Niedersachsisches Jahrbuch fur Landesgeschichte
Band 80 • 2008
NIEDERSACHSISCHES
JAHRBUCH
FUR LANDESGESCHICHTE
Neue Folge der
»Zeitschrift des Historischen Vereins fur Niedersachsen«
Herausgegeben von der
Historischen Kommission fur Niedersachsen und Bremen
Band 80
2008
VERLAG HAHNSCHE BUCHHANDLUNG • HANNOVER
Das Jahrbuch ist zugleich Organ des Historischen Vereins fur Niedersachsen
in Hannover
Schriftleitung:
Dr. Manfred von Boetticher und Dr. Christine van den Heuvel
(verantwortlich fur die Aufsatze)
Dr. Thomas Franke
(verantwortlich fur die Buchbesprechungen und Nachrichten)
Anschrift:
Niedersachsisches Staatsarchiv - Hauptstaatsarchiv Hannover
Am Archiv 1
30169 Hannover
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
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detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
iiber http://dnb.ddb.de abrufbar.
ISSN: 0078-0561
ISBN: 978-3-7752-3380-4
Satz: Myron Wojtowytsch, Gottingen
Druck und Bindung: poppdruck, 30851 Langenhagen
Inhalt
Aufsatze
BEGRENZTERESSOURCEN. DER UMGANG MIT ROHSTOFFEN
UND ENERGIE IM MITTELALTER UND IN DER NEUZEIT.
Vortrage auf der Tagung der Historischen Kommission fiir Niedersachsen
und Bremen in Clausthal-Zellerfeld vom 11. bis 13. Mai 2007
1. Herrschaft und mittelalterliche Montanindustrie. Der Bergbau in
Bohmen, Erzgebirge und Harz und seine Wechselbeziehungen. Von
Manfred von Boetticher 1
2. Steinkohle als Ausweg? - Der lange Weg vom solaren zum fossilen
Zeitalter im mittleren Niedersachsen. Von Dirk Neuber 15
3. Bonam sylvarum partem in vicinia. Politisch-generierte Ressourcen-
knappheit und reichsstadtische Kompensation: Goslar, Walkenried
und die Landesherren im lG.Jahrhundert. Von Cai-Olaf Wilgeroth 51
4. Determinanten der Waldentwicklung im Westharz (16.-18. Jahr-
hundert). Von Peter-M. Steinsiek 117
5. Die friihneuzeitliche Bauholzversorgung auf dem Lande. Von Wolf-
gang Dorfler 141
6. Vom Umgang mit einer begrenzten Ressource. Wasser und Abwas-
serin nordwestdeutschen Stadten des 17. und 18.Jahrhunderts. Von
Olaf Grohmann 183
7. Knappe Ressourcen als Barriere und Triebkraft innovativer Ent-
wicklung: Zur Bedeutung von Lumpen, Holz und Wasser in der
niedersachsischen Papierindustrie (19./20. Jahrhundert). Von Jo-
hannes Laufer 215
Illuminierte Herrscher: Bildliche Erinnerungen an die friihen Welfen in
ihren siiddeutschen Klostern. Von Nathalie Kruppa 241
Organisationsstrukturen der Bergbauverwaltung als Elemente des friih-
neuzeidichen Territorialstaates: Das Beispiel Braunschweig-Wolfen-
biittel. Von Hans-Joachim Kraschewski 283
VI Inhalt
Dafauch der Ort wegen darin befindlicher Gespenst sehrbeschryen ist: Die »Hohl-
welten« des Harzes im Spiegel chronikalischerBerichte des 16. und 17.
Jahrhunderts. Von Ralf Kirstan 329
In der Bastille gewesen zu sein, ist eine Empfehlung. Abenteurer und ehemali-
ge Bastille-Haftlinge am hannoverschen Hof um 1700. Von Gerd van
den Heuvel 353
Die Industrialisiemng des Konigreichs Hannover in der offentlichen De-
batte um die Gewerbereform. Von Daniel Mohr 389
Theanolte Bahnisch (1899-1973) und ihr Beitrag zum Wiederaufbau
Deutschlands im Rahmen der Westorientierung nach 1945. Von
Nadine Freund 403
Besprechungen und Anzeigen
Allgemeines, S. 431. — Allgemeine Geschichte und Landesgeschichte,
S. 435. — Rechts-, Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, S. 456. —
Wirtschafts- und Sozialgeschichte, S. 475. — Kirchen-, Geistes- und
Kulturgeschichte, S. 492. — Geschichte einzelner Landesteile und Orte,
S. 531. - Personengeschichte, S. 580.
Nachrichten
Historische Kommission fur Niedersachsen und Bremen. Jahrestagung
vom 11. bis 13.Mai2007undMitgliederversammlungam 12. Mai 2007
in Clausthal-Zellerfeld 597
Berichte aus den Arbeitskreisen 607
Nachrufe 621
Verzeichnis der besprochenen Werke 633
Anschriften der Autoren der Aufsatze 639
BEGRENZTE RESSOURCEN
Der Umgang mit Rohstoffen und Energie
im Mittelalter und in der Neuzeit
Vortrage auf der Tagung der
Historischen Kommission fur Niedersachsen und Bremen
in Clausthal-Zellerfeld vom 11. bis 13. Mai 2007
1.
Herrschaft und mittelalterliche Montanindustrie
Der Bergbau in Bohmen, Erzgebirge und Harz
und seine Wechselbeziehungen
Von Manfred von Boetticher
Die Begrenztheit der Metallressourcen, insbesondere von Buntmetallen, war zu
alien Zeiten eine Tatsache. Vor allem das begrenzt vorhandene Silber wurde zum
begehrten Zahlungsmittel und war schon im friihen Mittelalter eine Grundlage
fiirstlicher Macht. Seit der Karolingerzeit zog das Konigtum den Bergbau an sich
und betrachtete die Bergwerke als Krongut1 - friihe Ausiibung des „Bergregals".
Doch wie ging das Konigtum im Weiteren mit dem Bergbau um - und welche
Folgen hatte dies fur den mittelalterlichen Bergbau?
Ehe darauf eingegangen wird, sei zunachst auf eine Beobachtung des Montan-
historikers Ekkehard Westermann hingewiesen, wonach sich bei der bergbauge-
schichtlichen Entwicklung eines Reviers deutliche Phasen unterscheiden lassen:
anfangs rapides, dann abflachendes Wachstum auf hohem Niveau, Stagnation
und sinkende Erzforderung, rapide Verschlechterung und Einstellung des Berg-
baus - schlieBlich mogliche Wiederaufnahme unter veranderten gesamtwirt-
1 Raimund Willecke, Die deutsche Berggesetzgebung von den Anfangen bis zur Gegen-
wart, Essen 1977, S. 18.
2 Manfred von Boetticher
schaftlichen Bedingungen.2 Gegen die Vorstellung eines solchen allgemeingiilti-
gen Ablaufs wurde allerdings zurecht eingewandt, dass man sich kaum damit zu-
frieden geben kann, die Erklarung fiir das Auf und Ab der mittelalterlichen
Erzgewinnung allein an die jeweiligen Erzvorkommen und die Endlichkeit der
Lagerstatten zu binden.3 Uniibersehbar verlief der Prozess der Montanindustrie
im gesamten Europa nach groBraumigen Gemeinsamkeiten,4 vor allem in einem
ungefahren zeitlichen Gleichklang. Die Parallelitat des Niedergangs an den ver-
schiedenen Standorten um die Mitte oder am Ende des 14. Jahrhunderts ist so au-
genfallig, dass man um eine Betrachtung iibergreifender Gemeinsamkeiten nicht
herumkommt.5 Auch wenn - abstrakt gesehen - zu alien Zeiten die Entdeckung
neuer Erzlager und ihre unausweichliche Erschopfung ein gleichmaBiges Auf
und Ab bedingen miissten, gab es in jenenjahrzehnten offensichtlich iiberregio-
nale Faktoren, die einerseits nach Erreichen eines kritischen Punktes den Ab-
schwung in einem Revier beschleunigten und die andererseits einem erneuten
Aufschwung entgegenstanden.
Uniibersehbar fallt der Riickgang der Buntmetallproduktion6 in Mitteleuropa
um die Mitte des 14. Jahrhunderts in die Folgezeit der Pestepidemie und des da-
mit verbundenen Bevolkerungsriickgangs. Bestand hier ein Zusammenhang?
Kaum in den unmittelbaren Auswirkungen der Pest - etwa so, dass die Bergleute
massenhaft unter Tage gestorben waren, wie bisweilen behauptet wurde.7 Viel-
2 Ekkehard Westermann, Aufgaben kiinftiger Forschung: Aus den Diskussionen der Ett-
linger Tagung, in: Werner Kroker/ Ekkehard Westermann (Bearb.), Montanwirtschaft Mit-
teleuropas vom 12. bis 17. Jahrhundert. Stand, Wege und Aufgaben der Forschung, Bochum
1984, S. 205-212, hier S. 205f.
3 Karl-Heinz Ludwig, Die Rezessionen des Edelmetallbergbaus in der inner- oder nie-
derosterreichischen, dort auch bambergischen und gorzischen, sowie in den salzburgischen
und bayrischen Gebieten des Ostalpenraums und die politischen Moglichkeiten ihrer Uber-
windung vom 13. bis zum 15. Jahrhundert, in: Rudolf Tasser/ Ekkehard Westermann
(Hrsg.), Der Tiroler Bergbau und die Depression der europaischen Montanwirtschaft im 14.
und 15. Jahrhundert, Innsbruck- Wien-Munchen-Bozen 2004, S. 94-107, hier S. 99.
4 Ekkehard Westermann, Zur spatmittelalterlichen Depression der europaischen Mon-
tanwirtschaft. Stand und offene Fragen der Forschung, in: Tasser/ Westermann, wie Anm. 3,
S. 9-18, hier S. 9.
5 Ludwig, Rezessionen, wie Anm. 3, S. 99.
6 Bartels wendet sich nachdriicklich dagegen, es habe in der zweiten Halfte des 14. Jahr-
hunderts eine allgemeine Krise der Montanindustrie gegeben. Die Eisenproduktion und die
Kohleforderung sei von den damaligen Problemen der Buntmetallindustrie weit weniger be-
troffen gewesen; vgl. Christoph Bartels, Zur Bergbaukrise des Spatmittelalters, in: Chri-
stoph Bartels /Markus A. Denzel (Hrsg.), Konjunkturen im europaischen Berg- und Hiitten-
wesen im westlichen Harz in vorindustrieller Zeit. Festschrift fiir Ekkehard Westermann zum
60. Geburtstag, Stuttgart 2000, S. 157-172, hier S. 160f.
7 H. Denker (Bearb.), Die Bergchronik des Hardanus Hake, Pastors in Wildemann. Mit
Herrschaft und mittelalterliche Montanindustrie 3
mehr zerstorte der demographische Einbruch die komplexen Netzwerke, die sich
in den verschiedenen Montanrevieren flankierend zum Bergbau gebildet hat-
ten.8 Die Probleme der Montanindustrie im 14. Jahrhundert stehen im Zusam-
menhang mit dem Riickgang der gesamten wirtschaftlichen Konjunktur.9 Wenn
manche Reviere dennoch in derzweiten Halfte des 14.Jahrhunderts hohere Pro-
duktionszahlen aufwiesen, wahrend die Gruben anderenorts daniederlagen,
diirfte dies darauf zuriickzufiihren sein, dass sich der Bergbau dort zunachst noch
in seiner anfanglichen Wachstumsphase befunden hatte.
Besondere Bedeutung kam dabei dem Problem des Grubenwassers zu, das
dem tiefer werdenden Bergbau fast iiberall zu schaffen machte und das nach dem
rapiden Anfangswachstum der Produktion in einem Revier wesentlich zur dann
einsetzenden Stagnation beitrug. Je tiefer die Schachte vorangetrieben wurden,
umso groBere Aktivitaten wurden erforderlich, sie wasserfrei zu halten. Standen
die Gruben einmal unter Wasser, wie es bei auch nur voriibergehendem Ausfall
von Arbeitskraften leicht geschehen konnte, war an eine Wiederaufnahme des
Bergbaus vorerst nicht zu denken. Doch - was hat dies mit dem Konigtum zu tun?
Herrschaft und Montanindustrie im Harz
Hier ist zu fragen, wie das Konigtum im friihen Mittelalter mit seinem Eigentum
an der Montanindustrie umging. Als Beispiel kann das Harzer Revier gelten, das
zu den altesten im Reich zahlte: Seit der Karolingerzeit erscheint hier das Konig-
tum als Trager des Bergbaus - im Oberharz nach Silber, am Rammelsberg nach
Kupfer. Wie die Produktion anfangs erfolgte, ist umstritten - auf jeden Fall war es
nicht Sache des Konigs, den Bergbau selbst zu organisieren. Die Montanindu-
strie wurde nachgeordneten Herrschaftstragern iibertragen, die die Rechte des
Reiches wahrnahmen. Friihzeitig war dadurch eine Zersplitterung der Bergrech-
te entstanden, die bis zum Ausgang des Mittelalters bestehen blieb.
Eine Bergordnung von 1271, die von vier Landesherren unterzeichnet war,
zeigt die Aufteilung der Hoheitsrechte im Oberharz. Der Rammelsberg war zu-
dem an mehrere Hauptbesitzer vergeben, die Montanindustrie vor Ort Angele-
genheit der Grundherren geworden.10 Zum wichtigsten Trager des Bergbaus im
einem Glossar der technischen und veralteten Ausdriicke und einem Index, Quedlinburg
1911, S. 13.
8 Christoph Bartels, Die Ereignisse im Vorfeld des Riechenberger Vertrages und der
herzogliche Bergbau im Oberharz, in: Der Riechenberger Vertrag, hg. vom Rammelsberger
Bergbaumuseum Goslar, Goslar 2004, S. 65-90, hier S. 86.
9 Westermann, Depression, wie Anm. 4, S. 10.
10 Vgl. Raimund Willecke, Die Entwicklung und Bedeutung des Unter- und Oberhar-
zer Bergrechts, in: Braunschweigisches Jahrbuch 51, 1971, S. 53-72, hier S. 57.
