch  einmal  die 
„andere  Seite"  zu  horen.  Riickgriffe  auf  Unterlagen  der  staatlichen  und  kommunalen  In- 
stanzen  stehen  deutlich  zuriick. 

Berlit  lasst  geschickt  die  Quellen  sprechen  und  macht  so  das  von  ihr  untersuchte  Ka- 
pitel  deutscher  Geschichte  lebendig  -  verliert  jedoch  zu  sehr  die  Distanz  zu  ihrem  Unter- 
suchungsgegenstand.  So  ubernimmt  sie  in  Bereichen,  in  denen  sie  Quellen  paraphra- 
siert  haufig  das  Vokabular  der  Zeit,  was  heute  mitunter  befremdlich  wirkt  (S.  73).  Die 
konsequente  Verwendung  der  Abkiirzung  „BRD",  die  bisweilen  einseitige  Darstellung 
der  Auseinandersetzungen  zwischen  Polizei  und  Demonstranten  (S.  132)  sowie  unkriti- 
sche  Bildunterschriften  (Abb.  14,  S.  134)  verstarken  diesen  Eindruck.  Die  hochinteres- 
sante  und  vom  QuellenfleiB  lebende  Arbeit  verliert  so  unnotig  etwas  an  Glaubwiirdig- 
keit.  Einen  Vorwurf  muss  sich  die  Autorin  jedoch  keineswegs  machen:  Berlit  bedauert 
in  ihrem  Ausblick,  den  emotionalen  Aspekt  der  Studentenbewegung,  Leidenschaft  und 
Solidaritat  nicht  ausreichend  wiedergegeben  haben  zu  konnen.  Gerade  dies  ist  ihr  sehr 
gut  gelungen. 

Hannover  DetlefBussE 


Historisch-Landeskundliche  Exkursionskarte  von  Niedersachsen.  Blatt  Hannover  (Hannover 
und  Hannover-Nord).  Hrsg.  von  Carl-Hans  HAUPTMEYER,Jiirgen  Rund  und  Gerhard 
Streich.  Bearb.  von  Manfred  von  Boettioher,  Bettina  Borgemeister,  Dieter  Bro- 
sius,  Carl-Hans  Hauptmeyer,  Dirk  Neuber,  Hans-Gunter  Peters,  Uwe  Ohainski, 
Jiirgen  Rund,  Karl  Heinz  Schneider  und  Gerhard  Streich.  Bielefeld:  Verlag  fur  Re- 
gionalgeschichte  2007.  320  S.  Abb.,  Kt.  =  Veroff.  des  Instituts  furHistorische  Landes- 
forschung  der  Universitat  Gottingen  Bd.  2,  16.  Kart.  19,-  €. 

Erstmalig  seit  Beginn  des  Kartenwerkes  sind  mit  „Blatt  Hannover"  zwei  Blatter  der  TK 
50,  namlich  die  Blatter  L  3524  Hannover-Nord  und  L  3724  Hannover,  zusammengefasst 
erschienen  und  mit  nur  e  i  n  e  m  Erlauterungsheft  versehen.  Die  Entscheidung  fur  dieses 
sinnvolle  Vorgehen  ergab  sich  einerseits  aus  dem  Blattschnittnetz  derTK50  -  eine  Blatt- 
grenze  durchtrennt  das  engere  stadthannoversche  Baugebiet  -,  und  andererseits  er- 
wuchs  sie  wohl  auch  aus  dem  Bestreben,  mit  der  zunachst  als  Beitrag  zum  kulturhistori- 
schen  Begleitprogramm  der  EXPO  2000  vorgesehenen  Bearbeitung  die  Stadt  moglichst 
vollstandig  zu  erfassen  und  wiederzugeben.  Als  besondere  „Herausforderung"  wurde 
die  bei  bisherigen  Blattern  noch  nicht  vorgekommene  Darstellung  eines  industriellen 
GroBraumes  angesehen  unter  betrachtlich  naherem  Heranriicken  der  Zeitgrenze  der 
Bearbeitung  an  die  Gegenwart.  Diese  auch  fur  folgende  Blatter  grundsatzliche  Frage 
wird  neben  einigen  Aspekten  der  Kartenerstellung  im  ferneren  Teil  der  Rezension  noch 
einmal  besonders  aufzugreifen  sein. 

Allein  schon  die  Fiille  von  16  Themenabschnitten  in  diesem  umfanglichsten  allerbis- 
lang  erschienen  Erlauterungshefte  verbietet  hier  deren  ins  Einzelne  gehende  Wiirdi- 


566  Besprechungen 

gung  und  Besprechung.  Verwiesen  sei  jedoch  erneut  auf  die  bei  friiheren  Rezensionen 
wiederholt  eingeforderte  Riickbesinnung  der  Herausgeber  auf  die  eigentliche  Zweckbe- 
stimmung  von  Erlduterungs-Hehen,  namlich  eine  anzustrebende  Konzentrierung  auf 
einschlagig  wirklich  notwendige  und  relevante  Erganzungen  zum  Verstandnis  des  lan- 
deskundlich-exkursionsmaBigen  Karteninhalts  (zuletzt  in  Nds.  Jb.  74,  2002) .  Denn  diese 
in  der  Karte  niedergelegten  Informationen  stellen  schlieBlich  vorrangig  den  Zweck  und 
Nutzwert  des  Kartenwerks  iiberhaupt  dar!  Dabei  ist  fur  die  vorliegende  Bearbeitung  an- 
zuerkennen,  dass  sich  die  meisten  Beitrager  dieses  Bandes  durchweg  um  knappe  kon- 
zentrierte  Beitrage  bemiiht  haben.  Als  in  diesem  Sinne  vorbildlich  mit  bundigen,  auf  das 
wesentlich  Gebotene  beschrankten  Informationen  iiber  die  jeweiligen  Gegenstande  sei- 
en  besonders  hervorgehoben  etwa  die  Beitrage  zu  den  mittelalterlichen  Wiistungen 
(Ohainski),  zu  den  Wehranlagen  (Peters  und  Streich)  sowie  zu  den  Rittergutern  und 
Amtssitzen  (von  Boetticher).  Weil  ohne  direkten  Bezug  zu  konkreten  Blattinhalten  er- 
scheinen  -  trotz  ausdriicklich  unbezweifelterinhaltlicher  Qualitat  an  sich!  -  u.a.  die  eher 
nur  iiberblicklichen  Abschnitte  „Landliche  Siedlungen  und  Fluren",  „Haus-  und  Ge- 
hoftformen",  „Umweltgeschichte"  in  dieser  Anlage  eher  weniger  glucklich  platziert.  Es 
sei  dazu  allerdings  gefragt,  ob  z.  B.  nicht  eine  tabellarische  Ubersicht  aller  landlichen 
Siedlungen  mit  Angabe  ihrer  Ortsnamenfamilie  sowie  ihrer  Ortsgrundrissform  und 
dem  Hofstellenbestand  anlasslich  der  Separation  bei  Benutzern  eher  willkommen  gewe- 
sen  ware  als  z.  B.  eine  mehrseitige  Abhandlung  iiber  die  regionale  Siedlungsgeschichte 
und  neuzeitliche  Sozialstruktur. 

Die  beiden  Kartenblatter  selbst  erweisen  sich  sowohl  hinsichtlich  ihrer  inhaltlichen 
Disposition  (Legende  und  Planzeichen)  als  auch  der  Ausgestaltung  des  vorliegenden 
Kartenbildes  als  noch  wesentlich  verbesserungsfahig.  So  fehlen  in  der  Legende  nicht  nur 
auf  den  Blattern  verwendete  Planzeichen  (so  etwa  fur  „Gerichtsstatte").  Nach  dem  be- 
wahrten  Grundsatz,  dass  thematische  Karten  aus  sich  heraus  vollstandig  verstandlich  zu 
sein  haben,  ist  zu  fragen  nach  der  Legende  deutlich  zu  entnehmenden  qualitativen  und 
quantitativen  Entscheidungskriterien  etwa  fur  so  gewahlte  graduell  unterschiedliche 
Gestaltung  von  Planzeichen,  z.  B.  verschiedene  Strichstarken  bei  AltstraBen  oder  Gro- 
Benwiedergabe  der  Zeichen  fur  Industriestandorte.  Logischerweise  sollte  auch  nicht  et- 
wa die  Signatur  fur  „Jiidischer  Friedhof"  mit  exakt  demselben  Rahmen  versehen  wer- 
den,  wie  er  gruppenkennzeichnend  fur  die  Industriebedriebe  erscheint  usw.  GroBenwie- 
dergabe  der  Planzeichen  und  reale  Bedeutung  der  gemeinten  Gegenstande  in  der 
Landschaft  sollten  auch  untereinander  sachgerecht  ausgewogen  sein:  Durch  die  im  Ver- 
gleich  zu  den  gewiss  bedeutsameren  mittelalterlichen  Ortswiistungen  hier  iibergroB 
wiedergegebenen  zahlreichen  Platze  von  voriibergehenden  „Eisenverhiittungen"  auf 
dem  Nordblatt  werden  die  ersteren  geradezu  von  den  letzteren  erdruckt.  Da  begriiBens- 
werterweise  ein  Nebenkartchen  fur  Verwaltungs-  u.  a.  Grenzen  beigegeben  wurde, 
konnte  auf  die  zusatzliche  (hier  geradezu  aufdringliche)  enge  flachige  Schraffierung 
strittiger  Gebiete  auf  dem  Hauptblatt  selbst  ganzlich  verzichtet  werden.  SchlieBlich  sei 
unbedingt  mehr  Sensibilitat  in  der  Blattgestaltung  angemahnt.  Es  sollte  nicht  vorkom- 
men,  dass  farbige  Uberdruckungen  aber  auch  gar  nicht  lesbar  sind  (mehrfach  auf  beiden 
Blattern  in  den  Baugebieten  von  Langenhagen  und  Hannover!). 

Wieweit  das  Einbringen  von  zahllosen  Industrieplatzen  (s.  Hannover  und  Linden) 
iiberhaupt  noch  sinnvoll  ist,  wenn  infolgedessen  mit  der  hohen  Verdichtung  von  deren 
Zeichen  auf  dem  Blatt  die  eigentliche  Topographie  optisch  nahezu  verloren  geht,  bedarf 
kaum  einer  Frage  und  leitet  iiber  zu  deren  Nutzen  und  Wert  fur  das  Kartenwerk  iiber- 


Geschichte  einzelner  Landesteile  und  Orte  567 

haupt.  Das  betrifft  nicht  nur  die  historische  Standortentwicklung  der  Industriestatten  an 
sich,  sondern  auch  die  iiberkommenen  Denkmaler. 

Fur  den  Benutzer  bzw.  den  interessierten  Besucher  solcher  groBstadtischer  Industrie- 
gebiete  nimmt  der  Zugewinn  an  nutzbarer  Information  hinsichtlich  einzelner  Fabrik- 
standorte  etc.  durch  das  vorliegende  Kartenbild  kaum  zu.  Uberdecken  die  Planzeichen 
bei  diesem  KartenmaBstab  die  Topographie  doch  so  erheblich,  dass  ein  beabsichtigtes 
Auffinden  einzelner  Objekte  schon  allein  dadurch  fast  unmoglich  wird  und  allenfalls 
der  schlichte  visuelle  Allgemeineindruck  einer  ortlichen  Haufung  von  Industriebetrie- 
ben  iibrigbleibt.  Der  eigentliche  Zweck  der  Exkursionskarte  wird  damit  in  Frage  gestellt. 
SchlieBlich  steht  mit  der  Reihe  „Baudenkmale  in  Niedersachsen"  fiir  Stadt  und  Region 
Hannover  (Bde.  10.1,  1983;  10.2  1985;  13.1,  1988;  13.2,  2005)  ersatzweise  eine  vorziigli- 
che  Denkmaltopographie  zur  Verfugung,  welche  auch  Industriedenkmaler  im  Einzel- 
nen  beriicksichtigt  und  diesbeziiglich  auch  den  Anspriichen  an  eine  Exkursionskarte 
vollauf  gerecht  werden  kann.  Hinsichtlich  der  textlichen  Behandlung  auch  nur  der 
Grundziige  dieser  zumeist  sehr  komplexen  und  umfanglichen  Materie  einer  regionalen 
oder  auch  nur  lokalen  Industrie-  bzw.  Standortgeschichte  erscheinen  die  notwendiger- 
weise  engbemessenen  Verhaltnisse  eines  Erlauterungsbandes  dariiberhinaus  zumalbei 
groBeren  Industrieorten  weit  iiberfordert.  Da  hier  dann  allenfalls  nur  Stiickwerk  mog- 
lich  sein  kann,  sollte  -  auBer  bei  wohlbegriindeten  (seltenen)  Ausnahmen,  vielleicht  im 
Falle  von  kleineren  Stadten  o.  a.  -  kiinftig  von  einer  Einbeziehung  der  Industriege- 
schichte  und  ihrer  Denkmaler  Abstand  genommen  werden.  Als  Zeitschranke  fiir  die  Be- 
arbeitung  der  Exkursionskarte  und  ihrer  Erlauterungsbande  sollte  weiterhin  der  Zeit- 
raum  1850  gelten! 

Braunschweig  Wolfgang  Meibeyer 


Hager,  Hartmut:  Kriegstotengedenken  in  Hildesheim.  Geschichte,  Funktionen  und  Formen. 
Mit  einem  Katalog  der  Denkmaler  fiir  Kriegstote  des  19.  und  20.  Jahrhunderts.  Hil- 
desheim: Gerstenberg  2006.  520  S.  Abb.  =  Quellen  und  Dokumentationen  zur  Stadt- 
geschichte  Hildesheims  Bd.  17.  Geb.  29,80  €. 

Das  hier  vorzustellende  Buch  (zugleich  eine  Dissertation  von  2005)  kommt  in  gewisser 
Hinsicht  etwas  spat,  denn  die  groBe  Zeit  der  Studien  fiber  Denkmaler  ist  seit  einigen  Jah- 
ren  vorbei.  Dennoch  handelt  es  sich  um  ein  wertvolles  Buch,  wenngleich  eher  aus  einer 
lokalen  Perspektive,  da  es  im  Kern  eine  genaue  Darstellung  und  Analyse  der  Hildeshei- 
mer  Kriegerdenkmaler  darstellt.  Das  Buch  besteht  aus  zwei  Teilen,  einem  ersten,  der  der 
„Geschichte,  Funktionen  und  Formen"  gewidmet  ist,  und  einem  zweiten  Teil,  der  einen 
„Katalog  der  Denkmaler  fiir  Kriegstote  des  19.  und  20.  Jahrhunderts"  enthalt. 

Hier,  im  zweiten  Teil,  werden  161  Denkmaler  aus  dem  19.  und  20.  Jahrhundert  syste- 
matisch  vorgestellt,  beginnend  mit  einer  detaillierten  Tabelle,  die  die  Namen  der  Denk- 
maler, deren  Alter  und  weitere  Daten  (etwa  ob  es  sich  um  Stiftungen  handelt)  enthalt. 
Leider  fehlt  eine  Karte  mit  den  Standorten.  Die  Denkmaler  werden,  beginnend  mit  sol- 
chen  der  „Stadtmitte"  systematisch  vorgestellt.  Als  erstes  wird  der  Standort  erwahnt, 
dann  folgt  eine  nach  dem  Quellenstand  mehr  oder  weniger  ausfiihrliche  Beschreibung 
des  Objekts,  die  etwa  die  Inschriften  einschlieBlich  der  Namen  der  Toten  mit  auffiihrt. 
Es  folgt  eine  teilweise  sehr  ausfiihrliche  Dokumentation,  die  den  Auftraggeber,  den  Her- 


568  Besprechungen 

steller,  die  Entstehungszeit  oder  die  Einweihung  ebenso  enthalt  wie  eine  „Deutung"  und 
eine  Objektgeschichte.  Weiterfiihrende  Hinweise  schlieBen  die  jeweilige  Objektbe- 
schreibung  ab.  DerUmfang  dieserDarstellungen  kann  von  einerbis  zu  mehreren  Seiten 
reichen  und  ist  jeweils  mit  Abbildungen  versehen,  leider  aber  ohne  Lageplane.  Zuweilen 
fehlen  Querverweise  wie  im  Falle  des  Infanterieregiments  79,  das  sowohl  fur  die  Toten 
des  Krieges  1870/71  (S.  209-212)  als  auch  fur  die  des  Ersten  Weltkriegs  (S.  309-312) 
Denkmaler  aufzuweisen  hat.  Gleichwohl  liegt  hier  eine  auBerordentlich  verdienstvolle 
Arbeit  vor. 

Die  Starke  des  Autors  und  damit  auch  des  gesamten  Werks  besteht  in  der  kompilatori- 
schen  Zusammenfassung,  nicht  so  sehr  in  der  systematischen  Darstellung.  Was  im  Kata- 
logteil  noch  fur  Uberschaubarkeit  sorgte,  verwirrt  eher  im  ersten  Teil  der  Darstellung. 
Hier  werden  „Geschichte,  Funktionen  und  Formen"  auf  knapp  120  Seiten  vorgestellt, 
wobei  dieser  Teil  aus  einer  Einfuhrung  sowie  aus  Kapiteln  zur  Bezeichnung  der  Denk- 
maler, den  „Motive(n)  und  Funktionen  des  Kriegstotengedenkens"  und  zu  „Formen  und 
Orte"  besteht.  Die  drei  Hauptkapitel  dieses  Teil  sind  wiederum  in  viele  Unterkapitel 
unterteilt.  Hager  zerlegt  systematisch  die  einzelnen  Aspekte  in  ihre  jeweiligen  Bestand- 
teile,  schon  in  fast  enzyklopadischer  Form.  Besonders  deutlich  wird  dieser  Ansatz  im 
Kapitel  4.1,  „Formen  des  Kriegstotengedenkens".  Auf  nahezu  40  Seiten  findet  der  Leser 
29  alphabetisch  sortierte  Eintrage  von  „Anzeigen"  iiber  „Gedenkfeiern"  bis  hin  zu 
„Windbretter"  (die  sich  seit  1994  am  Knochenhauer-Amtshaus  befinden). 

Bei  dieser  ganzen  Vielfalt,  die  sich  auch  innerhalb  der  Artikel  wiederholt,  geht  der  kri- 
tische  Ansatz  dieser  Studie  beinahe  unter,  bzw.  findet  sich,  wenig  systematisch,  in  nahe- 
zu jedem  Artikel.  Denn  die  Erinnerung  und  das  offentliche  Gedenken  blendeten  nicht 
nur  den  Tot  und  das  Sterben  praktisch  aus  („Tote"  gibt  es  offenbar  nur  in  Ausnahmen  auf 
den  Denkmalern,  wohl  aber  „Gefallene"),  sondern  es  instrumentalisierte  in  nahezu 
schamloser  Weise  das  individuelle  Sterben  von  Soldaten  (denn  derer  wird  fast  aus- 
schlieBlich  gedacht)  fur  eine  Politik,  die  vergangener  und  verlorener  GroBe  nachtrauert 
und  -  zwischen  1920  und  1936  -  auf  den  nachsten  Krieg  sich  vorbereitet.  Erst  nach  1945 
setzte  ein  Gedenken  ein,  das  nicht  mehr  im  Sinne  des  nachsten  Krieges  an  den  Krieg 
und  dessen  Tote  erinnerte,  sondern  auch  andere  Opfer  oder  etwa  Manner  und  Frauen 
des  Widerstandes  in  das  Gedenken  einbezog.  Es  ist  insofern  bedauerlich,  dass  die  eher 
eine  Sammelarbeit  prasentierende  Darstellung  auf  ein  zusammenfassendes,  chronologi- 
sches  Kapitel  verzichtet,  das  systematisch  zentrale  Aspekte,  Entwicklungslinien  und 
-briiche  heraus  arbeitet.  Der  Autor  verfiigt  sowohl  iiber  das  Wissen  als  auch  iiber  die 
analytischen  Voraussetzungen  dafiir.  So  bleibt  es  bei  einem  wertvollen  und  verdienstrei- 
chen  Nachschlagewerk  zu  begriffsgeschichtlichen  Fragen  im  Kontext  des  Kriegstoten- 
gedenkens und  zu  den  Hildesheimer  Denkmalern. 

Hannover  Karl  H.  Schneider 


Geschichte  der  Stadt  Meppen.  Hrsg.  von  der  Stadt  Meppen.  Meppen:  Stadt  Meppen  2006. 
600  S.  Abb.  Kt.  Geb.  39,80  €. 

Mit  dieser  „Geschichte  der  Stadt  Meppen"  legen  Herausgeber  und  Autoren  eine  respek- 
table  Stadtgeschichte  der  emslandischen  Kreisstadt  vor,  die  auf  fast  600  Seiten  eine  gute 
und  umfassende  Gesamtdarstellung  bietet.  Dies  ist  keine  Selbstverstandlichkeit.  Her- 


Geschichte  einzelner  Landesteile  und  Orte  569 

ausgeberwechsel  und  der  spate  Absprung  von  Autoren  waren  nicht  eingeplante  Schwie- 
rigkeiten,  an  der  das  langjahrige  Unternehmen  einer  Stadtgeschichte  Meppens  auch  hat- 
te  scheitern  konnen.  Deshalb  sei  den  verbliebenen  siebzehn  Autoren  und  besonders  der 
zusatzlich  mit  der  Koordination  und  Endredaktion  beauftragten  Regina  Holzapfel  aus- 
driicklich  fur  den  Einsatz  und  die  guten  Beitrage  gedankt.  Jedoch  sind  auch  einige  kriti- 
sche  Anmerkungen  nicht  zu  vermeiden. 

Chronologisch  gegliedert  werden  sieben  Zeitabschnitte  der  Stadtgeschichte  meist  in 
mehreren  Beitragen  verschiedener  Autoren  beleuchtet.  Die  stadtische  Vorgeschichte 
„Auf  dem  Weg  zur  Stadt:  Meppen  bis  zum  spaten  Mittelalter"  bildet  den  ersten  Zeitab- 
schnitt.  Hier  stellt  Andrea  Kaltofen  „Die  archaologische  Vergangenheit  Meppens  und 
seiner  Umgebung"  von  den  altesten  Funden  der  Alt-  und  Mittelsteinzeit  bis  hin  zu  den 
Untersuchungen  der  mittelalterlichen  bis  fruhneuzeitlichen  Brunnen  der  Innenstadt 
oder  Beobachtungen  zu  einigen  Burgen  und  Graftenhofen  vor.  Wolfgang  Bockhorst  be- 
arbeitet,  ausgehend  von  der  Ersterwahnung  in  einem  Diplom  Ludwigs  d.  Frommen  von 
834,  die  mittelalterlichen  Belege  fur  den  Corveyer  Haupthof  Meppen.  Die  Entwicklung 
vom  Markt-  und  Zentralort  des  Klosters  Corvey  zum  Miinsterischen  Marktort,  dem  so- 
zusagen  „kumulativ"  durch  mehrere  fiirstbischofliche  Privilegien  in  der  zweiten  Halfte 
des  14.  Jahrhunderts  das  Stadtrecht  verliehen  wurde,  beschreibt  Karsten  Igel.  Im  15.  und 
16.  Jahrhundert,  dem  zweiten  Zeitabschnitt  der  Stadtgeschichte,  konnte  die  Stadt  Mep- 
pen ihre  Selbststandigkeit  und  Selbstverwaltung  erheblich  ausbauen.  Dies  schildert  Jo- 
hannes Ludwig  Schipmann  in  seinem  stadtgeschichtlichen  Beitrag  „Zwischen  Selbst- 
standigkeit und  Unterwerfung:  Die  politische  und  wirtschaftliche  Entwicklung  der  Stadt 
von  1400  bis  1612".  Erganzend  dazu  beleuchtet  Tim  Unger  die  Kirchengeschichte  vom 
1461  begonnenen  Bau  dergotischen  Hallenkirche  bis  zurZeit  derlutherischen  Reforma- 
tion, die  zu  weitgehend  protestantischen  Verhaltnissen  in  der  fiirstbischoflich  Miinsteri- 
schen Stadt  Meppen  fiihrte. 

Zeitabschnitt  3  „Meppen  bis  zum  Ausgang  der  Friihen  Neuzeit"  beginnt  mit  dem  kon- 
fessionshistorischen  Beitrag  iiber  „Meppen  in  Gegenreformation  und  30-jahrigem  Krieg 
(1613-1650)"  von  Tim  Unger,  auf  den  der  profan-stadtgeschichtliche  Beitrag  „Vom  West- 
falischen  Frieden  bis  zum  Reichsdeputationshauptschluss:  Die  fiirstbischofliche  Land- 
und  Festungsstadt  Meppen  1648-1803"  von  Christian  Hoffmann  folgt.  Entsprechend 
ihrer  Bedeutung  gelten  den  Jesuiten  in  Meppen  die  beiden  Aufsatze  „,Gott  geneigter 
stimmen'.  160  Jahre  Jesuiten  in  Meppen"  von  Wolfgang  Seegriin  und  iiber  das  „Jesuiten- 
theater  in  Meppen"  von  Wolfgang  Germing.  Ebenso  wird  die  mittelalterliche  Bau-  und 
Kunstgeschichte  Meppens  in  einem  ausfiihrlichen  Beitrag  von  Reinhard  Karrenbrock 
vorgestellt.  Der  Stuckdecke  der  Gymnasialkirche  gilt  ein  interpretierender  Aufsatz  von 
Michael  Hermann. 

Zeitabschnitt  4  „Meppen  im  19.  Jahrhundert  (1803-1918)"  wird  in  drei  allgemeinen 
und  zwei  speziellen  Beitragen  dargestellt:  die  „Franzosenzeit"  von  Peter  Veddeler,  die 
Stadt  im  Konigreich  Hannover  (1815-1866)  von  Michael  Schmidt  und  „Meppen  im  Deut- 
schen  Kaiserreich  (1866-1918)  und  im  Ersten  Weltkrieg"  von  Andrea  Taeger.  Der  Props- 
teigemeinde  Meppen  St.  Vitus  von  der  Sakularisation  bis  zur  Machtergreifung  der 
Nationalsozialisten  gilt  ein  besonderer  Beitrag  von  Helmut  Jager,  der  Zentralfunktion 
Meppens  als  Schulort  widmet  sich  Wolfgang  Germing. 

Der  fiinfte  Zeitabschnitt  wird  in  dem  iiber  70  Seiten  umfassenden  Beitrag  „Meppen  in 
Demokratie  und  Diktatur  (1918-1945)"  von  Karl-Ludwig  Sommer  behandelt.  Hinter  der 
etwas  zu  pauschal  zusammenfassenden  Uberschrift  verbergen  sich  die  Kapitel  „Politi- 


570  Besprechungen 

sche  Entwicklungen  nach  dem  Ende  des  Ersten  Weltkrieges  bis  zur  nationalsozialisti- 
schen  Machtiibernahme",  „Machtiibernahme  und  nationalsozialistische  Herrschaft", 
„Meppens  Wirtschaft  am  Ende  des  Ersten  bis  zum  Ende  des  Zweiten  Weltkriegs"  sowie 
das  etwas  ungewohnliche  benannte  Thema  „Alltagliches,  AuBergewohnliches  und  be- 
ginnende  gesellschaftliche  Modernisierung  wahrend  der  Weimarer  Republik"  und  als 
letztes  Kapitel  „Nationalsozialistischer  Alltag  in  einer  katholischen  Kleinstadt".  Insge- 
samt  wird  die  Entwicklung  Meppens  in  der  Weimarer  Zeit  und  wahrend  der  NS-Herr- 
schaft  damit  angemessen  und  ausfuhrlich  behandelt.  Einige  Interpretationen  und  Wer- 
tungen  iiber  Kontinuitaten  im  Alltag  oder  iiber  das  Verhaltnis  zwischen  katholischer 
Kirche  bzw.  Bevolkerung  und  den  Nationalsozialisten  erscheinen  dem  Rezensenten 
sehr  diskussionswiirdig  -  dem  Autor  kann  unterstellt  werden,  genau  dies  beabsichtigt  zu 
haben. 

„Meppen  in  der  zweiten  Halfte  des  20.  Jahrhunderts"  bildet  den  sechsten  Zeitab- 
schnitt  mit  den  beiden  Aufsatzen  „Meppen  in  der  Nachkriegszeit  (1945-1950)"  von  An- 
nette Wilberts-Noetzel  und  „Meppen  auf  dem  Weg  zum  Mittelzentrum  -  zur  Entwick- 
lung der  Stadt  zwischen  1950  und  1980"  von  Regina  Holzapfel.  Beide  Autorinnen  liefern 
gut  recherchierte  und  informative  Beitrage  zur  Zeitgeschichte  Meppens.  Misslich  ist 
nach  Meinung  des  Rezensenten  aber,  dass  insgesamt  die  Stadtentwicklung  seit  1946  bis 
heute  viel  zu  kurz  kommt.  Auch  das  nachgeschoben  wirkende  siebte  Kapitel  „Meppen  - 
das  moderne  Mittelzentrum  im  Emsland"  von  Michael  Hermann  bietet  hierfiir  keinen 
Ersatz.  Der  entscheidende  Aufschwung  Meppens  vom  Beginn  des  „Emslandplans"  bis 
heute  hatte  eine  umfassend  recherchierte  und  gut  strukturierte  Darstellung  verdient  - 
hier  wirken  sich  die  eingangs  erwahnten  Probleme  des  Gesamtprojekts  und  vielleicht 
auch  das  Fehlen  eines  vor  Ort  arbeitenden  Stadtarchivs  negativ  aus. 

Im  Anhang  bietet  die  Stadtgeschichte  einen  eigenen  Beitrag  iiber  Siegel,  Wappen  und 
Banner  der  Stadt  Meppen  von  Peter  Veddeler,  Tabellen  der  Burgermeister,  Stadtdirekto- 
ren,  Ortsvorsteher  und  Ehrenbtirger  sowie  ein  ausfuhrliches  Quellen-  und  Literaturver- 
zeichnis  und  einen  Index  der  Orts-  und  Personennamen.  Trotz  der  kritischen  Anmer- 
kungen  handelt  es  sich  um  eine  gut  geschriebene,  angenehm  zu  lesende  und  anspre- 
chend  gestaltete  Gesamtdarstellung,  die  in  kompakter  Form  umfassende  Informationen 
iiber  Geschichte  Meppens  von  den  friihesten  Siedlungsspuren  bis  in  die  heutige  Zeit  ver- 
mittelt.  So  manche  vergleichbare  Mittelstadt  wird  Meppen  um  seine  Darstellung  der 
Stadtgeschichte  beneiden. 

Rheine  Thomas  Giessmann 


Czichelski,  Martin:  Die  Griindung  der  Stadt  Miinden  unter  dem  Einfluss  der  Welfen.  Eine 
interdisziplinare  Betrachtung  der  wissenschaftlichen  Forschung.  Hann.  Miinden: 
Heimat-  und  Geschichtsverein  Sydekum  2002.  XII,  356  S.  Abb.,  graph.  Darst.,  Kt.  = 
Sydekum-Schriften  zur  Geschichte  der  Stadt  Miinden  Bd.  33.  Geb.  22,60  €. 

Czichelski,  Martin:  Gemunde  im  friihen  und  hohen  Mittelalter.  Hann.  Miinden:  Heimat- 
und  Geschichtsverein  Sydekum  2006.  VIII,  467  S.  Abb.  Kt.  =  Sydekum-Schriften  zur 
Geschichte  der  Stadt  Miinden  Bd.  36.  Geb.  29,50  €. 

Im  Jahre  2008  begeht  die  Stadt  Hann.  Miinden,  gelegen  an  der  Miindung  der  Fulda  in 
die  Werra/ Weser,  das  825.  Jubilaum  ihrer  ersten  Erwahnung  in  der  schriftlichen  Uber- 


Geschichte  einzelner  Landesteile  und  Orte  571 

lieferung.  Derm  als  im  Jahre  1183  Landgraf  Ludwig  III.  von  Thiiringen  das  Kloster  Lip- 
poldsberg  an  der  Oberweser  in  seinen  Schutz  nahm,  wurde  die  Urkunde  des  Landgrafen 
am  15.  August  in  Gemunden  ausgefertigt,  und  der  dortige  Pfarrer  gehorte  zu  den  Zeugen. 
In  zwei  weiteren,  undatierten  Urkunden  desselben  Landgrafen,  die  jedenfalls  in  den 
achtzigerjahren  des  12.  Jahrhunderts  ausgestellt  wurden,  erscheint  neben  anderen  Stad- 
ten  auch  Miinden  ausdriicklich  als  Stadt  (civitas)  und  wird  hier  ein  landgraflicher  Schult- 
heiB  (villicus)  als  der  ortliche  Vertreter  des  Stadtherrn  genannt.  Damit  steht  fest,  dass 
Miinden  1183  eine  sozusagen  fertige  Stadt  mit  SchultheiBen  und  eigenem  Pfarrer  war. 

Dass  die  Stadt  planmaBig  gleichsam  in  einem  Zuge  angelegt  wurde,  ergibt  sich  zwei- 
felsfrei  aus  ihrem  einheitlichen,  ungewohnlich  systematischen  Grundriss  und  ist  seit  lan- 
gem  unbestritten;  dem  entsprechend  erwahnt  eine  Urkunde  Herzog  Ottos  I.  von  Braun- 
schweig von  1247  ausdriicklich  ihre  Grundung  (a  prima  fundatione) .  Da  iiber  die  Griin- 
dung  Miindens  aber  keinerlei  Nachrichten  vorliegen,  hat  sich  die  Forschung  seit  langem 
bemiiht  zu  ermitteln,  wer  diese  Stadt  an  der  Miindung  der  Fulda  in  die  Werra/  Weser  an- 
gelegt haben  konnte.  In  Frage  kommen  dafiir  nur  der  Landgraf  von  Thiiringen  und  Her- 
zog Heinrich  der  Lowe  von  Sachsen,  wobei  iiber  den  Zeitraum,  in  dem  die  Grundung  an- 
zunehmen  ist,  weitgehend  Einigkeit  besteht:  etwa  zwischen  der  Mitte  des  12.  Jahrhun- 
derts bis  vor  1180.  Der  Rezensent  hat  sich  vor  nunmehr  35  Jahren,  wie  es  scheint,  als 
letzter  eingehend  mit  diesen  Fragen  beschaftigt  und  sich  fur  den  Landgrafen  von  Thii- 
ringen als  den  sehr  wahrscheinlichen  Griinder  von  Miinden  ausgesprochen  (Die  Grun- 
dung der  Stadt  Miinden,  in:  Hess.Jb.  fur  Landesgeschichte  23,  1973,  S.  141-230;  kiinftig: 
Hr.,  Miinden.  Vgl.  auch:  Konigshofe  und  Konigsgut  im  Raum  Kassel,  Veroff.  des  Max- 
Planck-Inst.  fur  Gesch.  33,  1971;  kiinftig:  Hr.,  Konigshofe).  Diesem  Ergebnis  hat  sich  die 
Forschung  in  der  Folgezeit  weithin  angeschlossen. 

Nun  aber  hat  Verf.  es  sich  zur  -  nicht  zu  beanstandenden  -  Aufgabe  gemacht,  erneut 
den  Griinder  der  Stadt  Miinden  zu  ermitteln.  Dem  gilt  seine  Arbeit  von  2002  (kiinftig: 
„Grundung"),  wahrend  die  zweite  von  2006  (kiinftig:  „Gemunde")  auf  dieser  Grundlage 
gleichsam  als  Fortsetzung  die  Geschichte  Miindens  im  friihen  und  hohen  Mittelalter 
zum  Thema  hat.  Zwar  sagt  er  in  der  Einfiihrung  zur  „Griindung",  es  gehe  nicht  darum, 
„der  Erreichung  einer  erwarteten  Antwort  zu  folgen,  sondern  bei  aller  Zielorientiertheit 
die  Ergebnisoffenheit  als  wesentliche  Grundlage  beizubehalten"  (S.  XI);  aber  das  Ziel 
wird  schon  im  Titel  des  Buches  angedeutet  und  bei  fortschreitender  Lektiire  recht  bald 
klar  -  im  Einklang  mit  der  in  Miinden  seit  Jahrhunderten  gepflegten  Welfentradition 
kann  allein  Heinrich  der  Lowe  die  Stadt  gegriindet  haben.  Dabei  setzt  Verf.  sich  auf  wei- 
te  Strecken  -  oft  auch  unausgesprochen  -  mit  den  einschlagigen  Arbeiten  des  Rezensen- 
ten  auseinander.  Gleichwohl  sind,  dies  sei  ausdriicklich  vorangestellt,  die  vorliegenden 
Arbeiten  sine  ira  et  studio  zu  wiirdigen. 

Letztlich  geht  es  Verf.,  wie  gesagt,  um  den  Nachweis,  Heinrich  der  Lowe  habe  die 
Stadt  Miinden  gegriindet.  Um  dieses  Ziel  zu  erreichen,  sucht  er  gleichsam  eine  Linie  aus 
dem  friihen  Mittelalter  bis  zu  Heinrich  dem  Lowen  zu  Ziehen.  Deshalb  sieht  er  in  der  Alt- 
stadt  wie  in  der  Umgebung  an  Werra  und  Fulda  altes  sachsisches  Siedlungsgebiet;  noch 
bis  etwa  zur  Mitte  des  11.  Jahrhunderts,  als  Kaiser  Heinrich  III.  1049  den  Konigshof 
Miinden  besuchte,  sei  der  Kaufunger  Wald  Reichsforst  gewesen;  danach  habe  entweder 
Konig  Heinrich  IV  den  Reichsbesitz  Miinden  Otto  von  Northeim  iiberlassen  oder  die- 
ser habe  ihn  einfach  in  Besitz  genommen.  Jedenfalls  habe  Miinden  mit  dem  Kaufunger 
Wald  seit  der  zweiten  Halfte  des  11.  Jahrhunderts  den  Northeimern  gehort,  sei  nach  ih- 
rem Aussterben  1144  auf  dem  Erbwege  an  den  Grafen  von  Winzenburg  und  aus  dessen 


572  Besprechungen 

Erbmasse  1152  an  Heinrich  den  Lowen  gelangt.  Dieser  habe  sodann  die  Stadt  Miinden 
gegriindet,  und  erst  nach  seinem  Sturz  im  Jahre  1180  sei  sie  mit  dem  siidlich  anschlie- 
Benden  Kaufunger  Wald  an  die  Ludowinger  gefallen.  Urn  diese  Hypothesenkette,  die 
sich  dem  Leser  freilich  erst  allmahlich  erschlieBt,  zu  stiitzen,  nimmt  breiten  Raum  das 
immer  wiederkehrende  Bemiihen  um  den  Nachweis  ein,  die  Ludowinger  hatten  vor  1180 
den  Kaufunger  Wald  nicht  als  Reichslehen  besessen,  keine  Moglichkeit  gehabt  und  auch 
zu  keinem  Zeitpunkt  versucht,  in  Miinden  oder  im  Kaufunger  Wald  tatig  zu  werden.  Die 
Frage  ist  also,  ob  es  Verf.  gelingt,  seine  Hypothesen  zu  erharten  und  zugleich  die  gegen- 
teilige  Ansicht  zu  widerlegen. 

Das  erste  Werk,  die  „Griindung",  ist  in  insgesamt  neun  Kapitel  (A-I)  gegliedert;  es  fol- 
gen  ein  Nachwort  des  Verf.  (J)  und  ein  Anhang  (K)  mit  Ubersichten,  Literatur-  und 
Quellenverzeichnissen.  Im  Kapitel  „A  Allgemeine  Siedlungsgeschichte"  wird  zunachst 
der  „Geschichtliche  Hindergrund"  erortert  (S.  1-9).  Freilich  geht  es  hier,  anders  als  der 
Titel  vermuten  lasst,  nicht  um  Geschichte,  sondern  um  einzelne  Arbeitszweige  und  -b- 
ereiche,  wie  „Siedlungsgeographie",  „Urkundennachweise",  „Archaologie",  „Wik-Orte 
und  Miinzpragung",  „Flurnamen"  oder  „Christianisierung  und  kirchliche  Bauten",  die 
sehr  allgemein  vorgefiihrt  werden;  der  zweite  Abschnitt  (S.  10-15)  entha.lt  Allgemeines 
zum  Stadtewesen.  Mit  dem  Kapitel  „Siedlungsanfange  und  Stadtwerdung"  (B,  S.  17-71) 
beginnt  die  eigentliche  Behandlung  des  Themas.  Hier  werden  „Betrachtungen  aus  hessi- 
scher  Sicht",  dann  „aus  thiiringischer"  und  „aus  sachsisch/welfischer  Sicht"  angestellt, 
um  das  historische  Umfeld  Miindens  im  12.  und  friihen  13.  Jahrhundert  zu  beleuchten; 
dabei  wird  wiederholt  weit  ausgegriffen.  Es  folgen  Kapitel  zum  „Kaufunger  Wald"  (C, 
S.  72-85),  „Besondere  Stadte  und  ihre  Entwicklungen  in  Bezugauf  Heinrich  den  Lowen" 
(D,  S.  86-102),  „Heinrich  der  Lowe,  biographische  Ausziige"  (E,  S.  103-141),  „Friihe  Sied- 
lungsansatze  im  Flussdelta"  (F,  S.  142-166),  zur  „Entstehung  der  Stadt  Miinden"  (G, 
S.  167-256),  zur  „Urkunde  des  Herzogs  Otto  Puer  von  1247"  (H,  S.  258-291)  und  eine 
30  Seiten  lange  „Zusammenfassung"  (I,  S.  292-322). 

Die  Gliederung  nach  sachlichen  Themen  ist  zu  begriiBen,  doch  sind  diese  merkwiir- 
dig  unausgewogen  und  eigentlich  kaum  in  dieser  Weise  hintereinander  zu  stellen;  ganz- 
lich  heraus  fallt  die  Biographie  Heinrichs  des  Lowen,  in  der  Vieles  gesagt  wird,  das  nicht 
im  geringsten  mit  Miinden  in  Verbindung  steht,  wie  beispielsweise  die  „Konigsgedan- 
ken  Heinrichs  des  Lowen"  (S.  104-113).  Auch  mangelt  es  den  einzelnen  Kapiteln  und 
Unterabschnitten  an  innerer  Straffheit,  vielmehr  schreitet  die  Darstellung  haufig  gleich- 
sam  assoziativ  weiter.  Infolgedessen  tauchen  viele  Einzelaspekte  mehrfach  an  den  unter- 
schiedlichsten  Stellen  auf,  wo  sie  nach  den  Kapiteliiberschriften  nicht  zu  erwarten  sind. 
Dieser  Umstand  und  das  Fehlen  eines  Index  erschweren  die  Benutzung  der  „Griindung". 

Die  vier  Jahre  jiingere  Arbeit  „Gemunde"  ist  zwar  konzentrierter  verfasst,  aber  in  der 
Abfolge  ihrer  insgesamt  22  unbezifferten  Abschnitte  ist  ebenfalls  keine  systematische 
Gliederung  zu  erkennen:  Die  ersten  acht  Abschnitte  behandeln  der  Stadt  benachbarte 
Ortschaften  wie  „Altmiinden",  „Ratten"  usw.  (S.  1-127).  Sodann  werden  „Der  Werra- 
ubergang  bei  Miinden"  (S.  128-157),  „DerReinhardswald"  (S.  158-174),  „Die  Entstehung 
des  Ortes  Landwehrhagen"  (S.  175-197)  und  „Burg  und  Siedlung  Sichelnstein  sowie  das 
Geschlecht  der  Bardonen"  (S.  198-212)  bearbeitet  und  die  Frage:  „Was  hat  das  Kloster 
Fulda  mit  Miinden  zu  tun?"  erortert  (S.  213-218).  Es  folgen  „Die  friihe  Entwicklung 
Nordhessens  bis  zur  Mitte  des  12.  Jahrhunderts"  (S.  219-224),  „Die  Grafschaft  des  Gra- 
fen  Dodico"  (S.  225-248),  ein  Abschnitt  zu  „Pagus  -  Gau  /  Komitat  -  Grafschaft"  (S.  249- 


Geschichte  einzelner  Landesteile  und  Orte  573 

285)  und  ein  weiterer  „Aus  der  Arbeit  von  Reinhard  Wenskus"  (S.  286-297) .  Sodann  wer- 
den  behandelt:  „Der  Reichstag  von  Gelnhausen  und  seinen  Auswirkungen  auf  Sachsen 
und  die  sachsische  Pfalzgrafschaft"  -  1180  -  (S.  298-320)  sowie  ,,Die  Urkunde  Kaiser 
Heinrichs  III.  aus  demjahr  1049",  die  in  Miinden  ausgestellt  wurde  (S.  321-375).  Nach 
weiteren  Abschnitten  iiber  „K6nige  in  Miinden"  (S.  376-386)  und  iiber  „G6ttingen  -  eine 
Vergleichsbasis  fur  Miinden"  (S.  387-403)  folgt  schlieBlich  „Miinden  als  Stadt  zwischen 
1183  und  1247"  (S.  404-410).  Obwohl  Verf.  die  „Vernetzung  von  Einzelergebnissen  zu  ei- 
nem  Gesamtbild"  ankiindigt  (S.  VIII),  fehlt  im  Gegensatz  zur  „Griindung"  in  „Gemun- 
de"  eine  Zusammenfassung,  so  dass  die  disparaten  Einzelabschnitte  nicht  zu  einem  Ge- 
samtbild zusammengefuhrt  werden.  Vielmehr  handelt  es  sich  um  eine  Sammlung  mehr 
oder  weniger  selbststandiger  Artikel,  die  sich  um  das  Generalthema  der  Griindung  Miin- 
dens  gruppieren.  Sie  wiederholen  weithin  schon  in  der  „Griindung"  Behandeltes,  vertie- 
fen  es  auch  und  fiihren  es  weiter.  Auch  hier  folgt  ein  Anhang  (S.  411-467),  diesmal  mit 
Zeittafeln  fur  das  Kloster  Kaufungen,  fur  Hessen  sowie  fur  Miinden  und  Umgebung,  in 
denen  viele  Ausfiihrungen  des  Textes  zusammengefasst  wiederholt  werden,  sowie  mit 
Literaturverzeichnis,  Worterklarungen  und  nun  einem  fur  die  Benutzung  hilfreichen 
„Stichwortverzeichnis". 