4 Manfred von Boetticher
westlichen Oberharz hatte sich das Kloster Walkenried gemacht, zu dessen Gun-
sten die Welfenherzoge auf ihrVogteirecht in den Klosterwaldern verzichteten.11
Wie schwierig es war, bei der Vielzahl von Eigentiimern und deren unter-
schiedlichen Interessen technische Neuerungen durchzusetzen, zeigt ein Vertrag
zwischen Walkenried und Goslariiber den Rammelsberg aus demjahre 1310.12
Die dortigen Gruben hatten Tiefen erreicht, die eine gemeinsame Entwasserung
erfordert hatten. In ihrem Bereich des Berges hatten die Monche Wasserleitun-
gen gelegt. Andere Grubenbetreiber fiihlten sich dadurch beeintrachtigt, weitere
Anlagen wurden untersagt. Die Zersplitterung des Besitzes lieB gemeinsame
MaBnahmen nicht zu.13
Als es dann um die Mitte des 14. Jahrhunderts zum demographischen Ein-
bruch kam, standen die tieferen Schachte des Rammelsbergs vermutlich bereits
unter Wasser. Nun verlor auch das Kloster die Mittel fur groBere Investitionen,
seine Gewinne aus der Landwirtschaft waren weggebrochen. 1352 beklagte der
Konvent, dass die Einkiinfte nicht einmal zur eigenen Versorgung ausreichten.14
Selbst wenn das Kloster gewollt hatte - zusatzliche Investitionen in der Montan-
industrie waren kaum mehrmoglich. Um 1360 wurde derBergbau am Rammels-
berg eingestellt.15
In ahnlicher Weise hat man sich die Entwicklung im Oberharz zu denken. Der
Bau tieferer Stollen, der noch in Angriff genommen wurden, kam nicht zum Ab-
schluss.16 Ohne zusatzliche Mittel war der Bergbau auch hier offenbar an seine
Grenzen gestoBen. Es gibt Anzeichen dafiir, dass Walkenried nach dem Erliegen
des Bergbaus am Rammelsberg seine Oberharzer Gruben zunachst weiterhin be-
treiben wollte.17 Das Mundloch eines unvollendeten Stollens an der Innerste,
dessen Auftraggeber unbekannt sind, lasst erkennen, dass man vergeblich ver-
11 Heinrich Uhde, Forsten, Bergbau und Hiittenbetriebe des Klosters Walkenried am
Westharz, in: Harz-Zeitschrift 19/20, 1967/68, S. 81-102, hier S. 82.
12 Urkundenbuch der Stadt Goslar und der in und bei Goslar belegenen geistlichen Stif
tungen, bearb. von Georg Bode, Bd. 3, Halle 1900, Nr. 223, Text und Ubersetzung bei Chri-
stoph Bartels, Die Stadt Goslar und der Bergbau im Nordwestharz. Von den Anfangen bis
zum Riechenberger Vertrag von 1252, in: Karl Heinrich KAUFHOLD/Wilfried Reininghaus
(Hrsg.), Stadt und Bergbau, Koln-Weimar-Wien 2004, S. 135-188, hier S. 183 f.
13 Ebenda, S. 164; generell: Bartels, Bergbaukrise, wie Anm. 6.
14 Die Urkunden des Stiftes Walkenried aus den Originalen des Herzogl. Braunschw. Ar-
chivs zu Wolfenbiittel u. sonstigen Quellen, Abth. 2, erste Halfte: bis 1400, Hannover 1855,
Nr. 931.
15 Wilhelm Bornhardt, Geschichte des Rammelsberger Bergbaues von seiner Aufnah-
me bis zur Neuzeit, Berlin 1931, S. 28.
16 Hauptstaatsarchiv Hannover, Bergarchiv Clausthal Hann 84a, Nr. 6682.
17 Heinrich Uhde, Die Gutswirtschaft Immedeshausen (1225-1445) und der Besitz des
Klosters Walkenried am Westharz. Als Manuskript vervielfaltigt, Oldenburg 1965, S. 340.
Herrschaft und mittelalterliche Montanindustrie 5
sucht hatte, der Wasserprobleme Herrzu werden.18 In der zweiten Halfte des 14.
Jahrhunderts brach die Montanindustrie dann auch im Oberharz weithin zusam-
men, zahlreiche Wohnplatze wurden aufgegeben.19
Herrschaft und Montanindustrie im ostlichen Kolonisationsgebiet
Vergleichen wir damit den Bergbau in jiingeren Montanregionen, in denen das
Reich von Anfang an keine Rolle spielte, wo das Bergrecht von vornherein bei der
Landesherrschaft lag: Im Jahre 1234 iibertrug der bohmische Konig Wenzel I.
dem KlosterTischnowitz (Tisnov) an derbohmisch-mahrischen Grenze das klei-
ne Dorf Iglau. Wenig spater kam es dort bei Rodungsarbeiten zu spektakularen
Silbererzfunden. Die Schenkung wurde riickgangig gemacht, das Gebiet der lan-
desherrlichen Kammer unterstellt. In groBziigigem Stil lieB der Konig eine Stadt
anlegen, die durch Bergleute und Handwerker aus Niedersachsen und dem
Alpenraum anwuchs.20
Die Neuankommlinge brachten nicht allein technische Erfahrungen aus dem
alteren Bergbau mit. Sie entwickelten Rechtsvorstellungen, die zu einem neuen
Kolonisations-Bergrecht zusammenwuchsen. Vermutlich waren einzelne Ele-
mente des „Iglauer Bergrechts" bereits vorher in anderen Revieren formuliert
worden. Iglau wurde zur ersten Stadt, die diese Grundsatze schriftlich fixierte.21
Zwei Prinzipien der dortigen Bergleute wurden richtungweisend fur die Entwick-
lung des Bergwesens in Mitteleuropa: die nur noch iibergeordnete landesherrli-
che Berghoheit und die freie Bergbautatigkeit, die „Bergfreiheit".
Zwar hatte der Konig gegeniiber dem Kloster zur Gewinnung des Silbers seine
eigene Grundherrschaft wiederhergestellt. Gegeniiber der Stadt zeigte sich dann
ein anderes Verstandnis des koniglichen Bergrechts, das sich weder in unmittel-
barer Herrschaft auBerte, noch weiterverlehnt wurde: 22 die Trennung des Rechts
am Erz vom Recht an Grund und Boden. Zugunsten des Bergbaus konnte der
18 Vgl. Bergchronik, wie Anm. 7, S. 87.
19 Vgl. Gotz Alper, „Johanneser Kurhaus". Ein mittelalterliche Blei/Silbergewinnungs-
platz bei Clausthal-Zellerfeld im Oberharz, Rahden 2003, S. 32.
20 Jifi Vosahlo, Abriss der Geschichte des Iglauer Bergbaus, in: Silberbergbau und
Miinzpragung in Iglau, Juhlava 1999, S. 66-78, S. 68f. (vgl. Handbuch der Hitorischen Stat-
ten. Bohmen, Stuttgart 1998, S. 214); vorsichtiger: „aus Tirol und vielleicht auch aus Sachsen"
kommentieren Richard ZALOUKAL/David Zimola, Bergmannische Kolonisierung der Iglauer
Region aus archaologischer Sicht, in: Silberbergbau und Miinzpragung in Iglau, Juhlava
1999, S. 30-42, hier S. 30, stimmen aber den „deutschen Kolonisten" zu: ebenda, S. 33.
21 Karel Kresadlo, Iglauer Berg- und Stadtrecht, in: Silberbergbau und Miinzpragung in
Iglau, Jihlava 1999, S. 72-83, hier S. 73.
22 Wilhelm WESTHOFF/Wilhelm Schluter, Geschichte des deutschen Bergrechts, in:
Zeitschrift fur Bergrecht 1909, S. 27-96, hier S. 48.
6 Manfred von Boetticher
Herrscher jederzeit in grundherrliche Rechte eingreifen, ohne diese selbst zu be-
anspruchen - ein Recht, das in dieser Form spater von den Juristen als „Bergre-
gal" apostrophiert wurde. Daraus ergab sich der zweite Grundsatz: das Jeder-
mannrecht, Erze zu suchen und zu fordern, soweit dem Grundherrn gegeniiber
bestimmte Verpflichtungen erfiillt wurden. Das Iglauer Bergrecht schrieb damit
dem Finder einer Erzader das landesherrlich verbriefte Recht auf dessen Ausbeu-
te zu, es wurde zum Instrument unternehmerischer Expansion.23 Die Krone be-
hielt sich eine Abgabe und das Vorkaufsrecht vor. Samtliches im Lande erzeugtes
Silber war zu Festpreisen an die konigliche Miinzstatte zu liefern.24
Eine ahnliche Entwicklung hatte die Montanindustrie ein Jahrhundert zuvor
beim Landesausbau im Erzgebirge genommen. 1162 hatte Markgraf Otto von
MeiBen dem Kloster Alt-Zella die Dorfer Christiansdorf, Tuttendorf und Ber-
thelsdorf iiberlassen,25 1168 wurde dort Silbererz entdeckt.26 Der Markgraf
brachte die Schenkung wieder in seinen Besitz und holte Bergleute ins Land.27
Rasch entwickelte sich an jener Stelle eine stadtische Siedlung, als deren erste Be-
wohner Bergleute aus Goslargelten.28 Bis zumjahr 1218 war an der Stelle derdrei
Dorfer eine Stadt mit fiinf Pfarrkirchen entstanden, deren Bergfreiheit namenge-
bend wurde: Freiberg.29
Bis zum Ende des 13. Jahrhunderts erlebte das Revier eine auBerordentliche
Bliite. Das Silbererz konnte dicht unter der Erdoberflache abgebaut werden.30
23 Kresadlo, Iglauer Bergrecht, wie Anm. 21, S. 76.
24 Jifi Majer, Der bohmische Erzbergbau im 14. und 15. Jahrhundert. Grundziige seiner
Entwicklung und Auswirkungen, in: Tasser/Westermann, wie Anm. 3, S. 108-117, hier
S. llOf. Inwieweit es dabei zu einer Rezeption von Rechtsvorstellungen aus Trient kam, wo
bereits 1185 eine Freigabe des Bergbaus durch den dortigen Bischof erfolgt war, soil hier
nicht erortert werden; vgl. Westhoff/Schluter, wie Anm. 22, S. 48; Franz Rosenhainer,
Die Geschichte des Unterharzer Hiittenwesens von seinen Anfangen bis zur Grundung der
Kommunionsverwaltung imjahre 1635, Goslar 1968, S. 30, verweist im Gegensatz zu den
Verhaltnissen im Oberharz auf das mittelalterliche Vorkaufsrecht im Freiberger Revier.
25 Hubert Ermisch, Das sachsische Bergrecht des Mittelalters, Leipzig 1887, S. XV.
26 Uwe Schirmer, Der Freiberger Silberbergbau im Spatmittelalter (1353-1485), in: Tas-
ser/Westermann, wie Anm. 3, S. 183-201, hier S. 186; Wolfgang DALLMANN/Arndt Guhne,
Archaologische Belege zur Friihzeit des Bergbaus und des Hiittenwesens im Revier Frei-
berg/Sachsen, in: Heiko STEUER/Ulrich Zimmermann, (Hrsg.), Montanarchaologie in Euro-
pa. Berichte um Internationalen Kolloquium „Friihe Erzgewinnung und Verhiittung in Euro-
pa" in Freiburg im Breisgau vom 4. bis 7. Oktober 1990, Sigmaringen 1993, S. 343-352, hier
S. 343.
27 Handbuch der Historischen Statten Deutschlands. Sachsen, Stuttgart 1965, S. 100.
28 Manfred Unger, Stadtgemeinde und Bergwesen Freibergs im Mittelalter, Weimar
1963, Stadtgemeinde, S. 158 f.
29 Vgl. Ermisch, sachsisches Bergrecht, wie Anm. 25, S. XVII.
30 Karlheinz Blaschke, Die Arbeitsverfassung im Freiberger Bergbau wahrend des spa-
ten Mittelalters, in: Karl-Heinz LuDWic/Peter Sika (Hrsg.), Bergbau und Arbeitsrecht. Die
Herrschaft und mittelalterliche Montanindustrie 7
Bald wurde auch im benachbarten Erzgebirge Bergbau getrieben, es entstanden
weitere Bergstadte.31 Die Rechtsverhaltnisse wurden durch Bestimmungen gere-
gelt, die sich - eher noch als in Iglau - zu einem „Kolonisations-Bergrecht" her-
ausgebildet hatten. Wir erfahren davon 1233 durch die Kulmer Handfeste des
Deutschen Ordens, in der dieser versprach, sich nach „Freiberger Recht" zu rich-
ten, falls im Kulmer Land Erz gefunden wurde.32
Festgeschrieben war damit auch fur das Erzgebirge ein landesherrliches Berg-
recht, das die Trennung von Berghoheit und Grundherrschaft beinhaltete sowie
die Such- und Investitionsbereitschaft forderte. Zudem waren die Wettiner Lan-
desherren bemiiht, ihren unmittelbaren Einfluss auf den Bergbau zu erhohen.
Bereits in der ersten Halfte des 14. Jahrhunderts wurde ein „Bergmeister" einge-
setzt, der in Freiberg residierte und dem bis iiber die Mitte des 15. Jahrhunderts
hinaus samtliche Bergwerke im Erzgebirge unterstellt waren.33 In der zweiten
Halfte des 14. Jahrhunderts wird eine Art „Freiberger Bergamt" erkennbar, zu
dem der Bergmeister und ein Miinzmeister gehorten.34
Nach Abtragen der reichen oberflachennahen Silberadern ging im Laufe des
13. Jahrhunderts in Bohmen wie im Erzgebirge die Zeit des unbeschwerten Ab-
baus zu Ende, der Bergbau drang in tiefere Bereiche vor.35 Bei der Beliiftung der
Schachte und der Niederhaltung des Wassers ergaben sich wachsende Proble-
me.36 Als einzige nachhaltige Losung erwies sich der Durchtrieb von Wasserlo-
sungsstollen. Die Technik war in Europa seit dem 12.Jahrhundertbekannt.37 Fur
sich allein genommen konnte ein Stollen jedoch nicht lukrativ sein - waren dabei
doch in langer Arbeit unterirdische Gange anzulegen, aus denen keinerlei ver-
wertbares Erz gewonnen wurde. Das Freiberger und Iglauer Bergrecht bildeten
deshalb ein Stollenrecht heraus, durch das dem Betreiber des jeweils tiefsten Stol-
lens ein Neuntel des Ertrags samtlicher entwasserter Gruben zustanden.38 Inve-
Arbeitsverfassung im europaischen Bergbau des Mittelalters und der friihen Neuzeit, Wien
1989, S. 83-95, hierS. 83.
31 Wolfgang Schwabenicky, Archaologische Forschungen in mittelalterlichen Bergbau-
siedlungen des Erzgebirges,in: Steuer/Zimmermann, wie Anm. 26, S. 321-329, hier S. 321 f.
32 Codex Diplomaticus Saxoniae regiae, Teil 2, Bd. 13: Urkundenbuch der Stadt Frei-
berg in Sachsen, hg. von Hubert Ermisch, Bd. 2: Bergbau, Bergrecht, Miinze, Leipzig 1886,
S. XVI, Nr. 864 (inventor autem argenti sive is, in cuius agris inventum fuerit, ius Freybergense in
huiusmodi inventione habeat imperpetuum).
33 400 Jahre Oberbergamt Freiberg, Berlin 1942, S. 6.
34 Ebenda, S. 6.
35 Schirmer, wie Anm. 26, S. 186.
36 Blaschke, Arbeitsverfassung, wie Anm. 30, S. 84.
37 Dieter Hagermann / Karl-Heinz Ludwig (Hrsg.) , Europaisches Montanwesen im Hoch-
mittelalter. Das Trienter Bergrecht 1185-1214, Koln-Wien 1986, S. 16f.
38 Schirmer, wie Anm. 26, S. 187.
8 Manfred von Boetticher
stitionen in einen „Erbstollen" konnten auf diese Weise unmittelbar gewinnbrin-
gend werden.
Trotz solcher Bemiihungen war die Krise des Silberbergbaus auch in Bohmen
und im Erzgebirge nicht aufzuhalten. Urn die Mitte des 14. Jahrhunderts hatten
zahlreiche Bergwerke bei Iglau den Betrieb eingestellt.39 Das Zentrum der boh-
mischen Silberproduktion war inzwischen auf ein neues Zentrum iibergegangen.
Seit etwa 1290 war Kuttenberg (Kutna Hora) als Bergstadt mit Iglauer Recht ent-
standen,40 um 1300 stammten fast 90% des bohmischen Silbers - und damit mehr
als 40% der europaischen Silberproduktion - aus Kuttenberg. Seit der zweiten
Halfte des 14. Jahrhunderts begann auch die Kuttenberger Silberproduktion zu
sinken,41 auch dort lagen Gruben fur langere Zeit still.42
In gleicher Weise erlebte der Silberbergbau im Freiberger Revier in der zwei-
ten Halfte des 14. Jahrhunderts einen Niedergang.43 Nach rapidem Wachstum
bis zurjahrhundertmitte konnte hier zwarbis in die 1390erjahre immernoch auf
hohem Niveau Erz gefordert werden. Dann begannen jedoch auch hier die stei-
genden Betriebskosten den erhofften Gewinn in Frage zu stellen.44 Zur Forde-
rung des Bergbaus erwarben die Landesherren schlieBlich mehrere der wichtig-
sten Stollen, um den Grubenbetreibern das Stollen-Neuntel zu erlassen.45 Eine
vollstandige Einstellung des Bergbaus konnte dadurch im Freiberger Revier ver-
hindert werden. Neuere archaologische Untersuchungen zeigen jedoch das Aus-
maB des Niedergangs, den derBergbau seit Mitte des 14. Jahrhunderts im Erzge-
birge genommen hat.46 Mehrere im Hochmittelalter entstandene Bergbaustadte
waren aufgegeben worden,47 allein Freiberg blieb iiber die Mitte des 14. Jahrhun-
derts hinaus als bedeutende Stadt bestehen. Einerseits lag dies an seiner Doppel-
funktion als „Berghauptstadt" und Handelszentrum.48 Vor allem war dies eine
Folge landesherrlichen Handelns, das das Freiberger Revier in besonderer Weise
gefordert hatte.
Um die Mitte des 15. Jahrhunderts nahm die Montanindustrie europaweit ei-
nen neuen Aufschwung. Moglich geworden war dies vor allem durch ein neues
Produktionsverfahren, das die massenhafte Herstellung von Silber aus silberhal-
39 Majer, Erzbergbau, wie Anm. 24, S. 108.
40 Handbuch Historische Statten, Bohmen, wie Anm. 20, S. 308.
41 Majer, Erzbergbau, wie Anm. 24, S. 112.
42 Ebenda, S. 113f.
43 Schirmer, wie Anm. 26, S. 183.
44 Vgl. ebenda, S. 189 ff.
45 Urkundenbuch der Stadt Freiberg, wie Anm. 32, S. XII.
46 Schwabenicky, Forschungen, wie Anm. 31, S. 327.
47 Ebenda, S. 322 ff.
48 Ebenda, S. 328.
Herrschaft und mittelalterliche Montanindustrie 9
tigem Kupfer und Blei erlaubte, dem so genannten Saigerverfahren. Dem ge-
schmolzenen Kupfer wurde in groBerer Menge geschmolzenes Blei zugesetzt.
Bei Abkiihlen erstarrte zuerst das Kupfer, wahrend sich das fliissige Blei mit dem
Silber anreicherte. Dieses Blei-Silber-Gemisch konnte abgeschopft werden und
erstarrte ebenfalls zu Metallbrocken, die auf dem Saigerherd erneut geschmolzen
wurden, wobei man nun das Blei vom Silber trennte.49 Mit dem neuen Verfahren
setzte an vielen Standorten eine neue Phase der Montanindustrie ein, bislang
nicht abbauwiirdige Gruben wurden wieder in Betrieb genommen. Die politi-
sche Dimension derEntwicklung wird besonders deutlichbei derTirolerKupfer-
produktion, die um dasjahr 1500 durch kaiserliche Verpfandung voriibergehend
unter die Kontrolle des Augsburger Kaufhauses der Fugger geriet.50
Silberfunde im Erzgebirge bei Schneeberg und Annaberg am Ende des 15.
Jahrhunderts, die mit landesherrlicher Hilfe ausgebeutet wurden, fiihrten von
Neuem zum Wachsen des „Bergsegens" fur die Wettiner Landesherren. Mit der
Entdeckung eines Silbererzlagers bei Joachimsthal, dessen erster Gang 1516
durch sachsische Bergfachleute angeschlagen wurde, setzte ein erneuter Auf-
schwung der bohmischen Montanindustrie ein. Nach dem Muster der Tiroler
Silbergulden begann man im damaligen Herzogtum Sachsen mit der Pragung
eigener Silbergulden, die rasch auf den europaischen Geldmarkten kursierten
und zum Vorbild des bohmischen „Joachimsthalers" wurden, des spateren
„Talers".sl
Riickwirkungen auf den Harz
Nach dem Niedergang der Montanindustrie in der zweiten Halfte des 14. Jahr-
hunderts war der Oberharz nicht ganzlich menschenleer. Es wurde weiterhin
Fischfang, Graswirtschaft und Holzwirtschaft betrieben52 - in bescheidenem
MaBe Bergbau. Die Vielzahl grundherrschaftlicher Rechte war auf die welfischen
Landesherren iibergegangen, die nun allein als Inhaber der Bergrechte hervor-
traten: Um dasjahr 1400 lag die Herrschaft westlich der Innerste und ostlich der
49 Vgl. Christoph BARTELs/Gero Steffens, Mittelalterliche und friihneuzeitliche Bleige-
winnung im Sauerland. Interdisziplinare Untersuchungen am Beispiel der Grube Emanuel
bei Plettenberg, in: Bergbau im Sauerland, hg. vom Westfalischen Schieferbergbaumuseum
Schmallenberg-Holthausen, Schmallenberg-Holthausen 1996, S. 115-132, hier S. 11 7f.
50 Othmar Pickl, Kupfererzeugung und Kupferhandel in den Ostalpen, in: Hermann
Kellenbenz (Hrsg.), Schwerpunkte der Kupferproduktion und des Kupferhandels in Europa
1500-1650, Koln-Wien 1977, S. 117-147, hier S. 138.
51 Majer, Erzbergbau, wie Anm. 24, S. 116.
52 Vgl. Staatsarchiv Wolfenbiittel 26 Alt 1146.
10 Manfred von Boetticher
Oker offenbar bei den Herzogen zu Gottingen, das dazwischen liegende Gebiet
siidlich des Goslarer Stadtwaldes gehorte den Herzogen zu Grubenhagen. Bei-
den Welfenhausern kam die Berghoheit beim verlassenen Kloster Zella, d. h. auf
dem „Zellerfeld" zu. 1413 belehnten die Herzoge gemeinsam mehrere Einbecker
Burger mit dem „Bergwerk auf dem Zellerfeld", der Gottinger Herzog allein er-
scheint damals als Lehnsherr von Bergwerken im Pandelbachtal westlich der In-
nerste.53 Als Rechtsnachfolger der Gottinger Herzoge vergab Heinrich derFried-
fertige zu Wolfenbiittel 1463 einen „Silberberg" namens Kranichberg (Krantzberg)
bei Lautenthal und ein Bergwerk im Wintertal (siidlich Goslar zwischen dem
Rammelsberg und dem Herzberg).54 Noch Anfang des 16. Jahrhunderts berich-
ten Zeugen, auf dem Zellerfeld hatten bis vor kurzem Bergwerke bestanden - in
der Zustandigkeit eines Grubenhagener Bergvogts55 und im Besitz Einbecker
Burger, die auf dem Zellerfeld lebten.56 Besonders ergiebig war dieser Bergbau
aber wohl kaum.
Dagegen bemiihte sich seit der Mitte des 14. Jahrhunderts die Reichsstadt
Goslar mit Erfolg, ihre Positionen im Harzer Bergbau zu erweitern. 1359 erwarb
der Rat von den welfischen Landesherren pfandweise Zehnt und Gericht am
Rammelsberg57 und trat als Kaufer von Grubenteilen in Erscheinung.58 Bis 1511
hatte die Stadt das gesamte dortige Bergwerk in ihren Besitz gebracht.59 Seit Be-
ginn des 15. Jahrhunderts erfolgten Versuche der Stadt, den Wasserspiegel in den
vollgelaufenen Gruben zu senken - mehrfach durch Spezialisten aus Bohmen
53 Hauptstaatsarchiv Hannover Cop. Ill 6, Nr. 46 und 47.
54 Staatsarchiv Wolfenbiittel 2 Alt 3445, Bl. 4; fiir die Hilfe bei der Lokalisierung danke
ich Herrn Dr.-Ing. Hans Bauer.
55 Staatsarchiv Wolfenbiittel 26 Alt 1146, Bl. 61 R.
56 Staatsarchiv Wolfenbiittel 26 Alt 1146, Bl. 86, 95.
57 Karl Frolich, Die Besitz- und Herrschaftsverhaltnisse in der Waldmark bei Goslar bis
um die Mitte des 15. Jahrhunderts, in: Abhandlungen zur Rechts- und Wirtschaftsgeschichte.
Festschrift Adolf Zycha zum 70 Geburtstag, Weimar 1941, S. 123-172, hier S. 129; Bartels, Rie-
chenberger Vertrag, wie Anm. 8, S. 69; Christoph Bartels, Der Bergbau des nordwestlichen
Harzes im 14. und 15. Jahrhundert, in: Tasser/ Westermann, wie Anm. 3, S. 19-44, hier S. 21;
Urkundenbuch Goslar, wie Anm. 12, Bd. 4, Halle 1905, Nr. 659 und 660 (Ernst derjiingere und
sein Sohn Otto); ebenda, Nr. 661 und 662 (Ernst der Altere und sein Sohn Albrecht).
58 Christoph Bartels, Strukturwandel in Montanbetrieben des Mittelalters und der frii-
hen Neuzeit in Abhangigkeit von Lagerstattenstrukturen und Technologie - Der Rammels-
berg bei Goslar 1300-1470 - St. Joachimsthal im bohmischen Erzgebirge um 1580, in: Hans
Jiirgen Gerhard, (Hrsg.), Struktur und Dimension. Festschrift fiir Karl Heinrich Kaufhold,
Bd. 1, Mittelalter und Friihe Neuzeit, Stuttgart 1997, S. 25-70, hier S. 51.
59 Christian Wilhelm von Dohm, Goslar, seine Bergwerke, Forsten und schutzherrlichen
Verhaltnisse, in: Hercynisches Archiv oder Beitrage zur Kunde des Harzes und seiner Nach-
barlander, hg. von Christian Erdwin Philipp Holzmann, Halle 1805, S. 378-440, hier S. 383.
Herrschaft und mittelalterliche Montanindustrie 11
und dem Erzgebirge.60 Zwischen 1453 und 1456 gelang schlieBlich die Trocken-
legung.61
In jenenjahrzehnten brachte die Stadt ebenfalls pfandweise einen groBen Teil
des Oberharzer Waldes in ihren Besitz, dessen Holz fur den Bergbau benotigt
wurde.62 Die friihere Zersplitterung der Besitztitel schien aufgehoben, die
Reichsstadt hatte sich durchgesetzt, ein neuer Aufschwung konnte beginnen.
Durch die Silberherstellung nach dem Saigerverfahren, bei dem riesige Mengen
Blei gebraucht wurden, wuchs zudem sprunghaft das Interesse an Bleierzen, die
nun am Rammelsberg in den Mittelpunkt der Verwertung riickten.63 Vorhande-
ne Schachte konnten zur ErschlieBung bleireicher Partien genutzt, das Metall in
groBer Menge zur Entsilberung des Kupfers exportiert werden.64
Allerdings hatte die Reichsstadt ihre Rechnung ohne die fiirstliche Landes-
herrschaft gemacht, die nun ebenfalls versuchte, die Harzer Erzressourcen an
sich zu bringen. Nachdem Mansfelder Bergleute, durch private Geldgeber ins
Hohnsteiner Gebiet am Siidharz gelockt, auf eine bislang unentdeckte Silberader
gestoBen waren,65 erlieBen die Grafen von Hohnstein 1521 in enger Anlehnung
an die Gesetzgebung im Erzgebirge die erste Oberharzer Bergfreiheit.66 Einer-
seits wurde darin die freie Suche und Ausbeute des Erzes ermoglicht, anderer-
seits ein Vorkaufsrecht der Grafen festgeschrieben - eine Anwendung des Berg-
regals, wie sie fur den Harz neu war. Das folgendejahrzehnt brachte ein rasantes
Wachstum einerneuen Bergstadt - St. Andreasberg - vor allem durch Einwande-
rer aus Annaberg, Schneeberg und Joachimsthal.67
Entscheidend fur den Fortgang der Montanindustrie im Oberharz wurde je-
doch ein Herzog, der es als einer der ersten norddeutschen Landesherren ver-
stand, in seinem Fiirstentum die Entwicklung zum friihmodernen Territorialstaat
60 Bornhardt, wie Anm. 15, S. 79ff.; 84ff.; Rosenhainer, Unterharzer Hiittenwesen, wie
Anm. 24, S. 44; Bartels, Goslar und der Bergbau, wie Anm. 12, S. 168.