Bei  der  „Griindung"  handelt  es  sich,  wie  Verf.  selbst  feststellt,  um  „keine  originate 
Forschungsarbeit";  sie  ist  „nicht  mit  dem  Attribut  der  Wissenschaftlichkeit  zu  versehen" 
(S.  XI)  .Dies  ist  nachdriicklich  zu  unterstreichen  und  gilt  in  gleicher  Weise  fur  „Gemun- 
de",  kann  der  Verf.  doch  offenkundig  keine  eigenen  Forschungen  im  Wortsinne  beisteu- 
ern,  auch  wenn  er  bei  „Gemunde",  bezogen  auf  die  ersten  Abschnitte,  meint,  seine  „er- 
zielten  Ergebnisse"  seien  „in  weiten  Teilen  als  neue  bzw.  erweiterte  Erkenntnisse  zu  wer- 
ten"  (S.  VII).  Dies  mag  allenfalls  fiir  den  Abschnitt  iiber  den  Werraiibergang  mit  Furt 
und  Briicke  („Gemunde"  S.  128-157)  zutreffen,  doch  ist  auch  hier  nicht  erkennbar,  inwie- 
weit  die  Ausfiihrungen  auf  der  sparsam  zitierten  Literatur  beruhen  oder  inwieweit  sie  ei- 
gene  Folgerungen  des  Verf.  sind.  Vielleicht  abgesehen  von  diesem  Abschnitt,  handelt  es 
sich  vielmehr  bei  beiden  Arbeiten  nahezu  ausschlieBlich  um  die  Wiedergabe  von  For- 
schungsliteratur,  vielfach  in  langen  wortlichen  Zitaten.  Da  die  Anmerkungsapparate,  zu- 
mal  in  der  „Griindung",  auBerordentlich  knapp  gehalten  sind,  bemerkt  oft  nur  ein  Leser, 
der  die  einschlagige  Literatur  kennt,  welche  Arbeiten  die  langatmigen  Ausfiihrungen  ge- 
rade  wiedergeben.  Diese  Wiedergabe  reicht  iiber  z.T.  recht  enge  sprachliche  Anlehnung 
an  die  Vorlage  bis  hin  zu  ihrer  wortlichen,  doch  nicht  als  solche  gekennzeichneten  Uber- 
nahme  -  z.B.  stammt  „Gemunde"  S.  35  der  letzte  Satz  bis  S.  36  oben  wortlich  von  E. 
Krug  (Zs.  des  Vereins  fiir  hess.  Gesch.  u.  Landeskunde  62  NF52,  1940,  S.  308);  der  Hin- 
weis  auf  den  Autor  am  Ende  des  vorausgehenden  Absatzes  geniigt  nicht,  da  er  sich  nicht 
auf  den  folgenden  Absatz  bezieht,  noch  dazu,  wenn  wie  in  diesem  Falle  am  Ende  des  Ab- 
satzes mit  der  wortlichen  Ubernahme  nur  noch  ein  Urkundennachweis  folgt. 

Oft  ist  nicht  zu  erkennen,  nach  welchen  Gesichtspunkten  ein  Autor  als  Vorlage  ausge- 
sucht  wurde,  zumal  wenn  es  sich  um  altere  Arbeiten  handelt,  die  inzwischen  durch  neue- 
re,  aber  nicht  genannte  Forschungen  weitergefiihrt  oder  iiberholt  sind.  Ein  Beispiel  von 
vielen:  Zum  Kaufunger  Wald  als  Reichsgut  und  Konigsforst  („Griindung"  S.  79ff.)  wird 
zwar  ausfuhrlich  K.  A.  Eckhardt  (Einleitung  zu:  Quellen  zur  Rechtsgeschichte  der  Stadt 
Witzenhausen,  Veroff.  der  Hist.  Komm.  fiir  Hessen  und  Waldeck  13,4,  1954)  zitiert,  nicht 
aber  die  einschlagigen  Arbeiten  von  K.  A.  Kroeschell  (Hessen  und  der  Kaufungerwald 
im  Hochmittelalter,  Diss.  jur.  Gottingen  1953)  oder  des  Rezensenten  (Hr.,  Konigshofe), 


574  Besprechungen 

die  zu  teilweise  ganz  anderen  Ergebnissen  kommen,  welche  freilich  nicht  in  das  Konzept 
des  Verf.  passen.  Auch  wird  die  zugrunde  liegende  Literatur  keineswegs  immer  zutref- 
fend  wiedergegeben,  wie  folgendes  Beispiel  zeigt:  „Hartmut  Boockmann  spricht  sich 
nicht  fur  einen  bestimmten  Landesherrn  als  Griinder  aus",  meint  Verf.  („Gemunde" 
S.  405);  in  dem  Druck  seines  Festvortrags  zum  Stadtjubilaum  1983,  auf  den  Verf.  sich  da- 
fur  bezieht,  sagt  Boockmann  jedoch  unmissverstandlich:  „Wer  der  erste  Stadtherr  gewe- 
sen  ist,  das  laBt  sich  mit  GewiBheit  nicht  sagen,  doch  spricht  fast  alles  dafiir,  daB  es  der 
Landgraf  Ludwig  III.  von  Thiiringen  und  Hessen  war."  (Miindener  Vortrage  zur  800- 
Jahrfeier  der  Stadt,  Sydekum-Schriften  12,  1984,  S.  24,  nicht  23). 

Verf.  stiitzt  sich  auch  auf  langst  iiberholte,  fur  das  friihe  und  hohe  Mittelalter  nicht 
mehr  zitierfahige  Arbeiten  -  wie  Christoph  Rommels  Geschichte  von  Hessen  von  1820 
-  bis  hin  zu  Sagenhaftem.  Vor  allem  grundet  er  seine  oben  erwahnte,  fur  sein  Ziel  wichti- 
ge  Hypothesenkette  von  Otto  von  Northeim  bis  Heinrich  den  Lowen  auf  einen  schon 
von  der  alteren  Forschung  bisweilen  angefiihrten  Bericht  iiber  die  Wiederherstellung  ei- 
ner  noch  alteren  Burg  in  Miinden  durch  Otto  von  Northeim  im  Jahre  1070  und  die  Zer- 
storung  Miindens  durch  Konig  Heinrich  IV.  auf  seinem  Zug  von  der  Burg  Hanstein  an 
der  Werra  zum  Desenberg  bei  Warburg  („Griindung"  z.B.  S.  59ff.,  170f.,  215;  „Gemun- 
de"  z.B.  S.  279,  427f.);  er  fiigt  noch,  im  Hinblick  auf  sein  Ziel,  die  „Anmerkung"  hinzu 
(„Gemunde"  S.  428):  „Wenn  Miinden  nicht  northeimisch  gewesen  ware,  sondern  den 
Ludowingern  unterstanden  hatte,  hatte  der  Kaiser  die  von  ihm  personlich  gefiihrten 
Truppen  Miinden  auch  nicht  verwiisten  lassen".  Abgesehen  von  der  anachronistischen 
Anmerkung-  um  1070  hatten  die  Ludowingergerade  begonnen,ihre  Herrschaft  in  Thii- 
ringen aufzubauen,  nach  Hessen  kamen  sie  erst  50-60  Jahre  spater  -,  entbehrt  der  Be- 
richt jeder  seriosen  Grundlage.  Es  handelt  sich,  wie  die  Forschung  langst  erkannt  hat, 
um  eine  sagenhafte  Erzahlung,  die  wohl  als  erster  der  auch  sonst  nicht  eben  zuverlassige 
Miindener  Kaplan  Johannes  Letznerim  16.Jahrhundert  aufgebrachthat;  in  den  Quellen 
zum  11.  Jahrhundert  findet  sich  nicht  der  geringste  Hinweis  dafiir.  Somit  kann  von  ei- 
nem  Besitz  Ottos  von  Northeim  in  Miinden,  den  Verf.  in  seinen  Darlegungen  ebenso 
wie  die  Zerstorung  Miindens  durch  Heinrich  IV  immer  wieder  als  zweifelsfrei  belegte 
Tatsache  anfiihrt,  nach  wie  vor  keine  Rede  sein. 

Ein  Hauptargument  fur  die  Annahme  der  Grundung  der  Stadt  durch  die  Ludowinger 
sieht  Verf.  zu  Recht  in  der  -  von  ihm  bestrittenen  -  Lage  der  Stadt  auf  dem  Boden  des 
Reichsforstes  Kaufunger  Wald,  schon  vor  1180  als  Reichslehen  in  der  Hand  der  Land- 
grafen  von  Thiiringen  und  Grafen  von  Hessen,  und  in  der  noch  1247  bekannten  Eigen- 
schaft  Miindens  als  Reichslehen  („Griindung"  S.  83  ff.) .  Da  er  hier  wie  auch  sonst  weithin 
die  Angaben  der  Literatur  nicht  an  den  Quellen  iiberpruft,  entgeht  ihm,  dass  nicht  -  wie 
die  von  ihm  hier  benutzte  altere  Literatur  meint  -  erst  1319,  sondern  schon  1247,  unmit- 
telbar  nach  dem  Ubergang  Miindens  in  seine  Herrschaft,  Herzog  Otto  gegeniiber  den 
Biirgern  der  Stadt  Braunschweig  versicherte,  er  habe  die  Stadt  vom  Reich  zu  Lehen  emp- 
fangen;  1319  wurde  lediglich  die  Urkunde  der  Braunschweiger  fur  die  Miindener  von 
1247erneuert  (vgl.  Hr.,  Konigshofe  S.  166).  Ob  diese  Versicherung  des  Herzogs  den  Tat- 
sachen  entsprach  -  war  doch  Miinden  sozusagen  frei  geworden  durch  den  eben  erfolg- 
ten  Tod  des  Gegenkonigs  Heinrich  Raspe  IV.  -,  ist  unerheblich;  doch  ergibt  sich  aus  ihr, 
dass  die  Stadt  1247  noch  als  Reichslehen  gait  und  dass  dies  damals  in  Braunschweig  je- 
denfalls  bekannt  war  (ahnlich  aber  „Griindung"  S.  276).  Abwegig  ist  zudem  die  vom 
Verf.  anscheinend  in  derNachfolge  H.  Graefes  vorgenommene  Gleichsetzung  der  Stadt 
eines  Fiirsten  auf  Grund  und  Boden,  den  er  vom  Reich  zu  Lehen  besitzt,  mit  dem  Status 


Geschichte  einzelner  Landesteile  und  Orte  575 

einer  Reichsstadt  („Griindung"  S.  84).  Offenkundig  blieb  dem  Verf.  der  Unterschied 
zwischen  Reichslehen  und  Reichsstadt  verborgen. 

Ebenso  scheitert  der  Versuch,  aus  dem  moglicherweise  schon  von  Heinrich  Raspe  IV. 
vor  seinem  Tode  bereits  fur  Duderstadt  angebahnten  Wechsel  unter  die  Herrschaft  Her- 
zog  Ottos  von  Braunschweig  zu  folgern,  dies  konne  auch  fur  Miinden  angenommen  wer- 
den  („Griindung"  S.  283  ff.).  Im  Gegensatz  zum  Privileg  des  Herzogs  fur  Duderstadt  von 
1247  entha.lt  sein  Miindener  Privileg  gerade  keinen  solchen  Hinweis.  Vielmehr  gait 
Miinden  1247  noch  als  Reichslehen  und  ware  wie  die  iibrigen  Reichslehen  des  Ludowin- 
gers  in  die  Eventualbelehnung  Markgraf  Heinrichs  des  Erlauchten  von  MeiBen  einge- 
schlossen  gewesen,die  auf  Veranlassung  des  erbenlosen  Heinrich  Raspe  IV.  1243  Kaiser 
Friedrich  II.  vorgenommen  hatte.  Offensichtlich  nutzte  Herzog  Otto  von  Braunschweig 
die  Gunst  der  Stunde:  Unmittelbar  nach  dem  Tode  des  letzten  Ludowingers  am  16.  Fe- 
bruar  1247  forderte  er  durch  eine  Gesandtschaft  die  Biirgerschaft  von  Miinden  auf,  ihre 
jetzt  herrenlos  gewordene  Stadt  ihm  zu  iibergeben,  und  schon  am  7.  Marz  stellte  er  den 
Miindenern  das  umfassende  Privileg  aus. 

Auf  die  in  diesem  Zusammenhang  ebenfalls  wichtige  Frage  des  in  Miinden  geltenden 
frankischen  Rechts,  das  mit  der  Lage  der  Stadt  auf  frankischem  Boden  begriindet  wird 
(civitas  dicta,  cum  in  terra  Franconica  sita  sit,  iure  Francorum  fruitur  etpotitur)  und  vom  Her- 
zog auch  in  Zukunft  garantiert  wird,  kann  hier  nicht  naher  eingegangen  werden;  die 
Ausfiihrungen  des  Verf.  hierzu  („Griindung"  S.  277 ff.)  sind  unklarund  widerspriichlich, 
fiihren  jedenfalls  nicht  weiter.  Der  Passus  der  Urkunde  ist  in  jedem  Fall  ein  deutliches 
Zeichen  fur  die  Zugehorigkeit  des  Grund  und  Bodens  der  Stadt  -  nicht  zum  Reichsgut, 
wie  man  friiher  meinte,  sondern  zum  frankischen  und  eben  nicht  zum  sachsischen 
Rechtsgebiet  (vgl.  Hr.,  Miinden  S.  228ff.).  Daran  andert  nichts  der  durchgangige  Ver- 
such des  Verf.  besonders  in  „Gemunde",  in  zahlreichen  Orten  der  Umgebung  von  Miin- 
den Sachsen  nachzuweisen.  Denn  nicht  nur  hier,  sondern  iiberall  entlang  der  frankisch- 
sachsischen  Grenze,  die  sich  als  eine  breite  Ubergangszone  darstellt,  ist  seit  dem  8.  Jahr- 
hundert  eine  solche  Mischung  der  Bevolkerung  anzutreffen;  Ahnliches  lasst  sich  auch 
an  anderen  Stammesgrenzen  beobachten,  z.B.  beiderseits  des  Lechs,  der  seit  dem  6. 
Jahrhundert  die  Siedlungsgebiete  der  Alamannen  im  Westen  und  der  Bajuwaren  im 
Osten  trennt. 

Immer  wieder  bemiiht  sich  Verf.  in  beiden  Werken  um  den  Nachweis,  dass  die  Ludo- 
winger  vor  dem  Sturz  Herzog  Heinrichs  des  Lowen  noch  nicht  iiber  den  Kaufunger 
Wald  verfiigen  konnten.  Als  ein  wichtiger  Baustein  dient  ihm  dazu  die  Betrachtung  des 
Kragenhofes,  gelegen  in  einer  engen  Fuldaschleife  unterhalb  von  Landwehrhagen,  der 
jedoch  nicht  zum  Kaufunger  Wald  gehort  habe  („Gemunde"  S.  30-47).  Auch  hier  setzt  er 
sich  mit  dem  Rezensenten  auseinander,  freilich  nur  mit  der  Zusammenfassung  des  Er- 
gebnisses  (Hr.,  Miinden  S.  217),  nicht  aber  mit  derUntersuchung  selbst  (Hr.,  Konigshofe 
S.  214  f.).  Nicht  bezweifeln  kann  Verf.  die  Angabe  einer  Urkunde  Landgraf  Ludwigs  III. 
von  1180/81,  dass  seine  Vorganger  Heinrich  Raspe  II.  und  Ludwig  II.  den  Kragenhof 
dem  Stift  Ahnaberg  in  Kassel  iibergeben  hatten,  dass  die  Ludowinger  also  in  der  Mitte 
des  12.Jahrhunderts  iiber  diesen  Teil  des  Kaufunger  Waldes  verfiigten.  Verf.  wiederholt 
nun  die  altere  Ansicht,  es  habe  sich  beim  Kragenhof  um  ein  Allod  eines  Landadligen  ge- 
handelt,  das  die  Ludowinger  konfisziert  hatten,  kurz  bevor  sie  es  um  1 155  dem  von  ihnen 
in  Kassel  gegriindeten  Stift  Ahnaberg  iibertrugen  (E.  Krug  in:  Zs.  des  Vereins  fur  hess. 
Gesch.  u.  Landeskunde  62  NF52,  1940,  S.  303-308).  Als  allodium  wird  der  Hof  nur  ein- 
mal  bezeichnet,  und  zwar  1311,  als  er  schon  iiber  160  Jahre  dem  Stift  Ahnaberg  gehorte; 


576  Besprechungen 

dies  bereitet  keine  Schwierigkeit,  derm  allodiumkann  neben  derBedeutung  als  Eigengut 
ebenso  ein  Vorwerk  oder  einen  Gutshof  bezeichnen.  Ein  Allod  eines  Adligen  im  friihen 
12.  Jahrhundert  belegt  die  Nennung  von  1311  keinesfalls. 

Der  angebliche  Besitzernun  wird  von  E.  Krugund,  ihm  folgend,  vom  Verf.  in  Folbraht 
Crahg  (nicht  Cragh,  wie  Verf.  durchgangig  schreibt)  gesehen,  der  1126  in  Fritzlar  mit 
zahlreichen  anderen  Laien  eine  Urkunde  Erzbischof  Adalberts  I.  von  Mainz  fur  das  Klo- 
ster  Kaufungen  bezeugte.  Zwar  betraf  die  Urkunde  den  Novalzehnten  in  benachbarten 
Dorfern  im  Kaufunger  Wald,  doch  lasst  sich  nicht  feststellen,  ob  es  sich  bei  Folbraht  Crahg 
um  einen  Kaufunger,  wie  von  Krug  und  vom  Verf.  angenommen,  oder  einen  Mainzer 
bzw.  Fritzlarer  Zeugen  handelte.  Crahg  ist  hier  Folbrahts  Beiname,  wie  in  derselben  Ur- 
kunde zwei  weitere  Beinamen  vorkommen  (Ciinrat  Spurlinund  Ciinradus  Craz),  denn  ein 
Familienname,  als  den  ihn  Verf.  offenbar  ansieht,  wenn  er  nur  von  Cragh  spricht,  kommt 
im  friihen  12.  Jahrhundert  nicht  in  Frage.  Vom  Beinamen  dieses  Folbraht  Crahg,  der,  wie 
gesagt,  nur  ein  einziges  Mai  in  den  Quellen  begegnet  und  keineswegs  mit  diesem  Land- 
strich  in  Verbindung  gebracht  werden  kann,  soil  nach  Ansieht  von  E.  Krug  und  jetzt 
auch  des  Verf.  der  Kragenhof  seinen  Namen  erhalten  haben. 

Geradezu  abenteuerlich  aber  mutet  es  an,  wenn  Verf.,  gesttitzt  auf  diese  schon  nicht 
mehr  vertretbare  Hypothese,  sodann  iiber  den  Namensteil  -braht  versucht,  Folbraht  als 
Nachkommen  eines  sachsischen  Adligen  zu  erweisen;  er  habe  zu  den  fur  das  spate  8. 
Jahrhundert  bezeugten  Sachsen  gehort,  die  ihre  Heimat  aufgeben  mussten  und  sich  an 
der  unteren  Fulda  niederlieBen  („Gemunde"  S.  42):  „Denkbar  nun,  dass  .  .  .  sich  auch 
der  Edeling  Folcbrath  unter  den  Vertriebenen  befand  und  im  Kragen  an  der  Fulda  einen 
neuen  Sitz  fand."  Ebenso  nicht  nachzuvollziehen  ist  die  Folgerung,  deshalb  habe  der 
Kragenhof  nicht  zum  Kaufunger  Wald  gehort,  sondern  sei  Allod  gewesen  (ebd.  S.  46). 
Ganzlich  unverstandlich  ist  die  Schlussfolgerung  des  Verf.  (ebd.  S.  46):  „Der  Zusatz 
Cragh  zum  Namen  Folbraht  spricht  fur  eine  langere  Zeit  des  Besitzes  durch  die  Familie. 
Solche  Anwendungen  haben  sich  iiber  viele  Generationen  gehalten,  bis  in  die  neuere 
Zeit  hinein." 

Die  Belege  fur  den  Kragenhof  lauten:  terminos  illos  in  Cragen  (1180/81),  allodium  Crage 
(1311),  area  que  dicitur  Crage  (1312),  Vorwerk  zum  Kragen  (1525);  vgl.  Hist.  Ortslexikon  fur 
Kurhessen,  bearb.  H.  Reimer  (Veroff.  der  Hist.  Komm.  fur  Hessen  und  Waldeck  14, 
1926),  S.  287;  Hr.,  Konigshofe  S.  215  Anm.  510,  511.  Die  Namenbelege  zeigen  eindeutig, 
dass  „Kragen"  der  Name  des  Hofes  ist.  Der  vom  Verf.  seinen  Ausfuhrungen  beigegebe- 
ne,  instruktive  Kartenausschnitt  der  Kurhannoverschen  Landesaufnahme  von  1764- 
1786  („Gemunde"  S.  35)  lasst  keinen  Zweifel  an  der  Herkunft  des  Namens:  Die  Fulda 
umschlieBt  den  Hof  wie  ein  Kragen. 

Wie  in  dem  als  Beispiel  fiir  zahlreiche  andere  vorgefiihrten  Fall  des  Kragenhofes  ent- 
zieht  sich  die  Beweisfiihrung  des  Verf.  in  seinen  beiden  Arbeiten  haufig  einer  wissen- 
schaftlichen  Diskussion.  Denn  derartige  Hypothesengebaude  lassen  sich  nicht  serios  er- 
ortern,  weder  untermauern  noch  widerlegen.  Im  Gegensatz  dazu  und  zu  der  oben  zitier- 
ten  Selbsteinschatzung  des  Verf.  und  seiner  Arbeit  erstaunt  jedoch  die  Art  und  Weise, 
wie  er  sich  mit  der  bisherigen  Forschung  auseinandersetzt  und  sie,  wenn  ihre  Ergebnisse 
sich  nicht  in  sein  Ziel  fiigen  wollen,  scharf  bis  unsachlich  kritisiert  oder  gar  abqualifi- 
ziert.  Dies  verwundert  umso  mehr,  als  Verf.,  wie  seine  Darlegungen  ausweisen,  Hand- 
werk  und  Grundbegriffe  der  historischen  Forschung  und  der  historischen  Methode  we- 
der kennt  noch  sie  gar  anwenden  kann.  Wenn  er  die  lateinisch  uberlieferten  Quellen  her- 
anzieht,  so  anscheinend  nur  in  deutscher  Ubersetzung.  Da  eine  Ubersetzung  jedoch 


Geschichte  einzelner  Landesteile  und  Orte  577 

immer  zugleich  Interpretation  ist,  liefert  er  sich  damit  dem  jeweiligen  Ubersetzer  gleich- 
sam  aus  und  ist  nicht  in  der  Lage,  sich  selbst  ein  eigenes  Urteil  zu  bilden.  Deshalb  kann 
erletztlich  die  so  oft  von  ihm  kritisierten  und  angegriffenen  Interpretationen  und  Folge- 
rungen  der  Forschung,  genau  genommen,  nicht  nachpriifen  oder  gar  beurteilen. 

Zwar  finden  sich  bisweilen  lateinische  Worte  oder  Zitate  in  den  Text  eingestreut,  aber 
fur  das  Verhaltnis  des  Verf.  zum  Lateinischen  stimmen  bedenklich  etwa  folgende  Eintra- 
ge  in  den  „Worterklarungen":  zum  Stichwort  „Coheres"  („Gemunde"  S.  459):  „Miter- 
ben,  Personen  einer  Erbengemeinschaft  bzw.  Gruppe  von  Erben  (gelegentlich  auch  Co- 
heredes  geschrieben) ."  -  offensichtlich  ist  Verf.  nicht  bewusst,  dass  coheres  Singular  und  co- 
heredes  Plural  sind  -  oder  zum  Stichwort  „Liber"  (ebd.):  „Im  Mittelalter  der  Freie.  .  .  .  Das 
Wort  Liber  wurde  in  vielfaltiger  Weise  in  Verbindung  mit  anderen  Begriffen  eingesetzt, 
z.B.  liber  civitatis  =  Stadtbuch,  liber  dominus  =  Freiherr,  ..."  -  das  Adjektiv  liber=  frei 
hat  nichts  mit  dem  Substantiv  liber=  Buch  zu  tun. 

Die  Ausfuhrungen  des  Verf.  erinnern  auf  weite  Strecken  an  die  eines  Studenten,  der 
zu  Beginn  seines  Studiums  erstmals  mit  Fragen  der  Mittelalterlichen  Geschichte  kon- 
frontiert  wird,  so  dass  fur  ihn  alles  neu  ist,  was  er  liest.  Deutliche  Beispiele  hierfiir  sind  in 
beiden  Arbeiten  wiederum  seine  -  teilweise  unrichtigen,  teilweise  missverstandenen  - 
„Worterklarungen"  („Grundung  S.  338-343,  „Gemunde"  S.  458-463) ,  besonders  irrig  et- 
wa zum  Stichwort  „Landgraf"  („Griindung"  S.  340):  „Im  12.  Jh.  in  Thuringen  vorkom- 
mender  Titel  unsicherer  Bedeutung,  wahrscheinlich  ein  Graf,  der  seine  Gewalt  im  alten 
territorialen  Umfang  behauptet  hatte."  Diese  Erlauterung  offenbart  -  abgesehen  vom 
Fehlen  mittelalterlicher  Grundkenntnisse  -  eine  anachronistische  Vorstellung  des  Verf. 
von  Land  und  Herrschaft  im  hohen  Mittelalter,  die  auch  den  Ausfuhrungen  im  Text 
weithin  zugrunde  liegt;  vgl.  auch  etwa  zum  Stichwort  „Ministeriale"  („Grundung" 
S.  341):  „In  Diensten  hoherer  Herrscher  stehende  Mitglieder  der  Verwaltung  .  .  ."  Nicht 
anders  steht  es  um  Fragen  der  Kirchenverfassung,  wie  die  recht  verworrene  Erlauterung 
zum  Stichwort  „Suffraganbischof"  zeigt  („Gemunde"  S.  462):  „Unterbischof,  Bischof  un- 
ter  einem  Erzbischof,  untereinander  auch  als  Provinzialbischof  genannt.  Suffraganbi- 
stum  war  ein  Unterbistum,  das  von  einem  Suffraganbischof  geleitet  wurde.  Es  war  eine 
Verwaltungseinheit  einer  Diozese,  an  deren  Spitzen  dann  in  der  Regel  ein  Erzbischof 
stand."  Hierhergehort  auch  etwa  die  vom  Verf.  aufgeworfene  Frage,  warum  Bischof  An- 
no von  Worms,  der  vor  seiner  Erhebung  zum  Bischof  im  Jahre  950  erster  Abt  des  Moritz- 
klosters  in  Magdeburg  gewesen  war,  bis  969  ein  konigliches  Lehen  in  Ratten  besaB, 
obwohl  „dies  im  Widerspruch  zum  Armutsgebot  der  Benediktinerregel"  stehe  („Gemun- 
de"  S.  21).  Viele  solche  Fragen  hatte  ein  Blick  in  das  Lexikon  des  Mittelalters  oder  das 
Handbuch  zur  deutschen  Rechtsgeschichte  und  ahnliche  Standardwerke  rasch  klaren 
konnen. 

So  entsteht  ein  Konglomerat  aus  richtig,  oft  nur  teilweise,  wiederholt  aber  auch  gar 
nicht  verstandener  Forschungsliteratur,  die  Verf.,  zumal  wenn  er  sie  an  den  Quellen 
nicht  uberpriift,  immer  wieder  gegeneinander  auszuspielen  versucht.  Dabei  zieht  er  oft 
die  Ausfuhrungen  der  Autoren  aus  dem  Zusammenhang  und  ordnet  sie  vielfach  auch 
nicht  richtig  ein.  So  ist  es  wenig  iiberzeugend,  etwa  Ausfuhrungen  von  1973  (Hr.,  Miin- 
den)  zum  Stadtgrundriss  mit  anderen  von  1955  widerlegen  zu  wollen,  indem  Verf. 
meint,  1973  „vergaB"  der  Autor  die  fruheren  Auffassungen  („Griindung"  S.  236) .  In  die- 
sem  Falle  etwa  bemerkt  Verf.  nicht,  dass  der  von  ihm  als  „Fazit"  bezeichnete,  wortlich  zi- 
tierte  Satz  von  1973  lediglich  ein  noch  dazu  im  Konjunktivformuliertes  Zwischenergeb- 
nis  darstellt;  das  Endergebnis  dieses  Abschnitts  von  1973  -  der  Miindener  Stadtgrund- 


578  Besprechungen 

riss  „kann  sowohl  von  einem  welfischen  als  auch  von  einem  ludowingischen  Stadtherrn 
geschaffen  worden  sein"  (vgl.  Hr.,  Miinden  S.  182  ff.)  -  fiihrt  Verf.  jedoch  nicht  mehr  an. 

Eigenartig  sind  teilweise  die  herangezogenen  Materialien  und  ihre  Verarbeitung.  So 
erwahnt  Verf.  nach  einem  Bericht  in  der  ortlichen  Presse  iiber  einen  1991  in  Miinden  ge- 
haltenen  Vortrag  des  Rezensenten  seine  angebliche  AuBerung,  der  Stadtkern  habe  in 
Ratten,  dem  heutigen  Neumiinden,  gelegen.  Ein  solcher  offensichtlicher  Unsinn,  der 
eindeutig  auf  ein  einfaches  Missverstandnis  zuriickgeht,  veranlasst  Verf.  zu  einer  Be- 
trachtung  von  einer  Druckseite,  bis  er  zu  der  Frage  gelangt:  „Aber  benutzte  Karl  Heine- 
meyer  iiberhaupt  fur  Ratten  den  Begriff  , Stadtkern'?  Das  macht  doch  fur  die  Zeit  des  9. 
und  den  Anfang  des  10.  Jh.  iiberhaupt  keinen  Sinn."  („Gemunde"  S.  22  f.).  Eine  kurze 
Anfrage  hatte  schnell  Aufklarung  gebracht.  -  Auch  tragt  nicht  eben  zu  einer  sachlichen 
Auseinandersetzung  bei,  wenn  Verf.  aus  einem  privaten,  jetzt  im  Miindener  Stadtarchiv 
befindlichen  Schriftwechsel  des  Rezensenten  mit  dem  1982  verstorbenen,  um  die  Ge- 
schichte  Miindens  verdienten  Hans  Graefe  zitiert,  dabei  wortlich  dessen  anscheinend 
unzufriedene  AuBerung  iiber  eine  Antwort  des  Rezensenten  auf  eine  Anfrage  („Griin- 
dung"  S.  84). 

Zu  den  methodischen  Unsicherheiten,  um  nicht  zu  sagen  Fehlgriffen,  des  Verf.  gehort 
auch,  nicht  zu  erkennen,  dass  von  den  Quellen  nicht  eindeutig  Uberliefertes  nicht  ein- 
fach  als  Tatsache  hingestellt  werden  kann.  So  halt  er  etwa  dem  Rezensenten  als  „fortge- 
schriebenen  Zweifel"  vor,  auch  jetzt  noch  (2001)  die  Ludowinger  „nur  unter  ,groBer 
Wahrscheinlichkeit'  als  mogliche  Griinder  der  Stadt  Miinden  genannt"  zu  haben 
(„Griindung"  S.  240) .  Dazu  im  klaren  Gegensatz  stellt  er  am  Schluss  seiner  ersten  Arbeit 
„nunmehr  als  Fazit"  recht  selbstbewusst  fest:  „Herzog  Heinrich  der  Lowe  ist  der  Griinder 
der  Stadt  Miinden!"  und  weiter:  „Solange  gegenteilige  Sachargumente  bzw.  beleghafte 
Fakten  nicht  erbracht  werden  konnen,  bleibt  die  hier  getroffene  Aussage  bestandskraf- 
tig."  („Griindung"  S.  322)  Uberhaupt  ist  sein  Verhaltnis  zu  iiberlieferten  Tatsachen  und 
Erschlossenem  oder  Vermutetem  schillernd,  wenn  er  meint,  es  gehe  darum,  „welche 
Fakten  mehr  Bestand  haben  oder  nach  sorgfaltiger  Abwagung  einer  zutreffenden  Ant- 
wort am  nachsten  kommen"  (ebd.  S.  293). 

Verf.  hat  eine  iibergroBe  Menge  von  Literaturgelesen  und  verarbeitet,  doch  „Eine  in- 
terdisziplinare  Betrachtung  der  wissenschaftlichen  Forschung"  (Untertitel  zur  „Griin- 
dung")  sind  seine  Arbeiten  nicht,  eher  trans-  oder  besser  extradisziplinare  Ansammlun- 
gen  von  Zitaten  und  Paraphrasen,  gepaart  mit  eigenen,  teilweise  luftigen  Hypothesen,  da 
er,  wie  sich  zeigte,  nicht  einmal  wenigstens  eine  der  Disziplinen  tatsachlich  beherrscht. 
Und  der  historischen  Forschung  -  er  spricht  in  der  „Griindung"  meist  von  „Rechtshisto- 
rik"  -  mangelnde  Beriicksichtigung  anderer  Zweige  vorzuhalten  wie  der  Siedlungsgeo- 
graphie,  der  Archaologie,  der  „siedlungsdemographischen  Komponente"  -  d.h.  u.a.  zur 
Frage  nach  der  Herkunft  der  ersten  Stadtbewohner  -  oder  der  Namenforschung  -  zur 
Herkunft  des  Ortsnamens,  die  noch  niemand  im  Zusammenhang  mit  der  Stadtgriin- 
dung  untersucht  habe  -  („Grtindung"  S.  194 ff. ,  besonders  S.  208 ff.),  ist  schlicht  unrich- 
tig.  Gerade  ihre  Beriicksichtigung  wie  die  anderer  Nachbarwissenschaften  gehort  seit 
langem  zum  Wesen  moderner  Landesgeschichtsforschung.  Dieser  Weg  wurde  auch  im 
Falle  von  Miinden  schon  friiher  beschritten  (vgl.  Hr.,  Miinden  passim);  insofern  ist  das 
Anliegen  des  Verf.,  erstmalig  unterschiedliche  Forschungszweige  miteinander  zu  ver- 
kniipfen,  nicht  neu. 

Dass  der  Rezensent  in  seiner  Arbeit  von  1973  fur  die  Altstadt  von  Miinden  keine  Er- 
gebnisse  der  vor-  und  friihgeschichtlichen  Forschung  -  sehr  wohl  aber  fur  die  nachste 


Geschichte  einzelner  Landesteile  und  Orte  579 

Umgebung  -  beriicksichtigte,  hatte  seinen  Grund  darin,  dass  es  damals  noch  keine  gab 
bzw.  sie  ihm  nicht  zuganglich  waren  (vgl.  Hr.,  Miinden  S.  152  ff.) .  Denn  erst  nach  seinem 
Aufsatz  erschien  die  Arbeit  von  R.  Grenz,  Die  Anfange  der  Stadt  Miinden  nach  den  Aus- 
grabungen  in  der  St.  Blasius-Kirche,  Schriften  zur  Geschichte  der  Stadt  Hannoversch 
Miinden  1,  1973,  und  alle  weiteren  archaologischen  Untersuchungen  in  der  Miindener 
Altstadt  -  mit  in  der  Tat  bemerkenswerten  Ergebnissen  -  sind  erst  nach  1973  unternom- 
men  worden. 

Wahrend  Verf.  die  Ergebnisse  und  Folgerungen  der  historischen  Forschung,  zumal 
wenn  sie  sich  nicht  in  sein  beabsichtigtes  Endergebnis  einfiigen,  beiseite  schiebt  oder 
iibergeht,  ubernimmt  er  die  von  der  Archaologie  gewonnenen  Ergebnisse  kritiklos  als 
feststehende  Tatsachen  und  benutzt  sie  als  vermeintliche  Belege  gegen  die  Erkenntnisse, 
die  mit  der  historischen  Methode  gewonnen  wurden.  Dabei  iibersieht  er  geflissentlich, 
dass  die  Datierungen  der  Grabungsbefunde  vielfach  stark  hypothetisch  und  keinesfalls 
gesichert  sind,  zumal  wenn  sie  mit  Hilfe  der  schriftlichen  Quellen  und  der  darauf  beru- 
henden  Literatur  gewonnen  wurden,  so  dass  sich  Zirkelschliisse  ergeben  konnen.  Im  Ge- 
gensatz  zu  den  in  Miinden  seit  den  friihen  90erjahren  anscheinend  sorgfaltig  unternom- 
menen  Grabungen  und  Auswertungen,  bediirfen  gerade  die  Datierungen  von  R.  Grenz, 
insbesondere  hinsichtlich  der  Vorgangerbauten  der  Blasiuskirche  und  ebenso  der  Be- 
stattungen,  einer  kritischen  Uberpriifung  von  archaologischer  und  bauhistorischer  Seite 
(vgl.  z.B.  Grenz  S.  60:  Bau  derersten  Kapelle  960-990/um  1000,aberS.  63:  urn  1070;  als 
Synthese  mit  der  schriftlichen  Uberlieferung  S.  63:  „Karl  der  GroBe  ist  zweifellos  der 
Griinder  dieses  Ortes").  Erst  wenn  die  einzelnen  Datierungen  bestatigt  oder  korrigiert 
wurden,  konnen  seine  Ergebnisse  als  Grundlage  fur  historische  Folgerungen  dienen. 
Zwar  ist  es  richtig,  dass  fast  nur  noch  die  Mittelalter-Archaologie  neue  Quellen  bereit 
stellen  kann;  aber  ihre  Befunde  sagen  in  aller  Regel  nichts  iiber  Personen  aus,  etwa  zu 
der  Frage,  wer  eine  Stadt  gegriindet  hat.  Inschriften  wie:  N.N.  me  fieri  iussit  pf legen  nam- 
lich  bei  Grabungen  nicht  aufzutreten,  auch  nicht  in  Miinden. 

SchlieBlich  sei  noch  Folgendes  hinzugefiigt:  Da  der  Stadtgrundriss  von  Miinden  auf 
eine  planmaBige  Anlage  der  Stadt  schlieBen  lasst,  was  auch  Verf.  anerkennt,  ist  es  zwar 
fur  die  Geschichte  Miindens  nicht  unwichtig,  aber  fiir  die  Frage  nach  dem  Griinder  der 
Stadt  letztlich  unerheblich,  ob  sich  an  diesem  Platz  eine  altere,  vorstadtische  Siedlung 
nachweisen  lasst  oder  nicht.  Sollte  sie  vorhanden  gewesen  sein  -  und  manche  der  ar- 
chaologischen Befunde  derjungsten  Zeit  scheinen  daraufhin  zu  deuten  -,  wurde  sie  je- 
denfalls  bei  der  planmaBigen  Stadtanlage  zumindest  weitgehend  beseitigt.  Dies  ware 
kein  Einzelfall,  wie  das  Beispiel  Gelnhausens  zeigt,  wo  Kaiser  Friedrich  I.  Barbarossa 
1170  ebenso  planmaBig  eine  Reichsstadt  anlegte.  Denn  hier  werden  eine  dorfliche 
Siedlung  1133  und  eine  Burg  1158  erstmals  genannt;  beide  konnten  aber  bisher  nicht  lo- 
kalisiert  werden,  da  die  planmaBige  Stadtanlage  wohl  alle  alteren  Spuren  beseitigt  hat. 

Angesichts  der  Fiille  und  Vielzahl  der  vom  Verf.  in  seinen  beiden  Arbeiten  angespro- 
chenen  Einzelthemen  ist  es  in  diesem  Rahmen  nicht  moglich,  auch  nur  auf  alle  zentralen 
Thesen  und  Beweisfuhrungen  des  Verf.  einzugehen.  Vielmehr  konnten  nur  wenige  Bei- 
spiele  naher  erortert  werden;  die  hier  gewonnenen  Beobachtungen  lassen  sich  aber  un- 
schwer  auch  auf  die  iibrigen,  hier  nicht  erwahnten  Punkte  iibertragen.  Auch  fiir  sie  trifft 
die  vorgetragene  Kritik  in  vollem  Umfang  zu.  Zudem  konnen  hier  nicht  die  sachlichen 
Irrtiimer,  Versehen  und  Fehler,  die  sich  in  beiden  Arbeiten  in  groBer  Zahl  finden,  im 
Einzelnen  richtig  gestellt  werden. 

AbschlieBend  ist  festzustellen:  Engagement  und  Arbeitsaufwand  des  Verf.  verdienen 


580  Besprechungen 

uneingeschrankt  Anerkennung.  Er  hat  sich  selbst  mit  seinem  Vorgehen  eine  groBe  Auf- 
gabe  mit  hohem  Anspruch  gestellt.  Jedoch  zeigen  seine  beiden  Arbeiten  erhebliche 
handwerkliche,  fachliche  und  methodische  Mangel,  so  dass  die  von  ihm  angestrebten  si- 
cheren  Ergebnisse  leider  nicht  erreicht  wurden.  Seine  zahlreichen  Hypothesen  beruhen 
zumeist  nicht  auf  solider  Grundlage  und  entziehen  sich  weithin  einer  ernsthaften  Dis- 
kussion.  Trotz  intensiven  Bemiihens  ist  es  Verf.  nicht  gelungen,  den  bisherigen  For- 
schungsstand  zur  Griindung  von  Hann.  Miinden  zu  iiberwinden  und  Heinrich  den  L6- 
wen  als  Stadtgriinder  wahrscheinlich  zu  machen. 

Die  beiden  Biicher  sind  sorgfaltig,  ansprechend  und  qualitatsvoll  hergestellt,  Druck- 
fehler  auBerst  selten.  Die  zahlreichen,  weitgehend  farbigen  Abbildungen  sind  iiberwie- 
gend  von  vorziiglicher  Qualitat,  was  heute  in  Ortsgeschichten  leider  nur  noch  selten  an- 
zutreffen  ist;  doch  fehlen  haufig  die  Nachweise  fur  die  Herkunft  der  Abbildungen.  Die 
der  „Griindung"  beigegebenen  farbigen  Kartenskizzen  mitsamt  einem  Erlauterungstext 
geben  den  Zustand  des  Platzes  nach  den  Vorstellungen  des  Verf.  um  1050,  um  1150  und 
urn  1180. 

Von  jeher  leisten  interessierte  Laien  in  der  Orts-  und  Heimatgeschichte  wichtige  Bei- 
trage,  zumal  wenn  sie  sich  im  Rahmen  ihrer  Moglichkeiten  bewegen.  In  unseren  Tagen 
im  Zeitalter  der  Do-it-yourself-Bewegung  wird  nun  jedermann  nahegebracht,  er  konne 
alles  wie  ein  Fachmann  selber  machen.  Dies  aber  gilt  nicht  ohne  weiteres  fur  die  Losung 
wissenschaftlicher  Probleme,  jedenfalls  nicht,  wie  die  vorliegenden  Arbeiten  zeigen,  fur 
solche  der  Mittelalterlichen  Geschichte  mit  ihren  eigenen  methodischen  Besonderhei- 
ten  und  fachlichen  Schwierigkeiten. 

Erfurt  Karl  Heinemeyer 


PERSONENGESCHICHTE 


Bresslau,  Abraham:  Briefe  aus  Dannenberg  1835-1839.  Mit  einer  Einleitung  zur  Familien- 
geschichte  des  Historikers  Harry  Breslau  (1848-1926)  und  zur  Geschichte  derjuden  in 
Dannenberg.  Hrsg.  von  Peter  Ruck  f  unter  Mitarbeit  von  Erika  Eisenlohr  und  Peter 
Worm.  Marburg:  Philipps-Universitat  Marburg  2007.  288  S.  Abb.  =  elementa  diplo- 
matica  Bd.  11.  Kart.  29,90  €. 

Die  Publikation  enthalt  das  Ergebnis  jahrelanger  Recherchen  des  Marburger  Diplomati- 
kers  Peter  Ruck  zu  Vorfahren  und  Biographie  des  jiidischen  Kaufmanns,  Bankiers  und 
Journalisten  Abraham  Bresslau  und  seines  beruhmten  Sohnes  Harry  Bresslau,  des  Be- 
grtinders  der  Urkundenlehre  fur  Deutschland  und  Italien.  Harry  Bresslau  wurde  1848 
als  Jude  in  der  kleinen  Stadt  Dannenberg  im  hannoverschen  Wendland  geboren,  zog  mit 
seiner  Familie  im  Herbst  1856  nach  dem  groBeren  Marktort  Uelzen,  legte  auf  dem  Gym- 
nasium Johanneum  in  Luneburg  sein  Abitur  ab,  begann  im  Sommersemester  1866  ein 
Rechtsstudium  an  der  Landesuniversitat  Gottingen  und  wechselte  dann  nach  Berlin. 
Seine  Bar-Mizwa  erfolgte  in  Luneburg,  spater  gait  Harry  Bresslau  als  konfessionslos.  Mit 


Personengeschichte  581 

der  Vorstellung  und  dem  Vergleich  seiner  beiden  iiberlieferten  Autobiographien  von 
1919  und  1924  beginnt  der  vorliegende  Band. 