61 Hans-Joachim Kraschewski, Zur Arbeitsverfassung des Goslarer Bergbaus am Ram-
melsberg in der ersten Halfte des 15. Jahrhunderts, in: Niedersachsischesjahrbuch fur Lan-
desgeschichte 6, 1994, S. 1-45, hier S. 4.
62 Albert Volker, Die Forsten der Stadt Goslar bis 1552, Goslar 1922.
63 Bartels, Strukturwandel, wie Anm. 58, S. 53.
64 Vgl. Bartels, Goslar und der Bergbau, wie Anm. 12, S. 169.
65 Friedrich Gunther, Die alteste Geschichte von S. Andreasberg und ihre Freiheiten,
in: Zeitschrift des Harz-Vereins 42, 1909, S. 191-213, hier S. 195 ff.; vgl. Jager Friedrich, Ent-
wicklung und Wandlung der Oberharzer Bergstadte. Ein siedlungsgeographischer Vergleich,
Clausthal-Zellerfeld 1972, S. 6; Hans-Werner NiEMANN/Dagmar Niemann-Witter, Die Ge-
schichte des Bergbaus in St. Andreasberg, Clausthal-Zellerfeld 1991, S. 3.
66 Ebenda, S. 5f.
67 Jager, Entwicklung, wie Anm. 65, S. 6; Niemann /Niemann-Witter, Andreasberg, wie
Anm. 65, S. 7.
12 Manfred von Boetticher
einzuleiten und der dabei von Anfang an die Bedeutung der Erzressourcen er-
kannt hatte: Heinrich derjiingere.68 Durch den Anfall des Fiirstentums Gottin-
gen hatte das Fiirstentum Braunschweig-Wolfenbiittel 1442 dessen territoriale
Stellung am Oberharz iibernommen. Bergleute der Eisenhiitten bei Gittelde und
Grund waren Anfang des lG.Jahrhunderts auf Silbererz gestoBen69 und den Erz-
adern in den Oberharz hinein gefolgt.
Urn die dortige Silberproduktion voranzutreiben, iibernahm Heinrich derjiin-
gere Erfahrungen aus den bohmischen und sachsischen Revieren. 1524 erwirkte
er vom grundherrlichen Unternehmer in Joachimsthal, Graf Stefan Schlick, die
Ubersendung von Fachleuten.70 Als eine der ersten MaBnahmen wurde mit der
Weiterfiihrung des mittelalterlichen Stollens an der Innerste eine langfristige Lo-
sung des iiberkommenen Wasserproblems angegangen,71 gleichzeitig eine Berg-
ordnung fur „Grund und umliegende Gebirge" erlassen.72
Beraten von Herzog Georg von Sachsen, mit dem ihn auch die gemeinsame
Abwehr der lutherischen Reformation verband, lieB es der Wolfenbiitteler Her-
zog nicht mit der Einfiihrung einer allgemeinen Bergordnung bewenden, die auf
Bergbaufreiheit und Erbstollenrecht basierte.73 Er begann mit dem Aufbau einer
eigenen Bergverwaltung,74 die den Landesherrn in wenigenjahrzehnten auf dem
Gebiet der Montanindustrie zum eigentlichen Unternehmer werden lieB. Es ent-
68 Vgl. Sabine Schumann, Joachim Mynsinger von Frundeck (1514-1588). Herzoglicher
Kanzler in Wolfenbiittel - Rechtsgelehrter - Humanist. Zur Biographie eines Juristen im 16.
Jahrhundert, Wiesbaden 1983, S. 114; Rainer Taubrich, Herzog Heinrich derjiingere von
Braunschweig-Wolfenbiittel (1489-1568). Leben und Politikbis zum Primogeniturvertrag von
1535, Braunschweig 1991, S. 114f.; Carl-Hans Hauptmeyer/ Martin Stober, Der Riechenber-
ger Vertrag im Kontext der Politik Heinrichs des Jiingeren, in: Riechenberger Vertrag, wie
Anm. 8, 109-124.
69 Jager, Entwicklung, wie Anm. 65, S. 18.
70 Hauptstaatsarchiv Hannover, Bergarchiv Clausthal Hann. 84 la, Nr. 1; vgl. Ekkehard
Henschke, Landesherrschaft und Bergbauwirtschaft. Zur Wirtschafts- und Verwaltungsge-
schichte des Oberharzer Bergbaugebietes im 16. und 17. Jahrhundert, Berlin 1974, S. 42.
71 Hauptstaatsarchiv Hannover, Bergarchiv Clausthal Hann 84a, Nr. 6682; unter Beru-
fung auf Hake: Christoph Bartels, Der Betriebsmittelverbrauch Oberharzer Zechen im 16.,
17. und 18. Jahrhundert, in: Ekkehard Westermann (Hrsg.), Bergbaureviere als Verbrauchs-
zentren im vorindustriellen Europa, Stuttgart 1997, S. 145-173, hier S. 149.
72 Friedrich Gunther, Die Besiedelung des Oberharzes, in: Zeitschrift des Harz-Vereins
17, 1884, S. 1-41, hierS. 13; Gunther, Friedrich, Die Bergfreiheiten des friiheren Kommuni-
on-Oberharzes und ihre Geschichte, in: Zeitschrift des Harz-Vereins 39, 1906, S. 255-307,
hier S. 257ff.
73 Willecke, Entwicklung, wie Anm. 10, S. 61, 69; vgl. Wilhelm Streit, Vergleichende
Darstellung der Oberharzer Bergrechte und des alteren deutschen Bergrechts, Diss.
Clausthal 1966, S. 39, 46.
74 Bergchronik, wie Anm. 7, S. 36; Gunther, Besiedelung, wie Anm. 72, S. 13; Hensch-
ke, Landesherrschaft, wie Anm. 70, S. 42f.; vgl. Hans-Joachim Kraschewski, Wirtschaftspo-
Herrschaft und mittelalterliche Montanindustrie 13
standen Bergstadte wie Wildemann und Zellerfeld mit eigenem landesherrlichen
Recht.75 Vom Erzgebirge her wurde der Oberharz neu besiedelt.76
Voraussetzung dieser Politik war eine neue Festlegung der Hoheitsverhaltnisse
im Oberharz, die Heinrich der Jiingere mit wenig Skrupeln zu seinen Gunsten
entschied. Auf der Strecke blieben die Rechte des Fiirstentums Grubenhagen,
dem bei einer erzwungenen Teilung des Gebietes nur das siidliche Zellerfeld mit
Clausthal und Altenau zugestanden wurde,77 wo die Grubenhagener Herzoge
dann bald ihre eigene Montanindustrie aufbauten. Auf der Strecke blieb vor al-
lem die Reichsstadt Goslar, die nach ihrer militarischen Niederlage gegen Hein-
rich denjiingeren ihre Rechte am Rammelsberg und an den Harzwaldern an das
Fiirstentum Wolfenbiittel abtreten musste.78
Ausblick
Wie sich gezeigt hat, war der Niedergang des Bergbaus im Erzgebirge im 14. Jahr-
hundert groBer, als vielfach angenommen. Demgegeniiber war der Bergbau im
Oberharz im 15. Jahrhundert nicht ganzlich zum Erliegen gekommen. Allerdings
erfuhr er von den Grubenhagener Herzogen kaum eine nennenswerte Forde-
rung. Gegen eine solche Herrschaft konnte sich das Fiirstentum Wolfenbiittel oh-
ne Schwierigkeiten durchsetzen. Nach sachsischem Vorbild nahm die Wolfen-
biitteler Bergverwaltung in ihrem neuen Hoheitsbereich die Ressourcen der
Montanindustrie unter zentrale Kontrolle - nach einer eher indirekten Wahrneh-
mung der Berghoheit, wie sie sich im Mittelalter in Bohmen oder im Erzgebirge
herausgebildet hatte, in gewisser Weise eine Riickkehrzum fruhmittelalterlichen
Herrschaftsanspruch, jedoch unter Bewahrung der seither entwickelten Rechts-
formen: Trennung von Bergrecht und Grundherrschaft, Erbstollenrecht und
Bergfreiheit, letztere freilich im Rahmen enger werdenderVorgaben des friihmo-
dernen Staates. Ein Aufschwung der Produktion lieB in den folgenden Jahrzehn-
ten nicht auf sich warten.
Sicher ware es verfehlt, den jeweiligen Herrschaftsverhaltnissen fiir die Ent-
wicklung der Montanindustrie in einer Region alleinige Bedeutung zuzuspre-
litik im deutschen Territorialstaat des 16. Jahrhunderts. Herzog Julius von Braunschweig-
Wolfenbuttel (1526-1589), Koln-Wien 1978, S. 54.
75 Bergchronik, wie Anm. 7, S. 38ff.; Gunther, Besiedelung, wie Anm. 72, S. 13f. (1524
fiir Grund und Zellerfeld, 1553 fiir Zellerfeld, Wildemann und Grund); vgl. Erich Borchers,
Sprach- und Griindungsgeschichte dererzgebirgischen Kolonie im Oberharz, Marburg 1927,
S. 7.
76 Ebenda, S. 32 f.
77 Gunther, Besiedelung, wie Anm. 72, S. 14.
78 Vgl. Hauptmeyer/Stober, wie Anm. 68, S. 109.
14 Manfred von Boetticher
chen. Nirgendwo konnte der Herrschaft primare Bedeutung zukommen; ent-
scheidend war iiberall zunachst einmal das Vorhandensein ausreichender Lager-
statten. Wenn der Deutsche Orden fur das Kulmer Land nach Freiberger Vorbild
eine allgemeine Bergfreiheit aussprach, sich im Pruzzen-Land aber keine Erze
fanden, musste dies folgenlos bleiben. Waren andererseits die Silberbarren nur
knapp unter der Erdoberf lache auszugraben gewesen, ware dies unter beliebigen
Herrschaftsbedingungen und jedem demographischen Einbruch zum Trotz ge-
schehen.
Bei den dargestellten Montanregionen kam derLandesherrschaftjedoch gera-
de nach der Krise des 14. Jahrhunderts fur den Fortgang des Bergbaus wesentli-
che Bedeutung zu, auch wenn die Rationalitat einer solchen Politik nicht in jedem
Fall mit heutigen MaBstaben zu beurteilen ist. Das leichtfertige Vertrauen, mit
dem der Wolfenbiitteler Hof unter Herzog Julius, dem Nachfolger Heinrichs des
Jiingeren, mehrere Jahre mit hohen Summen betriigerische Goldmacher auf de-
ren Suche nach dem „Stein der Weisen" finanzierte, macht dies deutlich.79 Deut-
lich wird dadurch aber noch einmal der zentrale Stellenwert, den die Montanin-
dustrie fur die Wolfenbiitteler Landesherrschaft inzwischen eingenommen hatte.
DerHarzerBergbau - unter den zersplitterten Herrschafts- und Besitzstrukturen
des spaten Mittelalters zum Scheitern verurteilt - konnte bei solchem landesherr-
lichen Engagement wieder Anschluss an Entwicklungen in den ostlichen Nach-
barregionen gewinnen.
79 A. Rhamm, Die betriiglichen Goldmacher am Hofe des Herzogs Julius von Braun-
schweig, Wolfenbiittel 1883, S. 11.
2.
Steinkohle als Ausweg?
Der lange Weg vom solaren zum fossilen Zeitalter
im mittleren Niedersachsen
Von Dirk Neuber
Im Jahr 1614 warnte der Schaumburger Chronist Spangenberg vor einem dro-
henden Holzmangel: So nehmen die Bergwerck, Glasehiitte, Saltzpfannen, Kalckofen
und das Schmiedewerck tdgliches ein grosses Holtz hinweg; ja wie viel mehr Holz frisset
und verzehret nunmehr der Brawhandel; und muji gleichwohl aber[. . .] der gemeine Mann
auchsein nottiirfftiges Fewrholtzhaben. Er wiesjedoch auch bereits auf die mogliche
Losung des Problems hin: Lieberwas woltgeschehen, wenn Gott nicht in diesen und den
benachbarten Landen die Steinkohlen geoffenbaret hette? l In der Tat zog sich im heuti-
gen Niedersachen entlang der Mittelgebirge vom Osnabriickischen bis ins Lei-
ne-Weserbergland ein Band von Steinkohlelagerstatten,2 die damals bereits vie-
lerorts ausgebeutet wurden. Es sollte freilich noch mehr als zwei Jahrhunderte
dauern, bevor im Zuge der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts diese „gottli-
che Offenbarung" in groBem Umfang genutzt wurde.
Im Folgenden soil aufgezeigt werden, welche energie- und wirtschaftsge-
schichtlichen Vorteile sich fur eine vorindustrielle Region ergaben, deren Sali-
nen, Ziegeleien, Glashiitten, Kalk- und Branntweinbrennereien nicht allein auf
den - nurlangsam nachwachsenden - Brennstoff Holz angewiesen waren. Nicht
minder interessant und aufschlussreich war der ebenfalls sehr zogerliche Prozess
1 Cyriakus Spangenberg, Chronicon: In welchem der Grafen zu Holstein, Schaumburg,
Sternberg und Gemen Ankunft u. wie sie die Grafschaften bekommen, wie lange sie die,
auch das Herzogtum Schleswig besessen [. . .], Stadthagen 1614, S. 6. Der vorliegende Auf-
satz basiert auf Ergebnissen meiner Dissertation: Energie- und Umweltgeschichte des nie-
dersachsischen Steinkohlenbergbaus. Von der Friihen Neuzeit bis zum Ersten Weltkrieg,
Hannover 2002.
2 Auch beim preufiischen bzw. heute nordrhein-westfalischen Minden wurde von
der Mitte des 17. Jahrhunderts bis 1958 ebenfalls Wealdenkohle abgebaut, vgl. Hans Rohrs
Erz und Kohle. Bergbau und Eisenhiitten zwischen Ems und Weser, Ibbenburen 1992,
S. 208-222.
16 Dirk Neuber
der Verbreitung des Steinkohlenbrandes in privaten Haushalten, der jedoch im
Rahmen dieses Aufsatzes nicht naher thematisiert werden kann.3
Um den Umstellungsprozess vom Holz zur Kohle zu verdeudichen, soil am
Beispiel einiger ausgewahlter Gewerbezweige veranschaulicht werden, welche
Griinde fiir die Einfuhrimg des Steinkohlenbrandes sprachen, wie und wann er
sich gegen das Holz durchsetzte und auch, welche Hemmnisse ihm entgegen
standen. Zuvorist es jedoch notwendig, die einzelnen Reviere kurz vorzustellen.
Die niedersachsischen Steinkohlenreviere
Im wesdichen Niedersachsen begannen die abbauwiirdigen Kohlevorkommen
im Osnabriicker Hiigelland am Piesberg, bei Bohmte und Lintorf sowie im nord-
lichen Teutoburger Wald. Weitere Steinkohlereviere lagen im ostlich der Weser
gelegenen niedersachsischen Weser- und Leinebergland in den Biickebergen,
den Rehburger Bergen, dem Deister, Siintel, Nesselberg, Osterwald und Hils.4
Kleinere Steinkohlevorkommen etwa bei Helmstedt spielten dagegen nur eine
Nebenrolle.
Die im mittleren Niedersachsen abgebaute Kohle entstammte verschiedenen
Erdzeitaltern: Im Helmstedter Raum waren dies eher unbedeutende Vorkom-
men aus dem oberen und unteren Keuper. Am Osnabriicker Piesberg wurden
vier rund 300 Mio. Jahre alte Floze der fiir den westfalischen Raum charakteristi-
schen Karbonformation abgebaut; in alien iibrigen Revieren die vor etwa 135
Mio. Jahren entstandenen Lagerstatten der Wealden-Formation.5 Letztere tritt
insbesondere an den Bergriicken zwischen Georgsmarienhiitte im Westen, Sehn-
de im Osten, Neustadt a. Rbge. im Norden und dem Hils im Siiden zutage. Die
bis zu 500 m machtigen Wealden-Schichten enthalten neben Ton- und Sand-
steinschichten zahlreiche Kohlenfloze mit wechselnder Machtigkeit, von denen
beispielsweise in Schaumburg nur das Hauptfloz, siidostlich von Osnabriick da-
gegen gleich vier als abbauwiirdig galten.
Entsprechend der Zusammensetzung der geforderten Kohlesorten (Gehalt an
fliichtigen Bestandteilen, Asche und Schwefel) wurden sie zu verschiedenen
3 Ausfuhrlich dazu vgl. Neuber, Energie- und Umweltgeschichte, wie Anm. 1, S. 155-185.
4 Als Uberblick zu jenen Revieren vgl. Dirk Neuber, Nicht nur Kali - Der Steinkohlen-
bergbau zwischen Weser und Leine, in: Hans Peter Riesche und Peter Schulze (Hrsg.), Die
Kaliindustrie in der Region Hannover - Versuch einer Jahrhundertbilanz, Bielefeld 2004,
S. 297-326.
5 Ausfuhrlich zur Geologie des norddeutschen Wealden (Berrias) vgl. Horst Falke, Der
Wealden-Steinkohlenbergbau in Niedersachsen, Oldenburg i. O. 1944, S. 10ff.; Armin
Graupner, Der Berrias-Steinkohlenbergbau in Niedersachsen 1945-1963, Gottingen 1980,
S. 9ff.
Steinkohle als Ausweg? 17
Zwecken verwendet: Der nahezu rauchfrei verbrennende hochwertige Piesber-
ger Anthrazit eignete sich besonders gut zum Hausbrand, wohingegen die Weal-
denkohle eher minderwertig war: Ihre besseren Sorten fanden beim Schmieden
Verwendung, die schlechteren, asche- und schwefelreichen Brandkohlen dienten
vor allem gewerblichen Feuerungszwecken.
Die Beschaffenheit der Wealdenkohle richtete sich nicht nach ihrem geologi-
schen Alter, sondern war selbst innerhalb eines Flozes groBen Schwankungen un-
terworfen. Generell war die Kohle in den oberf lachennahen Stollenrevieren star-
ker entgast als in den Tiefbaurevieren: mit zunehmender Abbautiefe nahm der
Gehalt fliichtiger Bestandteile zu und machte sie damit fur die Verkokung geeig-
neter. Doch auch die Beschaffenheit der Gesteinspartien iiber dem Floz spielte ei-
ne Rolle. So hemmten in Schaumburg dichte Schiefertone die Entgasung,6 was
immer wieder zu verheerenden Grubengasexplosionen fiihrte, die man mit dem
kostspieligen Betrieb von Wetterofen und spater elektrischen Ventilatoren zu ver-
hindert suchte.7 Am Deister dagegen verteuerten hohe Wasserzufliisse in den
Tiefbaurevieren den Bergbau.8 Um 1925 mussten dort z.B. zur Forderung von ei-
ner Tonne Kohle 33 t Wasser abgepumpt werden.9
Eine geologische Besonderheit betraf das nordlich von Osnabriick gelegene
Kohlevorkommen aus dem Karbon im Piesberg. Dieses war durch magmatische
Gesteine im Untergrund derart aufgeheizt worden, dass sie zu nahezu vollstandig
entgastem Anthrazit wurden, welcher sich hervorragend sowohl zum Hausbrand
als auch fur sonstige Feuerungszwecke eignete.10 Der Piesberg besaB auch beziig-
lich der Machtigkeit seiner vier Kohlefloze von 80, 52, 110 und 68 Zentimetern11
6 Walter Heidorn, Der niedersachsische Steinkohlenbergbau, in: Jahrbuch der Geogra-
phischen Gesellschaft zu Hannover, 1927, S. 1-43, S. 9-12. Georg Romhild, Montanindustrie
an der Peripherie. Die nordwestdeutsche Wealdenkohle und der fruhere Bergbau im Ge-
samtbergamt Obernkirchen-Barsinghausen - im Ubergang von der Friih- zur Hochindu-
strialisierung - unter besonderer Beriicksichtigung des 1961 erloschenen Schaumburger
Steinkohlenbergbaus, in: Siedlungsforschung. Archaologie - Geschichte - Geographie 16,
1998, S. 279-327, S.287f.
7 Otto Schunke; Gustav Schulbe [Breyer], Die Schaumburger Gesamtsteinkohlenberg-
werke, Ms. o. O., ca. 1935, S. 153ff.; Wilhelm Weiland, Die Schaumburger Kohlenbergwer-
ke, Stadthagen 1976, S. 88-92.
8 Heidorn, Steinkohlenbergbau, wie Anm. 6, S. 9-12.
9 Bracht, (Oberbergrat), Die Gewinnung der niedersachsischen Steinkohlenvorkom-
men, in: Mitteilungen der hannoverschen Hochschulgemeinschaft, 8 (1925), S. 61-67; S. 62,
S. 66f.
10 Rohrs, Erz, wie Anm. 2, S. 55, 105.
11 Armin Graupner, Unterirdische Lagerstatten: Steinkohle, in: Behr, Hans-Joachim
(Hrsg.), Der Landkreis Osnabriick. Geschichte und Gegenwart. Osnabriick 1971, S. 32-41;
S. 32 ff.
18 Dirk Neuber
eine vergleichsweise giinstige Lagerstattensituation. In den iibrigen niedersachsi-
schen Revieren wurde namlich haufig nur ein Floz mit selten mehr als 50 cm
„Machtigkeit" abgebaut, wobei ca. 20 cm die untere Grenze der Abbauwiirdig-
keit darstellten. 12 Bei derartigen Verhaltnissen waren die Bergleute zum Arbeiten
im Liegen gezwungen.13 Ihre harte Arbeit beim Abbau und Transport der Kohle
zur Forderstrecke unterschied sich noch im friihen 20. Jahrhundert kaum von
den Arbeitsbedingungen in denjahrhunderten davor: Die Kohle wurde von dem
auf engstem Raum bei sparlicher Beleuchtung liegenden Hauer mit der Keilhaue
aus dem Floz gebrochen und dann aufwandig zum nachsten Schacht oder Stol-
lenmundloch befordert.14 Seit den 1920erjahren brachten zwar Presslufthammer
und Schiittelrutschen Arbeitserleichterungen und Produktivitatssteigerungen.
Der Einsatz effektiverer Fordermaschinen wurde jedoch durch die geringe Floz-
machtigkeit ausgeschlossen.15 So konnten Ausweitungen der Forderung fast nur
iiber groBere Belegschaften erzielt werden, wahrend zugleich mit zunehmender
12 Heidorn, Steinkohlenbergbau, wie Anm. 6, S. 17.
13 Zu den Arbeitsbedingungen der Bergleute vgl. Rohrs, Erz, wie Anm. 2, S. 73f. (Pies-
berg), S. 88ff. (Borgloh), ebenso fur Borgloh-Oesede: Rene Ott, Kohle, Stahl und Klassen-
kampf. Montanindustrie, Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung im Osnabriicker Land
1857-1878, Frankfurt/New York 1982, S. 65ff. Fur die ostlicheren Reviere vgl. Bracht, Ge-
winnung, wie Anm. 9, S. 63ff.; W. Heidemann, MaschinenmaBige Kohlengewinnung und
Abbauiorderung beim Abbau geringmachtiger, flachgelagerter Steinkohlenfloze, in: Gliick-
auf63, 1927, Nr. 21, S. 749-759, Nr. 22, S. 789-798; insbes. S. 753 ff. Speziell zu Schaumburg
vgl. Karl Heinz Schneider, Schaumburg in der Industrialisierung, Teil 2, Von der Reichs-
grundungbis zum Ersten Weltkrieg, Melle 1995, S. 65ff. ; zum Deister Karin Schmidtke, Die
Arbeitswelt der Bergleute, in: Steigerwald, Eckard (Red.), Barsinghausen unter Kloppel,
Schlegel und Eisen, Barsinghausen 1994, S. 133-154. Ausfuhrlichste und dank zahlreicher
Abbildungen anschaulichste Darstellung der Arbeitsbedingungen im Deisterbergbau im
20. Jahrhundert bei Horst Krenzel, Kohlenberge und Arschbackenschaufel, Horb a. Ne-
ckar 2007. Eindrucksvolle Schilderungen bei Hermann Lons, Von Barsinghausen nach Ege-
storf, in: Hannoverscher Anzeiger, Beilagen Nr. 150, 151 und 152 (26., 27. und 29.8.1893);
sowie ders.: Tief unterm Deister, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 18.1.1903, abge-
druckt in: Mierau, Udo; Wildhagen, Gudrun: „Ich weif ein Land . . .". Hermann Lons im
Deister, Siintel und im Calenberger Land, Barsinghausen 21993, S. 76-83 sowie S. 24-29.
14 Heidemann, Kohlengewinnung, wie Anm. 13, S. 753 ff.; Schneider, Industrialisie-
rung, Bd. II, wie Anm. 13, S. 66; Hinrich Ewert, Der Steinkohlenbergbau, in: Steigerwald,
Eckard (Red.), Barsinghausen unter Kloppel, Schlegel und Eisen. Herausgegeben von der
Stadt Barsinghausen, Barsinghausen 1994, S. 81-132., S. 112.
15 Heidemann, Kohlengewinnung, wie Anm. 13, S. 753ff; Michael Mende, Technikge-
schichte und Arbeitsalltag. Heute ein Schulhof: einst eine groBe Kokerei, in: Beispiele -
Schule machen in Niedersachsen 4, 1986, S. 63-67., S. 65 f.; Karl Heinz Schneider, Schaum-
burg in der Industrialisierung, Teil 1, Vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Reichsgriin-
dung, Melle 1994, S. 65-69; Bracht, Gewinnung, wie Anm. 9, S. 64-66.
Steinkohle als Ausweg? 19
Tiefe die Entwasserung und Bewetterung der Gruben immer hohere Kosten ver-
ursachte.16
Im Verlauf des 19. Jahrhunderts vollzog sich in nahezu alien niedersachsi-
schen Revieren eine wichtige Veranderung des Abbaubetriebes. Bis dahin war
die Forderung praktisch ausschlieBlich in durch Stollen entwasserten Revieren
erfolgt, aus denen das Grubenwasser selbstandig abfloss. Nun erforderte teils die
Erschopfung der iiber Entwasserungsstollen erreichbaren Kohlenfelder, teils
aber auch die mit groBerer Tiefe zunehmende Kohlenqualitat ein Umsteigen auf
den Tiefbau. Um die unter der tiefsten Stollensohle gelegenen Gruben vor dem
Absaufen zu bewahren, wurde 1835 auf dem Schaumburger Kunstschacht I eine
erste Wassersaulenmaschine mit Wasserkraft betrieben. In trockenen Zeiten
musstejedoch aus Mangel an Aufschlagswassereine Dampfmaschine zu Hilfe ge-
nommen werden.17 Letztlich waren daher Dampfmaschinen unabdingbar, wo-
durch der Bergbau zugleich in eine kapitalintensivere Phase mit hoheren Forder-
kosten iiberging. An den Tiefbauschachten entstanden auch erste groBere Ze-
chenanlagen, die nicht nur der Forderung der Kohle, sondern auch ihrer
Aufbereitung durch Kohlenwaschen und ihrer Veredelung in Kokereien oder
Brikettfabriken dienten. 18
Dagegen war der vorindustrielle niedersachsische Bergbau gekennzeichnet
durch eine Vielzahl kleinererBergwerke mit oftmals kaum einem Dutzend Berg-
leuten. Dies war auch eine Folge der Bergrechtsverhaltnisse, denn wahrend sich
im Osnabriickischen die Ansicht der Regalitat der Steinkohlen erst im 19. Jahr-
hundert verstarkt durchsetzte,19 wurde der Regalitatsanspruch im Calenbergi-
schen zu Beginn des 19. Jahrhunderts zugunsten des Rechtes der Grundeigentii-
mer auf Kohlenabbau aufgegeben. Die Folgen waren in beiden Fallen ahnlich,
denn es entstand ein Nebeneinander privater, institutioneller und landesherrli-
cher Bergwerke. Im Schaumburger Kommunionbergbau dagegen wurde im Un-
tersuchungszeitraum niemals auf die Regalitat verzichtet und die verstreuten Re-
viere stets zentral durch das Gesamtbergamt verwaltet.20
16 Ebd., S. 62.
17 Schunke/Schulbe, Gesamtsteinkohlenbergwerke, wie Anm. 7, S. 66ff.; ausfuhrlich
dazu vgl. Neuber, Energie- und Umweltgeschichte, wie Anm. 1, S. 214f.
18 Die groBte Wealden-Zechenanlage Georgschacht bei Stadthagen umfasste mit Rand-
flachen 47 ha., die Barsinghauser Zeche immerhin 27 ha. Romhild, Montanindustrie, wie
Anm. 6, S. 285.
19 Jugler, Bergrechtsverhaltnisse in Hannover, in: Zeitschrift fur Bergrecht 8, 1868,
S. 75-103; S. 95-99, S. 89f.; zu Calenberg vgl. auch A[dolph] Ebert, Geschichtliche Darstel-
lung des Kohlenbergbaues im Furstenthume Calenberg, in: Zeitschrift des historischen Ver-
eins fur Niedersachsen, 1866, S. 1-116., S. 96-106.