Mehr  aber  als  Harry  Bresslau,  der  in  den  Synagogengemeinden  Dannenberg,  Uelzen 
und  Luneburg  keine  Rolle  gespielt,  sie  in  den  Autobiographien  auch  nur  am  Rande  er- 
wahnt  hat,  ist  im  Zusammenhang  mit  der  Geschichte  derjuden  im  Konigreich  Hannover 
sein  Vater  Abraham  Bresslau  von  Bedeutung.  Geboren  in  Hamburg  1813  als  zweiter 
Sohn  aus  der  dritten  Ehe  eines  Kleinhandlers,  hatte  er  dort  die  „Israelitische  Armen- 
schule  der  Talmud-Thora"  besucht,  die  1822  von  Isaak  Bernays  reformiert  worden  war. 
Er  lebte  seit  1827  als  Kaufmannslehrling,  spater  als  „Commis"  in  Dannenberg  und  konn- 
te  sich  1845  in  der  Nachlolge  seines  kinderlos  gestorbenen  Chefs  Israel  Markus  Mans- 
feld,  der  in  der  kleinen  Synagogengemeinde  Dannenberg  als  GroBkaufmann  und  Vor- 
steher  fast  drei  Jahrzehnte  lang  eine  zentrale  Rolle  gespielt  hat,  dort  als  selbstandiger 
Kaufmann,  Bankier  und  Burger  etablieren,  wozu  sicher  auch  seine  1846  erfolgte  Heirat 
mit  der  Bankierstochter  Marianne  Heynemann  aus  Hannover  beitrug.  Zehn  Jahre  nach 
seinem  Umzug  von  Dannenberg  nach  Uelzen  machte  er  Bankrott  und  floh  im  Mai  1866 
nach  New  York,  wo  er  bis  zu  seinem  Tod  ein  bescheidenes  Leben  als  Journalist  u.  a.  an 
der  „New  Yorker  Staatszeitung"  fiihrte.  Er  starb  in  einem  Armenhospital. 

Der  Adressat  seiner  Briefe  aus  Dannenberg,  der  im  Titel  dervorliegenden  Publikation 
nicht  genannt  wird,  ist  deshalb  von  Bedeutung,  weil  ihm,  anders  als  Abraham  Bresslau, 
ein  dauerhafter  Aufstieg  ins  wohlhabende  Biirgertum  gelungen  ist.  Philipp  Simon  wurde 
1809/1810  in  Bodenteich  geboren  und  ist  in  Uelzen  und  Seesen,  wo  erdiejacobsonschu- 
le  besuchte,  aufgewachsen.  Seinem  Vater  Simon  Jacob  (Koppel),  seit  1786  Schutzjude  in 
Bodenteich,  Kaufmann  mit  Ellenwaren  und  Landprodukten,  war  1813  in  Uelzen  als  ers- 
temjuden  die  Niederlassung  und  der  Hauserwerb  gelungen,  er  starb  dort  imjanuar  1819 
und  ist  auf  dem  jiidischen  Friedhof  in  Bodenteich  begraben.  Philipp  stammte  aus  dessen 
vierter  Ehe  mit  July  Levi,  die  Witwe  blieb  in  Uelzen.  Geschwister  bzw.  Halbgeschwister 
Philipps  lebten  in  Burgwedel,  Uelzen,  Luneburg  und  Hamburg.  Philipp  Simon  lernte 
1825  -  1827 beim  Kaufmann  Moses  Lazarus  in  Liichowund  war  dann  bis  1835  als  „Com- 
mis"  in  Dannenberg  beim  Kaufmann  Joseph  Wolff  tatig,  bevor  er  die  Stelle  bei  Joseph 
Salomon  in  Winsen/Luhe  annahm,  Gemeindevorsteher  und  GroBkaufmann  im  Ort.  Si- 
mon heiratete  1845  die  Tochter  des  aus  Dannenberg  stammenden  Liineburger  Mobel- 
handlers  Philipp  Behrens.  Er  wurde  in  Hamburg  Associe  von  Simon  May,  der  einer  be- 
deutenden  jiidischen  Familie  angehorte,  schlieBlich  Inhaber  der  WeiBwarenfirma  Si- 
mon May  &  Co.,  mit  einem  Geschaftslokal  an  der  Alster.  1867  wurde  er  Mitglied,  bald 
auch  Prases  des  Vorsteherkollegiums  der  Hamburger  Synagogengemeinde.  Sein  Todes- 
datum,  er  starb  in  den  1890erjahren,  auch  eine  eventuelle  Grabstelle  hat  Ruck  nicht  er- 
mittelt,  Simon  lebte  zuletzt  „als  reicher  Pensionar"  in  Hamburg. 

Der  Fund  und  die  Veroffentlichung  der  Briefe  Abraham  Bresslaus  an  seinen  wenige 
Jahre  alteren  Freund,  der  nach  den  gemeinsamen  Jahren  in  Dannenberg  in  die  besser 
bezahlte  Stelle  nach  Winsen/Luhe  gewechselt  war,  sowie  Briefe  aus  Bresslaus  New  Yor- 
ker Zeit  stellen  der  Forschung  eine  seltene  Quelle  zur  Verfiigung,  die  die  stadtische  und 
staatliche  Akteniiberlieferung  zur  Geschichte  derjuden  in  Dannenberg  um  entschei- 
dende  Aspekte  der  „Innensicht"  erganzt.  Insbesondere  gibt  sie  Aufschliisse  iiber  die  Le- 
bens-  und  Gedankenwelt  der  Gruppe  der  jiidischen  „Commis"  oder  Handlungsdiener, 
deren  Ziel  es  sein  musste,  durch  Gelderwerb  und  /oder  eine  vorteilhafte  Heirat  sich  als 
selbstandige  Kaufleute  zu  etablieren.  Es  bleibt  zu  bedauern,  dass  sich  die  Briefe  Philipp 
Simons  nicht  erhalten  haben. 


582  Besprechungen 

Auch  wenn  das  Hauptinteresse  Rucks  der  Familiengeschichte  Harry  Bresslaus  gait, 
hat  er  zugleich  zur  Geschichte  der  Juden  in  Dannenberg  exzellente  Stoffsammlungen 
vorgelegt.  Sie  sind  von  ihm  erst  in  Ansatzen  verarbeitet  worden,  bieten  jedoch  fur  jeden, 
der  sich  mit  der  Geschichte  derjuden  im  Kurfiirstentum  /  Konigreich  Hannover  und  spe- 
ziell  im  Wendland  beschaftigt,  zahlreiche  neue  Informationen.  Rucks  Feststellung,  man 
konne  den  sozialen  und  wirtschaftlichen  Lebensraum  der  jiidischen  Familien  nur  be- 
greifen,  wenn  man  die  Anziehungskraft  Hamburgs  und  in  geringerem  MaBe  der  ostlich 
gelegenen  mecklenburgischen  und  brandenburgischen  Territorien  beachte,  mit  denen 
die  wendlandische  Judenschaft  im  engsten  Kontakt  stand,  wird  jeder  zustimmen  kon- 
nen,  dem  bei  den  Forschungen  derletztenjahre  iiberdie  Synagogengemeinden  im  nord- 
ostlichen  Niedersachsen  diese  Zusammenhange  immer  wieder  begegnet  sind.  Wichtig 
auch  sein  Hinweis,  dass  Dannenbergs  Verbindung  nach  Hamburg  oft  iiber  die  Etappen 
Harburg,  Winsen/Luhe,  Lauenburg,  Bleckede  und  Hitzacker  vermittelt  wurde,jiidische 
Netzwerke,  die  es  fur  das  18.  bis  20.  Jahrhundert  noch  genauer  zu  untersuchen  gilt. 

Fur  die  Ermittlung  bisher  unbekannter  Fakten  durch  die  intensiven  Recherchen  in 
einschlagigen  Archivmaterialien  vor  allem  aus  dem  Niedersachsischen  Landesarchiv, 
Hauptstaatsarchiv  Hannover  und  dem  Stadtarchiv  Dannenberg  seien  hier  vier  Beispiele 
genannt:  Es  gab  1695  in  Dannenberg  einen  Konvertiten  Bendix  Simon,  vermutlich  der 
Schachter  des  ersten  Dannenberger  Schutzjuden  Levin  Salomon,  der  nach  der  Taufe  als 
Schlachter  Christian  Simon  weiter  in  Dannenberg  lebte  und  dessen  Nachkommen  dort 
bis  1749  nachweisbar  sind  (S.  40) ;  der  erste  Wohnsitz  des  Stammvaters  der  jiidischen  Ge- 
meinde  Dannenberg,  Berendt  Arendts,  wurde  aus  dem  Steuerkataster  ermittelt  (S.  45); 
die  bisher  kaum  behandelte  westfalische  Zeit  in  Dannenberg  wird  beriicksichtigt;  die  fur 
die  hannoverschen  Synagogengemeinden  bisher  nur  vereinzelt  bekannte  Einziehung 
zur  Landwehr  ist  jetzt  fur  Dannenberg  belegt.  Hier  wurden  im  April  1814  drei  nament- 
lich  bekannte  Juden  eingezogen  und  1816  und  1817  entlassen.  Die  beiden  im  Folgejahr 
wehrpflichtigen Juden  wurden  als  ungeeignet  eingestuft.  Im  Februar  1817  kam  aus  Han- 
nover die  Anordnung,  Juden  bis  zur  zukiinftigen  Regelung  ihrer  Rechtsverhaltnisse  im 
Konigreich  Hannover  nicht  mehr  in  die  Musterungslisten  aufzunehmen  (S.  59). 

Obwohl  die  Forschungen  Rucks  nach  seiner  Emeritierung  1999  vor  seinem  Tod  im 
September  2004  nicht  mehr  zum  Abschluss  gelangt  sind,  sein  Vorwort  ist  vom  Herbst 
2001  datiert,  entschlossen  sich  seine  ehemaligen  Mitarbeiter  Erika  Eisenlohr  und  Peter 
Worm,  die  „unfertige  Arbeit"  zu  veroffentlichen,  weil  Rucks  „unermudliche  Suche  in  in- 
und  auslandischen  Archiven  und  seine  akribische  Aufarbeitung  der  Funde"  dies  recht- 
fertigten.  Dieser  Auffassung  ist,  wie  meine  Ausfiihrungen  zeigen  sollten,  unbedingt  zu- 
zustimmen.  Die  Publikation  ist  als  Materialsammlung  eine  wichtige  Erganzung  derbis- 
herigen  Arbeiten  zu  den  Synagogengemeinden  des  Wendlandes  und  insbesondere  zu 
der  in  Dannenberg  und  unentbehrlich  fur  weitere  Forschungen.  Dennoch:  Eine  unferti- 
ge  Arbeit  bedeutet  auch,  dass  dem  Publikum  ein  auf  weite  Strecken  nicht  stringent  struk- 
turierter  Text  zugemutet  wird,  viel  zu  oft  nur  assoziativ  verbundene  Stoffsammlungen 
aus  unterschiedlichen  Entstehungszusammenhangen  vorliegen  und  analytische  Fragen 
fehlen,  auch  widerspruchliche  Urteile,  lange  Wiederholungen,  zu  extensiv  ausgebreite- 
tes,  im  allgemeinen  bekanntes  genealogisches  Quellenmaterial  sowie  unvollstandige 
bzw.  wechselnde  Literatur-  und  Archivangaben  in  Kauf  zu  nehmen  sind.  Ein  besonders 
auffalliges  Beispiel  sei  zum  letzten  Punkt  hier  angefiihrt.  Der  von  Ruck  vielfach  herange- 
zogene  Band  von  Erich  Woehlkens,  Lisa  Kuhlmann,  Beate  L.  Weiland;  Beitrage  zur  Ge- 
schichte derjuden  in  Uelzen  und  Nordniedersachsen.  Hg.  fur  die  Stadt  Uelzen  von  Ralf 


Personengeschichte  583 

Busch,  Oldenburg  1996  wird  mehrfach  als  noch  ungedrucktes  Manuskript  von  1983 
(S.  32  und  33) ,  dann  unter  den  Kurzeln  LK  (Liste  Kuhlmann)  bzw.  unter  Kuhlmann,  Wei- 
land  bzw.  unter  Woehlkens  u.  a.  angefiihrt.  Eine  Zusammenstellung  der  benutzten  Ar- 
chivalien  fehlt,  auch  auf  ein  Personenregister  wurde  verzichtet.  Leider  erfahrt  der  Leser 
auch  nicht,  in  welcher  Form  die  Arbeit  bei  Rucks  Tod  vorgelegen  und  nach  welchen  Kri- 
terien  die  Endfassung  zusammengestellt  oder/und  bearbeitet  worden  ist. 

Zwei  schon  im  Fruhjahr  2005  erschienene  einschlagige  Publikationen  wurden  nicht 
zur  Kenntnis  genommen:  Historisches  Handbuch  derjiidischen  Gemeinden  in  Nieder- 
sachsen  und  Bremen.  Herausgegeben  von  Herbert  Obenaus  in  Zusammenarbeit  mit 
David  Bankier  und  Daniel  Fraenkel.  2  Bande  Gottingen  2005,  ferner  Sibylle  Obenaus: 
Eine  kleinstadtisch-landliche  Synagogengemeinde  im  Konigreich  Hannover  zwischen 
Tradition  und  Reform  -  das  Beispiel  Dannenberg,  in:  Landjuden  in  Nordwestdeutsch- 
land.  Herausgegeben  von  Herbert  Obenaus,  Hannover  2005,  S.  193-  233,  in  der  die  Ge- 
schichte  der  Synagogengemeinde  Dannenberg  schon  in  ihren  wesentlichen  Ziigen  bis 
etwa  zur  Mitte  des  19.  Jahrhunderts  skizziert,  aber  auch  zugleich  unter  den  Aspekten  von 
Modernisierung  und  Reform  analysiert  worden  ist. 

Mir  scheint  insgesamt,  dass  Ruck  die  Bedeutung  der  Rolle  Abraham  Bresslaus  in 
Dannenberg  iiberschatzt.  SchlieBlich  gelangte  Bresslau  erst  nach  dem  Tod  seines  Chefs 
Mansfeld  und  nach  seiner  Etablierung  zu  einigem  Einfluss.  Hier  ist  zu  bedauern,  dass 
Riickgerade  diesejahre  Bresslaus  in  Dannenberg  unter  pauschalem  Hinweis  auf  stadti- 
sche  Quellen  nur  noch  angedeutet  bzw.  skizziert,  aber  nicht  mehr  ausgearbeitet  hat 
(S.  174).  Es  ware  durchaus  von  Belang  fur  Bresslaus  Biographie,  aber  auch  fur  die  Ge- 
schichte  der  Synagogengemeinde  Dannenberg,  der  Frage  weiter  nachzugehen,  warum 
Bresslau  sich  von  Dannenberg  trennte  und  sich  zu  einem  Umzug  nach  Uelzen  ent- 
schloss. 

Isernhagen  Sibylle  Obenaus 


Burkhardt,  Kai:  Adolf  Grimme  (1898-1963).  Eine  Biographie.  Koln:  Bohlau  Verlag 
2007.  X,  384  S.  =  Veroff.  aus  den  Archiven  Preumscher  Kulturbesitz  Beiheft  11.  Geb. 
29,90  €. 

Es  erscheint  erstaunlich,  dass  ein  iiber  die  Landesgrenzen  Niedersachsens  hinaus  be- 
kannter  Kultus-,  Partei-  und  Medienpolitiker  bisher  noch  keine  ausfiihrliche,  wissen- 
schaftliche  Biografie  erfahren  hat.  Die  zwei  bisher  aus  den  neunziger  Jahren  vorliegen- 
den  Studien  von  Kurt  Meissner  und  Julius  Seiters  verzichten  entweder  auf  Belege 
(Meissner)  oder  auf  einen  umfassenden  Ansatz  (Seiters) .  Denn  die  Quellenlage  zur  Bio- 
grafie scheint  auf  den  ersten  Blick  gar  nicht  so  schlecht.  Es  gibt  einen  umfassenden 
Nachlass  Grimmes  im  Geheimen  Staatsarchiv  PreuBischer  Kulturbesitz  (daher  die  Ver- 
offentlichung  in  der  oben  genannten  Reihe),  weitere  Teile  finden  sich  im  Hauptstaats- 
archiv  in  Hannover  und  im  Kultusministerium.  Dazu  kommen  Prozessakten,  die  seine 
Tatigkeit  unter  dem  nationalsozialistischen  Regime  dokumentieren  sollen,  viele  weite- 
re Lebenserinnerungen  seiner  Wegbegleiter  und  Gegner  sowie  schlieBlich  seine  eige- 
nen  zahlreichen  Veroffentlichungen,  die  wie  seine  Briefe  (ediert  von  Dieter  Sauber- 
zweig)  z.  T  auch  ediert  vorliegen.  Doch  trotz  allem:  „Geblieben  ist  ein  Name  ohne 
Geschichte"  (S.  1). 


584  Besprechungen 

Ein  Grund  mag  darin  liegen,  dass  sein  Werdegang  aufgrund  der  vielen  Briiche  und 
Stationen  etwas  schwierig  zu  iiberschauen  ist.  Burkhardt  halt  sich  in  der  Gliederung  sei- 
ner Biografie  an  die  wichtigeren  zeitlichen  Etappen  seines  Lebens.  Er  beleuchtet  seine 
von  vielen  Ortswechseln  begleitete  Schul-  und  Studienzeit,  in  dem  sowohl  sein  christli- 
ches  Bekenntnis,  sein  Eintritt  in  die  Politik  wie  auch  schlieBlich  seine  Berufung  zum 
Lehreramt  geformt  wird.  Grimme  trat  mit  seinen  Gedanken  gerne  und  haufig  in  die  Of- 
fentlichkeit,  obwohl  er  sich  selbst  nicht  als  Rednertalent  empfand  (S.  16).  In  der  unmit- 
telbaren  Nachkriegszeit  des  1.  Weltkriegs  engagierte  er  sich  bald  politisch.  Mit  einer 
neuen  Stelle  in  Hannover  wechselte  er  von  der  DDP  zur  SPD  und  begrundete  dort  die 
Gruppe  der  „Entschiedenen  Schulreformer",  die  er  vor  allem  mit  seinen  Gedanken  zur 
religiosen  Pragung  derjugend  zu  gestalten  suchte.  Als  sich  dagegen  zunehmend  Wider- 
stand  regte,  gab  er  dieses  Engagement  auf  und  verstarkte  seine  Bemiihungen  im  „Bund 
religioser  Sozialisten",  um  die  Arbeiter  fur  das  christliche  Gedankengut  zu  gewinnen. 
Doch  innerhalb  der  SPD  blieb  auch  diese  Vereinigung  ein  Randphanomen.  Seine  viel- 
faltigen  Aktivitaten  hatten  ihm  an  hoherer  Stelle  jedoch  Aufmerksamkeit  verschafft  und 
dem  jungen  Lehrer  einen  raschen  Aufstieg  in  den  Provinzialschulkollegien  Hannover, 
Magdeburg  und  Berlin  ermoglicht,  von  wo  er  dann  recht  bald  in  das  preuBische  Kultus- 
ministerium  eintreten  konnte.  Seine  Beliebtheit  unter  den  Kollegen  an  den  jeweiligen 
Arbeitsstatten  wegen  seiner  unkonventionellen,  menschlichen  Art  begleitete  ihn  for- 
dernd.  So  konnte  erbald  auch  zum  Vizeprasidenten  des  Provinzialschulkollegiums  Ber- 
lin-Brandenburg aufsteigen.  In  dieser  ersten  verantwortungsvollen  Position  stand  er  im 
Lichte  der  Offentlichkeit  und  musste  sich  fur  manche  Entscheidung  der  harschen  Kritik 
der  in  der  Endzeit  der  Weimarer  Republik  aufgeheizten  Presse  stellen.  Sein  eingeforder- 
tes  Bekenntnis  zur  Republiktreue  beim  Flaggenstreit,  bei  den  Verfassungsfeiern  oder  bei 
einem  Referendum  gegen  den  Young-Plan  stieB  auf  Widerstand  der  Lehrer,  Eltern  und 
Presse.  Auch  der  preuBische  Kultusminister  Carl-Heinrich  Becker  stand  in  diesen  Fra- 
gen  an  vorderster  Front  in  der  Kritik,  gait  aber  als  zu  nachgiebig.  Daher  schlug  Minister- 
prasident  Otto  Braun  auf  Anraten  Beckers  imjanuar  1930  Grimme  als  dessen  Nachfol- 
ger  vor.  Grimme  ubernahm  dieses  Amt  in  einer  schwierigen  Zeit,  als  der  Sparzwang  zu 
unpopularen  Entscheidungen  wie  der  SchlieBung  hoherer  Schulen  oder  padagogischer 
Akademien  zwang.  Auch  seine  erfolglos  geforderte  Verkiirzung  der  Schulzeit  wurde  al- 
lein  unter  diesem  Aspekt  gesehen.  Die  Stundenzahl  der  Lehrer  wurde  heraufgesetzt,  die 
Gehalter  gekiirzt,  die  Wochenstunden  fur  Schiiler  herabgesetzt.  Von  einer  angestrebten 
Schulreform  konnte  trotz  der  neuen  Position  keine  Rede  mehr  sein.  Vielmehrgalt  es  den 
Staat  in  seinen  offentlichen  Schulen  und  Hochschulen  gegen  die  immer  starkere  Ein- 
flussnahme  von  Parteien,  der  Kirchen  oder  anderer  Verbande  zu  verteidigen,  bis  ihn 
schlieBlich  der  „PreuBenschlag"  im  Juli  1932  mitsamt  der  preuBischen  Staatsregierung 
ganz  aus  dem  Amt  drangte.  Sein  darauf  folgender  Riickzug  ins  Privatleben  lieB  ihn  nicht 
lange  ruhen,  da  die  Nationalsozialisten  im  Rahmen  ihres  Kampfes  gegen  die  Wider- 
standsgruppe  „Rote  Kapelle"  auch  gegen  ihn  ermittelte  und  vom  Reichskriegsgericht 
unter  Manfred  Roeder  ,nur'  zu  3  Jahren  Zuchthaus  verurteilte.  Die  Bekanntschaft  mit 
Mitgliedern  der  Gruppe  unter  Harro  Schulze-Boysen  war  zwar  bekannt,  doch  eine  Zu- 
sammenarbeit  mit  dem  sowjetischen  Geheimdienst  konnte  ihm  offenbar  nicht  nachge- 
wiesen  werden. 

Nach  dem  Krieg  kam  Grimme  aus  dem  Zuchthaus  Fuhlsbiittel  auf  Intervention  eines 
Freundes  vorzeitig  heraus  und  wurde  von  der  britischen  Militarregierung  aufgrund  sei- 
ner Biografie  sofort  als  idealer  Kandidat  fur  ein  hohes  politisches  Amt  angesehen.  Er 


Personengeschichte  585 

erhielt  einen  Ausweis  fur  einen  ,,wichtigen  Posten  in  der  Administration  der  Provinz 
Hannover",  zusammen  mit  der  Order,  sich  am  27.  Juli  1945  nach  Hannover  zu  begeben 
(S.  219) .  Dort  wurde  er  nach  der  Entnazifizierung  zunachst  beim  damals  noch  existieren- 
den  Oberprasidenten  von  Hannover  als  Regierungsdirektor  angestellt.  Er  iibernahm 
den  Vorsitz  im  Kulturpolitischen  Ausschuss  im  kurzlebigen  Zonenbeirat,  bevor  er  selbst 
im  ersten  Kabinett  Niedersachsens  vom  25.  November  1946  zunachst  den  Titel  eines 
Ministers  fur  Volksbildung,  Kunst  und  Wissenschaft  fiihrte,  ehe  er  im  zweiten  Kabinett 
Kopf  am  ll.Juni  1947  zum  Kultusministerernannt  wurde.  Ernutzte  die  Gelegenheit,  um 
bekannte  Personlichkeiten  aus  seiner  Zeit  im  preuBischen  Kultusministerium  und  in  den 
Schulaufsichtsbehorden  fur  das  Ministerium  zu  werben,  koordinierte  aber  deren  Ar- 
beitsfreude  im  nach  preuBischem  Modell  aufgebauten  Ministerium  nicht.  Er  sah  es  als 
seine  vordringliche  Aufgabe  an,  schnellstmoglich  eine  Infrastruktur  an  Schulen  und 
Hochschulen  in  Funktion  zu  bringen,  eine  Schulreform  um  die  neue  Mittelschule  durch- 
zusetzen  und  die  Erwachsenenbildung  mit  dem  Aufbau  der  Volkshochschulen,  des 
Abendgymnasiums  und  padagogischen  Akademien  voranzutreiben.  Im  Gegensatz  zur 
geforderten  Entnazifizierung  der  Lehrer  und  Hochschullehrer  war  er  in  seinem  eigenen 
Ministerium  bei  der  Auswahl  seiner  Mitarbeiter  nicht  ganz  so  wahlerisch,  was  ihm 
schnell  zum  Vorwurf  gemacht  wurde.  Der  Wiederaufbau  der  „Studienstiftung  des  deut- 
schen  Volkes"  verdankte  ihm  wesentliche  Impulse.  Diese  und  andere  ehrenamtliche  Ta- 
tigkeiten  riefen  Kritikauch  unterMitarbeitern  hervor,  die  bis  zurbritischen  Militarregie- 
rung  stieBen  und  ihn  schwer  verletzten.  Dazu  kam  eine  Liaison  mit  der  damaligen  Frau 
des  Ministerprasidenten  Hinrich  Wilhelm  Kopf,  die  in  der  Offentlichkeit  bekannt  zu 
werden  drohte.  Trotzdem  kam  sein  Wechsel  auf  den  Posten  eines  Generaldirektors  der 
neu  begriindeten  Rundfunkanstalt  NWDR  in  Hamburg  fur  alle  Beteiligten  iiberra- 
schend.  Seine  Nominierung  beruhte  auf  dem  Vertrauen  des  letzten  britischen  General- 
direktors Hugh  Carlton  Greene.  Auch  in  dieser  Position  griff  er  auf  einen  Stab  von  Mit- 
arbeitern  zuriick,  die  er  aus  fruheren  Gelegenheiten  kannte  und  die  der  offentlichen 
Verwaltung  entstammten.  Durch  diese  Biirokratisierung  veranderte  sich  auch  der  Cha- 
rakter  der  Rundfunkanstalt,  was  auf  das  Missfallen  der  Belegschaft  stieB.  Inhaltlich  griff 
Grimme  nicht  in  das  Programm  des  Senders  ein,  das  blieb  die  Aufgabe  der  jeweiligen  In- 
tendanten.  Dagegen  sah  er  sich  rasch  gezwungen,  politisch  fur  die  Einheit  des  Senders 
gegen  Begehrlichkeiten  der  Bundesregierung  unter  Konrad  Adenauer  und  der  CDU-ge- 
fuhrten  Landesregierung  in  Nordrhein-Westfalen  unter  Karl  Arnold  zu  kampfen.  Jede 
Besetzungsfrage  im  NWDR,  jeder  politische  Kommentar  in  einer  Nachrichtensendung 
und  jede  finanzielle  Verfehlung  im  Haushalt  bot  eine  potentielle  Gefahr  zur  Instrumen- 
talisierung  gegen  den  am  Rhein  unbeliebten  Sender.  Grimme  zeigte  in  diesen  Zusam- 
menhangen  nicht  immer  eine  gliickliche  Hand  und  bot  zahlreiche  Vorwande  fur  Kritik 
und  Intrigen. 

Grimme  lieB  auch  seine  Vergangenheit  nicht  ruhen.  Er  versuchte  seinen  fruheren 
Anklager,  Manfred  Roeder,  vor  Gericht  zu  bringen.  Doch  statt  zu  seiner  Verurteilung 
vor  der  Liineburger  Staatsanwaltschaft  zu  gelangen,  musste  er  mit  ansehen,  wie  es  Roe- 
der schaffte,  seine  Interpretation  der  Arbeit  der  „Roten  Kapelle"  mit  Hilfe  des  „Stern" 
und  anderer  Medien  erfolgreich  zu  verbreiten.  Damit  heftete  er  ihm  den  Verdacht  der 
Zusammenarbeit  mit  der  Sowjetunion  -  mitten  im  Kalten  Krieg  -  an.  Der  dadurch  ausge- 
schlachteten  Ruf  eines  ,Landesverraters',  der  vor  allem  durch  die  Deutsche  Partei,  aber 
auch  durch  die  CDU  propagiert  wurde,  verschlimmerte  die  Situation  weiter,  zumal  er  in 
der  SPD,  trotz  seines  kurzzeitigen  Engagements  im  Nachkriegsvorstand,  ein  Einzelgan- 


586  Besprechungen 

ger  blieb  und  wenig  Riickhalt  bei  Schumacher,  Ollenhauer  u.  a.  genoss.  Im  Kampf  gegen 
die  Auflosung  des  NWDRmachte  Grimme  schlieBlich  Kompromisse  zu  Lasten  derpoli- 
tischen  Neutralitat,  doch  der  Zerfall  lieB  sich  trotzdem  nicht  mehr  aufhalten.  Kurz  nach 
dem  Staatsvertrag  zur  Liquidation  des  NWDR  und  der  folgenden  Neuordnung  gab  er 
seine  Tatigkeit  auf  und  ging  am  1.  April  1956  in  Pension.  Von  der  schweren  Haftzeit  ge- 
pragt  zog  er  sich  nach  Siiddeutschland  zuriick  und  widmete  seine  letzten  Gedanken  bis 
zu  seinem  Tode  am  27.  August  1963  einer  Schrift  iiber  das  Johannesevangelium. 

Burkhardt  vermag  es,  die  vielen  Stationen  in  Grimmes  Leben  aus  unterschiedlichen 
Perspektiven  zu  beleuchten  und  in  einen  groBeren  Kontext  zu  bringen.  Dabei  unterliegt 
er  ofters  der  von  ihm  in  der  Einleitung  angedeuteten  Versuchung,  dass  er  mitunter  per- 
sonlichen  Ansichten  von  Grimme  selbst  oder  seinen  Familienangehorigen  und  Freun- 
den  unkritisch  folgt.  Auch  wenn  Grimme  im  Gegensatz  zu  vielen  Weggenossen  keine 
Autobiografie  hinterlassen  hat,  so  sorgen  doch  sein  von  ihm  1956  mehrfach  uberarbeite- 
ter  Nachlass  (S.  6)  und  seine  Schriften  dafiir,  dass  sich  das  Bild  eines  ,einsamen  Kamp- 
fers'  fur  die  Ideale  einer  besonderen  Verbindung  von  Christentum  und  Sozialismus  in 
den  Vordergrund  auch  dieser  Biografie  drangt.  Es  ist  jedoch  auffallend,  dass  das  Bild 
iiber  ihn  auch  durch  diese  Biografie  nicht  schliissig  wird:  erwar  ein  Christ,  lehnte  jedoch 
die  Kirchen  als  Institutionen  ab;  er  war  ein  Sozialist,  konnte  der  Dogmatik  der  vor  und 
nach  dem  2.  Weltkrieg  vorherrschenden  Linie  der  Partei  nichts  abgewinnen,  er  war  ein 
Schulreformer,  der  jedoch  den  Zielen  seiner  Zeit  im  preuBischen  Schuldienst  auch  nach 
1945  verhaftet  blieb.  Die  Zerrissenheit  seiner  Generation  spiegelt  sich  also  auch  in  sei- 
ner Einstellung  wider.  Am  Ende  dieses  Buches  fragt  man  sich  unwillkurlich,  warum 
Grimme  eigentlich  trotz  aller  Widerstande  Karriere  gemacht  hat?  So  hatte  er  sowohl  im 
preuBischen  Kultusministerium  als  auch  in  der  britischen  Besatzungsbehorde  immer 
wieder  Forderer,  die  seine  Ideen  und  seine  besondere  Begabung  erkannten  und  ihn  un- 
terstutzten.  Doch  ihm  widerstrebte  nach  Burkhardt  die  Anpassung  an  eine  Partei,  eine 
Kirche  oder  eine  Gruppe,  er  opferte  fur  seine  sehr  personliche  Uberzeugung  auch  Unter- 
stiitzer  und  ging  keiner  Kritik  aus  dem  Wege.  Er  war  und  blieb  damit  ein  Individualist, 
der  trotz  seiner  wichtigen  Positionen  in  dieser  kritischen  Zeit  wenig  Nachhall  erlebt  hat. 
Die  Biografie  von  Kai  Burkhardt  sollte  das  andern. 

Stade  Thomas  Bardelle 


Pyta,  Wolfram:  Hindenburg.  Herrschaft  zwischen  Hohenzollern  und  Hitler.  Miinchen: 
Siedler  Verlag  2007.  1117  S.  Abb.  Geb.  49,95  €. 

Biografien  gehoren  zu  einem  wichtigen  Genre  der  historischen  Wissenschaft  wie  der 
historisch-politischen  Bildung.  Sie  erreichen  einen  groBeren  Leserkreis,  insbesondere 
natiirlich  dann,  wenn  die  Personlichkeit  eine  Bekanntheit  genieBt,  die  iiber  den  Hori- 
zont  der  Fachhistoriker  hinausreicht.  Biografien  helfen  zweifellos,  Zeitepochen  zu  ver- 
stehen,  bergen  aber  ebenso  die  Gefahr,  die  Bedeutung  von  Personen  fur  historische  Ent- 
wicklungen  zu  iiberzeichnen.  Dies  gilt  wiederum  insbesondere  fur  Herrschergestalten, 
die  ihre  Zeit  zu  bestimmen  scheinen,  von  der  Antike  bis  zur  Zeitgeschichte.  Auch  die 
deutsche  Geschichtsschreibung  des  19.  und  20  Jahrhunderts  kennt  sie,  von  charismati- 
schen  Fiihrungspersonlichkeiten  ist  gar  die  Rede,  bei  Hitler  natiirlich,  aber  auch  bei  Bis- 
marck -  und  nun  auch  bei  Hindenburg. 


Personengeschichte  587 

Pytas  Hindenburg-Biografie  ist  insofern  etwas  ungewohnlich,  weil  die  immerhin  871 
Seiten  Text  (ohne  Anmerkungen!)  sich  zum  allergroBten  Teil  mit  den  letzten  20  Lebens- 
jahren  dieses  mit  einem  langen  Leben  begliickten  Militars  und  Staatsmanns  beschafti- 
gen  und  auch  beschaftigen  miissen.  Denn  vor  1914  war  der  1847  in  Posen  geborene  Paul 
von  Hindenburg  ein  eher  normaler  preuBischer  Militar,  ein  „unbeschriebenes  Blatt". 
Seine  Karriere  ist  eher  langweilig,  er  war  fleiBig,  wechselte  im  iiblichen  Umfang  seine 
Standorte.  Zu  diesen  zahlten  Hannover  und  Oldenburg.  Hannover  lernte  er  in  den  sie- 
benjahren  seiner  Stationierung  so  schatzen,  dass  es  ihn  nach  der  vorzeitigen  Pensionie- 
rung  als  kommandierender  General  in  diese  Stadt  zog,  die  er  erst  1930  verlieB.  Dies  ware 
es  eigentlich  gewesen,  hatte  Hindenburg  nicht  das  Jahr  1914,  also  der  Erste  Weltkrieg, 
ganz  nach  oben  gespiilt.  Als  wieder  in  Dienst  getretener  General  kommandierte  er  aus- 
gerechnet  die  Armee,  die  1914  bei  Tannenberg  einen  Sieg  iiber  die  Russen  erzielte,  der 
sofort  als  legendar  gait,  auch  wenn  er  weder  den  Krieg  entschied,  noch  Russland  wirk- 
lich  schwachte.  Das  kriegsbegeisterte  Deutschland  brauchte  freilich  diesen  Sieg,  den 
man  schnell  mit  Hindenburg  personifizierte,  auch  wenn  der  General  an  den  militari- 
schen  Planungen  kaum  beteiligt  war,  sondern  das  Gliick  besaB,  einen  Ludendorff  an  sei- 
ner Seite  zu  haben. 

„Marchenhafter  Aufstieg  eines  Pensioners"  ist  dieses  zweite  Kapitel  der  Biografie  mit 
Recht  iiberschrieben,  und  wir  befinden  uns  erst  auf  Seite  41.  Hindenburg  stieg  rasch 
zum  Generalfeldmarschall  auf,  wichtiger  aber  ist,  dass  er  zur  nationalen  Symbolfigur 
wurde  und  dies  nicht  zuletzt  deshalb,  weil  hierzu  sich  sonst  niemand  eignete.  Kaiser  Wil- 
helm  II.  gelang  es  in  der  Tat  nicht,  sich  an  die  Spitze  der  Nation  zu  stellen,  er  war  auch 
nach  dem  Abgang  Bismarcks  nicht  aus  dessen  Schatten  herausgetreten.  Wenn  Hinden- 
burg aktiv  wurde,  dann  in  der  Ausschlachtung  des  Erfolges  von  Tannenberg  fur  seine 
Person.  Seine  nun  angefertigten  Portraits,  an  deren  Entstehung  die  Stadt  Hannover  als 
Auftraggeberin  nicht  unmaBgeblich  beteiligt  war,  erreichten  als  Postkarten  auch  die 
Schiitzengraben,  Hindenburg  wurde  zur  Symbolfigur  des  „Geistes  von  1914",  der  von 
nun  an  das  politische  Denken  Hindenburgs  bestimmte  und  dem  er  bis  zu  seinem  politi- 
schen  Testament  von  1934  treu  blieb.  Dies  alles  war  freilich  nur  moglich,  weil  Tannen- 
berg neben  Skagerrak  die  Schlacht  des  Weltkriegs  blieb,  an  der  man  sich  in  Deutschland 
aufrichten  konnte.  Wohlgemerkt:  Hindenburg  ist  fur  Pyta  keine  charismatische  Figur  im 
Sinne  von  Max  Weber,  er  fullte  eine  Liicke,  war  Subjekt  wie  Objekt  einer  Gesellschaft, 
der  eine  nationale  Symbolfigur  fehlte. 

Auf  dem  politischen  Parkett  Berlins,  das  Kaiserhaus  eingeschlossen,  furchtete  man 
Hindenburgs  Mythos,  Versuche,  ihn  im  Osten  kalt  zu  stellen,  scheiterten.  Dass  Hinden- 
burg kein  militarisches  Genie  war,  wusste  man  auch  in  Berlin,  Ludendorff  war  fur  den 
,Medienstar'  Hindenburg  bis  1918  einfach  unersetzbar.  Hindenburg  nutzte  den  Krieg 
eher  als  „Erlebnisurlaub"  (S.  193),  fronte  1915  im  Osten  derjagdleidenschaft,  wahrend 
im  Westen  die  Schlachten  verloren  gingen.  Die  Desaster  der  Westfront  waren  also  die 
Voraussetzung  fur  seinen  politischen  Aufstieg.  Dass  er  hierbei  nicht  nur  Instrument  an- 
derer  war,  sondern  bis  zu  seinem  Lebensende  selbst  agierte  und  entschied,  kann  Pyta 
deutlich  machen.  So  gelang  es  Hindenburg,  militarische  und  politische  Gegneraus  dem 
Weg  zu  raumen:  vor  allem  Falkenhain  als  militarischen  Konkurrenten  und  den  Kanzler 
Bethmann-Hollweg,  dessen  Streben  nach  Friedenswegen  er  nicht  teilte.  Politisch  und 
militarisch  erwies  er  sich  als  Hardliner,  ubersah  die  Gefahren  eines  Kriegseintritts  der 
USA  und  behandelte  die  deutsche  Gesellschaft  als  Kasernenhof.  Schon  die  Drohung  mit 
einem  potentiellen  Rucktritt  verschaffte  ihm  den  notigen  Respekt,  der  Kaiser  war  trotz 


588  Besprechungen 

teilweise  hartnackiger  Gegenwehr  machtlos,  zumal  seine  Frau  und  der  Kronprinz  Hin- 
denburg  stiitzten.  Dass  Hindenburg  die  Nation  bereits  jetzt  iiber  die  Monarchic  stellte, 
macht  Pyta  deutlich:  Im  November  1918  war  er  entscheidend  an  der  Abdankung  Wil- 
helms  II.  und  dessen  Abschiebung  in  das  hollandische  Exil  beteiligt,  was  freilich  ein 
wohl  behiitetes  Geheimnis  blieb.  Der  Kaiser  war  nach  seiner  Flucht  bis  weit  in  das  rechte 
Spektrum  hinein  erledigt.  Hindenburgs  Ruf  blieb  dagegen  von  der  militarischen  Nie- 
derlage  unberiihrt:  Er  fiihrte  die  Armeen  geordnet  in  die  Heimat,  tauchte  bei  der  An- 
nahme  des  Versailler  Vertrages  fur  die  Offentlichkeit  ab,  arbeitete  erfolgreich  an  der 
Kriegsliige,  der  DolchstoBlegende,  und  sorgte  in  der  Nachkriegszeit  dafiir,  dass  seine 
Rolle  entsprechend  gewiirdigt  bzw.  verschleiert  wurde.  Hierbei  waren  ihm  sparer  auch 
die  Archivare  des  Reichsarchivs  behilflich.  Ludendorff  war  nach  Kriegsende  noch  be- 
reit,  seine  Memoiren  mit  denen  Hindenburgs  abzugleichen;  auch  er  hatte  damit  seine 
Schuldigkeit  getan. 

Hindenburg  schuf  auf  diese  Weise  den  Grundstein  fur  seine  zweite  politische  Karrie- 
re  als  Reichsprasident  der  Weimarer  Republik.  Pytas  Argumente  scheinen  schliissig, 
Fragen  bleiben  dennoch:  Hindenburg  wurde  seit  1914  zwar  ein  charismatischer  Fiihrer, 
aber  fur  wen?  Immerhin  erwies  sich  der  „Geist  von  1914"  als  so  schwach,  dass  die  starks- 
te  politische  Massenbewegung,  die  Sozialdemokratie,  an  ihm  zerbrach.  Auch  die  No- 
vemberrevolution  nagte  am  Bild  eines  charismatischen  Hindenburg,  dessen  Ansehen 
zwar  weitgehend  unbeschadigt  blieb  und  an  dem  sich  „die  verunsicherten  und  verstor- 
ten  Deutschen"  aufrichten  konnten,  wie  Pyta  meint  (S.  383),  aber  ohne  Abstriche  gait 
dies  doch  wohl  nur  fur  die  Kreise,  die  der  Monarchie  nachtrauerten  bzw.  die  Republik 
ablehnten.  Freilich  hielt  sich  auch  die  Sozialdemokratie  mit  Kritik  an  Hindenburg  zu- 
riick,  was  aber  auch  deshalb  nicht  schwer  fiel,  weil  er  seine  Ambitionen  fur  das  Amt  des 
Reichsprasidenten  1920  und  1922  angesichts  des  Kapp-Putsches  und  der  Zerrissenheit 
des  rechten  Lagers  aufgab  und  bis  1925  aus  dem  politischen  Leben  weitgehend  ver- 
schwand.  Reicht  dies  aber  als  Begriindung  fur  das  Abtauchen  eines  charismatischen 
Fiihrers? 

Hindenburgs  Wiederaufstieg  ist  fur  Pyta  Konsequenz  des  Hindenburg-Mythos,  an 
dem  der  schon  greise  Generalfeldmarschall  selbst  glaubte  und  auf  den  er  stets  achtete: 
„Hindenburg  war  sich  seiner  symbolischen  Unentbehrlichkeit  bewusst,  weshalb  jede 
Beschadigung  des  Hindenburg-Mythos  einen  nicht  nur  aus  personlichen  Grunden  zu 
vermeidenden  Imageschaden  darstellte"  (S.  471).  Und:  „Ihm  stand  die  Moglichkeit  of- 
fen,  aufgrund  seiner  zusatzlichen  charismatischen  Legitimationsressource  einen  Verfas- 
sungswandel  zugunsten  der  Prasidialgewalt  herbeizufuhren"  (S.  480) .  Davon  konnte  frei- 
lich 1925  noch  keine  Rede  sein.  Hindenburg  erreichte  zwar  mit  seiner  Wahl  eine  Uber- 
windung  der  Milieugrenzen,  indem  die  BVP  und  das  rechte  Zentrum  ihn  stiitzten, 
zunachst  aber  hatte  er  als  President  allenfalls  Einfluss  auf  die  Bestellung  der  Kanzler  und 
auf  die  AuBenpolitik;  Einfluss  nahm  er  ansonsten  allein  auf  die  Frage  derFiirstenenteig- 
nung  und  auf  den  Flaggenstreit.  Aber  erst  ab  1930  griff  er  offensiv  in  die  Koalitionspoli- 
tik  ein,  eine  Prasidialherrschaft  lehnte  er  freilich  ab,  um  -  Pyta  wird  nicht  miide,  dies  zu 
betonen  -  seinen  Mythos  nicht  in  den  Niederungen  der  Politik  zu  beschadigen.  So  ver- 
schliss  er  drei  Kanzler,  am  langsten  und  schmerzhaftesten  Briining,  dessen  auBenpoliti- 
sche  Erfolge  er  auch  nach  rechts  verteidigte,  bevor  er  ihn  durch  parlamentarisch  iiber- 
haupt  nicht  mehr  abgesicherte  Figuren  derburgerlichen  Rechten  ersetzte,  deren  Kurs  er 
letztlich  auch  nicht  teilte.  Eine  Prasidialdiktatur  nach  dem  Wunsch  von  Papens  lehnte  er 
ebenso  ab  wie  eine  Diktatur  des  Militars,  wie  sie  von  Schleicher  anstrebte. 


Personengeschichte  589 

Hindenburg  wollte  die  Einigung  der  Nation  von  rechts,  deshalb  schmerzte  ihn  das 
Sinken  seines  Sterns  bei  der  politischen  Rechten  und  beim  Militar.  Das  Ziel  der  rechten 
Volkseinheit  verlor  er  dennoch  nicht  aus  den  Augen,  auch  nicht  bei  der  Wiederwahl 
1932,  bei  der  er  von  der  sozialdemokratischen  und  katholischen  Wahlerschaft  abhangig 
war,  nicht  einmal  vom  Stahlhelm  unterstiitzt  wurde.  Pyta  arbeitet  das  Paradoxon  der 
Reichsprasidentenwahl  von  1932  deutlich  heraus:  SPD  und  Zentrum  wahlten  einen 
Prasidenten,  von  dem  sie  wussten,  dass  dieser  selbst  einen  Briining  fiir  nicht  mehr  trag- 
bar  hielt,  sondern  denen  die  Macht  geben  wollte,  die  ihn  nicht  mehr  wahlen  wollten! 
Anders  herum  war  sein  Wahlgegner  Adolf  Hitler  mit  seiner  NSDAP  fiir  Hindenburg  in- 
zwischen  die  Kraft,  die  er  an  der  Macht  beteiligt  sehen  wollte,  denn  letztlich  verwirk- 
lichten  die  Nationalsozialisten  fiir  ihn  die  Einheit  des  Volkes  iiber  alle  Milieus  hinweg. 
Was  Hindenburg  lange  an  Hitler  storte,  war  allein  der  Parteifiihrer,  die  drohende  Dikta- 
tur  einer  Partei. 