20 Ausfuhrlich zur Beanspruchung des Bergregals durch die Schaumburger Grafen vgl.
Rolf Krumsiek, Das Schaumburgische Bergrecht, Rinteln 1963, S. 5-8.
20 Dirk Neuber
Entwicklungs- und Konjunkturphasen
Der niedersachsische Steinkohlenbergbau erlebte seine erste Bliite in denjahr-
zehnten vor dem 30jahrigen Krieg unter Herzogjulius von Braunschweig (1528-
1589) sowie Fiirst Ernst von Schaumburg (1569-1622). Nach dem Tod des erste-
ren und spatestens infolge des 30jahrigen Krieges gingen die meisten Bergwerke
wieder ein, die iibrigen im Schaumburgischen, dem Osnabriickischen und am
Osterwald forderten auf niedrigem Niveau weiter. Erst seit Mitte des 18.Jahrhun-
derts kam es wieder zu verstarkten privaten und landesherrlichen Bergwerksneu-
griindungen und allmahlich steigenden Forderungs- und Belegschaftszahlen.
Dass insbesondere der Schaumburger Bergbau jahrhundertelang noch am be-
sten florierte, lag daran, dass die relativ gute Nachfrage nach der Schaumburger
Schmiedekohle einen vergleichsweise umfangreichen Abbaubetrieb ermoglich-
te. Wenn es daneben auch in den iibrigen Revieren einige weitere vorindustrielle
Bergwerke gab, die Jahrhunderte langen Bestand hatten, so waren das jene, die
iiber kontinuierlichen Absatz an mindestens einen gewerblichen GroBabnehmer
verfiigten: das Werk am Osterwald iiber Saline, Glashiitte und Ziegelei, jenes bei
Borgloh iiber die bedeutende Saline Rothenfelde und das Piesberger Werk iiber
das nahegelegene Osnabriick mit seinem kontinuierlichen Kalk- und spater
Hausbrandbedarf.
Ansonsten erscheint die Geschichte des niedersachsischen Steinkohlenberg-
baus bis etwa 1830 vor allem als eine Geschichte finanzieller Fehlschlage: Dut-
zende Pachter und Besitzer kleinerer Bergwerke biiBten bei der Suche nach dem
schwarzen Goldihr gesamtes Vermogen ein.21 Dies ist einerseits auf den hohen In-
vestitionsbedarf fur die bergbaulichen Anlagen zuruckzufiihren, andererseits
darauf, dass angesichts der unbestreitbaren Vorteile der Kohle ihre Absatzmog-
lichkeiten vollig iiberschatzt wurden. Betriebe, die sich namlich nur auf den loka-
len Kleinabsatz stiitzen konnten, litten erheblich unter saison-, konjunktur- und
kohlenqualitatsabhangigen Absatzschwankungen, so dass haufig aufgehaldete
Kohlenvorrate verdarben und kaum ein Werk mit Gewinn betrieben werden
konnte. An den Aufbau von Riicklagen fur immer wieder notwendige groBe Inve-
stitionen in Schachte, Stollen und spater Wasserhaltungsmaschinen war unter
diesen Voraussetzungen erst recht nicht zu denken.
In denjahrzehnten nach Ende derNapoleonischen Kriege kehrte sich mit der
wachsenden Kohlennachfrage auch die Absatzsituation um. Seit den 1830erjah-
ren entstanden nicht nur neue private Bergwerke, sondern auch der hannover-
21 Zahlreiche Beispiele hierzu bei Ebert, Darstellung, wie Anm. 19 sowie Paul Rohde,
Geschichte der Steinkohlenforderung im Amt Iburg, in: Osnabriicker Mitteilungen, 27,
1902, S. 38-193, passim.
Steinkohle als Ausweg?
21
sche Fiskus erkannte die Gruben als Einnahmequelle und engagierte sich starker
als bisher: Erzielte das konigliche Finanzministerium aus den herrschaftlichen
Werken im Calenbergischen und Osnabriickischen 1836/37 einen Gewinn von
8.650 Reichstalern, vervierfachte sich der Ertrag bis 1850/51 auf 36.300 Reichs-
taler.22
Die folgende Abbildung 1 verdeutlicht nicht nur die iiberragende Position des
Schaumburger Bergbaus unter den niedersachsischen Revieren. Sie zeigt
zugleich, dass die zahlreichen aufstrebenden Gruben am Deister 1835 bereits die
traditionsreicheren Reviere des Konigreichs Hannover am Osterwald sowie im
Osnabriickischen an Bedeutung iiberfliigelt hatten.
Stemmen I 000 1
Rehburg I 000 [
Siintel 6 000 1
Piesbcrg
6 000
Borgloh
SOOOl
Schaumburg
44 526 1
Deister 1 8 000 t
Abb. 1: Jahresforderung der einzelnen niedersachsischen Steinkohlenreviere urn 1835
qc23
Trotz steigender Forderungszahlen stand um 1860 dem geschatzten Steinkoh-
lenverbrauch des Konigreichs Hannover von 602.500 t eine Forderung von nur
321.670 t gegeniiber.24 Fast die Halfte der Kohle wurde demnach importiert -
entweder per Schiff aus England,25 oder per Bahn aus Schaumburg, dem tecklen-
22 W. Lehzen, Hannover's Staatshaushalt, Bd. 1, Die Einnahmen, Hannover 1853, S. 185.
23 Gesamtforderung: 94.525 t. Quellen: Fur Schaumburg nach Schunke/Schulbe, Ge
samtsteinkohlenbergwerke, Anlage III, wie Anm. 7. Fur das Konigreich Hannover umge-
rechnet nach Schatzung von G. W. Marcard, Zur Beurtheilung des National-Wohlstandes,
des Handels und der Gewerbe im Konigreiche Hannover, Hannover 1836, S. 100.
24 H. B. Geinitz; H. Fleck; E. Hartig, Die Steinkohlen Deutschland's und anderer Lan-
der Europa's, Bd. II, Geschichte, Statistik und technische Verwendung, Miinchen 1865,
S. 115. Geschatzte Forderung beiEwERT Steinkohlenbergbau, wie Anm. 14, S. 92: 260.000 t.
25 Nach Frankreich war das nordliche Deutschland, vor allem PreuBen und die Hanse-
stadte zweitwichtigster Importeur englischer Kohle. In weiten Teilen Norddeutschlands, ins-
besondere entlang der Kiisten und schiffbaren Fliisse, war britische Kohle bis Mitte des 19.
22 Dirk Neuber
burgischen Ibbenbiiren sowie dem aufstrebenden Ruhrgebiet. Daher bemiihte
sich derhannoversche Staat seit den 1850erjahren, die inlandische Steinkohlen-
produktion anzukurbeln. Durch den Aufkauf von Kohlenuntergrund und priva-
ten Zechen wurden so insbesondere am Deister leistungsfahigere GroBbetriebe
geschaffen.26 Der preuBische Bergfiskus setzte diese Politik seit 1866 fort.27
Ahnlich zeigte sich auch in Schaumburg seit den 30erjahren ein spiirbarer An-
stieg der Forderungszahlen. Der eigentliche Durchbruch gelang jedoch, als seit
der Fertigstellung der Bahnlinie Hannover-Minden 1847 einerseits das Absatzge-
biet erheblich ausgeweitet werden konnte, andererseits gerade viele norddeut-
sche Eisenbahngesellschaften als neue Kunden hinzu gewonnen wurden.28 Als
im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts dank des inzwischen sehr gut ausgebauten
Eisenbahnnetzes sowie sinkender Frachtkosten preiswerte und qualitativ hoch-
wertige Kohle aus den groBen deutschen Kohlenrevieren in nahezu alle Regio-
nen des damaligen Reiches geliefert werden konnte, kam es zu einer ersten Welle
von Stillegungen derkleineren niedersachsischen Zechen. Ihr Weiterbetrieb war
selbst fur die lokale Brennstoffversorgung nicht mehr sinnvoll.29 So wurde auch
das Borgloh-Oeseder Revier in der zweiten Jahrhunderthalfte voll von der Kon-
kurrenz aus Ibbenbiiren und vor allem dem Ruhrgebiet getroffen, wahrend es
seinerseits trotz Bahnanschluss keinerlei Fernabsatz erzielen konnte.30 Ahnlich
erging es beispielsweise auch den Zechen am Siintel.31 Obwohl in den letzten
Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts viele weitere kleinere Zechen teils wegen Ab-
satzmangel, teils wegen Erschopfung ihrer nur geringmachtigen Floze stillgelegt
wurden, stieg die Gesamtforderung in den norddeutschen Wealdenrevieren von
rund 65.000 t im Jahr 1825 iiber etwa 420.000 t im Jahr 1863, auf rund 700.000 t
imjahr 1894.32
Jahrhunderts marktbeherrschend. Erst sinkende Eisenbahnfrachttarife untergruben diese
Dominanz seit den 1870erjahren und fuhrten bis zum I. Weltkrieg zu einem Nebeneinander
mit der deutschen Kohle. Rainer Fremdling, Britische und deutsche Kohle auf norddeut-
schen Markten 1850-1913, in:Jiirgen Bergmann u. a. (Hrsg.), Regionen im historischen Ver-
gleich. Studien zu Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, Opladen 1989, S. 9-54; S. 29f.,
S. 50.
26 Ewert, Steinkohlenbergbau, wie Anm. 14, S. 92.
27 Max Schulz-Briesen, Der preuBische Staatsbergbau im Wandel der Zeiten, Bd. I,
Berlin 1933, S. 134 ff.
28 Schneider, Industrialisierung, Bd. I, wie Anm. 15, S. 149ff.
29 Carsten Meyer, Kohlebergbau im siidlichen Landkreis Osnabriick: ein historisch-
geographischer Beitrag zur Praxis regionalen Lernens; Grundlagen und Materialien fur ei-
ne Unterrichtseinheit, Osnabriick 1994, S. 27.
30 Ebd., S. 30f.
31 Ulrich MANTHEY/Klaus Vohn-Fortagne, Industriegeschichte des Deister-Siintel-
Raumes, Springe 1996, S. 291.
32 Richert, Uber den Steinkohlenbergbau im norddeutschen Wealden, in: Zeitschrift
Steinkohle als Ausweg? 23
Wahrend der traditionsreiche Bergbau im Osnabriickischen 1 903 zunachst en-
dete, litten die verbliebenen Reviere ostlich der Weser zwar weiterhin unter ho-
hen Betriebskosten, erfreuten sich aber dank ihrer relativ isolierten Lage eines ge-
sicherten Absatzgebietes.33 Dank moderner Zechenanlagen erlebten sie in den
Jahren vor dem I. Weltkrieg ihre Bliite. In den Notjahren nach dem 1. und 2.
Weltkrieg flackerte auch im Osnabriickischen vielerorts noch einmal ein lokaler
primitiver Notbergbau auf. Nur die Reviere in Schaumburg und am Deister be-
standen kontinuierlich fort. Trotz wachsender Defizite wurden sie aus volks-
wirtschafdichen und sozialpolitischen Erwagungen weiter in Betrieb gehalten.34
Ende der 1950erjahre lautete dann das Vordringen billiger Importkohle und der
Siegeszug des Erdols das Ende der verbliebenen niedersachsischen Zechen
ein:35Zwischen 1957 und 1960 wurden die letzten Zechen am Deister,36 1960 in
Schaumburg37 und 1963 im Osnabriicker Hiigelland stillgelegt.38
Auch wenn die niedersachsischen Steinkohlenvorkommen einen nicht zu un-
terschatzenden Anteil an der lokalen und regionalen Gewerbeentwicklung hat-
ten, waren ihre Dimensionen insgesamt stets vergleichsweise gering gewesen. So
entfielen von den 1853 im gesamten Europa39 geforderten Stein- und Braunkoh-
fiir Bergrecht 37, 1896, S. 74-84., S. 82f. Angaben ohne Piesberg, aber inkl. der Zechen im
Mindener Raum.
33 Ebd., S. 83. Ausfiihrlich auch zum folgenden vgl. Romhild, Montanindustrie, wie
Anm. 6, S. 284-288.
34 Barsinghausen, Stadt (Hrsg.), Mitten im Aufschwung kam das Aus. Das Ende des
Steinkohlenbergbaus am Deister in den 50er Jahren. Eine Untersuchung von Studierenden
des Historischen Seminars der Universitat Hannover unter Leitung von Dr. Karl H. Schnei-
der, Barsinghausen 1998, S. 20 ff.
35 Romhild, Montanindustrie, wie Anm. 6, S. 317f.
36 Ausfiihrlich dazu vgl. Barsinghausen, Aufschwung, wie Anm. 34, passim. Im Gegen-
satz zur 1957 stillgelegten Hauptzeche in Barsinghausen war der Strutzbergstollen im nord-
westlichen Deister noch bis 1960 in Betrieb, vgl. Horst Krenzel, Erinnerungen an den
Steinkohle-Bergbau im Deistergebirge, Horb/Neckar 1996, S. 28ff. Zum Deister und voral-
lem zu Schaumburg vgl. auch Romhild, Montanindustrie, wie Anm. 6, passim.
37 Dieter Melz, Das Ende des Steinkohlenbergbaus im Schaumburger Land, in: Geo-
graphische Rundschau 1961, S. 409-412. Ausfiihrlich zum Bergbau ostlich der Weser in der
Nachkriegszeit vgl. Romhild, Montanindustrie; Matthias Lorenz, Der Niedersachsische
Wealdensteinkohlenbergbau von 1945 bis zur Stillegung im Jahre 1961 unter Berucksichti-
gung der allgemeinen Energiedebatte in der Bundesrepublik Deutschland. Magisterarbeit
im Fach Geschichte, Ms. Hannover 1998; Giinter Haubitz, Die Auswirkung der Zechenstill-
legung im Gebiet Obernkirchen-Stadthagen auf Raum und Bevolkerung. Schriftliche Haus-
arbeit im Rahmen der wissenschaftlichen Priifung fur das Lehramt an Gymnasien, Ms. o.
O., 1971.
38 Hans-Claus Poeschel, Das Wiederaufleben des Kohlenbergbaus um Borgloh nach
den beiden Weltkriegen, in: Osnabriicker Mitteilungen 95, 1990, S. 245-257.
39 Von Schweden bis zur Tiirkei, von Portugal bis Russland.
24 Dirk Neuber
len allein 61,5% auf England und lediglich 19% auf die deutschen Staaten. Der
Anteil des Konigreichs Hannover an der europaischen Forderung lag bei etwa
0,17%, derjenige Schaumburgs bei 0,32%.40 Die Kohleforderung innerhalb des
heutigen Niedersachsens war auch im Vergleich zur Forderung der iibrigen
deutschen Staaten - insbesondere PreuBens - unbedeutend. Und dieser Riick-
stand vergroBerte sich bis zum Ende des niedersachsischen Bergbaus noch wei-
ter: machte beispielsweise die schaumburgische Forderung 1861 noch 0,7% der
Forderung aller Zollvereinstaaten aus,41 lag ihr Anteil kurz vor der Stillegung
hundert Jahre spater nur noch bei 0,21% der westdeutschen Forderung.42
Energiegeschichtliche Aspekte des niedersachsischen Steinkohlenbergbaus
Betrachtet man die Menschheitsgeschichte aus dem Blickwinkel der jeweiligen
Form der Energienutzung,43 so leben wir gegenwartig im vom Uberf luss gekenn-
zeichneten Industriezeitalter. Mit Kohle, Gas und Ol verbrauchen wir Energie-
trager, die in Jahrmillionen durch pflanzliche Photosynthese entstanden sind.
Unseren Vorfahren standen dagegen nur so viele Brennstoffe zur Verfiigung, wie
jahrlich nachwuchsen - namlich in aller Regel Holz, sofern sie nicht in der Nahe
eines Moores oder eines Steinkohlebergwerkes wohnten. Nicht umsonst wird da-
her auch vom „holzernen" oder „solaren" Zeitalter gesprochen. Mit den fossilen
Kohlenlagerstatten bot sich ein „unterirdischer Schatz" an, der fur vorindustrielle
Gesellschaften einen nie dagewesenen Energieiiberfluss mit sich brachte und alle
Energieprobleme zu losen versprach. Dies auBerte sich beispielsweise in einem
enormen Flachengewinn: Ersetzte Kohle das Holz als Brennstoff, brauchten die
Walder nur noch den Nutzholzbedarf zu decken.44
Vorindustrieller Bergbau ware ohne den untertagigen Einsatz von Holz nicht
moglich gewesen. Andererseits konnte durch die geforderte Kohle ein Vielfaches
40 Fr. W. v. Reden, Deutschland und das iibrige Europa. Handbuch der Bodens-, Bevol-
kerungs-, Erwerbs- und Verkehrs-Statistik; des Staatshaushalts und der Streitmacht, Wies-
baden 1854, S. 464f.
41 Geinitz u. a., Steinkohlen, Bd. 2, wie Anm. 24, S. 115.
42 Melz, Ende, wie Anm. 37, S. 409.
43 Grundlegend zum folgenden vgl. Rolf- Peter Sieferle, Der unterirdische Wald: Ener-
giekrise und industrielle Revolution, Munchen 1982, insbes. S. 17-64; Ders., Energie, in:
Franz-Josef Bruggemeier; Thomas Rommelspacher (Hrsg.), Besiegte Natur. Geschichte der
Umwelt im 19. und 20. Jahrhundert, Munchen 21989, S. 20-41, passim; sowie Jean-Claude
Debeir /Jean-Paul DELEAGE/Daniel Hemery, Prometheus auf der Titanic. Geschichte der
Energiesysteme, Frankfurt a. M, New York, Paris 1989, insbes. S. 21-40.
44 In England wurden die durch die Steinkohlenverwendung freigewordenen Flachen
vor allem in Schafweiden umgewandelt, vgl. Sieferle, Unterirdischer Wald, wie Anm. 43,
S. 132ff.
Steinkohle als Ausweg? 25
jener Energiemenge gewonnen werden, welche eine Verbrennung des Gruben-
holzes mit sich gebracht hatte.45 Mit einem einzigen KubikfuB Grubenholz, der
beispielsweise zwischen 1810 und 1867 in den Schaumburger Bergbau „inve-
stiert" wurde, konnte das etwa 336fache bis 372fache Volumen an Brennholz ein-
gespart werden.46 Durch den Bergbau wurde also eine Energiemenge verfiigbar,
die auf Basis von Brennholz unerreichbar gewesen ware.
Der durch den Bergbau erzielte Flachengewinn lasst sich nur annaherungswei-
se verdeutlichen. Der Steinkohlenbergbau war zwar auch von der Flache des Flo-
zes abhangig, doch fand er unterirdisch statt und lieB prinzipiell eine oberirdi-
sche land- und forstwirtschaftliche Nutzung zu - sofern man von den punktuell
fur die Bergwerksanlagen und Halden benotigten Flachen absieht. Im Gegensatz
zu einem nachhaltig bewirtschafteten Wald fiel mit dem Abbau des Kohleflozes
eine vergleichsweise gewaltige Energiemenge an, die freilich nur ein einziges Mai
„geerntet" werden konnte.
Je weniger machtig das abgebaute Floz war, desto groBer war die Flozflache,
die zur Gewinnung einer bestimmten Menge Kohle abgebaut werden musste.
Am Osterwald beispielsweise war das im friihen 19. Jahrhundert abgebaute
Hauptfloz etwa 20-22 Zoll (48-52 cm) machtig.47 Dies entsprach etwa 400 kg
Kohle pro Quadratmeter oder einer abgebauten Flozflache von 2,5 m2 pro Ton-
ne. Am Deister war das Floz der von Kniggeschen Gruben am Steinkrug maxi-
mal 18-20 Zoll machtig und das Egestorffsche Werk am Brohn baute auf einem
10-12 Zoll (24-28 cm) machtigen Floz. Das am Suersser Brink abgebaute Floz war
zwar von solcher Qualitat, dass es von alien Deisterkohlen die hochsten Preise er-
zielte. Es war aber nur zwischen 4 und 8 Zoll (9-19 cm) machtig,48 so dass dort nur
etwa 110 kg Kohle pro Quadratmeter anfielen. Im Osnabriickischen schritt der
Bergbau langsamer voran, weil dort mehrere iibereinanderliegende Floze abge-
baut wurden. Am Strubberg lieferten sie 200, 100, 280 und 170 KubikfuB pro
45 Das verwendete Holz setze sich etwa zur Halfte aus Buchengrubenholz und zu je ei-
nem Viertel aus Buchen- und Eichenwerkholz zusammen. Hinzu kamen in manchenjahren
noch geringe Mengen Erlenwerkholz.
46 Fur den Zeitraum 1810 bis 1820: Vortrag Oberforstmeister von Kaas, 24.5.1821, Nie-
dersachsisches Staatsarchiv Buckeburg (NSTAB) K 2 K Nr. 431; 1828-1850: Holzbedarfs-
schatzungen des Gesamtbergamts, NSTAB K 2 K Nr. 431, Nr. 432; K 35 Nr. 264; H 37 H II
Nr. 2, Vol. II; Angaben iiber die Fordermengen in diesem Zeitraum nach Schunke/Schulbe
Gesamtsteinkohlenbergwerke, Anlage III, wie Anm. 7. Fur den Zeitraum 1852-1863: Verglei-
chung der Hauptresultate in den Jahren 1853 bis 1863, NSTAB Dep 1 V Nr. 38; fur 1866/67:
Zusammenstellung Materialverwalter Schleicher, 22.9.1868, NSTAB K2 KNr. 432.
47 Wilhelm Schultz, Bemerkungen iiber den Steinkohlenbergbau am Osterwalde,
Deister, Siintel und Biickeberge, in: Ders., Beitrage zur Geognosie und Bergbaukunde, Ber-
lin 1821, S. 60-83, S. 66ff.
48 Ebd., S. 72 ff.
26 Dirk Neuber
Quadratlachter, zusammen also 750 KubikfuB oder fast vier Tonnen pro Qua-
dratmeter.49
Aufgrund dieser fiir den Wealdenbergbau charakteristischen Flozverhaltnisse
schritt beispielsweise in Schaumburg der Abbau des Kohlenflozes allein im Jahr
1868 zur Gewinnung von knapp 142.000 t um ca. 18 Hektar voran,50 1870 im Ge-
biet der Berginspektion am Deister fiir 94.200 t um 16,42 Hektar51 und 1873 am
Osterwald um 6,99 Hektar sowie am Nesselberg um 2,79 Hektar.52 Nimmt man
an, dass der Brennwert einer Tonne Kohle in etwa dem sehr guten jahrlichen
Holzzuwachs von einem Hektar Wald entspricht,53 konnte durch den Abbau der
vier Floze am Strubberg auf einem einzigen Quadratmeter Flache in etwa diesel-
be Energiemenge gewonnen werden wie auf 40.000 m2 (4 ha) nachhaltig bewirt-
schaftetem Waldboden. Setzt man die gesamte Landesflache Schaumburgs (ca.
78.000 ha)54 mit der durchschnittlichen Kohle-Jahresforderung55 in Relation, so
entsprach der Energiegehalt der bis Mitte des 18. Jahrhunderts geforderten Koh-
le weniger als 5% jenes Energieertrages, der bei vollstandiger Bewaldung der ge-
samten Landesflache nachhaltig hatte erwirtschaftet werden konnen. 1810 ent-
sprach die Kohleforderung bereits dem halben hochstmoglichen Holzertrag
49 Lehzen, Staatshaushalt, wie Anm. 22, S. 194f.
50 Jahresbericht der schaumburgischen Gesamtsteinkohlenbergwerke fiir 1868, 11.3.
1869, Geheimes Staatsarchiv PreuBischer Kulturbesitz, Berlin-Dahlem (GStA PK), I. HA,
Rep. 121,f.Io.3. Vol. 1, Nr. 102. Es scheint sich in Schaumburg um eine feste RechengroBe
unabhangig von der Machtigkeit der im jeweiligen Jahr tatsachlich abgebauten Flozflache
gehandelt zu haben, da schon 1813 ebenfalls umgerechnet 757 kg/m2 angegeben wurden.
Beschreibung der Schaumburger Gesamtsteinkohlenbergwerke, Obernkirchen, Mai 1813,
Archivdes Oberbergamtes Clausthal-Zellerfeld (OBA) GTf. 481 Nr. 117.
51 Dies entsprach 570 kg/m2. Protokoll iiber die Jahresbefahrung der Koniglichen Wer-
ke am Deister, Barsinghausen, 18.12.1870, GStA PK, I. HA Rep. 121,f.Id.2, Nr. 102 (M).
52 Jahresbericht der Berginspektion am Osterwald pro 1873, 18.2.1874, GStA PK, I. HA
Rep. 121, f. Io.2, vol 1, Nr. 102 (M). Es wurden mehrere ubereinanderliegende Floze abge-
baut.
53 Dieser Berechnung liegt die Annahme Sieferles zugrunde, dass der Brennwert von 1 1
Kohle etwa dem jahrlichen Zuwachs von 1 ha nachhaltig bewirtschafteten Niederwald (etwa
5 m3) entspricht, welcher als ertragreichste Form zur Brennholzerzeugung gilt. Im Folgenden
soil diese Berechnungsgrundlage iibernommen werden, um die Ergebnisse vergleichen zu
konnen. Dies erscheint legitim, weil die von Sieferle zugrunde gelegte Effizienztabelle auch
vom Obernkirchener Berginspektor Frohlich im Hannoverschen Magazin veroffentlicht wur-
de und somit auf niedersachsische Verhaltnisse iibertragbar erscheint. (Berginspektor) Froh-
lich, Ueber die Vortheile des Steinkohlenbrandes bei dem allgemeinen Gebrauch, in: Neues
Hannoverisches Magazin 1800, 89.-90. St., Sp. 1617-1638, Sp. 1629f.
54 Die hessische Grafschaft umfasste 440 km2, Schaumburg-Lippe 340 km2, zusammen
etwa 78.000 ha. Schneider, Industrialisierung I, wie Anm. 15, S. 3f.
55 Alle Forderungsdaten nach Schunke/Schulbe, Gesamtsteinkohlenbergwerke, wie
Anm. 7, Anlage III.
Steinkohle als Ausweg? 27
(48,3%), und 1844 wurde diese - wenn auch nur theoretische - okologische
Schwelle vollends durchbrochen: Zu diesem Zeitpunkt ware die Jahresforderung
nur noch bei vollstandiger Bewaldung ganz Schaumburgs durch Brennholz zu er-
setzen gewesen. Urn 1900 entsprach sie bereits der vierfachen Flache. (Das indu-
striell fiihrende England hatte diese okologische Schranke iibrigens bereits um
1800 iiberschritten.) 56
Der durch die Kohle ermoglichte Flachengewinn war allerdings eher theoreti-
scher Natur. Denn die Kohle ersetzte weniger den Brennholzkonsum, als dass sie
zusatzliche Energiemengen fur neue Anwendungen verfiigbar machte. Dampf-
maschinen beispielsweise waren erstmals in der Lage, Warmeenergie in Bewe-
gungsenergie umzuwandeln und damit Wind, Wasser- und Muskelkraft zu erset-
zen. So entsprach beispielsweise 1868 in Schaumburg der Kohleverbrauch der
40-PS Dampfmaschine auf dem Nienstadter Kunstschacht I der Forderleistung
von zwei Kohlenhauern. Die Arbeitsleistung, die sie erzielte, entsprach dagegen
der von 40 Pferden - und dies bei Bedarf rund um die Uhr.57
Steinkohleverwendung zu gewerblichen Zwecken
So weit die theoretischen Vorteile der Nutzung der Steinkohle. In der Praxis war
es jedoch ein langer Prozess, bis vermehrt auf Steinkohle zuriickgegriffen wurde
- ja, die im ausgehenden 18. und friihen 19. Jahrhundert in weiten Teilen
Deutschlands gefiihrte Debatte um einen bevorstehenden existenzbedrohenden
Holzmangel machte sogar vor den Bergbauregionen nicht halt. Doch, wenn die
Not so groB war - warum wurde dann nicht, wie zeitgleich etwa in England, ver-
starkt auf die Steinkohle als verfiigbare Alternative zuriickgegriffen? Im heutigen
Niedersachsen waren zu diesem Zeitpunkt nahezu alle spater ausgebeuteten
Steinkohlenvorkommen bereits bekannt. Nur genutzt wurden sie kaum. So ent-
gegnete etwa die schaumburg-lippische Rentkammer 1818 den Klagen iiber stei-
gende Holzpreise: Man brenne Steinkohlen in alien Brauereyen, in alien Oefen, in alien
Kitchen und Backofen, dann wird HolzuberfluJS in den Waldern entstehen; die Holzpreise
werden tiefherabsinken. [. . .] Werkein wohlfeiles, nahe vor der Thiir gelegenes, vortreffli-
56 Sieferle, Industrielle Revolution, wie Anm. 43, S. 154 f. ; Ders., Unterirdischer Wald,
wie Anm. 43, S. 136 ff.