Pyta  lasst  Hindenburg  -  seit  1930  haufig  vom  seinem  ostpreuBischem  Gut  Neudeck 
(ein  Geschenk  deutscher  Industriebosse)  -  die  Faden  spinnen,  wobei  freilich  Blanko- 
Notverordnungen  fiir  die  bedrangten  Kanzler  nicht  so  recht  ins  Bild  passen  wollen.  Den- 
noch: Das  Ziel  Hindenburgs,  eine  Regierung  der  nationalen  Einheit  zu  installieren  und 
dies  auf  legalem  Weg,  fiihrte  iiber  Papen  und  Schleicher  zwangslaufigzujenem  30.Janu- 
ar  1933.  Die  Regierung  Hitler  und  damit  die  Machtiibernahme  der  Nationalsozialisten 
entsprachen  dem,  was  Hindenburg  wollte.  Im  Fruhjahr  1933  sah  Hindenburg  den  „Geist 
von  1914"  wiederbelebt,  wurde  deshalb  ein  spater  Verehrer  des  neuen  charismatischen 
Fiihrers  Deutschlands  und  lieB  sich  auch  deshalb  auf  keine  Spielereien  mit  einer  Wie- 
derbelebung  der  Monarchie  ein.  Er  selbst  lieB  sich  von  Hitler  gern  auf  seinen  Ruhm  als 
Generalfeldmarschall  und  Wiedererwecker  der  deutschen  Nation  reduzieren.  Dem  neu- 
en Kanzler,  seinem  ausdriicklich  gewiinschten  Nachfolger,  legte  er  keine  Steine  mehr  in 
den  Weg,  ertrug  auch  den  Streit  in  seiner  protestantischen  Kirche  und  die  makabren 
Niederungen  des  „R6hm-Putsches". 

Gut  300  Seiten  widmet  Pyta  den  letzten  vier  Lebensjahren  Hindenburgs,  der  Ent- 
wicklung  der  Prasidialkabinette  und  der  Machtiibernahme  Hitlers.  Es  ist  freilich  keine 
allgemeine  politische  Geschichte  der  Weimarer  Endzeit,  die  der  Verfasser  bietet,  der  Fo- 
kus  ist  schon  auf  Hindenburg  gerichtet.  Aber  insgesamt  eignet  sich  die  Person  Hinden- 
burg auch  nur  fiir  eine  genuin  politikgeschichtliche  Biografie,  ansonsten  sind  der  Mann 
und  sein  Leben  schlicht  zu  langweilig.  Insofern  ist  Pyta  eine  iiberzeugende,  in  sich  strin- 
gente  und  fiir  die  Klarung  des  Scheiterns  der  Republik  von  Weimar  wichtige  Arbeit  ge- 
lungen.  Pyta  findet  die  rote  Linie  im  spaten  politischen  Leben  Hindenburgs,  wobei  zu 
fragen  bliebe,  inwieweit  sie  dieser  wirklich  so  stringent  wahrnahm.  Kritisch  anzumerken 
bleibt:  Nur  wenn  Wiederholungen  wirklich  padagogisch  wertvoll  sind,  dann  ist  es  auch 
der  Stil  dieser  Arbeit.  Eine  deutliche  Straffung  und  letzte  Uberarbeitung  hatten  dem 
Manuskript  gut  getan.  SchlieBlich  verliert  der  Wert  der  Anmerkungen  durch  ihre  Posi- 
tionierung  ans  Ende  und  ihre  kapitelweise  Durchzahlung.  Die  Beschrankung  auf  einen 
Personenindex  ist  bei  solchen  Werken  iiblich,  aber  dennoch  unbefriedigend.  Trotz  die- 
ser Bemerkungen:  Pyta  ist  ein  wichtiges  Buch  gelungen,  an  dem  sich  die  Forschung  nun 
reiben  darf. 

Oldenburg  Gerd  Steinwascher 


590  Besprechungen 

Stockhausen,  Joachim  von:  „Ich  habe  nur  meine  Pflicht  erfullt".  Hanns  Lieff  (1879-1955). 
Hildesheim:  Georg  Olms  Verlag  2008.  174  S.  Geb.  19,80  €. 

Joachim  von  Stockhausen  ist  der  Enkel  von  Hanns  (Johannes)  Lieff,  von  1924-1927 
braunschweigischer  Innenminister  (parteilos)  und  von  1931-1937  dem  braunschweigi- 
schen  „Minister  des  Innern  unmittelbar  unterstellter"  Prasident  des  Polizeiprasidiums 
„als  Orts-  und  Landespolizeibehorde"  (86)  im  Freistaat,  von  1937-1945  Vorsitzender  des 
braunschweigischen  Verwaltungsgerichtshofes.  Das  vorliegende  Buch  ist  eine  Ausein- 
andersetzung  des  Enkels  mit  dem  Verhalten  seines  GroBvaters  im  so  genannten  Dritten 
Reich  und  gleichzeitig  eine  Auseinandersetzung  mit  dem  Urteil  eines  Historikers  iiber 
die  Tatigkeit  Lieffs  von  1933-1945.  Horst-Riidigerjarckhat  im  Braunschweigischen  Bio- 
graphischen  Lexikon  19.  u.  20.  Jahrhundert  geschrieben:  „In  den  umfangreichen  Unter- 
lagen  zur  Entnazifizierung  wird  spater  deutlich,  da6  ihm  strafbare  Handlungen  und 
auch  das  Mitwissen  um  die  im  NS  in  Brsg  veriibten  Schandtaten  nicht  nachzuweisen  wa- 
ren.  Es  bleibt  in  seinem  Berufsweg  und  letztlich  iiber  seine  Funktionen  die  tragische  Ver- 
kettung  in  die  politischen  Zeitereignisse,  gegen  die  er  wohl  bestatigte  Vorbehalte  hatte, 
jedoch  keine  nennbare  Opposition  gezeigt  hat".  Der  Enkel  sieht  in  der  AuBerung,  Lieff 
habe  „keine  nennbare  Opposition  gezeigt",  einen  Vorwurf. 

Stockhausen  sucht  nach  Erklarungen  fur  das  Verhalten  seines  GroBvaters,  fragt  nach 
dem  Spielraum,  den  er  gehabt  habe  als  ranghoher  braunschweigischer  Beamter,  der  eine 
fiinfkopfige  Familie  habe  ernahren  miissen.  Er  schildert  die  unpolitische  Erziehung 
Lieffs  als  Verwaltungsjurist  und  seine  Verbundenheit  mit  den  klaren  und  wenig  flexi- 
blen  Regeln  des  biirgerlichen  Milieus  der  wilhelminischen  Zeit,  in  das  der  GroBvater 
durch  seine  Herkunft  aus  gutem  Hause,  der  UrgroBvater  war  Oberkonsistorialrat,  und 
als  Akademiker  und  Corpsstudent  eingebunden  gewesen  sei.  Der  DNVP  vor  1933  nahe 
stehend,  habe  er  sich  zogerlich  zum  Eintritt  in  die  NSDAP  (1935)  bewegen  lassen  -  und 
gait  den  Nationalsozialisten  als  „zu  objektiv"  (123).  Als  Polizeiprasident  zumindest  for- 
mal zustandig,  habe  seine  Unterschrift  auch  auf  dem  Formular  gestanden,  das  Karl  Jas- 
per 1933  in  Schutzhaft  einwies  (107),  eine  der  zahlreichen  durch  den  damaligen  NS-Mi- 
nisterprasidenten  und  Innenminister  Klagges  initiierten  illegalen  GewaltmaBnahmen. 

Stockhausen  legt  keine  wissenschaftliche  Erorterung  vor,  er  setzt  sich  auf  der  Grund- 
lage  iiberlieferterQuellen,mit  Hilfe  einer  Auswahl  an  wissenschaftlicher  Literatur  sowie 
durch  Zeitzeugenberichte  mit  der  Stellung  seines  GroBvaters  auseinander.  Aus  der  Dar- 
stellung  lasst  sich  entnehmen:  Im  Vergleich  zu  der  begeisterten  und  blinden  Unterstiit- 
zung  der  Nationalsozialisten  durch  den  Braunschweiger  Stadtbaurat  Karl  Gebensleben 
und  seiner  Ehefrau  erscheint  Lieff  im  vorliegenden  Buch  deutlich  distanziert  und  eher 
verhalten  (Lieff  selbst  bezeichnet  seine  Haltung  als  „innerlich  fremd  und  ablehnend")  . 
Der  Enkel  verdeutlicht  plausibel,  dass  der  GroBvater  im  Horizont  des  wilhelminischen 
Beamtentums,  gegrtindet  in  der  stabilen  und  geordneten  Zeit  vor  dem  Ersten  Weltkrieg, 
verharrte  und  sich  darin  wohl  fiihlte,  diese  Haltung  auch  als  braunschweigischer  Polizei- 
prasident in  den  politisch,  sozial  und  okonomisch  aufgewuhlten  Zeiten  der  ausgehenden 
Weimarer  Republik  und  der  NS-Diktatur  hinnahm.  Er  habe  versucht,  sich  an  ein  ab- 


1  Horst-RudigerjARCK:  Braunschweigisches  Biographisches  Lexikon.  19.  u.  20.  Jh.  Hanno- 
ver: Hahn  1996. 

2  Zitat  S.  124;  zu  Gebensleben  vgl.  Hedda  Kalshoven:  Ich  denk  so  viel  an  Euch.  Ein 
deutsch-hollandischer  Briefwechsel  1920-1949.  Miinchen  :  Luchterhand,  1995. 


Personengeschichte  591 

straktes  Rechtssystem  zu  klammern,  dessen  Grundlagen  bereits  seit  dem  Eintritt  der 
NSDAP  in  die  Regierungskoalition  1931  konsequent,  zunachst  durch  MaBnahmen  am 
Rande  der  Legalitat,  unterhohlt  worden  sei.  Es  kann  der  Schluss  gezogen  werden,  dass 
Lieff  nicht  mit  politischem  Instinkt  versehen  oder  gar  einem  kampferischen  Wesen  aus- 
gestattet  war.  In  dem  Kapitel  iiber  sein  Verhalten  als  braunschweigischer  Innenminister 
erscheint  Lieff  selbst  bei  verletzenden  Attacken  seitens  der  Opposition  seltsam  in  sich 
gekehrt  bzw.  hilflos.  Einleuchtend  erscheint  die  Hypothese  des  Autors,  dass  Hanns  Lieff 
mit  seiner  Korrektheit  dem  nationalsozialistischen  Ministerprasidenten  Klagges  bzw. 
dem  brutal  auftretenden  Justiz-  und  Finanzminister  Friedrich  Alpers  v.a.  zu  Beginn  der 
NS-Zeit  als  biirgerlicher  Schutzmantel  gedient  habe. 

Stockhausen  beklagt,  dass  das  Entnazifizierungsverfahren  nach  dem  Zweiten  Welt- 
krieg  den  Konflikt  zwischen  Pflichterfiillung  und  „politischer  Rechtsbeugung"  nicht 
berucksichtigt  habe.  Lieff  sei  „schuldig"  gesprochen  worden.  Beharrend  auf  dem  Werte- 
system  der  wilhelminischen  Zeit  habe  der  GroBvater  nur  seine  Pflicht  getan.  -  Hier  sei 
eine  Richtigstellung  vorgebracht:  Das  Urteil  schuldig  kann  es  in  einem  Entnazifizie- 
rungsverfahren nicht  gegeben  haben.  Dies  waren  politische  Verfahren,  die  zum  Ziel  hat- 
ten,  im  Sinne  des  Aufbaus  einer  Demokratie  Menschen  mit  nationalsozialistischer  Ge- 
sinnung  aus  den  fiihrenden  Positionen  in  Gesellschaft  und  Wirtschaft  zu  entfernen  bzw. 
herauszuhalten.  Lieff  hatte  sich  zu  verantworten,  weil  er  als  Polizeiprasident  in  der  NS- 
Diktatur  Verantwortung  in  herausgehobener  Position  iibernommen  hatte.  Lieff  wurde 
1949  in  Kategorie  III  eingestuft,  wobei  NS-Haupttater  mit  I,  Belastete  mit  II,  Minderbe- 
lastete  mit  III,MitlaufermitIVund  Entlastete  mit  V  aus  dem  Verfahren  hervorgingen. 

Sicherlich  war  Hanns  Leiff  kein  wiitender  Nationalsozialist.  Sein  Beispiel  zeigt  deut- 
lich,  dass  die  biirgerliche  Elite  angesichts  der  Umwalzungen  nach  dem  Ersten  Weltkrieg 
in  der  politischen  und  okonomischen  Krise  der  ausgehenden  Weimarer  Republik  eher 
nach  hinten  schaute  und  vielfach  keine  fiihrende,  staatstragende  und  konstruktive  Rolle 
gespielt  hat.  Gustav  Stresemann,  der  in  der  Lage  war,  die  Realitat  des  verlorenen  Krieges 
anzuerkennen,  sich  von  seiner  nationalistischen  Einstellung  zu  trennen  und  sich  zu 
einem  (Vernunft-)  Republikaner  zu  entwickeln,  gehort  zu  den  Ausnahmen.  -  Fur  den 
Menschen  Hanns  Lieff  lasst  sich  der  Schluss  Ziehen,  dass  die  Anforderungen  an  Perso- 
nen  des  offentlichen  Lebens  in  herausfordernden  Zeiten  iiber  die  reine  Pflichterfiillung 
hinausgehen,  und,  dass  dies  eine  iiberfordernde  Anspannung  bedeuten  kann.  -  Fur  den 
Polizeiprasidenten  Lieff  gilt  das  abgewogen  und  zuriickhaltend  ausgesproche  Urteil  des 
Historikers. 

Stockhausens  Arbeit  weist  auf  ein  Desiderat  der  wissenschaftlichen  Forschung  hin: 
Leider  gibt  es  bisher  keine  Geschichte  der  Landes-  und  der  stadtbraunschweigischen 
Verwaltungspraxis  und  ihrer  Akteure  in  derNS  Zeit.  Auch  aus  staatsbiirgerlichem  Inter- 
esse  ist  die  Erforschung  der  Nazifizierung  der  Verwaltung  in  dem  fur  den  Beginn  der 
NS-Diktatur  in  Deutschland  nicht  unwichtigen  Freistaat  Braunschweig  durchaus  wiin- 
schenswert. 

Stade  Gudrun  Fiedler 


3  Die  Entnazifizierungsakte  befindet  sich  im  NLA  -  Staatsarchiv  Wolfenbiittel  -  und  kann 
unter  der  Bestell-Signatur  3  Nds  92/1  Nr.  43727  eingesehen  werden. 

4  Vgl.  dazu  die  Arbeit  von  Rudiger  Fleiter,  Stadtverwaltung  im  Dritten  Reich.  Verfol- 
gungspolitik  auf  kommunaler  Ebene  am  Beispiel  Hannovers.  (Hannoversche  Studien.  Schrif- 
tenreihe  des  Stadtarchivs  Hannover  Bd.  10).  Hannover:  Harm,  2006. 


592  Besprechungen 

Herrin  ihrer Kunst.  Elisabet  Ney:  Bildhauerin  in  Europa  und  Amerika.  Hrsg.  von  Barbara 
Romme.  Minister:  Stadtmuseum  Munster  2008.  301  S.,  Abb.  +  1  CD-ROM.  Geb. 
38,- €. 

Die  Bildhauerin  Elisabet  Ney  (1833-1907)  gehort  zu  den  herausragenden  Kiinstlerper- 
sonlichkeiten  des  19.  Jahrhunderts.  Gebiirtig  in  Munster,  erlernte  sie  -  fur  eine  Frau je- 
ner  Zeit  vollig  ungewohnlich  -  die  Bildhauerei  in  Munchen  und  Berlin  und  gehorte  zum 
Schiilerkreis  von  Christian  Daniel  Rauch,  einem  derbedeutendsten  und  erfolgreichsten 
Bildhauer  des  deutschen  Klassizismus.  1871  ging  sie  in  die  USA  und  lieB  sich  in  Texas 
nieder.  Wie  die  ubrigen  Schiiler  und  Epigonen  von  Rauch  war  Elisabet  Ney  angesichts 
der  weiteren  Entwicklung  der  kiinstlerischen  Plastik  im  20.  Jahrhundert  in  Vergessen- 
heit  geraten,  bis  ihr  Leben  und  Werk  nicht  zuletzt  durch  die  jetzige  Ausstellung  in  ihrer 
Heimatstadt  -  nunmehr  vor  allem  der  Kiinstlerin  als  Frau  gewidmet  -  fur  eine  breitere 
Offentlichkeit  wiederentdeckt  wurde. 

Das  interdisziplinare  Autorenteam  hat  die  zahlreichen  Werke  der  Kiinstlerin  fur  eine 
Ausstellung  in  zahlreichen  Museen  des  In-  und  Auslandes  nachgewiesen  und  die  unter- 
schiedlichen  Aspekte  des  Lebens  und  Wirkens  der  Kiinstlerin  durch  Auswertung  um- 
fangreicher  Quellen  im  vorliegenden  Katalog  lebendig  werden  lassen.  Fur  eine  Anzeige 
an  dieser  Stelle  besonders  hervorzuheben  ist  die  Tatigkeit  von  Elisabet  Ney  in  Hanno- 
ver, wo  sie  1859  und  1860  eine  Biiste  des  damaligen  Konigs  Georgs  V.  ausfiihrte,  heute  in 
der  Kunstsammlung  der  Universitat  Gottingen  (S.  226 f.).  Ein  Aquarell  ist  erhalten,  das 
Elisabet  Ney  bei  der  Fertigung  des  Portrats  des  Konigs  im  Atelier  des  damaligen  hanno- 
verschen  Hofmalers  Friedrich  Kaulbach  zeigt  (S.  19).  Wie  es  im  Katalog  heiBt,  war  der 
blinde  Konig  mit  der  Arbeit  der  Kiinstlerin  sehr  zufrieden  (S.  210). 

Kaulbach,  der  sich  damals  offenbar  in  die  junge  Kiinstlerin  verliebt  hatte,  schuf  von 
ihr  ein  beeindruckendes  ganzfiguriges,  lebensgroBes  Portrat  der  Kiinstlerin,  das  sie  in 
der  Werkstatt  neben  der  Tonbiiste  Georgs  V.  zeigt  und  das  sich  heute  im  Niedersachsi- 
schen  Landesmuseum  Hannover  befindet.  Wie  iiberliefert  ist,  schatzte  Elisabet  Ney  die- 
ses Bild  besonders  und  hat  es  mehrfach  bei  Ausstellungen  zusammen  mit  ihren  eigenen 
Werken  gezeigt.  Auch  wenn  ihr  spaterer  Mann  Edmund  Montgomery  es  als  „idealisiert 
und  unwahr"  empfand,  diente  das  Gemalde  ihres  Verehrers  auf  diese  Weise  weiterhin 
ihrer  Karriere  (S.  210).  Anlasslich  der  jetzigen  Ausstellung  in  Munster  ziert  es  den  Um- 
schlag  des  Katalogs. 

Die  Vorstellung,  als  Frau  habe  Elisabet  Ney  in  einem  sonst  ausschlieBlich  von  Man- 
nern  wahrgenommenen  Metier  besondere  Schwierigkeiten  gehabt,  wie  in  dem  Katalog 
immer  wieder  anklingt,  erscheint  allerdings  nur  eingeschrankt  haltbar.  Vor  allem  an- 
fangs  hatte  sie  immer  wieder  damit  zu  kampfen,  dass  man  ihr  die  korperliche  Arbeit  nicht 
zutraute,  mancherorts  stieB  sie  auf  Vorurteile.  Aber  wenn  z.  B.  die  Fiirstin  Wittgenstein 
im  Salon  von  Karl  August  Varnhagen  von  Ense  iiber  sie  geauBert  haben  soil:  „So  jung 
und  hiibsch  und  mit  die  harten  Steine  arbeiten?"  (S.  82) ,  liegt  darin  neben  dem  Erstaunen 
doch  auch  eine  bewundernde  Anerkennung.  Weder  bei  Kollegen  noch  bei  Auftragge- 
bern  stieB  die  Kiinstlerin  auf  ernsthafte  Ablehnung.  In  Gegenteil:  Neben  dem  Konig  von 
Hannover  lieBen  sich  bei  ihr  so  unterschiedliche  Personlichkeiten  wie  Konig  Ludwig  II. 
von  Bayern,  Arthur  Schopenhauer,  Giuseppe  Garibaldi  und  Otto  von  Bismarck  portra- 
tieren,  auf  nationalen  und  internationalen  Ausstellungen  waren  ihre  Werke  vertreten. 

Derhaufige  Hinweis  auf  die  Verweigerung  eines  zeitgenossischen  weiblichen  Rollen- 
bildes  durch  die  Kiinstlerin,  der  den  Katalog  durchzieht,  wird  durch  einige  Beitrage  mo- 


Personengeschichte  593 

difiziert.  Wenn  man  beriicksichtigt,  dass  Elisabet  Ney  ihre  Ehe  geheim  hielt  und  ihre 
Herkunft  aus  einer  Bildhauerfamilie  verschwieg,  dass  sich  andererseits  aber  bereits  ihr 
Vater  von  seinem  auBeren  Erscheinungsbild  her  gesellschaftlichen  Gepflogenheiten 
kaum  angepasst  hatte  (S.  52  ff.),  ist  im  Auftreten  von  Vater  und  Tochter  vor  allem  ge- 
schlechtsiibergreifend  eine  gemeinsame  Selbstdarstellung  als  Kiinstlerpersonlichkeiten 
zu  sehen  -  auch  wenn  dies  bei  beiden  unterschiedlich  zum  Ausdruck  kam.  Ney  selbst 
ging,  wie  in  einem  Artikel  ausdriicklich  betont  wird,  im  Deutschland  des  19.  Jahrhun- 
derts  „noch  ganz  selbstverstandlich  von  einem  geschlechtsneutralen  Kiinsdertum  aus" 
(S.  125). 

Neys  exzentrischer  Habitus,  der  auch  dem  mannlichen  Kunstlerbild  entsprach 
(S.  128),  wird  auf  diese  Weise  erklarbar.  Als  Resumee  des  Katalogs  heiBt  es  demgegen- 
iiber  auf  dem  AuBendeckel  zeitgemaB  individualisierend,  Talent  und  Beharrlichkeit  der 
Kiinstlerin,  „die  sich  Zeit  ihres  Lebens  iiber  zahlreiche  Konventionen  hinwegsetzte", 
hatten  dazu  gefuhrt,  dass  diese  „ein  selbstbestimmtes  Leben  fiihren  konnte".  Sicherlich 
nicht  falsch  -  aber  doch  nur  Teil  der  Wahrheit. 

Hannover  Manfred  von  Boetticher 


Brenn-Rammlmair,  Renate:  Stadtbaumeister  Gustav  Nolte.  Der  Heimatstil  in  Bozen.  Bo- 
zen:  Verlagsanstalt  Athesia  2007.  192  S.  Abb.  Kart.  26,90  €. 

Seine  Erscheinung  war  in  Bozen  wohl  eine  Besonderheit:  Der  schmal  gebaute  Mann  mit 
oft  angestrengtem  Gesicht  konnte  seine  norddeutsche  Sprechweise  niemals  seinem  neu- 
en  Umfeld  im  siidlichen  Tirol  anpassen,  lieB  sich  aber  gerne  mit  seiner  Bozener  Gattin  in 
der  Tracht Jenesiens  ablichten,  und  seine  Bauten  wurden  untrennbarer,  hochst  qualitat- 
voller  Bestandteil  dieser  alpinen  Stadt.  Gustav  Nolte  (1877-1924),  Stadtbaumeister  Bo- 
zens,  ist  Kennern  der  Kunstgeschichte  Siidtirols  ein  Begriff.  Doch  gab  es  bisher  kaum  Li- 
teratur  zu  ihm,  auch  die  gangigen  Kiinstlerlexika  schweigen  sich  aus.  Die  anzuzeigende 
Publikation,  in  den  Hauptkapiteln  in  Deutsch  und  Italienisch,  basiert  auf  einer  kunsthi- 
storischen  Dissertation  von  1997  bei  Lionello  Puppi  an  der  Universitat  Venedig.  Ihr 
Druck  ist  dem  Heimatschutzverein  Bozen  zu  danken,  der  damit  eine  Liicke  in  der  an  hef- 
tigen  Wendungen  reichen  Baugeschichte  der  beriihmten  Handelsstadt  an  Eisack  und 
Talfer  schlieBen  half. 

Dass  Gustav  Nolte  ausgerechnet  aus  dem  Dorf  Siistedt  bei  Hoya  (heute  Samtgemein- 
de  Bruchhausen-Vilsen,  Landkreis  Diepholz)  stammte,  wird  eher  als  ein  Kuriosum  ge- 
nannt,  aber  nicht  weiterbehandelt.  Heute  nenntman  das  „Migrationshintergrund".  Was 
mag  den  Sohn  eines  niedersachsischen  bauerlichen  Grundbesitzers  zum  Architekturstu- 
dium  bewogen  haben?  Erstaunlich  auch,  wie  jung  der  am  3.  September  1877  geborene 
Nolte  war,  als  er  nach  dem  Schulbesuch  nach  Miinchen  ging  und  dort  sehr  rasch  ein  Ar- 
chitekturstudium  abschloss.  Uber  diesen  Werdegang  gibt  es  bisher  kaum  Berichte,  auch 
nicht  iiber  Art  und  Struktur  seiner  fachlichen  Ausbildung,  vor  allem  seine  akademischen 
Lehrer.  Schon  im  Mai  1902,  also  mit  25  Jahren,  fand  er  Arbeit  in  Bozen,  um  fur  immer 
dort  zu  bleiben,  wie  manche  andere,  die  der  enge  Kontakt  der  Miinchner  Kiinstlerwelt 
zu  Tirol  nach  Siiden  zog.  Er  hat  sich  dort  fest  integriert,  1910  eine  Einheimische  geheira- 
tet,  1911  die  Staatsbiirgerschaft  gewechselt,  um  dann  endgiiltig  Nachfolger  Wilhelm 
Kurschners  als  Stadtbaumeister  Bozens  zu  werden,  bis  zu  seinem  friihen  Tode  1924. 


594  Besprechungen 

Die  von  der  Autorin  konzis  geschilderte  Bozener  Stadtentwicklung  im  spaten  19. 
Jahrhundert  brach  nach  1918  abrupt  ab,  was  sich  mit  der  Abtrennung  Siidtirols  von 
Osterreich  und  der  dann  heftig  verstarkenden  Italienisierung  auch  im  architektonischen 
Habitus  deutlich  ausgepragt  hat.  Dieses  Bozener  Baugeschehen  war  noch  sehr  von  aus- 
wartigen  Einfliissen  gepragt  gewesen.  So  kam  der  Stadtbaumeister  Sebastian  Altmann 
(1857-1894)  aus  Miinchen,  ebenso  Carl  Hocheder,  der  Erbauer  des  Rathauses  (1903-07). 
Stadtbaurat  Wilhelm  Kiirschner  (gest.  1914),  stammte  aus  Dresden.  Es  gab  hier  eine 
Miinchner  Kunstlerkolonie,  die  einflussreicher  war  als  die  Zentrale  der  Monarchie  in 
Wien.  Hier  war  Nolte  der  letzte  Vertreter  einer  historischen  Entwicklung  der  Stadt  aus 
ihren  alpin-tirolischen  Wurzeln.  Solche  erstaunlich  fruhreife  Pragung  und  Begabung 
zum  muhelosen  Eintauchen  in  ein  fremdes  Lokalkolorit  ruft  nach  einer  Erklarung,  die 
das  Buch  aber  schuldig  bleibt. 

Uber  die  niedersachsischen  Wurzeln  Noltes  werden  offenbar  nur  die  Bozener  Famili- 
entraditionen  weitergegeben.  Hier  konnten  aber  sicher  noch  mehr  Hintergrundinforma- 
tionen  erarbeitet  werden.  Denn  die  Nachfahren  seiner  Geschwister  leben  noch  immer 
an  seinem  Geburtsort.  Eine  jiingst  restaurierte  historische  Turbinenwassermiihle  von 
1880  tragt  noch  heute  den  Namen  der  Familie.  Deren  Entstehen  muss  er  als  Knabe  mit- 
erlebt  haben.  So  waren  iiber  die  Tradition  in  der  neuen  Heimat  auch  am  Ursprungsort 
Quellen  und  Strukturen  zu  befragen. 

Schon  Noltes  Erstlingswerk,  die  Villa  Oberrauch  von  1908  in  St.  Konstantin  bei  Vols 
am  Schlern,  mit  ihrem  offenen  Blick  weit  auf  die  Bergkamme  iiber  dem  Eisacktal,  wird 
zu  Recht  in  ihrer  groBen  Bedeutung  einfiihlsam  gewiirdigt.  Sie  ist  sein  erster  eigenstan- 
diger  Bau,  doch  schon  eine  reife  Leistung.  Sie  iibertragt  in  idealer  Weise  Erfahrungen 
aus  dem  englischen  Landhausstil  auf  das  vertraute  lokale  Sommerfrischleben,  mit  be- 
quemem  Grundriss  in  organischer  Funktionalitat.  Noltes  Bauten  als  Stadtbaumeister 
sind  offentliche  Bauten  einer  kommunalen  Bauverwaltung,  also  Schulen,  deren  Beein- 
flussung  durch  die  bekannten  Miinchner  Schulbauten  eines  Theodor  Fischer  oder  Hans 
Grassel  die  Autorin  wiirdigt,  auch  stadtische  Arbeiterwohnhauser,  Altenwohnheime, 
Kindergarten,  Feuerwehrhaus,  Friedhof,  Volksbad.  Diese  Bauten,  im  Katalogteil  des  Bu- 
ches  ausfiihrlich  dokumentiert,  fiigen  sich  dem  Ortsbild  vollkommen  ein.  Sie  sind  ge- 
pragt vom  sog.  Heimatstil,  der  im  bewussten  Gegensatz  zum  akademischen  Historismus 
geschmeidig  lokale  Traditionen  variierte,  meist  in  Aufnahme  einer  biirgerlichen 
spatbarocken  Formensprache,  mit  einfuhlsamer  Gestaltung  der  Details  und  behagli- 
chem  handwerklichem  Dekor.  Mit  diesem  regionalromantischen  Stil  fiigte  er  sich,  auch 
mit  der  Beschaftigung  mancher  bewahrter  einheimischer  Kiinstler,  Maler  und  Bildhauer, 
der  ortlichen  Mode  des  sog.  Uberetscher  Stils  ein. 

Die  reiche  Bebilderung  des  Buches  mit  historischen  Fotos  gibt  einen  guten  Eindruck 
der  ursprunglichen  Wirkung  der  Bauten  Noltes,  von  denen  manche  heute  leider  veran- 
dert  oder  gar  verschwunden  sind.  Viele  andere  haben  sich  erstaunlich  gut  erhalten.  So 
verdanken  wir  dem  Buch  viele  Erstinformationen  iiber  das  siidtiroler  Wirken  des  nord- 
deutschen  Kiinstlers.  Seinen  Urspriingen  aber  mufi  noch  intensiver  nachgegangen  wer- 
den, um  seine  Kunst  voll  wiirdigen  zu  konnen. 

Bamberg  Manfred  F.  Fischer 


Personengeschichte  595 

Konig,  Walter  in  Zusammenarbeit  mit  Magdalena  Konig,  Rudolf  Meier,  Bertha  Brock- 
mann:  Der  Reformator  Urbanus  Rhegius.  Chronik  einer  Familie  zwischen  Langenargen 
und  Finkenwerder.  Hrsg.  vom  Hindelang  Museum  Langenargen  am  Bodensee.  Lan- 
genargen: Museum  Langenargen  2006.  308  S.,  Abb.,  Kt.  Geb.  22,80  €. 

Ausgehend  von  einer  gemeinsamen  Ahnenforschung  haben  sich  mehrere  Nachkom- 
men  des  bekannten  Reformators  und  ersten  Generalsuperintendenten  im  Fiirstentum 
Liineburg  Urbanus  Rhegius  (1489-1541)  zu  jahrelanger  Arbeit  zusammengefunden  und 
das  Leben  von  dessen  Familie  in  der  Reformationszeit  und  in  den  folgenden  Jahrhun- 
derten  nachgezeichnet  -  den  verschiedenen  Familienzweigen  folgend  vom  Bodensee 
bis  nach  Hamburg,  von  Wittenberg  bis  nach  Konigsberg  in  OstpreuBen.  Das  urspriing- 
lich  vor  allem  genealogische  Interesse  riickte  dabei  in  den  Hintergrund,  im  Mittelpunkt 
der  Darstellung  stehen  Lebensverhaltnisse  und  Zeitumstanden  der  einzelner  Personlich- 
keiten. 

Auch  wenn  bei  einem  solchen  Vorgehen  keine  historisch-systematische  Darstellung 
entstehen  konnte:  Rhegius  Wirken  -  von  Konstanz  iiber  Augsburg  nach  Celle  -  wird  de- 
tailliert  nachgezeichnet  und  um  manches,  bislang  unbekanntes  Detail  erweitert.  Das  Le- 
ben seiner  Mutter  tritt  deutlicher  hervor,  die  Hinweise  auf  sein  Frau  werden  dichter.  Vor 
allem  aber  beleuchten  die  Lebenslaufe  seiner  Kinder  und  Kindeskinder  -  Vogte,  Pasto- 
ren,  Musiker,  furstliche  Beamte,  Landwirte  und  Schriftsteller  -  in  anschaulicher  Weise 
die  „evangelische  Pastorenfamilie"  alskulturhistorisches  Phanomen  derfriihenNeuzeit. 

Den  Abdruck  zahlreicher,  z.  T.  kurzerer,  haufig  schwer  recherchierbarer  Quellen 
macht  die  Darstellung  anschaulich,  eine  Vielzahl  von  Abbildungen  -  Personen,  Gebau- 
de  und  alten  Karten  -  bereichert  die  Texte.  Zudem  besticht  das  Buch  durch  sorgfaltige 
Archivstudien  und  einen  gewissenhaften  Anmerkungsapparat,  der  samtliche  biographi- 
schen  und  historischen  Informationen  nachvollziehbar  macht. 

Dem  Museum  von  Langenargen  am  Bodensee,  dem  Geburtsort  von  Urbanus  Rhe- 
gius, ist  nachdriicklich  zu  danken,  dass  es  die  Veroffentlichung  des  umfangreichen  Ma- 
nuskripts  iibernommen  hat. 

Hannover  Manfred  von  Boetticher 


NACHRICHTEN 


HISTORISCHE  KOMMISSION 
FUR  NIEDERSACHSEN  UND  BREMEN 

Jahrestagung  vom  16.  bis  17.  Mai  2008 
und  Mitgliederversammlung  am  17.  Mai  2008  in  Bremerhaven 


7.   Bericht  tiber  die  Jahrestagung 

Auf  EinladungderStadt  Bremerhaven  tagte  die  Historische  KommissionfiirNiedersach- 
sen  und  Bremen  in  diesem  Jahr  in  der  Stadt  an  der  Wesermiindung.  Den  Auftakt  bildete 
eine  Stadtrundfahrt  in  Bussen,  bei  der  die  Teilnehmer  von  Herrn  Dr.  Hartmut  Bickel- 
mann,  dem  Leiter  des  Stadtarchivs  Bremerhaven,  bzw.  von  Herrn  Dr.  DirkJ.  Peters,  wis- 
senschaftlicherMitarbeiteram  Deutschen  Schifffahrtsmuseum,  interessante  Einblicke  in 
die  wechselhafte  Geschichte  der  aus  verschiedenen  einstmals  selbstandigen  Gemeinwe- 
sen  zusammengewachsenen  Stadt  erhielten. 

Die  Jahrestagung  beschaftigte  sich  in  diesem  Jahr  -  wie  es  sich  mit  Blick  auf  den  Ta- 
gungsort  Bremerhaven  geradezu  angeboten  hatte  -  mit  dem  Thema  „Migration  und  ihre 
Hintergriinde:  Wanderungsbewegungen  in  Nordwestdeutschland  vom  17.  bis  zum  20. 
Jahrhundert".  Im  Sitzungssaal  des  Deutschen  Schifffahrtsmuseums  wurden  die  Anwe- 
senden  vom  Leiter  des  Museums,  Herrn  Prof.  Dr.  Lars  U.  Scholl,  vom  Stadtverordne- 
tenvorsteher  Artur  Beneken  und  vom  Vorsitzenden  der  Kommission,  Herrn  Prof.  Dr. 
Thomas  Vogtherr,  begriiBt.  AnschlieBend  eroffnete  Herr  Prof.  Dr.  Franklin  Kopitzsch 
(Hamburg),  der  die  Moderation  des  ersten  Vortragsblocks  iibernommen  hatte,  die  Rei- 
he  der  wie  immer  offentlichen  wissenschaftlichen  Vortrage. 

Den  Auftakt  des  Vortragsprogramms  machte  Herr  Prof.  Dr.  Jochen  Oltmer  (Osna- 
briick),  der  mit  seinem  Vortrag  „Historische  Migrationsforschung:  Begriffe,  Felder,  Per- 
spektiven"  in  das  Tagungsthema  einfiihrte.  Oltmer  mahnte  bei  der  Beschaftigung  mit 
Wanderungsbewegungen  die  Verwendung  einer  klaren  Begrifflichkeit  an  und  warnte 
wegen  der  Vielfalt  von  Migrationsformen  (Arbeitswanderung,  Kultur-  und  Wohlstands- 
wanderung,  Zwangswanderung  usw.)  vor  der  Verwendung  eines  einseitigen  Migrations- 
begriffs.  Zudem  verandere  die  Integration  von  Zuwanderern  sowohl  die  Zuwanderer- 
gruppe  als  auch  die  Aufnahmegesellschaft.  SchlieBlich  waren  raumliche  Bewegungen  in 
der  historischen  Wirklichkeit  ungeachtet  der  groBen  transatlantischen  Abwanderung 
des  19.  Jahrhunderts  iiberwiegend  kleinraumig  und  iiberschritten  nur  zu  einem  kleine- 
ren  Teil  territoriale  bzw.  staatliche  Grenzen.  So  lebten  im  Jahr  1907  von  den  62  Millio- 
nen  Einwohnern  des  Deutschen  Reiches  nur  51  °/o  am  Ort  ihrer  Geburt. 


598  Nachrichten 

Dr.  Horst  RoBler  (Bremen)  schlug  in  seinem  Vortrag  „Hollandganger,  Zuckerbacker, 
Amerikawanderer  -  Grenziiberschreitende  Migration  aus  dem  Elbe-Weser-Raum"  den 
Bogen  von  der  Mitte  des  17.  Jahrhunderts  bis  zum  Beginn  des  Ersten  Weltkriegs.  Der 
Referent  verglich  drei  groBe,  sich  zum  Teil  zeitlich  iiberlappende  Fernwanderungen 
miteinander.  Die  Hollandgangerei,  die  saisonelle  Arbeitswanderung  in  die  nach  dem 
erfolgreichen  Unabhangigkeitskrieg  gegen  Spanien  wirtschaftlich  expandierenden  Nie- 
derlande,  wurde  fast  ausschlieBlich  von  Mannern  aus  den  landlichen  Unterschichten  be- 
trieben.  Erste  Hinweise  auf  diese  Form  der  Arbeitswanderung  finden  sich  fur  den  Elbe- 
Weser-Raum  aus  demjahr  1633,  nach  dem  Westfalischen  Frieden  von  1648  wuchs  sich 
diese  Wanderungsbewegung  zum  Massenphanomen  aus,  das  erst  im  napoleonischen 
Zeitalter  abebbte.  Dabei  spielten  soziale  Netzwerke  eine  groBe  Rolle,  indem  jahrlich  ei- 
ne  Gruppe  von  Mannern  aus  einem  bestimmten  Dorf  auf  einem  bestimmten  Weg  in  ein 
bestimmtes  Gebiet  zog,  um  hier  einer  bestimmten  Tatigkeit  nachzugehen  und  am  Ende 
der  Arbeitssaison  geschlossen  auf  demselben  Weg  wieder  nach  Hause  zuriickzukehren. 

Auf  dem  Hohepunkt  der  Hollandgangerei  in  der  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  setzte  im 
Unterweserraum  die  Arbeitswanderung  nach  GroBbritannien  ein,  das  sich  in  dieser  Zeit 
aufmachte,  die  Niederlande  als  fuhrende  europaischen  Wirtschaftsmacht  abzulosen. 
Die  Bevolkerungsschicht,  die  bislang  in  die  Niederlande  gewandert  war,  fand  nun  ein 
Auskommen  in  der  florierenden  britischen  Zuckerindustrie.  Das  Ziel  dieser  neuen  Wan- 
derungsbewegung aus  dem  Elbe-Weser-Raum  war  iiberwiegend  London,  erst  nach  1850 
verstarkt  auch  Liverpool.  Im  Jahr  1861  stammten  90  °/o  der  in  der  Londoner  Zuckerin- 
dustrie Beschaftigten  aus  Deutschland,  die  Mehrzahl  davon  aus  dem  Konigreich  Hanno- 
ver. Im  Lauf  des  19.  Jahrhunderts  ging  die  zunachst  iiberwiegend  temporare  Arbeits- 
wanderung mit  einem  allerdings  schon  groBen  Anteil  dauerhafter  Auswanderer  in  eine 
definitive  Auswanderung  mit  einem  hohen  Anteil  von  Arbeits-  und  Ruckwanderern 
liber.  Auch  die  Migration  in  die  britische  Zuckerindustrie  erfolgte  auf  der  Basis  sozialer 
Netzwerke. 

Spatestens  um  1840  wurde  die  Englandwanderung  aus  dem  Elbe-Weser-Raum  quan- 
titativ  von  der  Auswanderung  in  die  USA  iibertroffen.  Die  Auswanderung  aus  dem 
Landdrosteibezirk  Stade  war  dort  besonders  stark,  wo  traditionell  Hollandgangerei  und 
Englandwanderung  eine  groBe  Bedeutung  besaBen.  Auch  die  iiberseeische  Migration 
erfolgte  im  Wesentlichen  als  Kettenwanderung.  Ziel  der  Auswanderer  waren  vor  allem 
die  Staaten  des  Mittleren  Westens  und  die  GroBstadte  der  Ostkiiste.  Erst  der  Eintritt 
Deutschlands  in  die  Hochindustrialisierungsphase  ab  den  1890erjahren  hob  das  Miss- 
verhaltnis  zwischen  Bevolkerungswachstum  und  Erwerbsmoglichkeiten  auf,  so  dass  die 
Notwendigkeit,  auf  der  Suche  nach  Arbeit  die  Heimat  zu  verlassen,  entfiel.  War  die  Hol- 
landgangerei schon  in  den  erstenjahrzehnten  des  19. Jahrhunderts  eingegangen,  so  fand 
nun  zeitgleich  mit  dem  massiven  Riickgang  der  Auswanderungen  in  die  USA  auch  die 
Wanderung  in  die  britische  Zuckerindustrie  ihr  Ende. 

Dr.  Sabine  Heerwart  (Gottingen)  betrachtete  „Die  Folgen  von  Auswanderung  in  der 
zweiten  Halfte  des  19.  Jahrhunderts  am  Beispiel  der  beiden  deutschen  Dorfer  Urzig/ 
Mosel  und  Wolfshagen/Braunschweig".  Der  Vergleich  dieser  beiden  Gemeinden  griin- 
det  auf  dem  Umstand,  dass  beide  Dorfer  in  strukturschwachen  Regionen  mit  weitgehend 
monookonomischer  Ausrichtung  lagen,  wobei  in  Urzig  der  Weinbau,  in  Wolfshagen  die 
Forstwirtschaft  dominierte.  In  beiden  Gemeinden  setzte  die  Phase  einer  verstarkten  Aus- 
wanderung kurz  vor  der  Mitte  des  19.  Jahrhunderts  ein  und  beschrankte  sich  auf  einen 
Zeitraum  von  15  Jahren.  In  beiden  Gemeinden  fiel  diese  Phase  in  eine  Zeit,  in  der  wirt- 


Jahrestagung  der  Historischen  Kommission  599 

schaftliche  und  soziale  Krisen  ihren  Hohepunkt  erreichten.  Die  verstarkte  Auswande- 
rung  war  in  beiden  Dorfern  eine  Folge  wirtschaftlicher  Missstande.  In  beiden  Gemein- 
den  lag  die  Auswanderungsrate  bei  etwa  12  °/o,  war  also  moderat,  aber  spiirbar. 

Auf  die  demographische  Entwicklung  beider  Dorfer  hatte  die  Auswanderung  keine 
Auswirkungen.  Den  Verlust  der  abwandernden  Einwohner  glich  in  Urzig  die  gleichblei- 
bende,  in  Wolfshagen  eine  hohe  Geburtenrate  aus.  Unterschiedlich  war  die  Position  der 
Obrigkeiten  zum  Phanomen  der  Auswanderung.  Die  preuBischen  Behorden  griffen  in 
den  Auswanderungsverlauf  Urzigs  nur  sehr  begrenzt  steuernd  ein.  Da  die  Auswanderer 
aus  dem  Moseldorf  ihr  Vorhaben  aus  eigenen  Mitteln  finanzieren  mussten,  betraf  die 
Auswanderung  fast  ausschlieBlich  Angehorige  der  unteren  Mittelschicht  bzw.  der  obe- 
ren  Unterschicht.  Die  braunschweigische  Verwaltung  hingegen  finanzierte  in  der  Hoff- 
nung  auf  eine  gesellschaftliche  Entlastungsfunktion  die  Auswanderung  verarmter  Ange- 
horiger  der  Unterschicht.  Der  Vergleich  der  spezifischen  Auswanderungsverlaufe  zeigt, 
dass  sich  die  Wanderungen  in  beiden  Gemeinden  keineswegs  nachhaltig  auf  die  dorfli- 
chen  Strukturen  auswirkten.  Zwischen  deriiberregionalen  Ebene,  von  der  die  offiziellen 
Stellen  und  die  breite  Offentlichkeit  das  Auswanderungsgeschehen  wahrnahmen,  und 
der  unmittelbar  von  diesem  Ereignis  betroffenen  lokalen  Ebene  bestand  eine  deutliche 
Diskrepanz. 

Im  Anschluss  an  das  Vortragsprogramm  des  ersten  Tages  erfolgte  die  Verleihung  des 
von  der  Historischen  Kommission  gestifteten  und  von  der  Stiftung  Niedersachsen  do- 
tierten  Preises  fur  niedersachsische  Landesgeschichte  2008  sowie  eines  ebenfalls  von 
der  Kommission  gestifteten  und  von  der  Stiftung  Niedersachsen  dotierten  Forderprei- 
ses.  Den  Festakt  eroffnete  der  President  der  Stiftung  Niedersachsen,  Herr  Dr.  Dietrich  H. 
Hoppenstedt,  der  die  Tatigkeit  seiner  Institution  und  ihre  Aufgabenfelder  vorstellte.  Der 
Preis  fur  niedersachsische  Landesgeschichte  wurde  bei  dieser  Gelegenheit  erstmals  ver- 
liehen.  Ausgezeichnet  wurde  Herr  Dr.  des.  Sohnke  Thalmann  (Hannover)  fur  seine  von 
der  Philosophischen  Fakultat  der  Georg-August-Universitat  Gottingen  angenommene 
Dissertation  zum  Thema  „AblaBiiberlieferung  und  AblaBhandel  im  spatmittelalterli- 
chen  Bistum  Hildesheim".  Nach  der  von  Herrn  Vogtherr  gehaltenen  Laudatio  auf  den 
Preistrager  stellte  dieser  seine  Dissertation  kurz  vor.  Nach  Aushandigung  der  Urkunde 
hielt  Herr  Vogtherr  auch  die  Laudatio  auf  den  zweiten  Preistrager.  Herr  Sebastian  Stie- 
kel  (Celle)  wurde  fur  seine  von  der  Leibniz  Universitat  Hannover  angenommene  Magi- 
sterarbeit  „Arisierung  und  Wiedergutmachung  in  Celle"  mit  einem  Forderpreis  aus- 
gezeichnet. AnschlieBend  stellte  auch  Herr  Stiekel  seine  Arbeit  kurz  vor,  um  dann  die 
Urkunde  ausgehandigt  zu  bekommen.  Nach  der  Preisverleihung  lud  die  Stadt  Bremer- 
haven  die  Versammlung  zu  einem  Empfang  in  das  „Koggehaus"  des  Deutschen 
Schifffahrtsmuseums  ein,  wo  der  Oberbiirgermeister  der  Stadt,  Jorg  Schulz,  die  Ver- 
sammlungsteilnehmer  begriiBte. 

Die  Moderation  des  Vortragsprogramms  am  Samstag  Vormittag  iibernahm  Herr 
Prof.  Dr.  Wilfried  Reininghaus  (Dusseldorf).  Unter  der  Pramisse  „Mehr  als  nur  eine 
Drehscheibe  des  Auswandererverkehrs"  beleuchtete  Dr.  Hartmut  Bickelmann  (Bremer- 
haven)  „Bremerhaven  als  vielgestaltigen  Wanderungsraum".  Die  Geschichte  der  Un- 
terweserstadt  lasst  sich  nicht  ausschlieBlich  auf  ihre  Bedeutung  fur  die  iiberseeische 
Auswanderung  reduzieren.  Wanderungsbewegungen,  die  sehr  viel  alter  sind  als  die 
bremische  Hafengriindung  der  ersten  Halfte  des  19.  Jahrhunderts,  namlich  die  Holland- 
gangerei,  die  lippischen  Wanderziegler  und  die  Beschaftigung  in  der  britischen  Zucker- 
industrie,  dienten  dem  Broterwerb.  Mit  dem  Aufschwung  der  Unterweserhafen  Bre- 


600  Nachrichten 

merhaven  und  Geestemiinde  im  19.  Jahrhundert  boten  Schifffahrt,  Hafenumschlag, 
Schiffbau  und  Maschinenbau  sowie  schlieBlich  die  Hochseefischerei  vielfaltige  Arbeits- 
moglichkeiten,  die  Zuwanderer  aus  dem  norddeutschen  Raum  an  die  Wesermiindung 
zogen.  Mit  dem  Auslaufen  der  Auswanderungswellen  aus  Deutschland  im  ausgehenden 
19.  Jahrhundert  setzte  zugleich  der  Beginn  der  generellen  Entwicklung  Deutschlands 
zum  Einwandererland  ein,  da  der  wachsende  Arbeitskraftebedarf  v.  a.  der  Baubranche 
nicht  mehr  aus  der  einheimischen  Bevolkerung  gedeckt  werden  konnte.  Wahrend  die 
bremische  Hafenbauverwaltung  in  den  1890er  Jahren  vielfach  polnische  Arbeitskrafte 
beschaftigte,  griff  die  preuBische  Bauverwaltung  v.  a.  auf  italienische  Arbeitskolonnen 
zuriick,  die  u.a.  1893  beim  Bau  des  Fischereihafens  in  Geestemiinde  mitwirkten. 

Im  benachbarten  Lehe  siedelten  sich  gleichzeitig  zahlreiche  Selbstandige  und  Klein- 
unternehmer  aus  bestimmten  Regionen  Norditaliens  an.  Die  zeitweise  Niederlassung 
niederlandischer  Einwanderer  in  Geestemiinde  hing  mit  der  Heringsfischerei  zusam- 
men.  Eine  nicht  zu  iibersehende  Bevolkerungsgruppe  in  den  europaischen  Hafenstad- 
ten  waren  zu  Beginn  des  20.  Jahrhunderts  chinesische  Einwanderer,  die  als  Heizer  und 
Kohlentrimmer  bzw.  als  Wascher  in  der  Seeschifffahrt  bzw.  den  Landeinrichtungen  der 
Reedereien  ein  Auskommen  fanden.  SchlieBlich  entstand  nach  dem  Zweiten  Weltkrieg, 
als  Bremen  und  Bremerhaven  als  amerikanische  Enklave  innerhalb  derbritischen  Besat- 
zungszone  ab  1945  die  Funktion  eines  Nachschubhafens  fur  die  amerikanischen  Trup- 
pen  iibernahmen,  in  Bremerhaven  eine  mehrere  tausend  Personen  umfassende  Bevolke- 
rungsgruppe von  US-Amerikanern. 

In  seinem  Vortrag  „Die  Welt  an  der  Wasserkante.  Chinesische  Seeleute  und  Migran- 
ten  in  Hamburg  und  Bremen /Bremerhaven  1890-1970"  zeigte  Dr.  Lars  Amenda  (Ham- 
burg) am  Beispiel  chinesischer  Seeleute  die  Zusammenhange  von  maritimer  Mobilitat 
und  globaler  Migration  auf.  Die  Geschichte  chinesischer  Migranten  an  der  deutschen 
„Waterkant"  war  eng  mit  der  Seeschifffahrt  und  den  groBen  deutschen  Reedereien  ver- 
bunden.  Urn  ihre  Betriebskosten  zu  senken,  beschaftigten  u.  a.  der  Norddeutsche  Lloyd 
aus  Bremen  und  die  Hapag  aus  Hamburg  seit  den  1890erjahren  Tausende  „farbiger  See- 
leute" als  Heizer  und  Kohlenzieher  auf  ihren  Dampfschiffen.  Chinesen  aus  der  Umge- 
bung  von  Kanton  stellten  die  groBte  Gruppe  unter  ihnen.  Wahrend  der  NS-Herrschaft 
waren  chinesische  Seeleute  und  Migranten  der  Verfolgung  durch  Gestapo  und  Kriminal- 
polizei  ausgesetzt.  Hohepunkt  dieser  Entwicklung  war  die  sogenannte  „Chinesenaktion" 
in  Hamburg  im  Mai  1944,  als  alle  auffindbaren  Chinesen  verhaftet,  anschlieBend  im 
Gestapogefangnis  Fuhlsbiittel  monatelang  misshandelt  und  im  Herbst  des  Jahres  in  das 
„Arbeitserziehungslager  Wilhelmsburg"  iiberstellt  wurden.  Nach  dem  Zweiten  Welt- 
krieg veranderte  sich  die  Ursache  chinesischer  Migration  nach  Deutschland  grundsatz- 
lich,  da  sich  nun  die  Gastronomie  zum  wichtigsten  wirtschaftlichen  Bestatigungsfeld 
entwickelte. 

In  der  Mittagspause  bestand  fur  die  Tagungsteilnehmer  die  Moglichkeit,  an  Fiihrun- 
gen  im  Deutschen  Auswandererhaus  und  im  Deutschen  Schifffahrtsmuseum  teilzu- 
nehmen. 

Die  Moderation  des  Vortragsprogramms  am  Samstag  Nachmittag  hatte  Herr  Prof.  Dr. 
Bernhard  Parisius  (Aurich)  iibernommen.  „Die  Aufnahme  von  Fliichtlingen  aus  Ost- 
preuBen  in  derProvinz  Hannover  1914/15"  war  das  Thema  des  Vortrags  von  Dr.  Michael 
Ehrhardt  (Bremervorde).  Die  bei  Kriegsausbruch  1914  vor  dem  Hintergrund  der  deut- 
schen Strategic,  zunachst  Frankreich  niederzuwerfen  (Schlieffenplan) ,  nur  unzureichend 
gesicherte  deutsche  Ostgrenze  bot  den  russischen  Truppen  zunachst  ein  rasches  Voran- 


Jahrestagung  der  Historischen  Kommission  601 

kommen.  Das  Eindringen  der  Russen  in  OstpreuBen  im  August  und  im  November  1914 
hatte  eine  unorganisierte  Flucht  der  Bevolkerung  zur  Folge,  die  dann  in  andere  Gebiete 
des  Deutschen  Reiches  evakuiert  wurde.  In  derProvinz  Hannover  wurden  Fluchtlinge  in 
erster  Linie  in  den  Regierungsbezirken  Stade  und  Liineburg  untergebracht,  in  den  ande- 
ren  Regierungsbezirken  der  Provinz  wurden  nur  Militarpflichtige  aulgenommen.  An 
den  Evakuierungsorten  kam  es  olt  zu  Konflikten  zwischen  den  Fliichtlingen  und  den 
Einheimischen,  da  erstere  kaum  Beschaftigungsmoglichkeiten  fanden  und  so  geradezu 
zum  MiiBiggang  gezwungen  waren.  Nach  der  Masurischen  Winterschlacht  im  Februar 
1915  konnten  die  russischen  Truppen  aus  OstpreuBen  zuruckgedrangt  werden,  so  dass 
die  Bevolkerung  in  ihre  Herkunltsorte  zuriickkehren  konnte.  Die  groBen  Zerstorungen 
in  den  bei  der  zweiten  russischen  Invasion  besetzten  Gebieten  aber  liihrten  in  den  ande- 
ren  Gebieten  des  Deutschen  Reiches,  so  auch  im  heutigen  Niedersachsen,  zur  Grundung 
von  Vereinen  zur  Unterstiitzung  der  Betrolfenen,  zu  Spendensammlungen  und  zur  Uber- 
nahme  von  Patenschalten  liir  ostpreuBische  Stadte  und  Kreise. 

Dr.  Manfred  Grieger  analysierte  in  seinem  Vortrag  „Migrationsformen  seit  den 
1930er  Jahren  am  Beispiel  der  Entwicklung  der  Stadt  Wolfsburg  und  des  Volkswagen- 
werks"  am  Beispiel  der  auf  eine  nationalsozialistische  Industrieansiedlung  zuriickgehen- 
den  Neustadt  Wolfsburg  eine  Vielzahl  von  Formen  der  Binnen-  und  grenziiberschreiten- 
den  Migration  des  20.  Jahrhunderts.  Die  Entstehung  der  Stadt  war  zunachst  mit  der 
Anwerbung  etlicher  tausend  italienischer  Bauarbeiter  verbunden,  die  dann  folgende 
Kriegswirtschaft  mit  der  Beschaftigung  von  Zwangsarbeitern,  v.  a.  Italienern,  Russen 
und  Juden.  Nach  dem  Ende  des  Zweiten  Weltkriegs  gaben  Fluchtlinge  und  Vertriebene 
der  jungen  Industriestadt  ihr  besonderes  Geprage.  Ab  1962  kam  es  dann  im  Zug  der  Ka- 
pazitatsausweitung  des  Volkswagenwerkes  zur  verstarkten  Anwerbung  von  Auslandern. 
In  jiingster  Vergangenheit  war  der  Zuzug  von  Spataussiedlern  aus  dem  zerfallenen  Ost- 
block  zu  verzeichnen.  Somit  ist  die  Geschichte  der  Stadt  Wolfsburg  wesentlich  von  einer 
Folge  von  sich  rasch  ablosenden  „Migrationsgeschichten"  bestimmt. 

Fur  den  abschlieBenden  Vortrag  und  die  Schlussdiskussion  iibernahm  Prof.  Dr.  Vogt- 
herr  die  Moderation.  Unter  dem  Titel  „Migration  und  Landesgeschichte"  fasste  Herr 
Prof.  Dr.  Wilfried  Reininghaus  (Diisseldorf )  die  Ergebnisse  der  Vortrage  der  Jahresta- 
gung zusammen.  Er  warf  zunachst  die  Frage  auf,  weshalb  Migration  erst  in  jiingster  Zeit 
verstarkten  Eingang  in  die  Landesgeschichte  findet.  Ein  Erklarungsmuster  konnte  darin 
bestehen,  dass  die  altere  Landesgeschichte  sich  auf  die  inlandische  Herrschaftsgeschich- 
te  konzentrierte,  worin  fur  Auswartige,  Fremde  und  Randgruppen  wenig  Platz  war. 
Nachdem  der  Referent  eine  systematische  ErschlieBung  der  auf  der  Jahrestagung  gehal- 
tenen  Vortrage  vorgenommen  hatte,  ging  er  schlieBlich  auf  Desiderate  der  Forschung 
ein  und  kritisierte  zunachst,  dass  im  Allgemeinen  mittelalterliche  Wanderungsbewegun- 
gen  von  der  Historischen  Migrationsforschung  kaum  wahrgenommen  wurden.  Dabei 
sei  beispielsweise  die  mittelalterliche  Stadtgeschichte  generell  in  hohem  MaB  von  Mi- 
gration gepragt.  Die  Landesgeschichte  erforsche  meistens  Zuwanderungen  nach  oder 
Abwanderungen  aus  dem  Gebiet,  welches  sie  untersucht.  Es  sei  jedoch  notwendig,  so- 
wohl  die  Herkunfts-  als  auch  die  Zuwanderungsorte  zu  betrachten.  Ferner  wurde  die 
Frage  nach  der  binnenlandischen  Migration  bei  der  auf  raumlich  groBere  Verlagerun- 
gen  blickenden  Migrationsforschung  oft  ausgeblendet.  Reininghaus  verdeutlichte  dies 
am  Beispiel  des  Zuzugs  aus  der  weiteren  Umgebung  in  das  Ruhrgebiet,  welcher  der  ostel- 
bischen  Zuwanderung  in  das  Industrierevier  voranging. 


602  Nachrichten 

An  den  Vortrag  von  Prof.  Dr.  Reininghaus  schloss  sich  eine  engagierte  Schlussdiskus- 
sion  an.  SchlieBlich  beschloss  Prof.  Dr.  Vogtherr  mit  einem  Dank  an  die  Referenten  das 
Vortragsprogramm. 

2.   Bericht  iiber  die  Mitgliederversammlung;Jahresbericht 

Die  Mitgliederversammlung  fand  am  Samstag,  dem  17.  Mai  2008,  im  Sitzungssaal  des 
Deutschen  Schifffahrtsmuseums  in  Bremerhaven  statt.  Der  Vorsitzende  derHistorischen 
Kommission,  Prof.  Dr.  Thomas  Vogtherr,  iibernahm  die  Versammlungsleitung,  eroffne- 
te  die  Versammlung  und  stellte  durch  Augenschein  die  Beschlussfahigkeit  fest.  Nach 
Ausweis  derTeilnehmerlisten  waren  58  Mitgliederund  Patrone  bzw.  Vertreter  von  Patro- 
nen  anwesend,  die  68  Stimmen  fiihrten.  Darauf  erhoben  sich  die  Anwesenden  zur  Eh- 
rung  der  Verstorbenen:  Die  Kommission  beklagte  im  vergangenen  Jahr  den  Tod  von 
Prof.  Dr.  Gerhard  Oberbeck  (f  10.04.2006),  Prof.  D.  Dr.  Hans-Walter  Krumwiede  (t  01. 
06.2007),  Dr.  Jurgen  Asch  (f  21.08.2007),  Prof.  Dr.  Walther  Mediger  (f  31.10.2007)  und 
Dr.  Birgit  Poschmann  (f  12.02.2008). 

AnschlieBend  erstattete  der  Geschaftsfiihrer,  Dr.  Christian  Hoffmann,  den  Jahres- 
und  Kassenbericht.  Zunachst  dankte  er  Frau  Gabriele  Giinther  und  Herrn  Uwe  Ohain- 
ski  in  der  Geschaftsstelle  der  Kommission  sowie  Frau  Petra  Diestelmann  im  Niedersach- 
sischen  Landesarchiv  -  Hauptstaatsarchiv  Hannover  -  fur  ihren  personlichen  Einsatz 
und  ihre  Hilfsbereitschaft  zugunsten  der  Kommission. 

An  wissenschaftlichen  Unternehmungen  konnten  vorangetrieben  oder  abgeschlossen 
werden: 

7.  Niedersdchsischesjahrbuch  fiir  Landesgeschichte 

Das  Niedersachsische  Jahrbuch  79  (2007)  wurde  gewohnt  piinktlich  vor  Weihnachten 
2007  ausgeliefert.  Der  von  Dr.  Manfred  von  Boetticher,  Dr.  Christine  van  den  Heuvel 
und  Dr.  Thomas  Franke  (Hannover)  redigierte  Band  enthalt  u.  a.  die  Vortrage  der  Jah- 
restagung  2006  in  Stade  zum  Thema  ,,1806  und  die  Folgen".  Bd.  80  (2008)  wird  u.  a.  die 
Vortrage  derjahrestagung2007in  Clausthal-Zellerfeld  zum  Thema  „Begrenzte  Ressour- 
cen.  Der  Umgang  mit  Rohstoffen  und  Energie  im  Mittelalter  und  in  der  Neuzeit"  ent- 
halten. 

2.  Monografien 

Seit  der  Jahrestagung  2007  sind  folgende  Werke  in  der  Veroffentlichungsreihe  der 
Kommission  erschienen: 

Bd.  236:   Peter  Przybilla,  Die  Edelherren  von  Meinersen.  Genealogie,  Herrschaft  und 
Besitz  vom  12.  bis  zum  14.  Jahrhundert.  2007. 

Bd.  239:   Gudrun  Husmeier,  Geschichtliches  Ortsverzeichnis  fiir  Schaumburg.  2008. 

Bd.  240:   Urkundenbuch  der  Stadt  Braunschweig,  Bd.  8:  1388-1400  samt  Nachtragen, 
bearbeitet  von  Josef  Dolle.  2008. 


Jahrestagung  der  Historischen  Kommission  603 

Bd.  241:    Urkundenbuch  des  Klosters  Walkenried,  Bd.  2:  1301-1500,  bearbeitet  von  Jo- 
sef Dolle.  2008. 

Bd.  242:  Thomas  Klapheck,  Der  heilige  Ansgar  und  die  karolingische  Nordmission. 
2008. 

Das  Geschichtliche  Ortsverzeichnis  fur  Schaumburg  ist  nicht  -  wie  die  anderen  genann- 
ten  Publikationen  -  bei  der  Hahnschen  Buchhandlung  in  Hannover  erschienen,  sondern 
im  Verlag  fur  Regionalgeschichte  in  Bielefeld.  Der  Verlag  fur  Regionalgeschichte  war  so 
freundlich,  Kommissionsmitgliedern  den  Band  vergiinstigt  anzubieten. 

Der  Geschaftsfiihrer  erlauterte  dann  den  Kassenbericht  fur  das  Jahr  2007.  Die  Einnah- 
men  und  Ausgaben  verteilten  sich  demnach  folgendermaBen: 

Einnahmen:  E001  (Vortrag):  294,44  €;  E100  (Beitrage  derStifter):  99.433,88  €;  E200  (Bei- 
trage  der  Patrone):  10.717,11  €;  E210  (Jahrestagung):  2.095,00  €;  E220  (Arbeitskreise): 
438,00  €;  E300  (Niedersiichsisches  Jahrbuch):  6.186,60  €;  E500  (Fordermittel  Dritter): 
10.000,00  €;  E600  (Zinsen):  123,47  €;  E620  (Verkauf  von  Veroffentlichungen) :  347,00  €; 
E630  (Kostenbeteiligung  an  Veroffentlichungen):  500,00  €.  Summe:  130.136,10  €. 

Ausgaben:  A110  (Verwaltung) :  5.295,68  €;  A120  (Personal):  19.994,86  €;  A210  (Jahresta- 
gung): 5.193,23  €;  A221-224  (Arbeitskreise):  1.427,19  €;  A300  (Niedersiichsisches Jahr- 
buch): 19.870,00  €;  A400  (Projekte):  50.937,17  €;  A500  (Fordermittel  Dritter): 
10.000,00  €;  A900  (Sonstiges):  119,00  €.  Summe:  112.837,13  €. 

Die  Einnahmen  und  Ausgaben  bewegten  sich  damit  weitgehend  im  kalkulierten  Rah- 
men.  Der  Kassenstand  wies  zumjahresende  2007  ein  Guthaben  in  Hohe  von  17.298,97  € 
auf.  Zwischen  Gesamteinnahmen  in  Hohe  von  129.841,66  €  (gerechnet  ohne  den  Vor- 
trag aus  2007)  und  Gesamtausgaben  in  Hohe  von  112.837,13  €  bestand  eine  Differenz  in 
Hohe  von  17.004,53  €.  Diese  Differenz  resultiert  daher,  dass  fur  2007  geplante  Projekt- 
ausgaben  erst  im  Januar  2008  zum  Tragen  kommen  konnten.  Gegeniiber  dem  Ministeri- 
um  fiir  Wissenschaft  und  Kulturzu  rechtfertigende  Verfallsfristen  sind  nicht  eingetreten; 
es  ist  auch  davon  auszugehen,  dass  das  Ministerium  die  so  entstandene,  sachlich  aber  ja 
begriindete  Abweichung  vom  Wirtschaftsplan  fiir  2007  nicht  beanstandet.  Die  Forder- 
mittel Dritter  in  Hohe  von  10.000  €  stammen  von  der  Landschaft  des  vormaligen  Fiir- 
stentums  Hildesheim  und  sind  fiir  die  Bearbeitung  der  Landtagsabschiede  des  Hochstifts 
Hildesheim  1689-1802  verwendet  worden. 

Die  Kassenpriifung  ist  am  30.  Januar  2008  durch  Herrn  Dr.  Otto  Merker  und  Herrn 
Heribert  Merten  erfolgt;  es  haben  sich  keine  Beanstandungen  ergeben.  Herr  Dr.  Merker 
beantragte  demzufolge  die  Entlastung  des  Vorstandes  und  des  Schatzmeisters.  Die 
Mitgliederversammlung  gewahrte  daraufhin  ohne  Gegenstimme  die  Entlastung  des 
Vorstandes  und  des  Schatzmeisters. 

AnschlieBend  erlauterte  der  Geschaftsfiihrer  den  Wirtschaftsplan  fiir  das  Jahr  2008. 
Der  Wirtschaftsplan  ist  im  November  2007  beim  Ministerium  fiir  Wissenschaft  und  Kul- 
tur  eingereicht  worden  und  den  Mitgliedern  und  Patronen  mit  der  Einladung  zur  Mit- 
gliederversammlung zugegangen.  Einleitend  war  zu  bemerken,  dass  der  Antrag  auf  Er- 
hohung  der  Mittel  der  Kommission  um  14. 714,00  €  als  Ausgleich  fiir  die  Erhebung  einer 
Mehrwertsteuer  auf  Druckkostenzuschiisse  vom  Finanzministerium  abgelehnt  worden 
ist.  Das  Ministerium  fiir  Wissenschaft  und  Kultur  hat  jedoch  zusatzlich  zu  derfestgesetz- 
ten  Fordersumme  von  94.300  €  aus  eigenen  Mitteln  der  Kommission  fiir  das  Wirtschafts- 


604  Nachrichten 

jahr  2008  weitere  6.500  €  bewilligt.  Somit  hat  das  Ministerium  der  Kommission  fur  das 
Wirtschaftsjahr  2008  Mittel  in  Hohe  von  100.800  €  bereitgestellt.  Das  Ministerium  hat 
ferner  empfohlen,  den  Antrag  auf  Erhohung  der  Mittel  jahrlich  zu  wiederholen. 

Die  projektierten  Einnahmen  und  Ausgaben  fur  das  Jahr  2008  verteilen  sich  demnach 
folgendermaBen. 

Einnahmen:  E100  (Beitrage  der  Stifter):  102.233,88  €;  E200  (Beitrage  der  Patrone): 
9.000,00  €;  E210  (Jahrestagung):  1.000,00  €;  E220  (Arbeitskreise):  260,00  €;  E300 
(Niedersachsischesjahrbuch):  6.200,00  €;  E400  (Projekte):  2.000,00  €;  E610  (Zinsen): 
100,00  €;  E620  (Verkauf  von  Veroffentlichungen) :  500,00  €.  Summe:  121.293,88  €. 

Ausgaben:  A110  (Verwaltung):  5.700,00  €;  A  120  (Personal):  19.000,00  €;  A210  (Jahresta- 
gung): 4.500,00  €;  A221-224  (Arbeitskreise):  2.400,00  €;  A300  (Niedersachsischesjahr- 
buch): 23.000,00  €;  A400  (Projekte):  66.693,88  €.  Summe:  121.293,88  €. 

Die  Mitgliederversammlung  erklarte  sich  ohne  Gegenstimme  mit  dem  Wirtschaftsplan 
fur  2008  einverstanden. 

Fur  die  nun  anstehenden  Wahlen  bestimmte  die  Mitgliederversammlung  auf  Vorschlag 
des  Vorstands  Frau  Dr.  Sabine  Graf  (Hannover)  ohne  Gegenstimme  zur  Wahlleiterin.  Ihr 
wurden  als  Heifer  zur  Seite  gestellt  Frau  Dr.  Kirstin  Casemir  (Gottingen /Minister),  Frau 
Diestelmann,  Frau  Giinther,  Herr  Dr.  Arend  Mindermann  (Stade),  Herr  Ohainski  und 
Frau  Dr.  Ida-Christine  Riggert-Mindermann  (Stade).  Erforderlich  war  turnusmaBig  die 
Wahl  eines/einer  Stellvertretenden  Vorsitzenden.  Der  Vorstand  schlug  der  Versamm- 
lung  die  Wiederwahl  der  bisherigen  Stellvertretenden  Vorsitzenden  Dr.  Christine  van 
den  Heuvel  vor.  Weitere  Kandidaten  wurden  nicht  nominiert. 

Als  Kandidatinnen  und  Kandidaten  fur  die  Zuwahl  als  Mitglieder  waren  Herr  Prof. 
Dr.  Arnfried  Edler  (Hannover),  Herr  Dr.  Dr.  Wolfgang  Dorfler  (Gyhum),  Herr  Prof.  Dr. 
Dietrich  Hagen  (Oldenburg),  Herr  Dr.  Karsten  Igel  (Osnabruck),  Frau  PD  Dr.  Daniela 
Miinkel  (Gottingen) ,  Herr  Prof.  Dr.  Klaus  Niehr  (Osnabruck) ,  Herr  Dr.  Christian  Oster- 
sehlte  (Bremen),  Frau  Dr.  Regina  RoBner  (Hannover),  Herr  Dr.  Peter  M.  Steinsiek  (Got- 
tingen) und  Herr  Dr.  Dr.  Karl  H.  L.  Welker  (Frankfurt/M.)  vorgeschlagen  worden.  So- 
wohl  die  Kandidatin  fur  das  Amt  des  /  der  Stellvertretenden  Vorsitzenden  der  Kommissi- 
on wie  auch  die  Kandidatinnen  und  Kandidaten  fur  die  Zuwahl  als  Mitglieder  waren 
durch  die  den  Mitgliedern  vorab  mitgeteilten  biographischen  Informationen  genugend 
charakterisiert,  so  dass  von  der  bislang  iiblichen  Vorstellung  durch  den  jeweils  Vorschla- 
genden  abgesehen  werden  konnte.  Danach  stimmten  die  Mitglieder  und  Patrone  in  ge- 
heimer  Wahl  auf  zwei  farblich  unterschiedlichen  Wahlscheinen  iiberdie  Kandidatinnen 
und  Kandidaten  ab. 

Wahrend  das  Wahlkomitee  sich  an  die  Auszahlung  der  Stimmzettel  machte,  teilte  der 
Geschaftsftihrer  der  Mitgliederversammlung  mit,  dass  die  Stadt  Liibeck  leider  ihr  Patro- 
nat  zum  Jahresende  2007niedergelegt  hatte.  Neue  Antrage  auf  Ubernahme  eines  Patro- 
nats  lagen  von  der  Arbeitsstelle  Germania  Sacra  bei  der  Akademie  der  Wissenschaften 
zu  Gottingen  und  der  Hahnschen  Buchhandlung,  Hannover,  vor.  Beide  Antragsteller 
wurden  ohne  Gegenstimme  als  Patrone  in  die  Kommission  aufgenommen. 

Es  schlossen  sich  die  Berichte  der  Arbeitskreise  an.  Zunachst  erstattete  fur  den  Arbeits- 
kreis  „Wirtschafts-  und  Sozialgeschichte"  dessen  Sprecher,  Herr  Prof.  Dr.  Carl-Hans 


Jahrestagung  der  Historischen  Kommission  605 

Hauptmeyer,  den  Bericht.  Der  Arbeitskreis  beschaftigte  sich  in  seiner  Sitzung  am  17.  No- 
vember 2007  im  Niedersachsischen  Landesarchiv  -  Hauptstaatsarchiv  Hannover  mit 
„wirtschafts-  und  sozialhistorischen  Aspekten  des  Sports  in  Nordwestdeutschland".  Das 
Friihjahrstreffen  des  Arbeitskreises  am  8.  Marz  2008  im  Nordwestdeutschen  Museum  fiir 
Industrie-Kultur  in  Delmenhorst  erfolgte  zum  Thema  „Proto-Industrialisierung  -  In- 
dustrialisierung  -  De-Industrialisierung  in  Nordwestdeutschland". 

Die  Aktivitaten  des  Arbeitskreises  „Geschichte  des  19.  und  20.  Jahrhunderts"  wurden 
von  dessen  Sprecher,  Herrn  Prof.  Dr.  Detlef  Schmiechen-Ackermann  (Hannover),  vor- 
gestellt.  Der  Arbeitskreis  traf  sich  am  13.  Oktober2007im  Niedersachsischen  Landesar- 
chiv -  Hauptstaatsarchiv  Hannover  zur  Beschaftigung  mit  dem  Thema  „Hochschulen 
und  Politikin  Niedersachsen  1945-1970".  Das  Friihjahrstreffen  des  Arbeitskreises  am  16. 
Februar  2008  im  Historischen  Museum  in  Hannover  setzte  sich  mit  „Kultur,  Gesellschaft 
und  Politik  im  Wandel  -  Niedersachsen  in  der  Umbruchszeit  1965-1975"  auseinander. 

Herr  Dr.  Werner  Meiners  (Wardenburg)  erstattete  den  Bericht  fiir  den  Arbeitskreis  „Ge- 
schichte  derjuden".  Der  Arbeitskreis  versammelte  sich  am  19.  September  2007  im  Ost- 
friesischen  Landesmuseum  in  Emden,  um  iiber  die  Verbiirgerlichung  derjuden  in  Nord- 
westdeutschland zu  diskutieren.  Die  Beschaftigung  mit  diesem  Thema  wurde  auf  dem 
Friihjahrstreffen  des  Arbeitskreises  am  12.  Marz  2008  im  Rathaus  der  Stadt  Luneburg 
fortgesetzt. 

Fiir  den  Arbeitskreis  „Geschichte  des  Mittelalters"  erstattete  der  Geschaftsfiihrer  in  Ver- 
tretung  des  Sprechers,  Herrn  Dr.  Manfred  von  Boetticher  (Hannover),  den  Bericht.  Der 
Arbeitskreis  trat  am  24.  November  2007  im  Niedersachsischen  Landesarchiv  -  Haupt- 
staatsarchiv Hannover  zusammen,  um  sich  mit  der  Entwicklung  der  Forschung  zur  Ge- 
schichte  des  Mittelalters  zu  beschaftigen.  Am  12.  April  2008  versammelte  sich  der  Ar- 
beitskreis abermals  im  Niedersachsischen  Landesarchiv-  Hauptstaatsarchiv  Hannover, 
um  sich  iiber  Erfahrungen  und  Planungen  bei  der  Erarbeitung  von  Klosterbiichern  zu  in- 
formieren. 

Unter  dem  Tagesordnungspunkt  „Neu  eingereichte  Arbeiten  und  laufende  Projekte" 
konnte  zunachst  der  Geschaftsfiihrer  berichten,  dass  zur  Publikation  in  der  Veroffentli- 
chungsreihe  der  Kommission  folgende  Manuskripte  vom  Ausschuss  angenommen  wor- 
den  sind  bzw.  schon  zur  Kalkulation  vorliegen  bzw.  sich  bereits  im  Druck  befinden: 

-  Thomas  Klingebiel,  Landtagsabschiede  des  Hochstifts  Hildesheim  1689-1802 

-  Arend  Mindermann,  Landtagsabschiede  des  Erzstifts  Bremen  und  des  Hochstifts 
Verden  bis  1648 

-  Elisabeth  von  der  Pfalz,  Abtissin  von  Herford  1618-1680.  Eine  Biographie  in  Einzel- 
darstellungen,  hrsg.  v.  Helge  Bei  der  Wieden 

-  Konversionen  vonjuden  zum  Christentum  in  Nordwestdeutschland,  hrsg.  v.  Werner 
Meiners 

-  Helga-Maria  Kiihn,  Eine  fiirstliche  Hexe?  Sidonia,  Herzogin  zu  Braunschweig-Liine- 
burg,  geborene  Herzogin  zu  Sachsen  1518-1575 

-  Sohnke  Thalmann,  Ablassiiberlieferung  und  Ablasshandel  im  spatmittelalterlichen 
Bistum  Hildesheim 

-  Urkundenbuch  des  Klosters  Weende,  bearb.  v.  Hildegard  Krosche 

Mehrere  weitere  Manuskripte  lagen  zur  Begutachtung  vor. 


606  Nachrichten 

Die  Arbeiten  am  Handbuch  „Geschichte  Niedersachsens"  haben  im  Berichtszeitraum 
gute  Fortschritte  gemacht.  Prof.  Dr.  Vogtherr  berichtete  vom  Projekt  der  Neubearbei- 
tung  des  1985  erschienenen  Bandes  1 :  Grundlagen  und  friihes  Mittelalter  und  stellte  die 
gemeinsam  mit  Herrn  PD  Dr.  Peter  Aufgebauererarbeitete  Konzeption  fur  Band  2/2,  der 
die  „nichtpolitische"  Geschichte  des  hohen  und  spaten  Mittelalters  enthalten  wird,  vor. 
Der  Herausgeber  des  Bandes  4:  19.  Jahrhundert,  Heir  Dr.  Stefan  Briidermann  (Biicke- 
burg),  berichtete  iiber  den  derzeitigen  Sachstand,  dass  die  durch  den  Herausgeberwech- 
sel  bedingte  Neukonstitution  des  Mitarbeiterkreises  dieses  Bandes  weitgehend  abge- 
schlossen  sei.  HerrProf.  Dr.  Gerd  Steinwascher  (Oldenburg)  berichtete  als  Herausgeber 
des  Bandes  5 :  20Jahrhundert,  dass  die  Beitrage  zu  diesem  Band  weitgehend  vorliegen. 

Das  Projekt  „Niedersachsische  Landtagsabschiede  und  Landtagsakten"  hat  im  Berichts- 
zeitraum erfreulich  groBe  Fortschritte  gemacht.  Herr  Dr.  Brage  Bei  der  Wieden  (Wolfen- 
biittel)  konnte  als  Herausgeber  berichten,  dass  die  Arbeiten  am  zweiten  Band  des  Hand- 
buchs  der  niedersachsischen  Landtags-  und  Standegeschichte,  der  den  Zeitraum  von 
1815  bis  1946  umfassen  wird,  weitgehend  abgeschlossen  seien.  Die  ErschlieBung  und 
Edition  von  Landtagsakten  des  Hochstifts  Hildesheim  von  1689  bis  1802  konnte  im  Be- 
richtszeitraum abgeschlossen  werden,  das  Werk  ist  im  Druck.  Auch  die  Bearbeitung  der 
Landtagsakten  des  Erzstifts  Bremen  und  des  Hochstifts  Verden  bis  zur  Sakularisierung 
dieser  beiden  geistlichen  Territorien  1648  ist  im  Berichtszeitraum  zum  Abschluss  ge- 
bracht  worden;  dieses  Werk  ist  ebenfallsim  Druck.  ZurFortfuhrungdes  Projekts  sind  aus 
Mitteln  der  Kommission  Werkvertrage  zur  Vorbereitung  entsprechender  Publikationen 
fur  das  Fiirstentum  Ostfriesland  1708-1807  und  das  Fiirstentum  Braunschweig-Wolfen- 
biittel  1665-1805  vergeben  worden.  Eine  entsprechende  Bearbeiterin  fur  das  Hochstift 
Osnabriick  in  der  Zeit  von  1761  bis  1802/03  konnte  fur  die  zweite  Jahreshalfte  2008  ge- 
wonnen  werden. 

Auch  das  Projekt  „Historische  Stadteansichten"  hat  gute  Fortschritte  gemacht.  Frau  Dr. 
van  den  Heuvel  berichtete,  dass  die  Ansichten-Recherche  zu  mehreren  Orten  im  Elbe- 
Weser-Raum  (Bederkesa,  Bremervorde,  Buxtehude,  Cuxhaven,  Otterndorf,  Ottersberg, 
Rotenburg,  Stade,  Verden  und  Zeven)  abgeschlossen  werden  konnte.  189  Ortsansichten 
wurden  digitalisiert  und  nach  dem  vorgegebenen  Katalog  beschrieben.  Eine  Eingabe  in 
die  Gesamtdatenbank  wird  in  der  Geschaftsstelle  demnachst  erfolgen.  Damit  sind  die 
Vorarbeiten  im  Bereich  des  Niedersachsischen  Landesarchivs  -  Staatsarchiv  Stade  ab- 
geschlossen. 

Frau  Dr.  Graf  berichtete  iiber  die  Fortschritte  des  Projekts  „Corpus  der  Welfensiegel". 
Die  technischen  und  organisatorischen  Voraussetzungen  fur  eine  Internetprasentation 
der  Datenbank  seien  nunmehr  geschaffen.  Im  Wesentlichen  sei  nur  noch  die  Endredakti- 
on  zu  leisten.  Beide  Datenbanken  -  sowohl  die  Stadteansichten  als  auch  die  Welfensiegel 
-  wurden  auf  dem  Tag  der  Landesgeschichte  im  Niedersachsischen  Landtag  in  Hanno- 
ver im  September  2007  erstmals  offentlich  vorgestellt. 

Wie  der  Vorsitzende  anschlieBend  ausfiihrte,  plant  das  Institut  fur  Historische  Landes- 
forschung  der  Universitat  Gottingen  ein  Niedersachsisches  Klosterbuch,  welches  die 
Kloster,  Stifte  und  Kommenden  in  Niedersachsen  und  Bremen  bis  zur  Sakularisation 
1802/03  behandeln  soil,  und  bittet  die  Historische  Kommission  und  ihre  Mitglieder,  die- 
ses Projekt  unterstiitzend  mitzutragen.  Der  Vorsitzende  empfahl  den  Anwesenden  die 
Mitwirkung  an  diesem  Projekt. 


Jahrestagung  der  Historischen  Kommission  607 

Die  neueren  Bande  des  Niedersachsischenjahrbuchs  mit  Ausnahme  des  jeweils  aktuel- 
len  Bandes  sollen  in  Kiirze  iiber  die  Homepage  der  Kommission  online  abrufbar  sein.  Es 
gilt  hier  noch,  die  entsprechenden  Modalitaten  hinsichtlich  des  Copyrights  usw.  mit  der 
Hahnschen  Buchhandlung  schriftlich  zu  klaren;  miindlich  ist  eine  Einverstandniserkla- 
rung  des  Verlags  bereits  ausgesprochen. 

Die  Mailingliste  der  Kommission  ermoglicht  nach  dem  Stand  vom  6.  Mai  dieses  Jahres 
inzwischen  230  Mitgliedern  den  Austausch  wissenschaftlicher  Informationen.  Weitere 
Teilnehmerinnen  und  Teilnehmer  sind  jederzeit  willkommen.  Die  Anmeldung  erfolgt 
unter:  www.historische-kommission.niedersachsen.de. 

Dann  gab  Frau  Dr.  Graf  die  inzwischen  vorliegenden  Ergebnisse  der  Wahlen  bekannt. 
Die  Versammlung  hat  Frau  van  den  Heuvel  mit  64  Ja-Stimmen  (bei  einer  Nein-Stimme 
und  drei  Enthaltungen)  im  Amt  bestatigt.  Zu  neuen  Mitgliedern  wahlte  die  Versamm- 
lung mehrheitlich:  Prof.  Dr.  Arnfried  Edler,  Dr.  Dr.  Wolfgang  Dorfler,  Prof.  Dr.  Dietrich 
Hagen,  Dr.  Karsten  Igel,  PD  Dr.  Daniela  Miinkel,  Prof.  Dr.  Klaus  Niehr,  Dr.  Christian 
Ostersehlte,  Dr.  Regina  RoBner,  Dr.  Peter  M.  Steinsiek  und  Dr.  Dr.  Karl  H.  L.  Welker. 

Die  nachste  Jahrestagung  der  Kommission  wird  auf  Einladung  der  Stadt  Gottingen  am 
15./16.  Mai  2009  zum  Thema  „Biirgertum  in  Nordwestdeutschland  im  ,langen'  19.Jahr- 
hundert"  erfolgen.  Die  Jahrestagung  2010  zum  100-jahrigen  Jubilaum  der  Kommission 
soil  in  Hannover  stattfinden. 

Unter  dem  Punkt  ,Verschiedenes"  machte  der  Geschaftsfiihrer  darauf  aufmerksam,  dass 
zum  Tag  der  Landesgeschichte  im  September  2007  ein  neuer  Flyer  bearbeitet  und  auBer- 
dem  das  Gesamtverzeichnis  der  Veroffentlichungen  der  Kommission  in  aktualisierter 
Form  zum  Druck  befordert  worden  sind. 

Der  Vorsitzende  wies  darauf  hin,  dass  die  Kommission  am  31.  Oktober/1.  November 
2008  zu  Ehren  ihres  ehemaligen  Vorsitzenden  Prof.  Dr.  Heinrich  Schmidt  (Oldenburg), 
der  in  diesem  Jahr  seinen  80.  Geburtstag  feiert,  ein  Kolloquium  in  Oldenburg  durch- 
fiihren  wird. 

Mit  einem  Dank  an  alle  Anwesenden  schloss  Prof.  Dr.  Vogtherr  die  Versammlung. 

Hannover  Christian  Hoffmann 


Berichte  aus  den  Arbeitskreisen 


Arbeitskreis  Wirtschafts-  und  Sozialgeschichte 


Der  Arbeitskreis  trat  zunachst  am  17.  November  2008  im  Hauptstaatsarchiv  Hannover 
zusammen.  DerSprecher,  sein  Stellvertreter  und  die  Geschaftsfuhrerin  (s.u.)  wurden  fur 
zwei  weiterejahre  im  Ami  bestatigt.  Das  Thema  des  wissenschaftlichen  Tagungsteils  lau- 
tete:  „Sportin  Nordwestdeutschland:  wirtschafts-  und  sozialhistorische  Aspekte".  Es  tru- 
gen  vor:  Harald  Lonnecker  (Koblenz):  Die  Akademische  Segler-Abteilung  Deutscher 
Burschenschafter  e.  V.  (Akaseg)  in  Hannover  -  Lorenz  Peiffer  (Hannover) :  Aspekte  einer 
Geschichte  des  jiidischen  Sports  in  Niedersachsen  bis  zum  Jahre  1938  -  Rita  Seidel 
(Hannover) :  Hochschulsport  in  Hannover.  Von  der  Weimarer  Republik zum  Nationalso- 
zialismus  -  Insa  Schlumbohm  (Bonn):  DSC  Arminia  Bielefeld.  Das  lOOjahrige  Jubilaum 
und  eine  Sonderausstellung  -  Heiko  Geiling  (Hannover) :  FuBball  und  Gesellschaft.  Eine 
Spielanalyse  -  Tim  Cassel  (Kiel):  Gewaltpravention  im  FuBballsport.  Wegen  des  regen 
Interesses  wird  die  Tagung  am  15.  November  2008  in  Hannover  mit  weiteren  Referaten 
fortgesetzt.  Eine  Publikation  der  Beitrage  wird  erwogen. 

Die  zweite  Versammlung  fand  auf  Einladung  des  Nordwestdeutschen  Museums  fur 
Industriekultur  unter  der  Leitung  von  Prof.  Dr.  Hans  Werner  Niemann  und  Prof.  Dr. 
Gerhard  Kaldewei  am  8.  Marz  2008  in  Delmenhorst  statt,  und  zwar  zum  Thema  „Proto- 
Industrialisierung  -  Industrialisierung  -  DeTndustrialisierung  in  Nordwestdeutsch- 
land". Es  referierten:  Gerhard  Kaldewei  (Delmenhorst):  „Und  das  ist  immer  Delmen- 
horst .  .  ."  Zum  Kontext  von  Proto-Industrialisierung,  Industrialisierung  und  DeTn- 
dustrialisierung am  Beispiel  der  ,,Delmenhorster  Industriekultur"  -  Hans-Hermann 
Precht  (Delmenhorst):  Friihe  Globalisierungstendenzen  der  Textilindustrie  in  Delmen- 
horst und  Bremen  bis  1933  -  Ralf  Springer  (Munster):  Industrialisierung  und  Soziale 
Frage.  Von  der  Nordwolle  zu  Carl  Zeiss  Jena.  Erfahrungen  und  Losungsvorschlage  des 
Sozialreformers  und  Politikers  Friedrich  Schomerus  (1876-1963)  -  Christina  Reinsch 
(Teipzig):  Industriekultur  im  Raum  Weser-Ems.  Ein  Dokumentationsprojekt  -  Michael 
Mende  (Braunschweig):  Zur  „Animation"  geraumter  Immobilien  oder  der  Umgang  mit 
dem  Erbe  der  Textilindustrie  in  Nordhorn  und  Delmenhorst  -  Martin  Koplin  (Bremen): 
MORITZ,  ein  mobiler  virtueller  Rundgang  zu  textilindustriellen  Zentren  in  Europa: 
Delmenhorst,  Lodz,  Riga. 

Weiterhin  trifft  sich  zwei  Mai  pro  Jahr  die  von  Prof.  Dr.  Karl  Heinrich  Kaufhold 
geleitete  „Projektgruppe  Harz",  die  weitere  Publikationen  plant. 


Kontakte 

Sprecher      Prof.  Dr.  Carl-Hans  Hauptmeyer,  Leibniz  Universitat 
Hannover,  Historisches  Seminar,  Im  Moore  21, 
30167  Hannover,  Tel:  (0511)762-4201,  Fax:  (0511)762-4479, 
E-Mail:  hauptmeyer@hist.uni-hannover.de 


Berichte  aus  den  Arbeitskreisen  609 

Stellv.  Sprecher      Prof.  Dr.  Hans-Werner  Niemann,  Universitat  Osnabruck, 
Fb.  2  -  Kultur-  und  Geowissenschaften,  Wirtschafts-  und 
Sozialgeschichte,  SchloBstr.  8,  49069  Osnabruck, 
Tel:  (0541)969-4798,  E-Mail:  hanieman@uni-osnabrueck.de 

Schriftfiihrerin  Dr.  Gudrun  Fiedler,  Staatsarchiv  Stade,  Am  Sande  4c, 
21682  Stade,  Tel:  (04141)406-407,  Fax:  (04141)406-400, 
E-Mail:  gudrun.fiedler@nla.niedersachsen.de 


Arbeitskreis  fur  die  Geschichte  des  19.  und  ZO.Jahrhunderts 


Die  Herbsttagung  des  Arbeitskreises  fand  am  13.  Oktober  2007  im  Hauptstaatsarchiv 
Hannover  zum  Thema  „Hochschulen  und  Politik in  Niedersachsen  nach  1945"  statt.  Ein- 
fiihrend  sprach  Daniela  Miinkel  (Hannover/Gottingen)  iiber  das  Thema  „Zwischen  Ex- 
pansion und  Demokratisierung.  Hochschulpolitikin  der  Bundesrepublikzwischen  1950 
und  1976".  Die  deutschen,  aber  auch  die  anderen  westeuropaischen  Hochschulen  stan- 
den  seit  den  fiinfzigerjahren  vor  einem  grundlegenden  Wandlungsprozess.  Dieser  fand 
sein  vorlaufiges  Ende  in  der  zweiten  Halfte  der  siebzigerjahre  nach  der  Etablierung  von 
Massenuniversitaten  und  der  Ablosung  der  alten  Ordinarienuniversitat  durch  die  neue 
Gruppenuniversitat.  Die  Themen  Ausbildung  im  Allgemeinen  und  Hochschulausbil- 
dung  im  Speziellen  avancierten  mit  einem  Vorlauf  in  den  spaten  vierziger  und  fiinfziger 
vor  allem  in  den  sechzigerjahren  zu  einem  ebenso  herausragenden  wie  kontroversen  Po- 
litikfeld.  Die  Erweiterung  der  universitaren  Kapazitaten  und  die  Erhohung  der  Studie- 
rendenzahlen  wurde  zu  einer  der  Schicksalsfragen  fur  die  gesellschaftliche  und  oko- 
nomische  Zukunft  der  westeuropaischen  Industrienationen  erklart.  Die  Losung  des 
Problems  erblickten  Experten  und  Politiker  zunachst  im  Ausbau  der  vorhandenen  und 
der  Griindung  von  neuen  Universitaten  sowie  seit  Ende  der  sechziger  Jahre  in  der  Kon- 
zeption  von  neuen  Hochschultypen  wie  den  Gesamthochschulen.  Dass  eine  rein  quanti- 
tative Erweiterung  von  Hochschulen,  Personal  und  Studienplatzen  nicht  die  Losung  der 
Bildungsmisere  sein  konnte,  war  alien  mit  diesen  Fragen  befassten  Personen  und 
Gruppen  von  Beginn  an  klar.  So  entwickelten  sich  Forderungen,  die  die  Expansion  des 
Hochschulwesens  unter  zwei  Aspekten  mit  Fragen  der  Demokratisierung  verbanden: 
Zum  einen  implizierte  die  Expansion  auch  die  Forderung  nach  der  Offnung  der  Univer- 
sitaten fur  alle  Bevolkerungsschichten.  Zum  anderen  sollte  eine  Demokratisierung  der 
Institution  Universitat  im  Hinblick  auf  die  Erweiterung  der  Partizipation  bisher  nicht  be- 
teiligter  Statusgruppen  erfolgen. 

Der  Vortrag  von  Frauke  Steffens  (Hannover)  trug  den  Titel:  „  Jnnerlich  gesund  an  der 
Schwelle  einer  neuen  Zeit.'  Der  Umgang  der  Technischen  Hochschule  Hannover  mit  der 
NS-Vergangenheit  1945-1956".  Beleuchtet  wurden  sowohl  die  institutionellen  vergan- 
genheitspolitischen  MaBnahmen  derHochschulleitungund  des  Senates  als  auch  derdis- 
kursive  Umgang  mit  der  nationalsozialistischen  Zeit.  Dabei  standen  sowohl  Aspekte  des 
Beschweigens  als  auch  der  aktiven  Interpretation  der  politischen  Vergangenheit  im  Vor- 
dergrund.  Die  technischen  Akademiker  thematisierten  nach  1945  die  NS-Zeit  in  einer 


610  Nachrichten 

selektiven  Form  und  waren  dabei  auch  auf  der  Suche  nach  einer  fur  die  Zukunft  positiv 
ankniipfungsfahigen  Deutung.  Die  aktive  Beteiligung  der  Forscher  am  NS-System,  zu 
der  etwa  die  Mitwirkung  in  der  Riistungsforschung  und  die  Ausbeutung  von  Zwangs- 
arbeiter(innen)  aus  Ost-  und  Westeuropa  gehort  hatten,  wurde  nach  Kriegsende  weitge- 
hend  beschwiegen.  Der  negative  Bezug  auf  einzelne,  auch  von  der  Presse  thematisierte 
Falle  nationalsozialistisch  besonders  engagierter  Professoren  diente  den  Wissenschaft- 
lern  oftmals  zur  symbolischen  Distanzierung  vom  NS-Staat.  Die  offizielle  Sprachrege- 
lung  war,  dem  umfangreichen  Beitrag  der  hannoverschen  Wissenschaftler  zur  Kriegsfor- 
schung  zum  Trotz,  die  Hochschule  stehe  „innerlich  gesund  an  der  Schwelle  einer  neuen 
Zeit".  Die  TH  Hannover  wurde,  vor  allem  mit  Bezug  auf  die  schweren  Bombenscha- 
den,  hauptsachlich  als  Opfer  des  Krieges  dargestellt.  Es  gelang  zudem,  das  Bild  einer  an 
sich  „unpolitischen",  neutralen  Wissenschaft  zu  festigen,  die  vom  NS-System  „miss- 
braucht"  worden  sei.  Die  Reflektion  der  politischen  und  ethischen  Zusammenhange 
technischen  Handelns  wurde  weitgehend  in  auBerfachliche  Kontexte  delegiert.  Nicht 
zuletzt  durch  die  aktive  Interpretation  der  NS-Zeit  gelang  es  den  Akademikern,  ihren  ge- 
sellschaftlichen  Einfluss  zu  bewahren  und  eine  positive  Imagepolitik  der  Hochschule  zu 
entwickeln. 

Oliver  Schael  (Gottingen)  analysierte  in  seinem  Vortrag  den  Aufbau  und  das  Schei- 
tern  der  noch  wenig  erforschten  „Hochschule  fur  Arbeit,  Politik  und  Wirtschaft"  (APo- 
Wi) ,  die  sich  von  1949  bis  1962  in  Wilhelmshaven-Riistersiel  befand.  Dieses  ambitionier- 
teste  Hochschulreformprojekt  der  ersten  Nachkriegsjahre  in  Westdeutschland  war  das 
Ergebnis  einer  fundamentalen  Kritik  der  Arbeiterbewegung  an  einer  sozial  abgehobe- 
nen  Elite,  die  an  den  traditionellen  Hochschulen  ausgebildet  wurde  und  1933  politisch- 
moralisch  versagt  hatte.  Diese  Kritik  an  den  gesellschaftlichen  Fiihrungskraften  war 
gleichwohl  eine  transnationale:  Nur  ein  Jahr  nach  der  Wilhelmshavener  Grundung 
unternahm  A.  D.  Lindsay  in  dem  britischen  Dorf  Keele  ein  ganz  ahnliches  hochschul- 
politisches  Experiment.  Der  religiose  Sozialist  Lindsay  hatte  maBgeblich  die  Reformvor- 
schlage  des  „Blauen  Gutachtens"  von  1948  beeinflusst,  von  denen  viele  sowohl  in  Wil- 
helmshaven  als  auch  in  Keele  umgesetzt  wurden.  Neben  protestantischen  Glaubensvor- 
stellungen  verbanden  sich  dabei  Elemente  der  Erwachsenenbildung  mit  Ansatzen  der 
jugendbewegten  Reformpadagogik.  So  liberalisierte  die  APoWi  den  Hochschulzugang 
durch  die  Zulassung  von  Nichtabiturienten,  konzipierte  einen  neuen  sozialwissenschaft- 
lichen  Studiengang  und  versuchte,  das  Verhaltnis  zwischen  Lehrenden  und  Lernenden 
durch  ein  gemeinsames  Leben  und  Arbeiten  im  Hochschuldorf  Riistersiel  neu  zu  be- 
stimmen.  Auch  vergangenheitspolitisch  ging  sie  zunachst  neue  Wege:  Der  NS-Wider- 
standler  Wolfgang  Abendroth  wurde  Grundungsrektor  und  Riidiger  von  Tresckow, 
Sohn  des  20.  Juli-Generals  Henning  von  Tresckow,  erster  AStA-Vorsitzender.  Anders  als 
ihre  „Schwesterhochschule"  in  Keele  geriet  die  APoWi  als  alternative  „College-Hoch- 
schule"jedoch  zwischen  alle  Fronten:  Die  Gewerkschaften  entzogen  der  Hochschule  die 
Unterstiitzung,  da  sie  in  ihr  eine  Konkurrenz  fur  die  eigenen  Sozialakademien  in  Dort- 
mund, Hamburg  und  Frankfurt  sahen.  Die  „alten"  Hochschulen  schlossen  ebenfalls  er- 
folgreich  ihre  Reihen  gegen  den  akademischen  AuBenseiter.  In  ihrem  Bemiihen,  die  voi- 
le wissenschaftliche  Anerkennung  zu  erreichen,  glich  sich  der  Wilhelmshavener  Lehr- 
korper  den  herrschenden  akademischen  Normen  immer  weiter  an:  Der  Rektor  erhielt 
eine  goldene  Amtskette,  die  Professoren  Talare  und  die  Hochschule  ein  eigenes  Siegel. 
1957  erfolgte  die  Berufung  des  schwer  NS-belasteten  Hochschullehrers  Ernst  Rudolf 
Huber,  um  auch  vergangenheitspolitisch  ein  „Normalisierungszeichen"  zu  setzen.  Ins- 


Berichte  aus  den  Arbeitskreisen  611 

gesamt  demontierte  sich  dieses  Hochschulreformprojekt  damit  selbst.  1962  wurde  es  in 
die  Universitat  Gottingen  eingegliedert. 

Anne  Schmedding  (Braunschweig)  sprach  iiber  „,Bauen,  als  wenn  Du  schwebst'. 
Friedrich  Wilhelm  Kraemer  als  Lehrer  und  die  Braunschweiger  Schule."  So  wie  die 
,,Stuttgarter  Schule"  der  zwanzigerjahre  vor  allem  mit  dem  Namen  Paul  Schmitthenners 
verbunden  wird,  steht  der  Name  Friedrich  Wilhelm  Kraemers  heute  fur  die  „Braun- 
schweiger  Schule"  ein.  Kraemer  kam  schon  1925  zum  Studium  an  die  TH  Braunschweig, 
wo  Carl  Miihlenpfordt  einer  seiner  einflussreichsten  Lehrer  wurde.  Miihlenpfordts  Re- 
formansatz  aus  den  zwanziger  Jahren  war  fur  Kraemer  ein  wesentlicher  Anknupfungs- 
punkt  in  der  Neukonzeption  einer  zeitgemaBen  Entwurfslehre  nach  1945.  Auch  die  an- 
deren  Braunschweiger  Professoren  waren  von  Protagonisten  der  Moderne  wie  Hans 
Poelzig  maBgeblich  in  Architektur  und  Lehre  beeinflusst.  Auf  welche  weiteren  Vorbil- 
der  die  Architekten  in  ihrer  Lehre  und  ihren  Bauten  zuruckgriffen,  wie  sie  auf  die  Inter- 
nationalisierung  der  Architektur  ihrer  Zeit  reagierten  und  wie  sich  daraus  die  Entwick- 
lung  spezifischer  Entwurfstheorien  vollzogen  hat,  ist  Gegenstand  eines  momentan  am 
Institut  fur  Baugeschichte  laufenden  Forschungsprojektes.  Erste  Ergebnisse  wurden  in 
dem  Vortrag  vorgestellt. 

Miriam  Saage-Maass  (Berlin)  ging  in  ihrem  Vortrag  „Die  Gottinger  Sieben  als  Identi- 
tatsstifter"  von  der  These  aus,  dass  die  Gottinger  Sieben  einen  Topos  darstellen,  einen 
Platz  der  Verstandigung,  iiber  den  sich  die  jeweils  verschiedene  Gesellschaft  mit  ihren 
Erfahrungen  und  Interessen  ihrer  selbst  vergewissert.  So  biete  die  Protestation  der  Got- 
tinger Sieben  in  verschiedenen  politischen  und  gesellschaftlichen  Situationen  Ankniip- 
fungspunkte,  die  sich  im  Wege  eines  kollektiven  Erinnerns  im  Rahmen  von  Festtagen 
und  Gedenkveranstaltung  usw.  aktualisieren  lieBen.  Insbesondere  seit  1945  bestehe  an 
der  Universitat  Gottingen,  wie  auch  beim  niedersachsischen  Landtag,  groBes  Interesse 
an  den  Gottinger  Sieben.  Dargelegt  wurde  wie  in  den  1950erjahren  derBundesrepublik 
die  Gottinger  Sieben  -  ganz  unter  dem  Eindruck  der  „Deutschen  Katastrophe"  -  als 
Hoffnungstrager  eines  Neuanfangs  gesehen  wurden.  Die  Gottinger  Sieben  dienten  der 
Selbstvergewisserung,  dass  es  auch  eine  „andere"  deutsche  Tradition  gabe,  an  deren 
Wertorientierung  man  nun  ankniipfen  konne.  Anlasslich  der  Feiern  zum  150-jahrigen 
Jubilaum  der  Protestation  von  1987  in  Gottingen  und  Hannover  und  zur  Einweihung  des 
„Denkmals  fur  Zivilcourage"  vor  dem  niedersachsischen  Landtag  1998  stellte  man  sich 
dagegen  ganz  selbstbewusst  in  die  Nachfolge  der  Gottinger  Sieben.  Sie  wurden  als  Vor- 
kampfer  all  jener  Ideale  gedeutet,  die  man  in  der  Bundesrepublik  verwirklicht  sah:  Wis- 
senschafts-  und  Meinungsfreiheit,  demokratische  Protestkultur  und  Zivilcourage. 

Ernst  Bohme  (Gottingen)  referierte  zum  Thema  „Zwischen  Restauration  und  Rebel- 
lion. Die  Georgia  Augusta  und  die  politische  Kultur  Gottingens  1948-1968".  Bei  alien 
Mangeln  und  Unzulanglichkeiten,  die  im  Umgang  der  Georgia  Augusta  mit  ihrer  natio- 
nalsozialistischen  Vergangenheit  zu  beobachten  sind,  hatte  die  Universitatsfuhrung 
ebenso  wie  Teile  der  Studentenschaft  doch  schon  zu  Beginn  der  funfzigerjahre  grundle- 
gende  moralische  und  politische  Lehren  daraus  gezogen.  Das  gait  sowohl  in  den  Ausein- 
andersetzungen  um  den  Filmregisseur  Veit  Harlan  1951/52  wie  auch  im  Konflikt  mit 
den  studentischen  Korporationen  1953  und  in  der  „Schluteraffare"  1955.  Im  herrschen- 
den  politischen  Milieu  der  Stadt  Gottingen  dagegen  scheint  das  Jahr  1945  zunachst  kei- 
nen  erkennbaren  Einschnitt  bedeutet  zu  haben,  da  sich  die  politischen  Verhaltnisse  der 
Weimarer  Zeit  nahezu  bruchlos  fortsetzten.  Vor  wie  nach  dem  Zweiten  Weltkrieg  war 
die  biirgerlich  gepragte  Stadt  eine  Hochburg  national-konservativer  und  nationalisti- 


612  Nachrichten 

scher  Parteien.  Der  tiefe  Einschnitt  von  1945  wirkte  sich  zwar  unmittelbar  in  der  politi- 
schen  Verfassung  und  dem  Aufbau  demokratischer  Institutionen  aus,  nicht  aber  in  glei- 
chem  MaBe  in  einer  Anderung  der  politischen  Einstellung  einer  Mehrheit  der  Bevolke- 
rung.  Fiir  die  Stadt  Gottingen  lasst  sich  damit  jene  gegeniiber  der  allgemeinen 
Entwicklung  in  der  Bundesrepublik  „verzogerte  Normalisierung"  beobachten,  die  auch 
sonst  fiir  Niedersachsen  festzustellen  ist.  Erst  im  Zusammenhang  der  „Schliiteraffare"  ist 
zumindest  auf  der  Ebene  der  Kommunalpolitik  eine  starkere  kritische  Distanz  zu  rechts- 
extremen  Stromungen  erkennbar. 

Im  Anschluss  an  die  Vortrage  fiihrte  der  um  einen  Kommentar  gebetene  Politikwis- 
senschaftler  Heiko  Geiling  (Hannover)  die  Kategorie  des  „sozialen  Feldes"  in  die  Dis- 
kussion  ein.  Dieser  von  Pierre  Bourdieu  gepragte  Begriff  konnte  gerade  die  Universitat 
als  traditionelle  Korporation,  die  zwischen  Selbstbestimmung  und  Fremdeinfluss  agiert, 
aber  dabei  die  korporativen  Beziige  immer  wieder  im  Interesse  auch  der  Autonomic  ge- 
geniiber politischen  Einfliissen  betont,  beschreiben.  Dadurch  lieBen  sich  die  spezifi- 
schen  Prozesse,  Machtverhaltnisse,  Ressourcen  in  diesem  Raum,  der  wie  jeder  soziale 
Raum  immer  umkampft  sei,  darstellen. 

Die  Friihjahrstagung  widmete  sich  am  16.  Februar  2008  im  Historischen  Museum 
Hannover  dem  Thema  ,,Kultur,  Gesellschaft  und  Politik  im  Wandel  -  Niedersachsen  in 
der  Umbruchszeit  1965-1975".  Thomas  Etzemiiller  (Oldenburg)  gab  unter  dem  Titel 
„Kein  Riss  in  der  Geschichte"  zur  Einfiihrung  in  die  Thematik  einen  historischen  Abriss. 
Nach  wie  vorgilt  ,,1968"  vielen  Beobachtern  als  eine  klare  Zasurin  derbundesdeutschen 
Geschichte,  als  Ubergang  von  der  „restaurativen"  Adenauer-Zeit  zu  einer  liberalen  west- 
lichen  Demokratie.  In  der  Forschung  gewinnt  dagegen  ein  neues  Bild  Konturen.  Zum 
ersten  gerat  die  Phase  von  den  (spaten)  fiinfzigerjahren  bis  weit  in  die  siebzigerjahre  als 
eine  Einheit  in  den  Blick.  In  diesenjahren  durchliefen  die  westlichen  Gesellschaften  die 
fundamentale  Transformation  zu  dem,  was  uns  heute  als  moderne,  liberal-demokrati- 
sche  Konsumgesellschaft  so  gelaufig  ist.  Dieser  Wandel  kann  nicht  unterschatzt  werden, 
und  es  gibt  gute  Griinde,  ,,1968"  als  integralen  Teil  dieser  Transformation  zu  deuten. 
Zum  zweiten  wird  der  transnationale  Charakter  der  68er-Ereignisse  anders  diskutiert. 
Sie  werden  nicht  mehr  als  eine  -  wenn  auch  gescheiterte  -  globale  Revolution  beschrie- 
ben,  sondern  als  ein  transnationales  Kommunikationsereignis  untersucht.  Interessant  ist 
die  Frage,  wie  die  einzelnen  68er-Bewegungen  einen  transnationalen  Handlungszusam- 
menhang  bildeten,  wahrend  sie  gleichzeitig  durch  nationale  Besonderheiten  gepragt 
waren.  ,,1968"  wird  also  analysiert  als  Teil  eines  Strukturwandels  in  der  westlichen  Welt, 
als  Katalysator,  der  diesen  Wandel  vorantreiben  half,  und  zugleich  als  Chiffre,  diesen 
Wandel  zu  deuten;  und  in  dieser  Perspektive  erscheint  ,,1968"  weniger  als  spezifisch  bun- 
desdeutsche  Zasur  denn  als  Katalysator  der  gesellschaftlichen  Umbriiche  in  der  gesam- 
ten  westlichen  Welt. 

Rajah  Scheepers  (Berlin/Hannover)  stellte  in  ihrem  Vortrag  „Umbruche  in  den  Kon- 
zeptionen  von  Mutterlichkeit  in  der  weiblichen  Diakonie  in  den  1960erjahren"  die  Wei- 
chenstellungen  und  Herausforderungen  fiir  die  evangelische  Kirche  nach  1945  fokus- 
siert  auf  die  langen  1960erjahre  mit  Blick  auf  die  Geschlechterpolitik  dar.  Wurde  Frau- 
en  noch  vor  Beginn  der  Reformbemiihungen  die  Moglichkeit  einer  Vereinbarkeit  von 
Familie  und  entlohnter  Berufstatigkeit  verweigert,  indem  in  der  Kirche  tatige  Frauen,  sei 
es  als  Diakonisse,  Gemeindehelferin  oder  Vikarin  (spater  Pfarrerin),  ihr  Amt  verloren, 
sobald  sie  heirateten  und/oder  Mutter  wurden,  setzte  hier  ein  Wandlungsprozess  ein, 
der  schlieBlich  zur  vollen  Gleichstellung  der  Frau  im  (Pfarr-)Amt  fiihrte.  Scheepers  stell- 


Berichte  aus  den  Arbeitskreisen  613 

te  dar,  wie  die  evangelische  Kirche  versuchte,  diesen  Prozess  aufzuhalten.  Als  Beispiel 
wahlte  sie  die  Diakonissen,  die  die  Ambivalenz  zwischen  „miitterlich-sein"  und  unter- 
sagter  Mutterschaft  verdeutlichen:  Sie  lebten  im  Mutterhaus,  sollten  ein  miitterliches 
Wesen  haben,  wahrend  sie  aber  gleichzeitig  qua  Amt  nie  biologische  Mutter  werden 
durften.  Anhand  der  Schwesternschaft  des  Diakonissen-Mutterhauses  der  Henrietten- 
stiftung  in  Hannover  zeigte  Scheepers  eine  gendered  society,  in  der  nur  fur  das  eine  Ge- 
schlecht  gait:  entwederHingabe  an  die  geistige  Familie  oderan  eine  eigene  Familie.  Die 
skizzierte  Gegeniiberstellung  biiBte  nach  1945  zunehmend  an  Plausibilitat  ein,  als  be- 
rufstatige  Frauen  in  alien  Bereichen  der  Gesellschaft  tatig  werden  konnten,  ohne  dafiir 
den  Preis  der  Ehe-  und  Kinderlosigkeit  zahlen  zu  miissen.  Die  Mutterhausdiakonie  war 
durch  diese  Entwicklungen  einem  starken  Zwang  zur  Modernisierung  ausgesetzt.  Tat- 
sachlich  kam  es  Ende  der  1960er,  Anfang  der  1970erjahre  zu  tief  greifenden  Reformen, 
die  allerdings  zu  spat  erfolgten,  als  dass  sie  die  Erosion  der  Mutterhausdiakonie  hatten 
aufhalten  konnen. 

Anna  Berlit-Schwigon  (Minden)  setzte  sich  mit  der  „Studentenbewegung  der  1960er 
Jahre  in  Hannover"  auseinander.  Hannover  stellte,  vor  allem  aufgrund  der  verstarkt  in- 
genieurswissenschaftlichen  Orientierung  der  Hochschule,  im  Vergleich  zu  den  Epizen- 
tren  der  Revolte,  Frankfurt/ Main  und  West-Berlin,  zunachst  eher  die  politische  Provinz 
dar.  Ab  Juni  1967,  konkret  nach  dem  Tod  des  gebiirtigen  Hannoveraners  Benno  Ohne- 
sorg,  wurden  allerdings  in  der  niedersachsischen  Hauptstadt  fur  die  bundesweite  Stu- 
dentenbewegung  typische  sozialistische  Gruppen  (SDS,  SHB)  und  der  Club  Voltaire 
aktiv,  die  in  der  APO  und  der  Hochschulpolitik  wesentliche  Proteststrukturen  wie  sit-ins 
und  Demonstrationen  etablierten.  Inhaltlich  setzten  sich  die  Aktivisten  mit  den  Not- 
standsgesetzen,  dem  Vietnamkrieg  bzw.  der  Rolle  weiterer  Staaten  der  Peripherie  und 
mit  der  Rolle  tendenzioser  Massenmedien  in  der  Offentlichkeit  auseinander.  Der  Hohe- 
punkt  der  Aktionen  vor  Ort  war  ohne  Zweifel  die  bundesweit  bekannte  Rote-Punkt-Akti- 
on  im  Juni  1969,  eine  fantasievolle  Kampagne  der  Studentenbewegung  gegen  eine  Fahr- 
preiserhohung  im  offentlichen  Nahverkehr,  die  durch  die  solidarische  Organisation  des 
Rote-Punkt-Verkehrs  nahezu  aller  hannoverscher  Burger  auch  nach  der  Einstellung  des 
Nahverkehrs  das  erwartete  Chaos  nicht  ausbrechen  lieB.  Der  Protest  in  Hannover  war  si- 
cher  weniger  laut  als  in  West-Berlin,  aber  genauso  effektiv:  Die  damaligen  Veranderun- 
gen  in  Richtung  Demokratisierung  haben  Hannover  bis  heute  gepragt. 

Wolf-Dieter  Mechler  (Hannover)  ging  dem  Verhaltnis  von  „AuBerparlamentarischen 
Aktionen  und  Stadtentwicklung"  nach.  Die  auBerparlamentarische  Opposition  endete 
nicht  mit  Auflosung  des  SDS  1970,  sondern  besetzte  neue  Themen  und  verlegte  die  Akti- 
onsfelder  in  den  kommunalen  Sektor.  Gleichzeitig  blieben  die  politischen  Rahmenbe- 
dingungen  in  der  Stadt  Hannover  mit  einer  SPD-Alleinregierung  konstant.  Gewohnt, 
Fortschritte  der  Stadtentwicklung  im  Rathaus  zu  planen  und  in  der  Stadtgesellschaft  um- 
zusetzen,  hatte  die  Stadtpolitik  groBe  Schwierigkeiten,  von  Teilen  der  Einwohnerschaft 
formulierte  Bedtirfnisse  und  Anspriiche  zu  akzeptieren.  Hausbesetzungen  gegen  speku- 
lativen  Leerstand  und  geplanten  Abriss,  die  Forderungen  nach  unabhangigen  Jugend- 
zentren  und  einer  anderen  Linie  bei  der  begonnenen  Sanierungspolitik  im  Stadtteil  Lin- 
den fiihrten  zu  auBerparlamentarischen  Aktionen  mit  Rechtsbriichen  und  praktizierten 
Elementen  von  direkter  Demokratie.  Besonderes  Gewicht  hatte  die  Auseinandersetzung 
um  die  Sanierung  in  Linden-Siid  zwischen  1972  und  1974.  Die  Stadtpolitik  musste  ler- 
nen,  dass  die  Renovierung  und  Erhohung  des  vorhandenen  Wohnwerts  unter  Beibehal- 
tung  der  Miet-  und  Mieterstrukturen  vor  Abriss  und  Neubau  und  den  damit  verbunde- 


614  Nachrichten 

nen  sozialen  Veranderungen  der  Bewohnerschaft  und  des  gesamten  Stadtteils  im  allge- 
meinen  Interesse  lag  und  deshalb  eine  Korrektur  der  Stadtentwicklungsplanung 
unumganglich  wurde.  Dass  mit  Hausbesetzern  Mietvertrage  geschlossen  wurden,  unab- 
hangige  Jugendzentren  nach  einiger  Zeit  offentlich  gefordert  wurden  und  die  Sanierung 
sogarzum  Modell  fiir  Europa  avancierte,  zeigt  den  Einfluss,  den  auBerparlamentarische 
Aktionen  auf  die  Stadtentwicklung  in  der  ersten  Halfte  der  1970er  Jahre  ausiibten  und 
beweist  zugleich  die  Lernfahigkeit  des  politischen  Systems. 

Manfred  Grieger  (Wolfsburg)  thematisierte  in  seinem  Vortrag  „Von  Nordhoff  zu 
Schmiicker:  Der  neue  Geist  aus  Produktinnovation  und  Mitbestimmungsmodernisie- 
rung  im  Volkswagenwerk  1968-1976"  den  Ubergang  des  Symbolunternehmens  des  deut- 
schen  Wirtschaftswunders  in  die  sozialliberale  Modernitat  der  mittleren  Bundesrepu- 
blik.  Der  Tod  Heinrich  Nordhoffs  machte  im  April  1968  den  Weg  frei  fiir  eine  Erneue- 
rung  der  Modellpalette  und  zur  Uberwindung  des  betrieblichen  Sozialpaternalismus. 
Allerdings  fiihrte  kein  gerader  Weg  vom  Kafer-Zeitalter  in  die  Golf-Ara.  Kurt  Lotz  war 
die  Haltung  seines  Vorgangers  Nordhoff  gleichsam  zurzweiten  Haut  geworden,  so  dass 
der  ambivalenten  Erneuerung  zwischen  1968  und  1971  ein  hohes  Erstarrungspotential 
inne  wohnte.  Rudolf  Leiding,  der  Lotz  1971  abloste,  brachte  dem  Unternehmen  be- 
schleunigt  ein  neues  Modellprogramm  mit  wassergekiihlten  Motoren  und  Vorderradan- 
trieb,  ohne  dass  der  Presentation  von  Passat  1973  und  Scirocco  und  Golf  1974  eine  inno- 
vative Anpassung  der  betrieblichen  Arbeitsbeziehungen  an  das  sozialliberale  Zeitalter 
gefolgt  ware.  Es  warToni  Schmiicker  nach  1975  vorbehalten,  die  technische  Modernisie- 
rung  durch  eine  Erweiterung  der  Mitbestimmung  zu  flankieren.  Er  wusste  die  Schrump- 
fung  des  Unternehmens  und  den  damit  verbundenen  Arbeitsplatzabbau  durch  eine  ge- 
zielte  Einbindung  der  Arbeitnehmervertreter  und  die  IG  Metall  konsensual  abzusi- 
chern.  Ein  komplexes  Zusammenspiel  von  retardierenden  und  innovativen  Momenten 
machte  Mitte  der  1970erjahre  aus  dem  Volkswagenwerk  ein  modernisiertes  multinatio- 
nales  Unternehmen,  das  fiir  den  erfolgreichen  Rheinischen  Kapitalismus  stand.  Im  Zei- 
chen  des  Golf  gelang  durch  erweiterte  Mitbestimmung  ein  neuer  Sozialkompromiss,  der 
unternehmerische  Verantwortung  und  die  vordringliche  soziale  Sicherung  der  Inlands- 
belegschaft  zum  gemeinsamen  Anliegen  machte.  Damit  offneten  sich  die  Belegschafts- 
vertreter  einer  okonomischen  Logik,  die  Beschaftigungssicherung  durch  Unterneh- 
menswachstum  und  internationale  Konkurrenzfahigkeit  versprach.  Auf  der  anderen 
Seite  legten  die  Unternehmensleitungen  seit  den  Mittsiebzigern  ihre  mentalen  Vorbe- 
halte  gegen  eine  weit  reichende  Partizipation  von  Arbeitnehmervertretern  ab.  Im  Er- 
gebnis  gewann  das  Unternehmen  neben  den  Produktivitatsvorteilen  der  deutschen 
Mitbestimmung  auch  die  Unterstiitzung  groBer  Teile  der  Belegschaft  fiir  die  stetig  erfor- 
derlichen  AnpassungsmaBnahmen. 

Cornelia  Rauh-Kiihne  (Hannover)  fragte  in  ihrem  Kommentar  wie  die  Konstruktion 
von  ,,1968"  zustande  kommen  konnte,  wenn  die  Vortrage  doch  so  hochst  vielfaltige 
Aspekte  aufgezeigt  haben.  1968  war  eben  nicht  nur  das  Jahr  der  Studentenproteste  in 
Berlin  und  Frankfurt  oder  des  gesellschaftlichen  Aufbruchs,  es  war  auch  dasjahr  des  To- 
des  von  Heinrich  Nordhoff  und  der  Reformbestrebungen  des  Kaiserswerther  Verbands. 
Offensichtlich  ist  das  Bild  der  gesellschaftlichen  Veranderungen  sehr  stark  von  der  me- 
dialen  Vermittlung  bestimmt,  die  Ende  der  1960er  Jahre  einen  Bedeutungswandel 
durchmachte. 


Kontakte 
Sprecher 


Stellv.  Sprecher 


Schriftfiihrer 


Berichte  aus  den  Arbeitskreisen 


Prof.  Dr.  Detlef  Schmiechen-Ackermann 

Universitat  Hannover,  Historisches  Seminar, 

Im  Moore  21,  30167  Hannover 

Tel.:  (0511)  762-5737;  E-Mail:  Schmiechen-A@web.de 

Dr.  Hans  Otte,  Landeskirchliches  Archiv 

GoethestraBe  27,  30169  Hannover 

Tel.:  (0511)  1241-755;  Fax  (0511)  1241-770; 

E-Mail:  Hans.Otte@evlka.de 

Dr.  Wolfgang  Brandes,  Stadtarchiv  Bad  Fallingbostel 

VogteistraBe  1,  29683  Bad  Fallingbostel 

Tel.:  (05162)  401-18;  Fax  (05162)  401-44; 

E-Mail:  stadtarchiv@badfallingbostel.de 


615 


Arbeitskreis  Geschichte  derjuden 


Im  vergangenen  Jahr  hat  sich  der  AK  Geschichte  derjuden  weiterhin  intensiv  mit  dem 
Kapitel  „Verbiirgerlichung  derjuden  in  Nordwestdeutschland"  beschaftigt  und  weitere 
Aspekte  dieses  Themas  bearbeitet.  Zu  seiner  Herbsttagung  2007  versammelte  sich  der 
Arbeitskreis  auf  Einladung  von  Museumsdirektor  Dr.  Friedrich  Scheele  und  der  Emder 
Stadtverwaltung  am  19.  September  im  Ostfriesischen  Landesmuseum  in  Emden  und  da- 
mit  in  einer  Stadt,  in  der  sich  seit  dem  16.  Jahrhundert  eine  der  bedeutendsten  jiidischen 
Gemeinden  Norddeutschlands  entwickelte. 

In  diesem  Zusammenhang  referierte  Jan  Lokers  vom  Stadtarchiv  Liibeck  iiber  die  jii- 
dische  Gemeinde  in  Emden  als  Teil  der  stadtischen  Gesellschaft.  Rolf  Uphoff  vom 
Stadtarchiv  Emden  berichtete  iiber  aktuelle  Projekte  zur  weiteren  Erforschung  der  Ge- 
schichte der  dortigen  Juden  und  der  Gastgeber  Friedrich  Scheele  iiber  Planungen  zum 
Ausbau  derJudaica-Sammlung  des  Museums.  Reinhard  Bein  (Braunschweig)  stellte  am 
Beispiel  von  zwei  Lebenslaufen  Aspekte  jiidischen  Lebens  in  Braunschweig  in  der  Mitte 
des  19.  Jahrhunderts  vor.  Sibylle  Obenaus  (Isernhagen)  berichtete  iiber  die  Anfange  der 
Schul-  und  Synagogenreform  im  Landrabbinat  Hannover.  Zum  Schluss  gab  die  Olden- 
burger  Volkskundlerin  Heike  Miins  einen  aufschlussreichen  Einblick  in  die  Welt  der  jii- 
dischen Wandermusikanten. 

Die  Friihjahrstagung  2008  fand  auf  Einladung  von  Frau  Archivdirektorin  Dr.  Uta 
Reinhardt  und  der  Stadt  Liineburg  am  12.  Marz  im  Historischen  Rathaus  der  Stadt  Liine- 
burg  statt.  Einleitend  berichtete  Marlis  Buchholz  iiber  den  letzten  Stand  der  Neugestal- 
tung  der  Gedenkstatte  Bergen-Belsen  und  iiber  die  weitere  Perspektive  der  Gedenkstat- 
tenarbeit.  Besonders  lebendig  war  die  Diskussion,  die  dem  Referat  von  Peter  Bahlmann 
iiber  die  Ergebnisse  seiner  aktuellen  Oldenburger  Dissertation  zum  Wiederaufbau  der 
Justiz  nach  1945  und  den  friihen  NS-Prozessen  im  Weser-Ems-Gebiet  folgte. 

Bei  der  weiteren  Beschaftigung  mit  dem  Schwerpunktthema  des  Arbeitskreises  stan- 
den  diesmal  zwei  bisher  unbearbeitete  Aspekte  im  Mittelpunkt:  Der  Migrationsforscher 


616 


Nachrichten 


Jochen  Oltmer  (Osnabriick)  berichtete  iiber  die  Immigration  und  die  rechtlich-poli- 
tische  Stellung  der  sogenannten  „Ostjuden"  im  Kaiserreich  und  in  der  Weimarer 
Republik.  Kirsten  Heinsohn  vom  Institut  fur  die  Geschichte  der  deutschen  Juden  in 
Hamburg  stellte  die  deutsch-jiidische  Geschichte  des  19.  und  20.  Jahrhunderts  in  eine 
geschlechterhistorische  Perspektive.  Das  fur  die  Tagung  vorgesehene  einfiihrende  Refe- 
rat  von  Herbert  Obenaus  zum  Themenkomplex  Urbanisierung  und  seinem  Bezug  zur 
Geschichte  der  Juden  musste  aus  Zeitgriinden  auf  die  Herbsttagung  am  27.  September 
2008  in  Hannover  verschoben  werden.  Zu  diesem  Termin  wurde  auch  Simone  Lassig 
eingeladen,  die  durch  ihre  Forschungen  einen  wichtigen  AnstoB  fur  die  Beschaftigung 
des  Arbeitskreises  mit  der  „Verburgerlichungs"-Thematik  gegeben  hatte,  die  voraus- 
sichtlich  2009  vorlaufig  abgeschlossen  werden  soil.  Die  Herausgabe  eines  Tagungsban- 
des  ist  in  Vorbereitung.  Der  Tagungsband  „Konversionen  von  Juden  zum  Christentum 
in  Nordwestdeutschland"  soil  noch  2008  veroffentlicht  werden. 

Zwischen  den  Tagungen  erscheinen  regelmaBig  Rundbriefe  (zuletzt  Nr.  17  vom  Juli 
2008)  mit  zusammenfassenden  Berichten  iiber  die  gehaltenen  Referate,  den  Terminen 
und  Programmen  der  folgenden  Tagungen  und  mit  neuen  Literaturhinweisen  zur  Ge- 
schichte der  Juden  und  des  Antisemitismus  in  Nordwestdeutschland.  Sie  sind  unter  der 
Homepage  der  Historischen  Kommission  zu  finden.  Die  Fruhjahrstagung  2009  soil  am 
18.  Marz  in  Wolfsburg  stattfinden. 


Kontakte 
Sprecher 

Stellv.  Sprecher 

Schriftfiihrer 


Dr.  Werner  Meiners,  Georg-Ruseler-StraBe  5, 

26203  Wardenburg,  Tel.  04407  -  1399; 

E-Mail:  mawer68@hotmail.com 

Dr.  Marlis  Buchholz,  Bonifatiusplatz  3,  30161  Hannover 

Tel.  0511  -  627134; 

E-Mail:  marlisbuchholz@gmx.de 

Prof.  Dr.  Herbert  Reyer,  c/o  Stadtarchiv  Hildesheim, 

Am  Steine  7,  31134  Hildesheim 

Tel:  05121  -  168135;  Fax:  05121  -  168124; 

E-Mail:  reyer@stadtarchiv-hildesheim.de 


Arbeitskreis  fur  Geschichte  des  Mittelalters 


Am  24.  November  2007  tagte  der  Arbeitskreis  im  Hauptstaatsarchiv  Hannover.  In  einem 
ersten  Vortrag  gab  Prof.  Dr.  Gudrun  Gleba,  Osnabriick,  einen  Uberblick  iiber  „Entwick- 
lungen  der  Mittelalterforschung  zur  niedersachsischen  Stadt-,  Kirchen-  und  Kloster- 
geschichte".  AnschlieBend  referierte  Prof.  Dr.  Thomas  Scharff,  Braunschweig,  zu  den 
„Entwicklungen  der  Mittelalterforschung  zur  niedersachsischen  Adels-  und  Herrschafts- 
geschichte". 


Berichte  aus  den  Arbeitskreisen  617 

In  einem  zweiten  Teil  der  Sitzung  wurden  drei  Dissertationsprojekte  diskutiert.  Mat- 
thias Zirn,  Halle/ Gottingen  (Betreuer  Prof.  Dr.  Hans-Georg  Stephan,  Prof.  Dr.  Hedwig 
Rockelein),  begann  mit  einem  Bericht  zu  den  „Archaologischen  Forschungen  zu  Bruns- 
hausen/Gandersheim".  Der  Kanonissenkonvent  des  Stiftes  Gandersheim  wurde  845 
bzw.  852  durch  den  Sachsenherzog  Liudolf  gegriindet  und  bis  zur  Fertigstellung  der 
Gandersheimer  Bauten  881  voriibergehend  in  Brunshausen  untergebracht.  Bis  zu  seiner 
Profanisierung  am  Ende  des  18.  Jahrhunderts  hatte  das  Kloster  eine  wechselreiche  Ge- 
schichte  zwischen  Benediktiner-Monchskloster  und  furstlicher  Sommerresidenz  hinter 
sich.  Urn  die  Entwicklung  des  fur  die  Kirchengeschichte  Niedersachsens  wichtigen 
Ortes  genauer  beleuchten  zu  konnen,  wurden  in  den  60erjahren  eingehende  archaolo- 
gische  Untersuchungen  im  Gelande  und  an  den  baulichen  Uberresten  des  Klosters 
durchgefiihrt,  die  bislang  eine  nur  unvollstandige  Auswertung  erfuhren.  Besonders  eine 
eingehende  Analyse  der  Keramikfunde  ist  bislang  unterblieben.  Durch  technologische 
und  typologische  Vergleiche  sowie  die  entsprechende  qualitative  und  quantitative  Aus- 
wertung dieser  Funde  ergeben  sich  deutliche  Ubereinstimmungen  zwischen  histori- 
schen  Nachrichten  und  Baubefunden,  sodass  zur  Entwicklung  des  Klosters  konstatiert 
werden  kann:  In  der  Mitte  des  9.  Jahrhunderts  wurde  der  Frauenkonvent  in  Brunshau- 
sen in  einer  bereits  bestehenden  Siedlung  gegriindet  und  881  nach  Gandersheim  verlegt. 
Ebenfalls  in  die  Zeit  des  auslaufenden  8.  bis  in  die  Mitte  des  9.  Jahrhunderts  datieren  die 
ersten  drei  Kirchenbauten.  Danach  scheinen  sowohl  das  Kloster  als  auch  die  Siedlung 
relativ  schnell  an  Bedeutung  verloren  zu  haben.  Erst  mit  der  Unterstellung  unter  das 
Kloster  Clus  und  dem  Neubau  der  Basilika  wurde  die  Einrichtung  offenbar  neu  belebt. 
Im  Spatmittelalter  verlor  Brunshausen  dann  wieder  an  Bedeutung,  blieb  jedoch  konstant 
besetzt.  Um  eine  abschlieBende  Interpretation  der  Klosterentwicklung  vorzulegen,  be- 
darf  es  weiterer  befundorientierter  Untersuchungen. 

Arne  Butt,  Gottingen  (Betreuer  Prof.  Dr.  Wolfgang  Petke),  berichtete  iiber  „Eigen  und 
Erbe  in  spatmittelalterlichen  Dorfern.  Die  Herrschaftsrechte  der  Stadt  Gottingen  im 
landlichen  Raum".  Im  Zentrum  seiner  Arbeit  stehen  zwei  aufeinanderbezogene  Fragen- 
komplexe:  Wie  nahm  eine  Stadt  wie  Gottingen  ihre  Herrschaftsrechte  im  Umland  wahr 
und  welche  Instrumente  standen  ihr  fur  eine  effektive  Verwaltung  zur  Verfiigung?  Wie 
verhielt  sich  die  Immobilien  besitzende  Schicht  in  den  Dorfern,  in  denen  die  Stadt  Got- 
tingen einen  GroBteil  der  grund-  und  gerichtsherrlichen  Rechte  besaB,  und  ist  eine  stad- 
tische  „Uberherrschung"  bzw.  „Uberformung"  dieser  Dorfer  zu  beobachten?  Die  Arbeit 
basiert  im  Wesentlichen  auf  zwei  Quellen:  Den  Gottinger  Kammereiregistern,  die  seit 
1393/94  in  nahezu  ununterbrochener  Folge  erhalten  sind  und  zahlreiche  Eintrage 
beziiglich  der  Herrschaftsrechte  im  landlichen  Raum  enthalten,  sowie  den  sog.  „Vogt- 
herrenbiichern",  zwei  Amtsbuchern  der  Stadt  Gottingen,  in  denen  iiber  400  private  Im- 
mobilien- und  Kapitalgeschafte  des  Spatmittelalters  aufgezeichnet  sind. 

Christian  Frey,  Braunschweig  (Betreuer  Prof.  Dr.  Thomas  Scharff),  stellte  seine  Dis- 
sertation »urbes  ad salutem  regni.  Symbolische  Kommunikation  und  Burgen  in  kulturellen 
Grenzraumen  anhand  von  niedersachsischen  Beispielen"  vor.  Frey  untersucht  ein  bisher 
wenig  beriicksichtigtes  Element  des  taglichen  Lebens  im  Mittelalter,  das  er  in  der  Syste- 
matik  der  kommunikativen  Symbole  verorten  mochte:  Burgen  des  friihen  Mittelalters. 
Wie  sich  zeigt,  ist  in  „kulturellen  Grenzraumen"  eine  besonders  hohe  Dichte  an  Burgen 
zu  beobachten.  So  nennt  Widukind  von  Corvey  in  seiner  Sachsengeschichte  21  Burgen, 
die  in  Sachsen  lagen,  von  denen  zwolf  im  ostlichen  Sachsen  zu  lokalisieren  sind.  Dies  ist 
der  hohen  Ereignisdichte  und  -intensitat  zu  schulden,  die  aus  dem  Grenzraum  zwischen 


618  Nachrichten 

sachsischer  und  slawischer  Kultur  entsprang.  Die  Notwendigkeit  zur  Anlage  von  Burgen 
und  zu  deren  standiger  Unterhaltung  war  hier  besonders  groB  -  und  deren  Funktion  viel- 
schichtig.  Neben  militarischen  Belangen  lassen  sich  aus  den  Quellen  klerikale,  herr- 
schaftliche,  wirtschaftliche,  soziale  und  kulturelle  Aufgaben  erkennen.  Diese  tragen  so- 
wohl  den  Charakter  instrumentellen  als  auch  symbolisch-expressiven  Handelns  in  sich. 
Burgen  stehen  nicht  nur  fur  kulturelle  Differenz,  sondern  auch  z.B.  fur  integrative  Akte 
von  Schutzgemeinschaften,  die  beiden  kulturellen  Gruppen  zu  Gute  kamen.  In  einer 
„K6nigsherrschaft  ohne  Staat"  waren  Burgen  kommunikative  Mittelpunkte  kleinerer 
und  groBerer  Gemeinschaften.  Sie  waren  Knoten  in  einem  Netz  schiitzender  und  mittei- 
lender  Orte.  In  ihrer  konkreten  und  abstrakten  Gestalt  hatten  die  Befestigungen  vielfalti- 
ge  kommunikative  Funktionen,  die  ein  lohnenswertes  Untersuchungsobjekt  darstellen. 

AbschlieBend  folgte  noch  einmal  eine  Diskussion  der  „Handreichungen  fur  die  Er- 
stellung  von  Urkundenbiichern  im  Rahmen  der  Veroffentlichungsreihe  der  Histori- 
schen  Kommission",  die  nach  der  Besprechung  im  Marz  2007  von  einer  Arbeitsgruppe 
im  Hauptstaatsarchiv  Hannover  redigiert  worden  waren.  Formuliert  wurde  eine  Reihe 
von  Anderungswiinschen,  die  in  den  Richtlinien  Beriicksichtigung  finden  sollen.  In  Zu- 
sammenhang  damit  stellte  Dr.  Manfred  von  Boetticher  die  Verfahrensweise  der  Arbeits- 
gruppe vor,  die  am  Hauptstaatsarchiv  Hannover  die  gemeinsame  Herausgabe  eines  Ur- 
kundenbuchs  zum  Bestand  des  Klosters  St.  Jakobi  in  Osterode  vorbereitet. 

Am  12.  April  2008  folgte  im  Hauptstaatsarchiv  Hannover  eine  weitere  Sitzung  des  Ar- 
beitskreises  zum  Thema  „Klosterbiicher:  Erfahrungen  und  Planungen".  Die  Vortrage 
wurden  von  PD  Dr.  Peter  Aufgebauer  (Gottingen)  mit  einer  Vorstellung  des  im  Pla- 
nungsstadium  befindlichen  „Niedersachsischen  Klosterbuches"  begonnen.  Dieses  soil 
als  wissenschaftliches  Handbuch-Inventar  samtliche  Domkapitel,  Stifte,  Kloster,  Or- 
denskommenden  sowie  Beginen-  und  Begardenhauser  im  Gebiet  des  heutigen  Landes 
Niedersachsen  von  der  Christianisierung  im  friihen  Mittelalter  bis  zum  Ende  des  Alten 
Reiches  erfassen  und  in  einzelnen  Artikeln  darstellen.  Die  Artikel  werden  nach  einem 
einheitlichen  Schema  auf  der  Basis  des  aktuellen  Forschungsstandes  aufgebaut  sein.  Fur 
die  Zeit  des  Mittelalters  sind  ca.  300  Kloster,  Stifte  und  Kommenden  in  Niedersachsen 
nachweisbar.  Hinzu  kommen  Beginen-  und  Begardenkonvente  in  den  Stadten  sowie  die 
nach  der  Reformation  in  den  katholischen  Gebieten  neu  gegriindeten  Institutionen,  so- 
dass  von  ca.  350  Einzelbeitragen  auszugehen  ist. 

Erganzend  berichtete  Dr.  Anna-Therese  Grabkowsky  (Munster)  von  den  Erfahrun- 
gen des  stets  als  Vorbild  genannten  „Westfalischen  Klosterbuches"  und  dessen  kiinftige 
Entwicklung.  Prof.  Dr.  Gisela  Muschiol  (Bonn)  stellte  das  im  Entstehen  begriffene 
„Nordrheinische  Klosterbuch"  vor,  Prof.  Dr.  Heinz-Dieter  Heimann  (Potsdam)  das 
„Brandenburgische  Klosterbuch",  das  Kloster,  Stifte  und  Kommenden  des  Bundeslan- 
des  Brandenburg  und  anderer  historisch  zur  spatmittelalterlichen  Markgrafschaft  Bran- 
denburg gehorigen  Gebiete  umfasst. 

Im  Weiteren  wurden  vier  Dissertationsprojekte  diskutiert.  Katharina  Mersch,  Gottin- 
gen (Betreuerin  Prof.  Dr.  Hedwig  Rockelein) ,  referierte  zu  „Formen  und  Inhalten  visuel- 
ler  Kommunikation  in  den  Frauenkommunitaten  des  Hoch-  und  Spatmittelalters".  Ziel 
der  Dissertation  ist  die  Ergriindung  von  Wertorientierungen  in  den  Gemeinschaften  in 
ihrer  Abhangigkeit  von  Ordenszugehorigkeit  und  allgemeinen  historischen  Trans- 
formationsprozessen.  Bei  einer  solchen  vergleichenden  Untersuchung  in  einer  Lang- 
zeitperspektive  bietet  sich  an,  Gemeinsamkeiten  herauszuarbeiten,  die  bislang  kaum 
analytisch  betrachtet  wurden.  Daher  verfolgt  die  Autorin  neun  Gemeinschaften  unter- 


Berichte  aus  den  Arbeitskreisen  619 

schiedlicher  Orientierung  aus  sieben  verschiedenen  Diozesen  des  Reiches.  Aus  dem 
niedersachsischen  Bereich  soil  besonders  auf  das  Benediktinerinnenkloster  Ebstorf  und 
das  Zisterzienserinnenkloster  Wienhausen  eingegangen  werden. 

Birgit  Heilmann,  Gottingen  (Betreuerin  Prof.  Dr.  Hedwig  Rockelein),  stellte  ihr  Dis- 
sertationsthema  „Weiternutzung,  Umnutzung,  Nicht-Nutzung:  Vom  Umgang  mit  den 
mittelalterlichen  Kirchenschatzobjekten  des  Frauenstiftes  Gandersheim  wahrend  und 
nach  der  Reformation"  vor,  bei  der  sich  folgendes  Ergebnis  abzeichnet:  Im  19.  Jahrhun- 
dert  wurden  im  Zusammenhang  mit  der  Stadtbeschreibung  Gandersheims  materielle 
Uberreste  des  Schatzes  des  ehemaligen  Kanonissenstifts  genannt.  Dabei  erfuhren  gera- 
de  die  Reliquien  eine  erhebliche  Missachtung  und  wurden  kaum  mehr  als  aufbewah- 
rungswiirdig  angesehen,  da  sie  keine  kostbaren  Kunstobjekte  darstellten  und  zudem  aus 
protestantischer  Sicht  als  Symbole  des  katholischen  Glaubens  in  einer  evangelischen 
Kirche  fehl  am  Platz  waren.  Die  Gandersheimer  Ludwig  Georg  Brackebusch  (1815- 
1889)  und  sein  Sohn  Friedrich  (1863-1910)  hingegen  bemuhten  sich  um  eine  Inventari- 
sierung  und  Musealisierung  der  Gegenstande  und  organisierten  eine  Ausstellung  der 
Reste  des  einstigen  Kirchenschatzes.  Im  20.  Jahrhundert  gerieten  die  Objekte  wieder  in 
Vergessenheit  und  fristeten  auf  dem  Dachboden  ein  trauriges  Dasein.  Erst  mit  der  2006 
durch  den  Verein  „Portal  zur  Geschichte"  eroffneten  Dauerausstellung  zur  Darstellung 
der  Geschichte  des  Frauenstifts  Gandersheim  kamen  die  Gegenstande  wieder  zum  Vor- 
schein  und  wurden  in  ihrerRolle  als  iiberlieferte  Sachzeugnisse  des  Kanonissenstifts  ge- 
wiirdigt. 

Eine  weitere  Dissertation  von  Markus  Vollrath,  Hannover  (Betreuer  Prof.  Dr.  Carl- 
Hans  Hauptmeyer),  beschaftigt  sich  mit  dem  Thema  „Die  Kloster  der  welfischen  Terri- 
torien  in  der  zweiten  Halfte  des  16.  Jahrhunderts".  Die  Arbeit  will  vor  allem  die  Auswir- 
kungen  dynastischer  Beziehungen  auf  die  Umsetzung  lutherischer  Ordnungen  in  den 
einzelnen  Klostern  vergleichen.  Dabei  werden  neben  den  Vorgangen  in  den  welfischen 
Fiirstentumern  auch  Falle  wie  das  Kloster  Loccum  besprochen  sowie  Vergleiche  zwi- 
schen  einzelnen  Herrschaftsbereichen  angestellt. 

AbschlieBend  sprach  Simone  Heimann,  Osnabriick  (Betreuerin  Prof.  Dr.  Gudrun 
Gleba),  iiber  ihr  Dissertationsprojekt  „Bildung  und  Ausbildung,  Erziehung  und  Soziali- 
sation  der  Reichsbischofe  des  hohen  Mittelalters".  Hier  geht  es  einerseits  um  die  Frage 
von  „Bildung"  allgemein,  zum  anderen  als  konkretes  Beispiel  um  die  Frage  einer  schicht- 
spezifischen  Bildung  der  Bischofe  im  hohen  Mittelalter.  Unter  den  Begriffen  Bildung, 
Erziehung,  Sozialisation  und  Ausbildung  versucht  die  Arbeit,  sich  dem  Themenbereich 
zu  nahern.  Auch  wenn  ein  solcher  Ansatz  von  benachbarten  Disziplinen  stammt  wie  der 
Historischen  Erziehungswissenschaft,  der  Historischen  Bildungsforschung  und  der  So- 
zialisationsforschung,  bleibt  der  Untersuchungsgegenstand  ein  klassischer:  das  Phano- 
men  der  mittelalterlichen  Bischofe,  ihr  Bildungsstand  und  ihre  Netzwerke. 

Kontakte 

Sprecher      Dr.  Manfred  von  Boetticher,  Niedersachsisches  Landesarchiv  - 
Hauptstaatsarchiv  Hannover,  Am  Archiv  1,  30169  Hannover 
Tel.:  0511/120-6610;  Fax:  0511/1206699 
E-Mail:  manfred.boetticher@nla.niedersachsen.de 
Stellv.  Sprecher      Dr.  Henning  Steinfuhrer,  Stadt  Braunschweig, 
Stadtarchiv,  Schlossplatz  1, 


620  Nachrichten 

38100  Braunschweig.  Tel:  0531/4704711 
E-Mail:  henning.steinfuehrer@braunschweig.de 
Schriftfiihrerin      Dr.  Nathalie  Kruppa,  Akademie  der  Wissenschaften, 
Germania  Sacra,  Theaterstr.  7,  37073  Gottingen 
Tel:  0551/39-4283;  Fax:  0551/39-13784 
E-Mail:  nkruppa@online.de 


NACHRUFE 


WALTHER  MEDIGER 
1915  -  2007 


Walter  Mediger  wurde  am  2.  Januar  1915  in  Flensburg  geboren.  1939  promovierte  er  in 
Gottingen  zum  Dr.  phil.,  wo  er  1941/42  eine  Lehrtatigkeit  am  Historischen  Seminar 
iibernahm.  1946  wurde  er  Lektor  der  russischen  Sprache  an  derTH  Hannover.  Mediger 
gehorte  zu  den  Grundungsvatern  des  Historischen  Seminars  der  Leibniz  Universitat 
Hannover.  Als  er  sich  mit  der  Arbeit  „Moskaus  Weg  nach  Europa.  Der  Aufstieg  Russ- 
lands  zum  europaischen  Machtstaat  im  Zeitalter  Friedrichs  d.  Gr."  fiir  das  Fachgebiet 
„Mittlere  und  neuere  Geschichte"  habilitierte,  war  dies  nach  Friedrich  Carl  Wittichen, 
der  sich  1909  habilitiert  hatte,  die  zweite  Habilitation  fiir  dieses  Fachgebiet  an  der  TH 
Hannover.  1955  erfolgte  Medigers  Ernennung  zum  Dozenten,  drei  Jahre  spater  zum  au- 
BerplanmaBigen  Professor  und  1967  zum  Wissenschaftlichen  Rat  und  Professor;  in  die- 
ser  Funktion  lehrte  er  bis  zu  seiner  Pensionierung  im  Friihjahr  1977.  Als  zweites  Opus 
magnum  erschien  1967  „Mecklenburg,  Russland  und  England-Hannover  1706-1721.  Ein 
Beitrag  zur  Geschichte  des  Nordischen  Krieges",  das  eine  Vertiefung  seines  vorherge- 
henden  Buches  darstellt.  Beide  Veroffentlichungen  wurden  in  derFachwelt  auBerstposi- 
tiv  aufgenommen.  So  hob  der  Nestor  der  niedersachsischen  Landesgeschichte,  Georg 
Schnath,  bei  seiner  Rezension  des  ersten  Buches,  den  „hohen  Wert  des  Werkes"  nicht 
nur  fiir  die  Landesgeschichte  hervor;  er  sah  in  ihm  „einen  der  gewichtigsten  Beitrage  zur 
europaischen  Geschichte  des  18.  Jahrhunderts,  die  in  den  letzten  Jahren  erschienen 
sind.  . . .  Mediger  ist  ein  Meister  nicht  nur  der  historischen  Forschung,  sondern  auch  der 
kiinstlerischen  Gestaltungihrer  Ergebnisse.  Das  Buch  liest  sich  trotz  dergewissenhaften 
Ausleuchtung  der  Einzelheiten  einer  vielverschlungenen  Politik  auBerordentlich  flussig, 
weil  der  Verfasser  es  verstanden  hat,  die  Gestalten  und  Gestalter  dieser  Politik  mit  einer 
ungewohnlichen  Formkraft  herauszuarbeiten"  (NdSachsJbLdG  26,  1954,  213 f.) .  Und 
iiber  das  zweite  Buch  schreibt  ein  Rezensent:  „Man  wird  es  noch  heranziehen,  wenn  die 
heute  aktuellen  Darstellungen  und  Handbiicher  langst  vergessen  sind"  (NdSachsJbLdG 
39,  1967,  325).  Walther  Medigers  Veroffentlichungen,  zu  denen  noch  etliche  wissen- 
schaftliche  Aufsatze  gehoren,  zeichnen  sich  durch  ihre  Nahe  zu  den  unveroffentlichten 
Quellen  aus,  die  mit  groBter  Akribie  und  kritischem  Scharfsinn  ausgewertet  werden  und 
die  Grundlage  fiir  Darstellungen  liefern,  die  auBerordentlich  gut  lesbar  und  iiber  weite 
Passagen  sogar  spannend  geschrieben  worden  sind.  Leider  ist  es  ihm  nicht  mehr  ver- 
gonnt  gewesen,  sein  groBes  Alterswerk  iiber  Prinz  Ferdinand  von  Braunschweig,  den 
Fiihrer  des  Koalitionsheeres  im  Siebenjahrigen  Krieg,  zu  vollenden.  Es  bereitete  ihm 


622  Nachrichten 

groBen  Kummer,  dass  ihm  in  den  letzten  Jahren  die  Krafte  fehlten,  dieses  Buch  fertig  zu 
stellen,  das  sicher  fiir  den  Verlauf  und  die  Beurteilung  des  Siebenjahrigen  Krieges  viel 
Unbekanntes  enthalten  hatte. 

Als  gegen  Mitte  der  1960er  Jahre  das  Historische  Seminar  vor  dem  Hintergrund 
wachsenden  Lehrermangels  den  Auftrag  zur  Ausbildung  von  Fachhistorikern,  vornehm- 
lich  von  zukiinftigen  Gymnasial-  und  Realschullehrern  erhielt  und  die  Moglichkeit  des 
Vollstudiums  in  kiirzester  Zeit  zu  einem  Ansteigen  der  Zahl  der  Studierenden  fiihrte, 
ubernahm  Walther  Mediger,  der  den  Schwerpunkt  seiner  Forschung  und  Lehre  bis  da- 
hin  vornehmlich  auf  die  Geschichte  der  Friihen  Neuzeit  gelegt  hatte,  auf  Bitten  des  da- 
maligen  Seminardirektors,  Professor  Dr.  Wilhelm  Treue,  die  Aufgabe,  das  Mittelalter  zu 
vertreten.  Fast  als  Sternstunden  ihres  Studiums  galten  bei  Studierenden  seine  Vorlesun- 
gen.  Obwohl  anfangs  nur  ein  kleiner  Kreis  von  Zuhorern  an  den  Veranstaltungen  teil- 
nahm,  bereitete  sich  Professor  Mediger  immer  mit  der  Griindlichkeit  unter  Auswertung 
des  modernen  Forschungsstandes  vor,  wie  es  die  Aufgabe  eines  Hochschullehrers  sein 
sollte.  In  den  Vorlesungen  offenbarte  er  sein  reiches  Wissen,  sein  kritisches  Urteilsver- 
mogen,  seinen  Einfallsreichtum,  seine  sprachliche  Prazision  und  seinen  feinsinnigen 
Humor.  Wahrend  der  unter  hochschulpolitischen  Gesichtspunkten  nicht  einfachen 
1970erjahre  erwies  sich  Walther  Mediger  als  prinzipientreuerKollege.  Die  Turbulenzen 
dieser  Zeit  trugen  sicher  zu  seinem  vorzeitigen  Ausscheiden  aus  dem  akademischen 
Lehrdienst  bei. 

Walter  Mediger  starb  am  31.  Oktober  2007  in  Hannover.  Es  bleibt  die  Erinnerung  an 
einen  Gelehrten,  der  seine  Disziplin  in  vorbildlicher  Weise  vertrat,  es  bleibt  die  Hoff- 
nung,  dass  das,  was  er  seinen  Schiilern  gegeben  hat,  weiter  wirken  mtige,  und  die  Dank- 
barkeit,  dass  uns  Walther  Mediger  als  akademischer  Lehrer  und  als  Kollege  fiir  einige 
Jahre  begleitet  hat. 

Hans-Georg  Aschoff 


Erinnerung  anjiirgen  Asch 
Von  Otto  Merker  und  Herbert  Obenaus 


Jiirgen  Asch  starb  am  21.  August  2007.  In  derhannoverschen  Tituskirche  fand  fiirihn  ein 
Trauergottesdienst  statt,  bei  dem  Pastor  Eckard  Bretzke  die  Predigt  hielt.  Freunde  und 
Bekannte  des  Verstorbenen  waren  zahlreich  erschienen.  Sie  erfuhren  durch  die  Predigt, 
was  die  meisten  nicht  wussten:  Jiirgen  Asch  stammte  aus  einerFamilie,die  in  derZeitder 
nationalsozialistischen  Herrschaft  rassischen  Verfolgungen  ausgesetzt  war.  Sein  Vater, 
Moritz  Asch,  jiidischer  Herkunft,  war  nach  der  Pogromnacht  des  9.  November  1938  ver- 
haftet  und  in  das  Konzentrationslager  Sachsenhausen  eingeliefert  worden.  Er  ist  dort 
nach  einmonatiger  Haft  am  8.  Dezember  1938  gestorben.1 

Moritz  Asch  wurde  am  6.  September  1883  in  Schneidemiihl  als  Sohn  des  Kaufmanns 
Isert  Asch  geboren,  der  mit  Rosa  Asch,  geborene  Seligsohn,  verheiratet  war.2  Isert  Asch 
besaB  in  Schneidemiihl  das  Haus  Neuer  Markt  1,  beruflich  war  er  als  Versicherungsa- 
gent  und  Bekleidungshandler  tatig,  auBerdem  war  er  Eigentiimer  einer  Gastwirtschaft. 
Er  starb  am  2.  Juni  1905.  1892  gehorte  ein  „Asch"  zu  den  Stadtverordneten  von  Schnei- 
demiihl. Zwar  wird  kein  Vorname  genannt,  doch  kann  es  sich  hier  durchaus  um  Isert 
Asch  gehandelt  haben.''  Das  nach  seinem  Tode  im  Jahre  1914  erschienene  Adressbuch 
von  Schneidemiihl  nennt  dann  die  Witwe  Rosa  Asch  als  Eigentiimerin  des  Hauses  Neuer 


1  Sterbezweitbuch  des  Standesamts  Oranienburg,  Nr.  0448.  Der  Tod  war  durch  den  La 
gerkommandanten  des  Lagers  Sachsenhausen  angezeigt  worden.  Fiir  die  Auskunft  ist  Frau 
Dr.  Astrid  Ley  von  Gedenkstatte  und  Museum  Sachsenhausen  sowie  dem  Direktor  der  Stif- 
tung  Brandenburgische  Gedenkstatten,  Herrn  Prof.  Dr.  Giinter  Morsch  zu  danken. 

2  Es  Hegt  die  gescannte  Eintragung  des  Standesamts  Schneidemiihl  vom  8.  September 
1883  vor,  nach  der  dem  Kaufmann  Isert  Asch,  wohnhaft  in  Schneidemiihl,  Neuer  Markt  9, 
mosaischer  Religion,  am  6.  September  1883  ein  Kind  geboren  worden  sei,  „welches  noch  kei- 
nen  Vornamen  erhalten  habe."  Am  6.  Oktober  1883  zeigt  dann  Isert  Asch  an,  dass  dem  Kind 
der  Vorname  Moritz  „beigelegt  worden  ist".  Die  Vorlage  wurde  von  Herrn  Peter  Simonstein 
Cullman  zugesendet,  dem  auch  fiir  intensive  Beratung  auf  der  Basis  folgender  Publikation  zu 
danken  ist:  Peter  Simonstein  Cullman,  History  of  the  Jewish  Community  of  Schneidemiihl: 
1641  to  the  Holocaust,  Bergenfeld/USA  2006. 

3  Adressbuch  Schneidemiihl  von  1896  und  1905.  Der  Neue  Markt  wurde  nach  dem 
Stadtbrand  von  1626  angelegt,  „wodurch  der  Alte  Markt  an  Bedeutung  verlor":  Karl  Boese, 
Geschichte  der  Stadt  Schneidemiihl,  Schneidemiihl  1935,  S.  224. 

4  Mitteilung  von  Peter  Simonstein  Cullmann  aufgrund  der  Adressbiicher  von  Schneide- 
miihl aus  denjahren  1896  und  1905.  Zum  Tod  von  Isert  Asch  vgl.  Cullman,  S.  313,  der  sich 
auf  die  Beerdigungsakten  des  jiidischen  Friedhofs  von  Schneidemiihl  bezieht. 

5  Cullman,  S.  105  Anm.  331,  wo  auf  Karl  Boese,  Geschichte  der  Stadt  Schneidemiihl 
(Ostdeutsche  Beitrage  aus  dem  Gottinger  Arbeitskreis  XXX),  2.  Aufl.  Wiirzburg  1965,  S.  59 
verwiesen  wird.  Cullman  nennt  ebd.  fiir  das  Jahr  1892  einen  „Kaufmann  Asch"  als  Stadtver- 
ordneten von  Schneidemiihl. 


624  Nachrichten 

Markt  1 .  Jiirgen  Asch  stammte  also  von  Vaters  Seite  aus  einer  gut  situierten  biirgerlichen 
jiidischen  Familie. 

Moritz  Asch  zog  am  15.  Januar  1922  von  Schneidemuhl  nach  Liibeck,  wo  er  den  Beruf 
eines  Kontoristen  ausiibte.  Er  meldete  sich  am  4.  Marz  1929  nach  Schneidemuhl  ab, 
doch  erfolgte  am  13.  Dezember  1930  eine  erneute  Meldungin  Liibeck.  Nun  wohnte  erin 
der  Schwartauer  Allee  141,  also  im  Haus  der  Witwe  Wilhelmine  KlieB.  Erheiratete  deren 
Tochter  Bertha,  geboren  am  28.Juni  1895  in  Travemiinde.''  Moritz  Asch  lebte  in  Liibeck, 
bis  er  sich  am  27.  Marz  1931  nach  Berlin  abmeldete.  Als  Berliner  Adresse  erscheint  zu- 
nachst  die  PaulsenstraBe  55  in  Steglitz,  dann  die  LibellenstraBe  5  in  Nikolassee.  Als 
Sohn  von  Moritz  und  Bertha  Asch  wurde  am  2.  Juli  1931  Jiirgen  Asch  in  Berlin-Lichter- 
felde  geboren.7 

Unter  der  nationalsozialistischen  Herrschaft  wurde  die  jiidische  Herkunft  des  Ehe- 
manns  belastend.  In  den  Berliner  Adressbiichern  erscheint  Moritz  Asch  1932  als  Kauf- 
mann,  1934  als  Hausbesitzer,  spater  als  Hausbesitzer  und  Rentier.  Die  Abfolge  dieser  An- 
gaben  legt  nahe,  dass  hier  ein  Zwang  bestand,  aus  dem  Berufsleben  auszuscheiden.  Jiir- 
gen Asch  besuchte  ab  Ostern  1938  die  „3.  Volksschule"  in  Berlin-Schlachtensee.  Auch 
fur  Jiirgen  Asch  war  die  jiidische  Herkunft  des  Vaters  ein  Problem.  So  wurde  er  mit  der 
Situation  konfrontiert,  dass  Eltern  „gefragt  wurden,  ob  sie  damit  einverstanden  seien, 
dass  ihre  Kinder  neben  einemjudenkind  saBen".  Darauf  soil  der  Lehrer  beruhigend  ge- 
antwortethaben:  „Es  warenicht  so  schlimm,  derjiirgen  kamejamehrnach  der  Mutter."8 

Nach  dem  Pogrom  vom  9.  November  1938  gab  die  Geheime  Staatspolizei  die  Anord- 
nung  heraus,  20  bis  30.000  „vor  allem  vermogende"  und  „gesunde  mannliche  Juden 
nicht  zu  hohen  Alters"  zu  verhaften  und  in  die  Konzentrationslager  Dachau,  Buchen- 
wald  und  Sachsenhausen  einzuliefern.  Die  Festnahmen  erfolgten  ohne  Angabe  von 
Griinden,  die  Familienangehorigen  blieben  iiber  den  Aufenthaltsort  der  Verhafteten  im 
Ungewissen.''  Es  waren  iiber  6.000  Juden,  die  nach  dem  9.  November  1938  innerhalb 
von  wenigen  Tagen  in  das  Konzentrationslager  Sachsenhausen  transportiert  wurden. 
Lastwagen  brachten  etwa  3.000  Juden  aus  Berlin  bis  an  das  Tor  des  Lagers1"  -  zu  ihnen 
muss  auch  Moritz  Asch  gehort  haben.  Uber  den  Termin  und  die  Umstande  seiner  Ver- 
haftung  ist  zwar  nichts  bekannt.  Da  aber  die  Welle  der  Verhaftungen  nach  der  Pogrom- 
nacht  zeitlich  begrenzt  war,  ist  davon  auszugehen,  dass  er  zwischen  dem  10.  und  dem 


6  Die  oben  in  Anm.  2  dokumentierte  standesamtliche  Namensgebung  fur  Moritz  Asch 
tragt  einen  undatierten  Hinweis  auf  das  Standesamt  Liibeck  mit  der  dort  dokumentierten 
Heirat  von  Moritz  Asch. 

7  Mitteilung  des  Landesarchivs  Berlin  vom  5.  November  2007. 

8  Predigt  von  Pastor  i.R.  Eckard  Bretzke  iiber  Psalm  119  Vers  105  anlasslich  der  Trauer- 
feier  fiir  Dr.  Jiirgen  Asch  am  31.  August  2007  in  der  Tituskirche  zu  Hannover. 

9  Heiko  Pollmeier,  Die  Verhaftungen  nach  dem  November-Pogrom  1938  und  die  Mas- 
seninternierung  in  den  „judischen  Baracken"  des  KZ  Sachsenhausen,  in:  Giinter  Morsch/ 
Susanne  zur  Nieden  (Hrsg.) ,  Jiidische  Haftlinge  im  Konzentrationslager  Sachsenhausen 
1936  bis  1945  (Schriftenreihe  der  Stiftung  Brandenburgische  Gedenkstatten  12),  Berlin  2004, 
S.  164-179,  hier  S. 167  f. 

10  Hans  Reiohmann,  Deutscher  Biirger  und  verfolgter  Jude.  Novemberpogrom  und  KZ 
Sachsenhausen  1937  bis  1939,  bearbeitet  von  Michael  WlLDT  (Biographische  Quellen  zur 
Zeitgeschichte,  hrsg.  im  Auftrag  des  Instituts  fiir  Zeitgeschichte  von  Werner  Roder  und  Udo 
Wengst,  Bd.  21),  Munchen  1998,  S.  135. 


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16.  November  1938  festgenommen  und  nach  Sachsenhausen  transportiert  wurde,  wobei 
der  16.  November  der  Termin  war,  an  dem  Heydrich  an  alle  Gestapostellen  den  Befehl 
richtete,  die  Verhaftung  von  Juden  und  ihren  Transport  in  Konzentrationslager  einzu- 
stellen." 

Aus  den  Berichten  iiber  die  Ankunft  der  Lastwagen  mit  den  Juden  aus  Berlin  geht 
hervor,  dass  der  Empfang  im  Lager  mit  brutalen  Ubergriffen  der  Wachmannschaften 
verbunden  war.  Die  bei  Nacht  eintreffenden  Lastwagen  wurden  am  Lagereingang  von 
starken  Scheinwerfern  angestrahlt.  Begleitet  vom  lauten  Gebriill  und  den  Schlagen  der 
Wachmannschaften  wurden  die  Verhafteten  dann  auf  den  Appellplatz  getrieben,  wobei 
es  bereits  zu  den  ersten  Verletzungen  kam  -  „die  Behandlung  der  Neuankommlinge 
war  unvergleichlich  brutal;  aul  diese  Weise  war  noch  keine  Haftlingsgruppe  .  .  .  emp- 
fangen  worden."12  Die  brutale  Behandlung  der  jiidischen  Haftlinge  hielt  auch  in  der 
Folgezeit  an. 

Der  Ankunft  im  Lager  folgte  das  Aufnahmeritual,  dass  immer  wieder  mit  Schlagen 
und  anderen  Demiitigungen  verbunden  war.  Es  zog  sich  fur  die  zuerst  angekommene 
Gruppe  von  Berlinerjuden  acht  Stunden  hin,  die  „Ank6mmlinge  des  11.,  12.,  13.  und  14. 
November  haben  durchschnittlich  16  bis  18  Stunden  stehen  miissen".13  Die  Haftlings- 
und  Blocknummern  wurden  verteilt,  danach  mussten  sich  alle  entkleiden,  „Kleidung, 
Wertsachen  und  Geld  wurden  registriert  und  in  der  Effektenkammer  aufbewahrt".  An- 
schlieBend  fanden  eine  arztliche  Untersuchung  und  ein  Duschbad  statt,  dann  wurde  die 
Haftlingskleidung  verteilt.  SchlieBlich  wurden  die  Haftlinge  zu  den  Baracken  des  Klei- 
nen  Lagers  gefuhrt.  In  die  urspriinglich  fur  jeweils  150  Personen  geplanten  Baracken 
„pferchte  die  SS  bis  zu  400  Haftlinge"."  Um  Platz  fiir  die  fjbernachtung  zu  schaffen, 
„hatte  man  die  mehrstockigen  Betten  herausgeraumt  und  den  Boden  mit  Stroh  be- 
deckt".1''  Nach  dem  Bericht  des  Haftlings  Siegmund  Weitlinger  war  es  beim  Schlafen  so 
eng,  „daB  wir  nur  seitlich  liegen  konnten.  Viele  Kranke  waren  unter  uns,  die  .  .  .  genauso 
hart  arbeiten  muBten  wie  alle  anderen.  .  .  .  Wie  oft  kam  es  vor,  daB  nachts  der  Nachbar 
rochelte  und  im  Todeskampf  lag.  Keinerkonnte  ihm  helfen,und  am  Morgen  lag  man  ne- 
ben  einer  Leiche.""'  Der  Tag  der  Haftlinge  begann  mit  dem  Wecken  um  fiinf  Uhr,  am 
Morgen  und  am  Abend  fand  ein  Zahlappell  statt,  an  dem  alle  Haftlinge,  auch  die  Kran- 
ken,  teilnehmen  mussten.  Es  war  ein  Appell,  der  sich  lang  hinziehen  konnte,  sobald  es 
Unstimmigkeiten  bei  der  Meldung  der  Haftlinge  gab.  Die  Arbeitsbelastung  der  Gefange- 


11  Heydrich  an  alle  Stapostellen,  16.  November  1938:  Kurt  Patzold  (Hrsg.) ,  Verfolgung, 
Vertreibung,  Vernichtung.  Dokumente  des  faschistischen  Antisemitismus  1933  bis  1942, 
Frankfurt  1984,  S.  183 f. 

12  Pollmeier,  Verhaftungen,  S.  172  f.  Vgl.  auch  Heiko  Pollmeier,  Inhaftierung  und  La 
gererfahrung  deutscher Juden  im  November  1938,  in:  Jahrbuch  fiir  Antisemitismusforschung 
8,  1999,  S.  107-130. 

13  Reichmann,  S.  133. 

14  Pollmeier,  Verhaftungen,  S.  173f. 

15  Pollmeier,  Inhaftierung,  S.  112f. 

16  Harry  Naujoks,  Mein  Leben  im  KZ  Sachsenhausen  1936T942.  Erinnerungen  des 
ehemaligen  Lageraltesten,  bearbeitet  von  Ursel  Hochmuth,  hrsg.  von  Martha  Naujoks  und 
dem  Sachsenhausen-Komitee  fiir  die  BRD,  Koln  1987,  S.  91.  Weitlinger  hat  auch  berichtet, 
dass  das  Jiidische  Krankenhaus  in  Berlin  zahlreiche  „Amputationen  von  erfrorenen  Glie- 
dern  an  entlassenen  Sachsenhausener Juden"  vornehmen  musste:  ebd.,  S.  93. 


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nen  war  sehr  hoch,  die  Ernahrung  dagegen  unzureichend.  Gefiirchtet  war  besonders  die 
Arbeit  auf  der  Baustelle  des  „Klinkerwerks",  einer  Ziegelei.17  Das  Klinkerwerk  wurde 
auch  als  „die  Holle  des  Lagers"  bezeichnet.ls 

Die  Haftbedingungen  der  nach  der  Pogromnacht  des  9.  November  1938  verhafteten 
Juden  fiihrten  dazu,  dass  die  Todesrate  im  Lager  Sachsenhausen  seit  November  1938 
deutlich  anstieg.1!)  Aus  vier  jiidischen  Haftlingen  wurde  ein  „Leichen-Kommando"  ge- 
bildet,  das  die  Toten  aus  dem  Krankenrevier  holte,  sie  wusch,  „in  ein  Papierhemd" 
kleidete  und  „auf  Holzspane"bettete.  Dann  kamen  die  Leichen  in  einen  „schwarzen  Ka- 
sten  .  .  . ,  den  diese  vier  Manner  drei,  fiinf,  ja  zehn  Mai  am  Tag  durchs  Lager  in  den  Lei- 
chenschuppen  tragen.  Es  brullt  iiber  den  Appell-Platz:  ,Leichen-Kommando'!  Und 
dann  marschieren  die  vier  Kameraden,  die  jeder  kennt  und  mit  scheuem  Blick  begleitet, 
militarisch  formiert  ins  Revier.  In  sechs  Wochen  haben  sie  mehr  als  90  Juden  einge- 
sargt."20  DerTod  des  Haftlings  Moritz  Asch  ist  durch  das  Sterbezweitbuch  Nr.0448  des 
Standesamts  Oranienburg  dokumentiert,  wo  als  Zeitpunkt  der  8.  Dezember  1938,  23.30 
Uhr,  genannt  wird.  Moritz  Asch  hat  sich  also  allenfalls  einen  Monat  lang  im  Lager  aufge- 
halten,  er  war  55  Jahre  alt  geworden.  Als  Todesursache  wird  „Herzmuskelschwache"  an- 
gegeben,  als  „Anzeigender"  fur  die  Todesmeldung  der  „Lagerkommandant  des  Lagers 
Sachsenhausen  in  Oranienburg"  genannt.-1  Es  liegt  auBerdem  eine  „Veranderungsmel- 
dung"  der  „Gefangen-Geld  und  Effektenverwaltung"  des  Konzentrationslagers  vom  9. 
Dezember  1938  vor,  in  der  Moritz  Asch,  „Haftlingsnummer  008156",  als  „verstorben"  ge- 
meldet  wird.2- 

Im  iibrigen  ist  davon  auszugehen,  dass  die  Brutalitat  der  antisemitischen  Aktionen, 
die  seitens  der  Wachmannschaften  gegen  die  nach  dem  9.  November  in  die  Konzentrati- 
onslager  eingelieferten  Juden  veriibt  wurden,  deren  Abwendung  von  ihrer  deutschen 
Heimat  vorantreiben  sollte.  Dies  verdeutlicht  der  Bericht  von  Hans  Reichmann  iiber  sei- 
ne Zeit  im  Konzentrationslager  Sachsenhausen.  Er  hatte  seit  1927  Leitungsfunktionen 
im  „Centralverein  deutscher  Staatsbiirger  jiidischen  Glaubens",  einer  Organisation,  die 
sich  bewusst  fur  die  Anerkennung  derjuden  als  deutsche  Staatsbiirger  jiidischer  Konfes- 
sion  einsetzte,ja,  die  „die  deutsche  Kultur  gegen  den  undeutschen  Geist  des  Antisemitis- 
mus  verteidigte".-'1  In  dem  Bericht  iiber  seine  Haft  in  Sachsenhausen  hat  er  seit  dem 
ersten  Tag  im  Lager  dariiber  reflektiert,  „wo  kommen  nur  solche  Menschen  her?"  Ihm 


17  Pollmeier,  Verhaftungen,  S.  174ff. 

18  So  Reichmann,  S.  152.  Ebd.,  S.  217  auch  die  im  Lager  verbreitete  Formulierung:  „Lie- 
ber  ein  Jahr  Z[uchthaus]  als  eine  Woche  KZ!" 

19  Pollmeier,  Verhaftungen,  S.  176f.  mit  Anm.  30. 

20  Reichmann,  S.  197,  der  auch  darauf  hinweist,  dass  das  Leichenkommando  erst  nach 
der  Progromnacht  und  der  dann  folgenden  Aufnahme  von  Juden  in  Sachsenhausen  gebildet 
wurde. 

21  Datenbankauszuge  von  Gedenkstatte  und  Museum  Sachsenhausen,  Oranienburg, 
Objekt-Nr.  167.138.  Auf  den  Tod  von  Moritz  Asch  am  8.  Dezember  1938  im  Konzentrations- 
lager Sachsenhausen  weist  auch  das  Gedenkbuch  Opfer  der  Verfolgung  derjuden  unter  der 
nationalsozialistischen  Gewaltherrschaft  in  Deutschland  1933-1945,  bearbeitet  und  heraus- 
gegeben  vom  Bundesarchiv,  2.  Aufl.  Koblenz  2006,  Bd.  1  S.  97  hin. 

22  „Aussteller"  dieser  Meldung  ist  SS-Obersturmfiihrer  Chmielewski:  Datenbankauszii- 
ge  von  Gedenkstatte  und  Museum  Sachsenhausen,  Oranienburg,  Objekt-Nr.  14.792. 

23  Einleitung  zum  Bericht  von  Reichmann,  S.  2ff. 


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waren  zwar  immer  wieder  in  seinem  Leben  antisemitische  Agressionen  begegnet  -  „aber 
das  hier  ist  ein  unvergleichbares  Furioso!"24 

Letztlich  war  die  Haft  im  Konzentrationslager  bei  den  nach  der  Pogromnacht  des  9. 
November  1938  verhafteten  Juden  als  Druckmittel  gedacht.  Erreichen  wollte  man  von 
den  Verhafteten  den  Verkauf  von  Vermogenswerten  unter  Arisierungsbedingungen,  vor 
allem  aber  sollten  die  Verhafteten  zur  Auswanderung  veranlasst  werden.  Tatsachlich 
wurde  die  Mehrzahl  der  Verhafteten  im  Dezember  1938  und  Januar  1939  wieder  entlas- 
sen  -  „meistens  hatten  Verwandte  oder  Freunde  zuvor  bei  den  Polizeistellen  Bescheini- 
gungen  vorgelegt,  die  nachwiesen,  dass  eine  Auswanderung  in  die  Wege  geleitet  worden 
war."2,1  Der  Tod  im  Lager  schloss  diese  Perspektive  bei  Moritz  Asch  aus.  Doch  bleibt  zu 
fragen,  ob  eine  solche  Perspektive  fur  ihn  iiberhaupt  denkbar  war.  Die  Ehe  mit  einer 
christlichen  Frau  und  die  christliche  Erziehung  seines  Sohns  Jiirgen  waren  auf  ein  Blei- 
ben  in  Deutschland  angelegt.  Es  ist  also  eher  davon  auszugehen,  dass  Moritz  Asch  die 
„rettende  Perspektive"  einer  Auswanderung  als  zusatzliche  Belastung  empfunden  hat. 

Moritz  Asch  wurde  am  13.  Dezember  1938  auf  dem Jiidischen  Friedhof  in  Berlin-Wei- 
Bensee  bestattet.-''  Die  Mutter  von  Jiirgen  Asch  teilte  den  Tod  des  Vaters  ihrem  Sohn 
beim  bald  folgenden  Weihnachtsfest  mit.-7  Die  Pflege  des  Grabes  ist  nach  Mitteilung 
der  Friedhofsverwaltung  von  Jiirgen  Asch  bis  zu  seinem  Tode  wahrgenommen  worden. 

Nach  vierjahren  Grundschule  wurde  Jiirgen  Asch  Ostern  1942  in  die  Dreilinden-O- 
berschule  in  Berlin-Wannsee  aufgenommen.  Er  gait  nach  der  1.  Verordnung  zum 
Reichsbiirgergesetz  vom  14.  November  1935  als  Mischling  ersten  Grades.  Definiert  wur- 
de derGrad  eines  Mischlings  nach  der  Anzahl  seinerjiidischen  GroBeltern:  hatte  erzwei 
jiidische  GroBelternteile,  so  war  er  ein  Mischling  ersten  Grades;  hatte  er  einen  jiidischen 
GroBelternteil,  so  war  er  ein  Mischling  zweiten  Grades. 'M  Jiirgen  Asch  hatte  zwei  jiidi- 
sche GroBelternteile  -  jeweils  einen  fiber  den  Vater  und  einen  iiber  die  Mutter  des  Va- 
ters. Im  Dezember  1938  wurde  die  Kategorie  der  „privilegierten"  und  der  „nicht  privile- 
gierten"  Mischehen  entwickelt.  Die  Familie  Asch  gait  als  „privilegierte"  Mischehe,  da  es 
sich  hier  um  ein  Paar  handelte,  in  dem  der  Mann  jiidisch  und  die  Frau  nichtjiidisch  war 
und  wo  „nichtjiidisch  erzogene  Kinder  existierten.  Familien  in  dieser  Konstellation  durf- 
ten  in  der  bisherigen  Wohnung  verbleiben,  das  Vermogen  konnte  auf  den  nichtjiidi- 
schen  Partner  bzw.  auf  die  Kinder  iibertragen  werden."-'' 


24  Ebd.,  S.  127.  Ebd.,  S.  189T93  eine  Beschreibung  der  Priigelstrafen  auf  dem  Bock  und 
am  Pfahl. 

25  POLLMEIER,  S.   168. 

26  Mitteilung  derjiidischen  Gemeinde  Berlin,  Judischer  Friedhof  Weissensee,  vom  13. 
November  2007.  Ebd.  eine  Kopie  der  Eintragung  fur  Moritz  Asch  in  den  Friedhofsakten, 
Nr.  99.590,  ferner  ein  Lageplan  des  Jiidischen  Friedhofs  in  Berlin-WeiBensee  mit  Einzeich- 
nung  der  Grabstatte  unter  M  7.  Die  Leiche  war  nicht  eingeaschert  worden,  wie  das  sonst  bei 
den  Toten  der  Konzentrationslager  ublich  war. 

27  Predigt  von  Pastor  i.R.  Eckard  Bretzke  iiber  Psalm  119  Vers  105  anlasslich  der  Trauer- 
feier  fur  Dr.  Jiirgen  Asch  am  31.  August  2007  in  der  Tituskirche  zu  Hannover. 

28  Dazu  die  Definition  des  Mischlingsbegriffs  in:  Wolfgang  Benz/ Hermann  Graml/ 
Hermann  Weiss  (Hrsg.),  Enzyklopadie  des  Nationalsozialismus,  2.  Aufl.  Miinchen  1998, 
S.  586 f. 

29  Geheimer  Schnellbrief  des  Ministerprasidenten  Generalfeldmarschall  Goring  an  den 
Reichsminister  des  Innern,  28.  Dezember  1938:  Beate  Meyer,  „Jiidische  Mischlinge",  Ras- 


628  Nachrichten 

Nach  dem  Runderlass  des  Reichsministers  fur  Wissenschaft,  Erziehung  und  Volksbil- 
dung  vom  2.  Juli  1942  waren  „jiidische  Mischlinge  ersten  Grades  ...  in  die  Hauptschu- 
len,  Mittelschulen  und  Hoheren  Schulen  kiinftig  nicht  mehr  aufzunehmen".  Allerdings 
galten  fur  Jiirgen  Asch  besondere  Bestimmungen  des  Runderlasses.  „Jiidische  Mischlin- 
ge ersten  Grades",  so  hiefi  es  namlich,  „die  sich  in  den  Klassen  1-4  einer  Mittel-  oder  Ho- 
heren Schule  oder  der  entsprechenden  Klasse  einer  Hauptschule  befinden,  haben  die 
Schule  mit  dem  Zeitpunkt  der  Beendigung  ihrer  Volksschulpflicht  zu  verlassen."  Auf 
diese  Weise  erhielt  der  Runderlass  zumindest  formal  die  allgemeine  Schulpflicht,  die 
sich  an  einer  achtjahrigen  Volksschulzeit  orientierte,  auch  fur  „jiidische  Mischlinge"  auf- 
recht.  Wenn  Jiirgen  Asch  seit  Ostern  1942  die  Dreilinden-Oberschule  in  Berlin-Wann- 
see  besucht  hat,  so  befand  er  sich  am  2.  Juli  1942,  als  der  erwahnte  Runderlass  erging, 
noch  in  der  Ersten  Klasse,  er  hatte  die  Oberschule  noch  bis  zum  Ende  der  Vierten  Klasse 
besuchen  diirfen  -  was  rein  rechnerisch  zu  Ostern  1946  der  Fall  gewesen  ware.  Solange 
hier  keine  weiteren  Informationen  vorliegen,  ist  also  davon  auszugehen,  dass  Jiirgen 
Asch  bis  zum  Verlassen  Berlins  im  Februar  1944  die  Dreilinden-Oberschule  besucht 
hat.  Wie  es  zu  diesem  Februartermin  gekommen  ist,  lasst  sich  nur  vermuten. 

Blickt  man  auf  die  Verhaltnisse  an  den  Berliner  Volksschulen,  so  ist  nachgewiesen, 
dass  die  Zahl  der  Kinder  groB  war,  die  dem  im  Spatsommer  1943  ergangenen  Evakuie- 
rungsaufruf  nicht  gefolgt  waren.  Viele  Eltern  schickten  ihre  Kinder  nicht  in  die  Evakuie- 
rungsgebiete  wie  z.B.  OstpreuBen  oder  Pommern,  nur  eine  begrenzte  Zahl  von  Eltern 
lieB  ihre  Kinder  mit  den  Schulen  die  Stadt  verlassen."  Die  in  Berlin  verbliebenen  Kin- 
der waren  weiterhin  der  Schulpflicht  unterworfen,  sie  besuchten  den  Unterricht  in  den 
noch  geoffneten  Schulen.  Am  19.  Januar  1944  erging  dann  die  Anordnung,  die  Berliner 
„Restschulen  in  die  Aufnahme-  und  Ausweichgebiete"  zu  verlegen  oder  aber  „die  in  Ber- 
lin zuriickgebliebenen  Schiiler,  soweit  sie  umquartierungsfahig  sind,  auf  dem  Wege  der 
Verwandtenhilfe  nach  auBerhalb"  zu  bringen.  „Diejenigen  Eltern,  die  ihre  Kinder  wei- 
terhin in  Berlin  zuriickbehalten,  haben  auch  die  Verantwortung  fur  deren  Nichtbeschu- 
lung  und  ihre  Folgen  allein  zu  iibernehmen."  AbschlieBend  hieB  es:  „Mit  einer  Wieder- 
aufnahme  des  Unterrichts  in  Berlin  ist  nicht  zu  rechnen."3-  Dieser  Hinweis  wurde  im 
Februar  1944  noch  einmal  in  ein  Flugblatt  der  Schulverwaltung  iibernommen,  das  mit 
der  Formulierung  „Luftnotgebiete  sind  kein  Platz  fur  Kinder"  erneut  zur  Evakuierung 


senpolitik  und  Verfolgungserfahrung  1933-1945  (Studien  zur  jiidischen  Geschichte  6),  Ham- 
burg 1999,  S.  30  mit  Anm.  56. 

30  Deutsche  Wissenschaft,  Erziehung  und  Volksbildung.  Amtsblatt  des  Reichsministeri- 
ums  fur  Wissenschaft,  Erziehung  und  Volksbildung  und  der  Unterrichtsverwaltungen  der 
Lander,  8.  Jg.,  Berlin  1942,  S.  278.  Dazu  Joseph  Walk,  Das  Sonderrecht  fur  die  Juden  im 
NS-Staat.  Eine  Sammhmg  der  gesetzlichen  MaBnahmen  und  Richtlinien  -  Inhalt  und  Be- 
deutung,  Heidelberg  Karlsruhe  1981,  S.  379,  IV  Nr.  384,  Inhaltsangabe. 

31  Arbeitsgruppe  Padagogisches  Museum  (Hrsg.),  Heil  Hitler,  Herr  Lehrer.  Volksschule 
1933-1945.  Das  Beispiel  Berlin,  erarbeitet  von  Norbert  Frank  (Redaktion) / Gesine  Asmus 
(Bildredakteurin),  Hamburg  1983,  S.  222.  Ebd.,  S.  206  eine  Tabelle,  die  den  zahlenmaBi- 
gen  Vergleich  der  Schiiler  erlaubt,  die  „mit  der  Schule  Berlin  verlassen",  „von  den  Eltern  in 
Berlin  zuruckgehalten"  oder  „von  den  Eltern  selbstandig  in  anderen  Orten  untergebracht 
werden". 

32  Ebd.,  S.  207f. 


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der  Schulkinder  aus  Berlin  aufforderte.1'1  Im  Februar  1944  hat  auch  Jiirgen  Asch  Berlin 
verlassen,  wobei  ein  Zusammenhang  mit  dem  Aufruf  der  Schulverwaltung  nahe  liegt.  Er 
meldete  sich  in  diesem  Monat  in  Liibeck  an,  wo  er  zur  GroBmutter  miitterlicherseits  in 
die  HeinrichstraBe  zog.lil  Seine  Mutter  folgte  ihm  am  9.  August  1944.  Nach  eigenen 
Angaben  istjiirgen  Asch  dann  1945  in  die  Quarta,  also  in  die  3.  Klasse  desjohanneums, 
Oberschule  zu  Liibeck,  aufgenommen  worden,  wo  er  1952  das  Abitur  gemacht  hat.'* 

Jiirgen  Asch  hat  mit  dem  Sommersemester  1952  ein  Studium  der  Geschichte,  Germa- 
nistik  und  Philosophie  an  der  Universitat  in  Hamburg  begonnen,  dieses  durch  den 
Wechsel  an  die  Universitat  Tubingen  zum  Sommersemester  1955  dann  einmal  unterbro- 
chen,  es  danach  aber  bis  zum  Sommersemester  1957  wieder  in  Hamburg  fortgesetzt  und 
dort  auch  abgeschlossen.  Die  Studienzeit  war  fur  ihn  finanziell  schwer  zu  bewaltigen,  da 
Mutter  und  Sohn  Asch  als  Hinterbliebene  eines  Opfers  des  Nationalsozialismus  ledig- 
lich  iiber  eine  kleine  Rente  verfiigten  und  Zahlungen  aus  dem  Lastenausgleichsfond  fur 
die  Vermogensverluste  in  Schneidemiihl  -Jiirgen  Asch  war  als  Erbe  seiner  hoch  betagt 
nach  Theresienstadt  deportierten  und  dort  umgekommenen  Tante  anerkannt  worden  - 
erst  nach  dem  Abschluss  des  Studiums  zu  Anfang  der  1960er  Jahre  eingegangen  sind. 
Durch  Tatigkeiten  bei  Liibecker  Behorden  hat  er  daher  seine  Finanzen  in  den  ersten  Stu- 
dienjahren  regelmaBig  aufbessern  miissen,  sparer  wurde  er  mehrfach  vom  Hamburger 
Studentenwerk  mit  Stipendien  unterstiitzt. 

Jiirgen  Asch  hat  die  Geschichtswissenschaft  sehr  bald  zum  Schwerpunkt  seiner  Studi- 
en  gemacht  und  zu  Anfang  in  Hamburg  vor  allem  mittelalterliche,  hansische  und  osteu- 
ropaische  Geschichte  bei  den  Professoren  Aubin  und  Johansen,  in  Tubingen  dagegen 
Zeitgeschichte  bei  Professor  Rothfels  betrieben.  Wie  andere  Hamburger  Geschichtsstu- 
denten  hat  er  dann  im  weiteren  Verlauf  seines  Studiums  den  besonderen  Erkenntnisreiz 
und  methodischen  Anspruch  erlebt,  den  die  Forschungsweise  Otto  Brunners  bot,  der 
die  Verfassungsgeschichte  des  Mittelalters  und  der  Friihen  Neuzeit  zur  Sozial-  und 
Strukturgeschichte  erweiterte.  In  ihm  und  dem  Liibecker  Archivdirektor  Ahasver  von 
Brandt,  der  in  einer  ganz  auf  die  Bediirfnisse  junger  Forscher  zugeschnittenen  Weise  die 
Historischen  Hilfswissenschaften  an  der  Universitat  Hamburg  vertrat,  hat  er  seine  maB- 
geblichen  Lehrer  gesehen.  Aus  einem  Seminar  Otto  Brunners  iiber  Verfassungskampfe 
und  Zunftunruhen  in  deutschen  Stadten  ist  dann  auch  seine  Dissertation  hervorgegan- 
gen,  die  iiber  Rat  und  Biirgerschaft  in  Liibeck  in  derZeit  von  1598  bis  1669  handelte  und 
1961  publiziert  wurde.  Nachdem  Jiirgen  Asch  bereits  1958  das  Erste  Staatsexamen  fur 
den  Hohere  Lehramt  abgelegt  hatte,  hat  sich  der  Abschluss  seiner  Promotion  jedoch 
noch  bis  zum  Juli  1960  hingezogen,  weil  die  einschlagigen  Liibecker  Archivbestande, 
deren  Erforschung  fur  ihn  unverzichtbar  war,  im  Zuge  der  kriegsbedingten  Auslagerung 
in  der  DDR  lagerten,  nun  aber  auch  von  westlichen  Wissenschaftlern  auf  besonderen 
Antrag  hin  im  Deutschen  Zentralarchiv  zu  Potsdam  benutzt  werden  konnten.  Langere, 
mit  erheblichen  Kosten  verbundene  Forschungszeiten  hat  Jiirgen  Asch  daher  in  den  Jah- 
ren  1957  und  1959  dort  verbracht.  Zum  ersten  Mai  hat  er  dabei  umfangreiche  Arbeit  am 


33  „An  alle  Eltern,  deren  Kinder  noch  in  Berlin  wohnen":  ebd.,  S.  208. 

34  Meldekarte  Jiirgen  Asch  im  Archiv  der  Hansestadt  Liibeck. 

35  Meldekarte  Bertha  Asch,  ebd. 

36  Die  Abiturarbeiten  befinden  sich  im  Archiv  der  Hansestadt  Liibeck,  Bestand  3. 
2.1/2  Oberschule  Johanneum",  Erwerb  22/1998  Nr.  260. 


630  Nachrichten 

Archivgut  geleistet  und  ist  zugleich  mit  einem  der  schwierigsten  damaligen  Archivpro- 
bleme,  dem  Zugang  zu  im  Krieg  ausgelagertem  Archivgut,  das  im  Auffangarchiv  als 
Fremdkorper  empfunden  wurde,  konfrontiert  worden. 

Sein  Naturell,  die  Pragung  durch  seine  akademischen  Lehrer  und  die  konkrete  Erfah- 
rung  der  Archivarbeit  haben  ihn  dann  bewogen,  Archivar  zu  werden.  Auf  der  Grundlage 
personlicher  Verbindungen  zwischen  Professor  Brunner  und  dem  damaligen  Leiter  der 
niedersachsischen  Archivverwaltung  Dr.  Grieser  wurde  er  in  die  Ausbildung  fur  den  ho- 
heren  niedersachsischen  Archivdienst  aufgenommen.  Er  hat  wahrend  dieser  Anfangs- 
phase  archivarischen  Lernens  einer  Gruppe  von  Archivreferendaren  angehort,  die  den 
inzwischen  erfolgten  oder  fest  geplanten  institutionellen  Ausbau  des  staatlichen  nieder- 
sachsischen Archivwesens  personell  ausfiillen  sollte,  also  nach  der  Ausbildung  sichere 
Berufschancen  hatte.  Dieser  Gruppe  ist  Jiirgen  Asch  zunachst  mit  der  ihm  eigentumli- 
chen,  auch  spater  nie  ganz  verlorenen  Zuruckhaltung,  wahrscheinlich  die  Konsequenz 
seiner  besonderen  Lebenssituation,  begegnet.  Den  Mangel  an  korperlicher  Robustheit 
und  an  der  Fahigkeit  des  Zupackens  hat  er  aber  schon  damals  durch  die  scharfe  intellek- 
tuelle  Analyse  der  an  ihn  gestellten  Anforderungen  und  durch  ein  hohes  MaB  an  Kritik- 
fahigkeit  ausgeglichen.  Die  Einsamkeit,  die  ihn  merklich  umgab,  haben  lange  Zeit  nur 
wenige  Menschen  kommunikativ  oder  emotional  zu  durchbrechen  vermocht.  Weder 
dienstlich  noch  im  kollegialen  Berufszusammenhang  konnte  er  daher  iiber  seine  Her- 
kunft  und  das  in  der  Kindheit  erlebte  Schicksal  des  Vaters  sprechen.  Und  dass  diese 
strikte,  sich  erst  spater  etwas  lockernde  Haltung  dann  ganz  allgemein  auch  berechtigt 
war,  das  haben  die  um  ihn  Trauernden,  so  miissen  wir  es,  ohne  den  hinter  diesen  Worten 
stehenden  Sachverhalt  naher  ausfuhren  zu  wollen,  leider  ausdriicken,  schlieBlich  noch 
nach  seinem  Tode  erfahren. 

Jiirgen  Asch  hat  nach  der  1964  beendeten  Ausbildung  zunachst  vier  Jahre  lang  am 
Staatsarchiv  in  Oldenburg  gewirkt  und  ist  nach  der  Versetzung  an  das  Hauptstaatsarchiv 
in  Hannover  ab  1968  in  dieser  Stadt  tatig  gewesen.  Beruflich  war  er  zunachst  fur  das 
staatliche  und  deponierte  nichtstaatliche  Archivgut  im  ehemaligen  Regierungsbezirk 
Hildesheim,  spater  fur  das  entsprechende  im  Regierungsbezirk  Hannover  zustandig.  Bei 
der  Ubernahme  und  ErschlieBung  des  zu  seinen  Ressorts  gehorenden  Archivgutes  und 
in  der  Beratung  von  Archivbenutzern  hat  er  sich  bald  eine  in  seiner  Kompetenz  begriin- 
dete  geachtete  Stellung  erworben.  Daruber  hinaus  aber  hat  er  sich  -  so,  als  ob  es  gerade 
fur  ihn  gelte,  sich  aus  tiefem  christlichen  Grundverstandnis  heraus  intensiv  daran  zu  be- 
teiligen,  dass  friihere  politische  Fehlentwicklungen  nicht  nur  kiinftig  verhindert,  son- 
dern  soweit  moglich  auch  aktiv  korrigiert  wiirden  -  in  umfangreicher  Weise  in  der  Ge- 
meindearbeit  seiner  Tituskirche  im  hannoverschen  Stadtteil  Vahrenheide  engagiert. 
Seit  1976  ist  er  vierundzwanzig  Jahre  lang  im  Kirchenvorstand  der  Titusgemeinde,  da- 
von  sechs  Jahre  lang  als  ihr  Vorsitzender,  tatig  gewesen.  Mit  groBer  theologischer  Kennt- 
nis  hat  er  Gottesdienste  mitgestaltet,  in  zahlreichen  kirchlichen  Arbeitskreisen  mitge- 
wirkt  und  sich  nach  der  Wende,  wie  von  kirchlicher  Seite  geauBert  wurde,  als  „Motor  in 
der  Partnerschaftsarbeit  mit  der  Thomasgemeinde  in  Leipzig"  betatigt.  Wie  von  selbst 
verband  sich  schlieBlich  dieses  Engagement  mit  einem  besonderen  Interesse  am  und 
Einsatz  fur  den  christlich-jiidischen  Dialog.  An  der  Arbeit  der  kirchlichen  Gruppe  „Be- 
gegnung  von  Christen  und  Juden"  hat  er  daher  ebenso  teilgenommen  wie  er  als  Mitglied 
der  Arbeitsgemeinschaft  Bergen-Belsen  e.  V.  deren  Aufgabenstellung  gefordert  und  mit 
seinem  groBen  Wissen  um  das  Judentum  bereichert  hat.  Und  der  in  solchem  Tun  und 
Verhalten  zum  Ausdruck  kommende  Wille,  nach  seiner  Einschatzung  notwendige  Kor- 


Nachrufe  631 

rekturen  wo  immer  moglich  zu  befordern,  ist  es  dann  wohl  auch  gewesen,  der  Jiirgen 
Asch  noch  auf  einem  anderen  Gebiet  zum  aktiven  Mittun  bewogen  hat:  Von  1984  bis 
1989  war  er  als  ehrenamtlicher  Richter  der  Disziplinarkammer  beim  Verwaltungsgericht 
in  Hannover  bestellt  und  tatig.  Und  man  kann  sich  vorstellen,  dass  und  wie  er  bei  der 
Uberpriifung  von  Disziplinarurteilen  der  Verwaltung  vor  Gericht  seine  hohe  rationale 
Kritikfahigkeit  eingesetzt  hat. 

Dieses  Jiirgen  Asch  ausfiillende  vielfaltige  kirchlich-gesellschaftliche  Engagement 
hat  ihn  in  seinen  Publikationsabsichten  deutlich  begrenzt.  Das,  was  er  dennoch  in  seiner 
Berufslaulbahn  veroffentlicht  hat,  lag  ganz  auf  seinen  Interessengebieten  und  hat  er  mit 
hoher  analytischer  Kraft  und  gutem  sprachlichen  Vermogen  erarbeitet.  Nach  seiner 
Versetzung  nach  Hannover  hat  er  sich  zunachst  noch  ganz  im  Sinne  seines  akademi- 
schen  Lehrers  Otto  Brunnermit  derfruhen  landlichen  Verfassungs-  und  Sozialgeschich- 
te  in  seinem  neuen  Zustandigkeitsbereich  beschaftigt  und  seine  Ergebnisse  dann  in  ei- 
nem langen,  im  50.  Band  des  Niedersachsischen  Jahrbuchs  fur  Landesgeschichte  1978 
erschienen  Aufsatz  iiber  den  hochmittelalterlichen  Landesausbau  in  Siidniedersachsen 
und  die  in  Hagergerichten  fassbare  spezifische  Rodungsfreiheit  niedergelegt.  Im  An- 
schluss daran  hat  er  sich  dann  der  niedersachsischen  Kirchengeschichte  zugewandt  und 
die  Geschichte  des  Kreuzstifts  zu  Hildesheim  (1978/9)  sowie  in  den  weiteren  1970er  und 
1980erjahren  diejenige  des  Klosters  St.  Blasius  zu  Northeim  und  des  Kanonissenstifts  in 
Bassum  im  Rahmen  der  Germania  Benedictina  abgehandelt.  Aus  dienstlichen  Auftra- 
gen  sind  schlieBlich  die  von  ihm  bearbeitete  12.  verbesserte  Auflage  des  altehrwiirdi- 
gen,  1982  im  Verlag  Hahn  erschienen  Taschenbuches  der  Zeitrechnung  von  Hermann 
Grotefend  sowie  das  mit  Hilfe  von  DFG-Mitteln  zusammen  mit  anderen  erarbeitete 
Findbuch  iiber  ausgewahlte  Einzelfallakten  des  Grenzdurchgangslagers  Friedland  aus 
den  Jahren  1951  bis  1973  hervorgegangen.  Dieses  1992  publizierte  Inventar  erschlieBt 
ein  breites  Quellenmaterial  iiber  das  Schicksal  solcher  Personen,  welche  die  Anerken- 
nung  als  Heimkehrer  nach  dem  entsprechenden  Gesetz  benotigten  und  deshalb  das 
Grenzdurchgangslager  durchlaufen  mussten.  Es  handelt  sich  dabei  also  weniger  um 
deutsche  Kriegsgefangene,  als  vielmehr  um  Zivilinternierte  und  Aussiedler  aus  Osteuro- 
pa  und  dem  Balkan  sowie  um  DDR-Fliichtlinge,  die  haufig  Freiheitsstrafen  verbiiBt  hat- 
ten  und  danach  in  den  Westen  geflohen  waren.  Auch  wenn  die  Leitung  dieses  ebenso 
komplizierten  wie  ertragreichen  ErschlieBungsunternehmens  schon  aufgrund  dienstli- 
cher  Zustandigkeit  bei  Jiirgen  Asch  gelegen  hat,  an  seinem  besonderen  Einsatz  dafiir  war 
doch  zu  erkennen,  dass  er  es  auch  als  seine  moralische  Pflicht  angesehen  hat,  daran  mit- 
zuwirken,  dass  das  Schicksal  so  vieler  durch  die  NS-Herrschaft  und  den  Zweiten  Welt- 
krieg  aus  der  Bahn  Geworfener  geklart  und  vor  dem  Vergessen  bewahrt  wiirde. 

Die  Schlussbearbeitung  dieses  Inventars  war  dann  auch  eine  seiner  letzten  groBeren 
dienstlichen  Arbeiten.  Aus  gesundheitlichen  Griinden  -Jiirgen  Asch  litt  u.a.  an  einer 
das  Sehfeld  zunehmend  einschrankenden  Augenkrankheit  -  wurde  er  auf  seinen  Antrag 
hin  zum  Ende  des  Monats  September  1991  vorzeitig  in  den  Ruhestand  versetzt.  Nun- 
mehr  hat  er  sich  in  noch  starkerem  MaBe  und  mit  groBer  Treue  -  langst  war  er  namlich 
aus  dem  Norden  Hannovers  ganz  in  den  Siiden  verzogen  -  weiterhin  der  Gemeindear- 
beit  in  der  Vahrenheider  Tituskirche  und  der  christlich-jiidischen  Versohnung  gewid- 
met.  Dabei  hat  er  denn  auch  nach  und  nach  ein  hoheres  MaB  an  Kontaktfahigkeit  und 
menschlicher  Zuwendung,  als  ihm  friiher  gegeben  war,  gewonnen.  Auf  einer  Reise  der 
Arbeitsgemeinschaft  Bergen-Belsen  nach  Danzig,  im  Beisein  vertrauter  Freunde  also, 
ist  er  schlieBlich  nach  einem  Besuch  des  in  der  Nahe  von  Danzig  gelegenen  Konzentra- 


632  Nachrichten 

tionslagers  Stutthof,  in  dessen  Uberlieferung  er,  ganz  Archivar  und  ein  durch  leidvolle 
Erfahrungen  mit  dem  NS-Regime  betroffener  dazu,  sich  nochmals  das  Schicksal  der 
dort  inhaftierten  Juden  intensiv  und  ganz  konkret  vergegenwartigen  konnte,  plotzlich 
verstorben.  Am  Ende  hat  ihn  mithin  sein  Schicksal,  auch  wenn  er  sich  von  dessen  Lasten 
mehr  und  mehr  hatte  befreien  konnen,  dann  doch  bis  in  den  Tod  begleitet. 


Verzeichnis  der  besprochenen  Werke 


Acta  pacis  Westphalicae.  Serie  III  Abt.  A  Protokolle.  Bd.  3.  Die  Beratungen  des 
Fiirstenrates  in  Osnabriick.  4:  1646-1647.  5:  Mai-Juni  1648  (Christoph 
Gieschen)      435 

Das  deutsche  Archivwesen  und  der  Nationalsozialismus.  75.  Deutscher  Archivtag 
2005  in  Stuttgart.  Redaktion:  Robert  Kretzschmar  in  Verbindung  mit  Astrid 
M.  Eckert,  Heiner  Schmitt,  Dieter  Speck  und  Klaus  Wisotzky  (Christian  Hoff- 
mann)              511 

Baltic  Connections.  Archival  Guide  to  the  Maritime  Relations  of  the  Countries 
around  the  Baltic  Sea  (including  the  Netherlands)  1450-1800.  Hrsg.  von  Len- 
nart  Bes,  Edda  Frankot  und  Hanno  Brand  (Klaus-J.  Lorenzen-Schmidt)    .   .       440 
zen-Schmidt) 

Beer,  Peter:  Hexenprozesse  im  Kloster  und  Klostergebiet  Loccum  (Thomas 

Krause)       456 

Berlit,  Anna  Christina:  Notstandskampagne  und  Rote-Punkt-Aktion.  Die  Stu- 

dentenbewegung  in  Hannover  1967-1969  (Detlef  Busse)      563 

Biermann,  Friedhelm:  Der  Weserraum  im  Mittelalter.  Adelsherrschaften  zwi- 
schen  welfischer  Hausmacht  und  geistlichen  Territorien  (Jiirgen  Stroth- 
mann)      548 

Bramer,  Andreas:  Leistungund  Gegenleistung.  ZurGeschichtejudischer Religi- 
ons- und  Elementarlehrer  in  PreuBen  1823/24  bis  1872  (Werner  Meiners)   .       481 

Break  on  through  to  the  other  side.  Tanzschuppen,  Musikclubs  und  Diskothe- 
ken  im  Weser-Ems-Gebiet  in  den  1960er,  70er  und  80er  Jahren.  Hrsg.  von 
Peter  Schmerenbeck  (Christoph  Jacke)      520 

Brenn-Rammlmair,  Renate:  Stadtbaumeister  Gustav  Nolte  (Manfred  F.  Fischer).       593 

Bresslau,  Abraham:  Briefe  aus  Dannenberg  1835-1839.  Mit  einer  Einleitung  zur 
Familiengeschichte  des  Historikers  Harry  Breslau  (1848-1926)  und  zur  Ge- 
schichte  derjuden  in  Dannenberg  (Sibylle  Obenaus)       580 

Bubke,  Karolin:  Die  Bremer  Stadtmauer.  Schriftliche  Uberlieferung  und  archao- 
logische  Befunde  eines  mittelalterlichen  Befestigungsbauwerks  (Gerhard 
Streich) 555 

Burkhardt,  Kai:  Adolf  Grimme  (1898-1963)  (Thomas  Bardelle)     583 

Casemir,  Kirsten  und  Uwe  Ohainski:  Die  Ortsnamen  des  Landkreises  Holzmin- 
den.  Nebst  einem  Anhang  der  archaologisch  lokalisierten  Wiistungen  und 
Burgen  sowie  weiterer  Siedlungsstellen  von  Detlef  Creydt  und  Christian 
Leiber  (Ulrich  Ritzerfeld)     534 

Crusius,  Gabriele:  Aufklarung  und  Bibliophilie.  Der  Hannoveraner  Sammler 

Georg  Friedrich  Brandes  und  seine  Bibliothek  (Friedrich  Hiilsmann)     .   .   .       514 

Czichelski,  Martin:  Die  Griindung  der  Stadt  Miinden  unter  dem  Einfluss  der 


634  Verzeichnis  der  besprochenen  Werke 

Welfen.  Eine  interdisziplinare  Betrachtung  der  wissenschaftlichen  For- 
schung  (Karl  Heinemeyer)       570 

Czichelski,  Martin:  Gemunde  im  friihen  und  hohen  Mittelalter  (Karl  Heine- 
meyer)            570 

Die  Deutsche  Bank  in  Hannover.  Hrsg.  von  der  Historischen  Gesellschaft  der 

Deutschen  Bank  (Hans-Jiirgen  Gerhard)      475 

Duderstddter  HauserBuch.  Hrsg.  von  der  Stadt  Duderstadt.  Gesamtbearbeitung 

Hans-Reinhard  Fricke  (Wolfgang  Dorfler)      556 

Historisch-Landeskundliche  Exkursionskarte  von  Niedersachsen.  Blatt  Hannover 

(Hannover  und  Hannover-Nord)  (Wolfgang  Meibeyer) 565 

Fiegert,  Monika  und  Karl-Heinz  Ziessow:  „.  .  .  die  ganze  Schopfung  auszuspa- 
hen  .  .  .".  Evangelische  Gemeinden  im  Osnabrticker  Land  aus  der  Sicht  ihrer 
Seelsorger  am  Beginn  einer  neuen  Zeit  (1801-1808)  (Nicolas  Riigge)    ....       492 

Fischer,  Norbert:  Im  Antlitz  der  Nordsee.  Zur  Geschichte  der  Deiche  in  Hadeln 

(Rolf  Uphoff ) 542 

Frommigkeit  oder  Theologie.  Johann  Arndt  und  die  „Vier  Biicher  vom  wahren 

Christentum"  (Martin  H.  Jung)      494 

Fuchs,  Thomas:  Bibliothek  und  Militar.  Militarische  Buchersammlung  in  Han- 
nover vom  18.  bis  zum  20.  Jahrhundert  (Matthias  Schulze) 522 

Feme  Fiirsten.  Das  Jeverland  in  Anhalt-Zerbster  Zeit.  Bd.  1:  Bibliophile  Kostbar- 
keiten:  die  Bibliothek  der  Fiirsten  von  Anhalt-Zerbst  im  Schloss  zu  Jever. 
Hrsg.  von  Antje  Sander  und  Egbert  Koolman.  -Bd.  2:  DerHof,  die  Stadt,  das 
Land.  Hrsg.  von  Antje  Sander  (Bernd  Kappelhoff ) 539 

Gerhard,  Hans-Jiirgen  und  Alexander  Engel:  Preisgeschichte  der  vorindustri- 
ellen  Zeit.  Ein  Kompendium  auf  Basis  ausgewahlter  Hamburger  Materialien 
(Klaus-J.  Lorenzen-Schmidt)       477 

Gerichtslandschaft  Altes  Reich.  Hochste  Gerichtsbarkeit  und  territoriale  Recht- 

sprechung  (Rainer  Polley) 459 

Zur  Geschichte  der  Erziehung  und  Bildung  in  Schaumburg.  Hrsg.  von  Hubert 

Hoing   (Petra  Diestelmann)     524 

Geschichte  der  Stadt  Meppen.  Hrsg.  von  der  Stadt  Meppen  (Thomas  GieBmann)  .      568 

GeschichtsLandschaft  Emsland/Bentheim.  Tagung  zum  25-jahrigen  Bestehen  des 
Arbeitskreises  Geschichte  der  Emslandischen  Landschaft  fur  die  Landkreise 
Emsland  und  Grafschaft  Bentheim  (1981-2006)  am  3.  November  2006  (Chri- 
stian Hoffmann)     531 

Gottes  Wort  ins  Leben  verwandeln.  Perspektiven  der  (nord-)  deutschen  Kirchen- 
geschichte.  Festschrift  fur  Inge  Mager  zum  65.  Geburtstag.  Hrsg.  von  Rainer 
Hering,  Hans  Otte  und  Johann  Anselm  Steiger  (Birgit  Hoffmann) 498 

Hager,  Hartmut:  Kriegstotengedenken  in  Hildesheim.  Geschichte,  Funktionen 
und  Formen.  Mit  einem  Katalog  der  Denkmaler  fur  Kriegstote  des  19.  und 
20.  Jahrhunderts  (Karl  H.  Schneider) 567 

Hamburgund  sein  norddeutsches  Umland.  Aspekte  des  Wandels  seit  der  friihen 
Neuzeit.  Festschrift  fur  Franklin  Kopitzsch.  Hrsg.  von  Dirk  Brietzke,  Norbert 
Fischer  und  Arno  Herzig   (Beate-Christine  Fiedler)      431 


Verzeichnis  der  besprochenen  Werke  635 

Herges,  Catherine:  Aufklarung  durch  Preisausschreiben?  Die  okonomischen 

Preisfragen  der  Koniglichen  Societal  der  Wissenschaften  zu  Gottingen  1752- 

1852  (Otto  Merker)      483 

Herrenhausen.  Die  Koniglichen  Garten  in  Hannover.  Hrsg.  von  Marieanne  von 

Konig   (Annette  von  Boetticher) 561 

Herrin  ihrer  Kunst.  Elisabet  Ney :  Bildhauerin  in  Europa  und  Amerika.  Hrsg.  von 

Barbara  Romme    (Manfred  von  Boetticher)       592 

Hollandgang  im  Spiegel  der  Reiseberichte  evangelischer  Geistlicher.  Quellen  zur 

saisonalen  Arbeitswanderung  in  der  zweiten  Halfte  des  19.  Jahrhunderts. 

Hrsg.  von  Albin  Gladen,  Antje  Kraus,  Piet  Lourens,  Jan  Lucassen,  Peter 

Schram,  Helmut  Talazko  und  Gerda  van  Asselt  (Sabine  Heerwart)  ....  486 
Inszenierungen  der  Kiiste.  Hrsg.  von  Norbert  Fischer,  Susan  Mtiller-Wusterwitz 

und  Brigitta  Schmidt-Lauber   (Hans-Jiirgen  Vogtherr)     526 

Jager,  Helmut:  „Wohl  tobet  um  die  Mauern  der  Sturm  wilder  Wut .  .  ."  Das  Bis- 

tum  Osnabriick  zwischen  Sakularisation  und  Modernisierung  1802-1858 

(Hans-Georg  Aschoff ) 504 

Jagd'va  der  Liineburger  Heide.  Beitrage  zurjagdgeschichte.  Hrsg.  vom  Bomann- 

Museum  Celle  und  vom  Landwirtschaftsmuseum  Liineburger  Heide  e.V. 

Suderburg-Hosseringen  (Gerd  van  den  Heuvel)      528 

Kannowski,   Bernd:    Die   Umgestaltung   des   Sachsenspiegelrechts    durch   die 

Buch'sche  Glosse  (Heiner  Luck)       460 

Konig,  Walter  in  Zusammenarbeit  mit  Magdalena  Konig,  Rudolf  Meier,  Bertha 

Brockmann:  Der  Reformator  Urbanus  Rhegius  (Manfred  von  Boetticher)  .  595 
Die  Lehnregister  der  Herrschaften  Everstein  und  Homburg.  Erganzt  um  einige 

weitere  registerformige  Quellenstiicke  aus  dem  spaten  Mittelalter.  Bearb. 

von  Uwe  Ohainski  ( Jiirgen  Strothmann)     533 

„Leiden  verwehrt  Vergessen".  Zwangsarbeiter  in  Gottingen  und  ihre  medizini- 

sche  Versorgung  in  den  Universitatskliniken.  Hrsg.  von  Volker  Zimmermann 

(Kirsten  Hoffmann)      559 

Lorenz,  Maren:  Das  Rad  der  Gewalt.  Militar  und  Zivilbevolkerung  in  Nord- 

deutschland  nach  dem  DreiBigjahrigen  Krieg  (1650-1700)  (Mark  Feuerle)  .  441 
Meibeyer,  Wolfgang:  Die  Stadt  Braunschweig  im  18.  Jahrhundert.  Stadtbild  und 

Grundbesitz  in  Braunschweig  nach  der  Vermessung  von  Andreas   Carl 

Haacke  1762  bis  1765  (Hans-Martin  Arnoldt) 550 

Neubert-Preine,  Thorsten:  Die  Rittergiiter  der  Hoya-Diepholz'schen  Landschaft 

(Armgard  von  Reden-Dohn) 535 

Die   NS-Gaue.   Regionale   Mittelinstanzen  im  zentralistischen   „Fiihrerstaat"? 

Hrsg.  von  Jiirgen  John,  Horst  Moller  und  Thomas  Schaarschmidt  (Karl- 

Ludwig  Sommer)      474 

Orden  und  Kloster  im  Zeitalter  von  Reformation  und  katholischer  Reform 

1500-1700,  Bd.  3.  Hrsg.  von  Friedhelm  Jiirgensmeier  und  Regina  Elisabeth 

Schwerdtfeger  (Rajah  Scheepers)      505 

Die  Personalunionen  von  Sachsen-Polen  1697-1763  und  Hannover-England  1714- 

1837.  Ein  Vergleich.  Hrsg.  von  Rex  Rexheuser  (Torsten  Riotte)     443 


636  Verzeichnis  der  besprochenen  Werke 

Pfannenschmid,  Yvonne:  Ludolf  Hugo  :  (1632  -  1704).  Friiher  Bundesstaatstheo- 

retiker  and  kurhannoverscher  Staatsmann  (Krause)       468 

Przybilla,  Peter  (f ) :  Die  Edelherren  von  Meinersen.  Genealogie,  Herrschaft  und 

Besitz  vom  12.  bis  zum  14.  Jahrhundert  (Nathalie  Kruppa)       538 

Pyta,  Wolfram:  Hindenburg.  Herrschaft  zwischen  Hohenzollern  und  Hitler 

(Gerd  Steinwascher) 586 

Quellen  zur  Geschichte  der  Welfen  und  die  Chronik  Burchards  von  Ursberg. 

Hrsg.  und  libers,  von  Matthias  Becher  unter  Mitarbeit  von  Florian  Hartmann 

und  Alheydis  Plassmann  (Nathalie  Kruppa) 516 

Rottmann,  Rainer:  Die  Beckeroder  Eisenhiitte.   Geschichte  eines  der  ersten 

Industriebetriebe  im  Osnabriicker  Land  1836-1903  (Hans-Heinrich  Hille- 

geist) 478 

Die  Rundschreiben  der  Deutschen  Christen  Hannovers  1934-1940  im  Landes- 

kirchlichen  Archiv  Hannover.  Bearb.  von  Giinter  Goldbach  unter  Mitarb. 

von  Britta  Perkams    (Peter  Zocher)      507 

Saage-Maass,  Miriam:  Die  Gottinger  Sieben  -  demokratische  Vorkampfer  oder 

nationale  Helden?  Zum  Verhaltnis  von  Geschichtsschreibung  und  Erinne- 

rungskultur  in   der  Rezeption   des   Hannoverschen  Verfassungskonfliktes 

(Christine  van  den  Heuvel)      518 

Saile,  Thomas:  Slawen  in  Niedersachsen.  Zur  westlichen  Peripherie  der  slawi- 

schen  Okumene  vom  6.  bis  12.  Jahrhundert  (Wolfgang  Meibeyer) 445 

Schaumburger  Profile.  Ein  historisch-biographisches  Handbuch.  Hrsg.  von  Hu- 

ert  Hoing  (Wolfgang  Bender)     547 

Schnakenberg,  Ulrich:   Democracy-building.   Britische  Einwirkungen  auf  die 

Entstehung  der  Verfassungen  Nordwestdeutschlands  1945-1952  (Peter  Arm- 

brust) 470 

Schroder,  Ulrich:  Rotes  Band  am  Hammerand.  Geschichte  der  Arbeiterbe- 

wegung  im  Landkreis  Osterholz  von  den  Anfangen  bis  1933  (Karl-Ludwig 

Sommer) 488 

Schutz,    Ernst:    Die    Gesandtschaft    Grossbritanniens    am    Immerwahrenden 

Reichstag  zu  Regensburg  und  am  Kur(pfalz-)bayerischen  Hof  zu  Miinchen 

1683-1806  (Gerd  van  den  Heuvel) 449 

Schulze,  Hans  K.:  Die  Heiratsurkunde  der  Kaiserin  Theophanu.  Die  griechische 

Kaiserin  und  das  rbmisch-deutsche  Reich  972-991  (Thomas  Vogtherr)  .  .  451 
Schuster,  Jochen:  Freimaurer  undjustiz  in  Norddeutschland  unter  dem  Natio- 

nalsozialismus  (Volker  Friedrich  Drecktrah)      463 

Siedburger,  Giinther:  Zwangsarbeit  im  Landkreis  Gottingen  1939-1945  (Gudrun 

Pischke)      490 

Stephan, Joachim:  Die  Vogtei  Salzwedel.  Land  und  Leute  vom  Landesausbau  bis 

zur  Zeit  der  Wirren  (Klaus  Nippert) 545 

Stockhausen,  Joachim  von:  „Ich  habe  nur  meine  Pflicht  erfiillt".  Hanns  Lieff 

(1879-1955)  (Gudrun  Fiedler)      590 

Urkundenbuch  der  Stadt  Braunschweig.  Bd.  8,  I-II  1388-1400  samt  Nachtragen. 

Bearb.  von  Josef  Dolle  (Karin  Gieschen)     552 


Verzeichnis  der  besprochenen  Werke  637 

Vom  Ursprung  der  anwaltlichen  Selbstverwaltung.  Justus  Moser  und  die  Advoka- 

tur.  Hrsg.  von  Karl  H.  L.  Welker  (Andrea  J.  Czelk) 464 

Voigt,  Vanessa-Maria:  Kunsthandler  und  Sammler  der  Moderne  im  Nationalso- 

zialismus.  Die  Sammlung  Sprengel  1934  bis  1945  (Thomas  Bardelle)     .   .   .       530 

Weber,  Karl-Klaus:  Beschliisse  der  Generalstaaten  1576-1625.  Regesten  zur  Ge- 

schichte  Ostfrieslands  und  der  Stadt  Emden  (Rainer  Postel)     544 

Wessels,  Bernhard:  Die  katholische  Mission  Bremerhaven.  Geschichte  der 
katholischen  Kirche  an  der  Unterweser  von  1850  bis  1911  (Hans-Georg 
Aschoff)     510 

Westfalisches  aus  acht  Jahrhunderten  zwischen  Siegen  und  Friesoythe  -  Meppen 
und  Reval.  Festschrift  fur  Alwin  Hanschmidt  zum  70.  Geburtstag.  Hrsg.  von 
Franz  Bolsker  und  Joachim  Kuropka  (Peter  Respondek)     433 

Wildt,  Michael:  Volksgemeinschaft  als  Selbstermachtigung.  Gewalt  gegenjuden 

in  der  deutschen  Provinz  1919  bis  1939  (Werner  Meiners)     453 

Zagolla,  Robert:  Folterund  Hexenprozess.  Die  strafrechtliche  Spruchpraxis  der 

Juristenfakultat  Rostock  im  17.  Jahrhundert  (Claudia  Kauertz) 466 


Anschriften  der  Autoren  der  Aufsatze 


Dr.  Manfred  von  Boetticher,  Historischer  Verein  fur  Niedersachsen  ,  Niedersach- 
sisches  Landesarchiv,  Hauptstaatsarchiv Hannover,  Am  Archiv  1,  30169  Han- 
nover 

Dr.  Wolfgang  Dorfler,  Weidenweg  11,  27404  Gyhum, 

Nadine  Freund  M.A.,  Neuere  und  Neueste  Geschichte,  Universitat  Kassel,  FB  05 
-  Gesellschaftswissenschaften,  Nora-Platiel-Str.  1,  34109  Kassel, 

Dr.  Olaf  Grohmann,  Helene-Weber-Str.  5a,  30974  Wennigsen 

Dr.  Ralf  Kirstan,  Bahnhofstr.  31,  31737  Rinteln 

Dr.  Hans-Joachim  Kraschewski,  Friedrichsplatz  11,  35037  Marburg 

Dr.  Nathalie  Kruppa,  Akademie  der  Wissenschaften  zu  Gottingen,  Germania 
Sacra,  Theaterstr.  7,  37073  Gottingen 

Dr.  Johannes  Laufer,  Matthiaswiese  11,  31139  Hildesheim 

Dr.  Daniel  Mohr,  Zimmermannstr.  9,  37075  Gottingen 

Dr.  Dirk  Neuber,  Luther  Weg  81,  31515  Wunsdorf 

Dr.  Peter-M.  Steinsiek,  Miihlspielweg  2,  37077  Gottingen 

Dr.  Gerd  van  den  Heuvel,  Am  Wallteich  6,  30952  Ronnenberg 

Cai-Olaf  Wilgenroth  M.A.,  Georg-August-Universitat  ,  DFG-Graduiertenkolleg, 
Interdisziplinare  Umweltgeschichte,  Biirgerstr.  50,  37073  Gottingen