57 Etwa 140 kg Kohle pro Stunde. Neben der 40 PS-Dampfmaschine waren auf den
Schaumburger Gesamtsteinkohlenbergwerken je eine 100 PS-, 12 PS- und 10 PS-Dampfma-
schine zur Wasserhaltung, 4 Lokomobile von je 6 PS zur Forderung sowie zwei kleine Ma-
schinen fiir die Bewetterung und eine zum Betrieb der Kohlenwasche im Einsatz. Jahresbe-
richt der schaumburgischen Gesamtsteinkohlenbergwerke fiir 1868, 11.3.1869, GStA PK, I.
HA, Rep. 121,f. Io.3. Vol. 1, Nr. 102.
28 Dirk Neuber
ches Feuerungsmaterial [. . .] anwenden will, der trdgt die Schuld seines Eigensinns und
seiner Vorurteile, und mag titer diese Ausgabe mil Grund keine Klage ftihren.58
Die Griinde fur diesen scheinbaren Starrsinn waren vielfaltig: da war zunachst
die Notwendigkeit, dass Ofen fiir den Kohlenbrand umgebaut und dass vielfach
iiberhaupt erst Schornsteine dafiir gebaut werden mussten - aber auch die Tat-
sache, dass weite Bevolkerungskreise zum Bezug giinstigen Holzes berechtigt
waren. Es war aber auch die ungleiche Verteilung: Die niedersachsische Kohle
wurde in den waldreichen Mittelgebirgen gewonnen, und ihr Transport mit Pfer-
defuhrwerken auf schlechten Wegen bis in die bevolkerungsreichen und waldar-
men Borden mit ihren groBen Stadten war bis in das 19. Jahrhundert hinein nur
auf kurzen Strecken rentabel. Der Transport von Kohle kostete zwar wegen ihrer
hoheren Energiedichte weniger als der von Holz, doch setzten die schlechten We-
geverhaltnisse auch ihrem Absatz Grenzen. Neben diesen technischen, okonomi-
schen und raumlichen Hinderungsgriinden gab es eine nicht zu unterschatzende
mentale Barriere, welche die Steinkohlenverwendung selbst in unmittelbarer Na-
he der Gruben lange behinderte: Sogar mancher, der kein giinstiges Interessen-
tenholz bezog und echte finanzielle Vorteile zu erwarten hatte, scheute die fiir die
Umstellung notwendigen Investitionen aus einer Mischung von Beharren am Alt-
bekannten, befiirchteten Nachteilen sowie diffusen Vorurteilen.
Erst die Beriicksichtigung dieser Faktoren ermoglicht Aussagen dariiber, war-
um zwischen der Erfindung einer neuen, die Verwendung von Steinkohle ermog-
lichenden Technik und ihrer allgemeinen Verbreitung oftmals Jahrzehnte oder
garjahrhunderte vergehen konnten. So brachte die Kohle aufgrund ihrer groBe-
ren Warmeabgabe beim Schmieden Vorteile; beim Kalkbrennen schadete sie zu-
mindest nicht. Fiir die meisten iibrigen Verwendungszwecke waren jedoch so-
wohl Umbauten als auch das Erlernen neuer Feuerungstechniken erforderlich,
wahrend es andererseits zunachst noch keinen durch eine neue Technik beding-
ten Zwang zur Anwendung der Kohle gab. Auch wurden viele kohleverbrauchen-
den Nebenbetriebe einiger Bergwerke nicht gegriindet, weil dort ein giinstiger
Brennstoff nahezu unbegrenzt zur Verfiigung stand, sondern insbesondere auch,
um schwer absetzbare Kohlenvorrate iiberhaupt erst einer gewinnbringenden
Verwertung zuzufiihren.
Gutgemeinte Ratschlage und obrigkeitliche Bemiihungen, traditionell mit
Holz feuernde Handwerkerzum Umsteigen zu bringen, scheiterten oftjahrzehn-
telang an den divergierenden Rationalitatsebenen beider Seiten: die in Nah-
rungsokonomie und Erfahrungswissen verhafteten Handwerker blieben gegen-
iiber rationellen Kostensparargumenten verschlossen, scheuten das zur Beherr-
58 Pro Memoria Rentkammer an schaumburg-lippische Regierung, 7.9.1818, NSTAB L
3Lg3.
Steinkohle als Ausweg? 29
schung der neuartigen Feuerungstechnik notwendige Umlernen oder wurden
angesichts der intensiven obrigkeitlichen Bemiihungen misstrauisch. Neben bio-
Ben Vorurteilen gab es fiir traditionelle Handwerker durchaus plausible Griinde,
der neuen Feuerungsart gegeniiber skeptisch zu bleiben - auch wenn sie staatli-
cherseits noch so sehr propagiert wurde.59 Es waren namlich nicht nur Umbau-
ten oder kostspielige neue Feuerungsanlagen erforderlich, sondern auch das Er-
lernen neuer Qualifikationen und Techniken. Da dieses nur durch „Learnnig by
doing" geschehen konnte, waren entmutigende Riickschlage bei der Umstellung
geradezu vorprogrammiert. Nicht unterschatzt werden darf zudem der korpora-
tive Charakter der Ziinfte, der innovatorischen Einzelgangern entgegen stand.
Derartige Hemmnisse betrafen jedoch vor allem bereits bestehende Gewerbe-
betriebe, wohingegen die Kohle neugegriindeten Betrieben, die auf den Kauf
groBerer Brennstoffmengen angewiesenen waren, in vielen Fallen iiberhaupt erst
die Existenz ermoglichte. Kohle bot sich auch fiir Gewerbebetriebe groBerer
Stadte sowie traditionelle Betriebe an, welche iiber ihren - durch giinstige Holz-
bezugsrechte gesicherten - Rahmen hinaus expandieren wollten. Wahrend also
die Substitution des Holzes bei traditionellen Anwendungszwecken nur schlep-
pend vorankam, wurde die Kohle zum spezifischen Energietrager der Wachs-
tumsbranchen. Und mit deren gewaltigen Aufschwung im 19. Jahrhundert erleb-
ten auch die Bergwerke einen enormen Nachfrageschub.
Rolf Peter Sieferle hat eine Reihe von Beispielen genannt, denen zufolge der
Ubergang vom Holz zu Kohle zum groBen Teil durch staatliche Initiativen veran-
lasst und durch staatlichen Druck vorangetrieben wurde und daran die Frage
aufgeworfen, ob es tatsachlich die viel diskutierte Holzkrise gab, wenn sich die
Kohle erst nach langem Widerstand nicht aufgrund ihres Preises, sondern auf-
grund des staatlichen Engagements durchsetzte.60 Auch im heutigen Niedersach-
sen lassen sich zwar seit Herzog Julius von Braunschweig-Wolfenbiittel zahlrei-
che staatliche Bemiihungen zur Verwendung von Steinkohlen in Gewerben und
Haushalten nachweisen. Sie diirfen jedoch nicht iiberbewertet werden, nur weil
sie die oftmals einzigen erhaltenen Quellen sind: einerseits fiihrten sie teilweise
erst nachjahrzehnten zum Erfolg, andererseits entfalteten sie keinerlei erkennba-
re Breitenwirkung, sondern blieben immer lokal begrenzte Ausnahmefalle. So
gab es in keiner anderen Branche wie den Topfereien des Leine-Weserberglan-
des mehr obrigkeitliche Bemiihungen, die immens viel Holz verbrauchenden
TopferzurEntlastung derForstenzum Steinkohlenbrand zubewegen. Doch trotz
59 Uta Betzhold, Zur Rationalitat der Verweigerung der Steinkohlenfeuerung in den
westlichen preuBischen Provinzen in der zweiten Halfte des 18. Jahrhunderts, in: Scripta
Mercaturae 17, 1983, H. 2, S. 45-62; S. 45-47, S. 55.
60 Sieferle, Unterirdischer Wald, wie Anm. 43, S. 217-223; S. 236.
30 Dirk Neuber
der offensichtlichen Preisvorteile dauerte die Einfiihrung der Steinkohle Jahr-
zehnte. Dies zeigt, dass die Not der Forstleute mit den durch zahlreiche Neben-
nutzungen heruntergekommenen Waldbestanden noch lange nicht auch fur die
Topfer eine Not bei der Holzbeschaffung bedeuten musste. Hatte allerdings erst
einmal jemand den Anfang mit der Kohle gewagt und die Vorurteile als unbe-
griindet entlarvt, zwang er dadurch haufig seine Konkurrenten ebenfalls zur Um-
stellung, weil seine Produktionskosten sanken und er sein Produkt giinstiger an-
bieten konnte. Zugleich sankhierdurch die Holznachfrage, die Preissteigerungen
fielen moderater aus und fur die iibrigen Branchen stellte sich das Problem der
Umstellung nicht mehr so akut.
Insbesondere ostlich der Weser wurde laut und haufig vor Holzmangel ge-
warnt, jedoch vor allem von unter Absatzmangel leidenden Bergwerken, von
Forstleuten, die sich um die Entlastung der Forsten bemiihten sowie von besorg-
ten Patrioten. Dass viele ihrer Warnungen und Losungsvorschlage oftmals noch
jahrzehntelang unbefolgt blieben, deutet darauf hin, dass sie zwar die „Grenzen
des Wachstums" herannahen sahen, ihre tatsachliche Entfernung jedoch falsch
einschatzten. Zweifellos ist Holzmangel dabei auch als Argument zur Erreichung
ganz anderer Ziele instrumentalisiert worden, wie etwa Schafer auch fur Lippe
festgestellt hat.61 In Schaumburg beispielsweise diente er als willkommenes
Argument zur Begriindung der Einfiihrung von Holzverkaufen gegen Meistge-
bot, welche die Forsteinnahmen spiirbar steigern halfen. Dies scheint jedoch
nicht wider besseren Wissens geschehen zu sein, sondern, weil die Forsttaxatio-
nen tatsachlich eine angespannte Holzversorgungslage suggerierten.
Zwar erlebten Holzspar- und Substitutionsartikel im Hannoverschen Magazin
um 1800 ihren Hohepunkt, sie verfliichtigten sich danach aber nicht rasch,62 son-
dern hielten zumindest bis 1817, in einigen Fallen sogar bis in die 1830erjahre an.
Das obrigkeitliche Engagement beziiglich der Einfiihrung des Steinkohlenhaus-
brandes erreichte sogar erst in den 1830er Jahren seinen Hohepunkt. Die Holz-
mangel-Stimmen verstummten erst, als die Kohlenverwendung zwar noch langst
nicht allgemein verbreitet war, doch bereits fur jedermann als klare und massen-
haft verfiigbare Zukunftsperspektive erkennbar war, wahrend zugleich auch die
Forstverbesserungsbemiihungen erste Erfolge zeigten.
Betrachtet man die Einfiihrung der Steinkohlenverwendung in verschiedenen
niedersachsischen Gewerbezweigen, so zeigt sich an vielen Beispielen eine be-
61 Ingrid Schafer, „Ein Gespenst geht um". Politik mit der Holznot in Lippe 1750-1850.
Eine Regionalstudie zur Wald- und Technikgeschichte, Detmold 1992, passim.
62 So Joachim Radkau, Zur angeblichen Energiekrise des 18. Jahrhunderts. Revisioni-
stische Betrachtungen zur vorindustriellen Holzmangel-Problematik, in: Vierteljahres-
schrift fur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 73, 1986, H. 1, S. 1-37, S. 31.
Steinkohle als Ausweg? 31
sondere Vorreiterrolle beider Teile Schaumburgs.63 Die Griinde hierfiir sind ei-
nerseits in der guten Qualitat der Kohle und ihrer einfachen Verfiigbarkeit, ande-
rerseits aber auch in dem besonderen herrschaftlichen Interesse an einem ver-
mehrten Absatz der in den herrschaftlichen Bergwerken geforderten Steinkohlen
zu suchen.
Schmiedekohle
Das alteste Anwendungsgebiet von Steinkohle war das Schmieden, wobei die
Umstellung in Deutschland nicht aus Mangel an Holzkohlen, sondern aus Ko-
sten- und vor allem Qualitatsvorteilen fur die Schmiede geschah. Je schwefelar-
merund heizkraftiger die Kohlen waren, desto mehrwurden sie bevorzugt. Diese
Eigenschaften bescherten der Schaumburger Schmiedekohle seit jeher eine Vor-
machtstellung gegeniiber den schlechteren Kohlen der iibrigen Bergwerke im
heutigen Niedersachsen. Wegen ihrer hoheren Energiedichte war sie auch zum
Transport iiber groBere Entfernungen geeignet und besaB daher schon vor dem
30jahrigem Krieg nahezu eine Monopolstellung im norddeutschen Raum.64 Der
alteste datierbare Hinweis auf die iiberregionale Verwendung von Schaumburger
Schmiedekohlen stammt von 1522 aus Bielefeld. Mitte des 16. Jahrhunderts sind
Lieferungen nach Hannover, Hildesheim, Alfeld, Bodenwerder und selbst nach
Marburg nachweisbar. 1614 reichte das Absatzgebietbis nach Osnabriick, Kassel,
Halberstadt und - inzwischen in Konkurrenz mit englischer Kohle - nach Bre-
men.65 Wann die ersten Schmiedekohlen nach Braunschweig kamen, ist nicht
iiberliefert. 1606 kam es aber schon zu einer Beschwerde iiber ausbleibende Lie-
ferungen.66 In Hildesheim verwendeten die Schmiede im 17. Jahrhundert so-
wohl Osterwalder als auch Schaumburger Schmiedekohlen.67
63 Ausfiihrlich dazu vgl. Dirk Neuber, Energieiiberschussregion Schaumburg. Die Rol
le der Steinkohle in der Vor- und Friihindustrialisierung, in: Hoing, Hubert: Strukturen und
Konjunkturen. Faktoren der schaumburgischen Wirtschaftsgeschichte, Bielefeld 2004,
S. 213-235.
64 Helge Bei der Wieden, Fiirst Ernst, Graf von Holstein-Schaumburg und seine Wirt-
schaftspolitik, Buckeburg 1961, S. 122.
65 O. A., 300 Jahre Gesamtbergamt Obernkirchen, in: Niedersachsische Wirtschaft 3,
1949, S. 428-430; S. 428f.; Schunke/Schulbe, Gesamtsteinkohlenbergwerke, wie Anm. 7,
S. 91ff.
66 Bei der Wieden, Fiirst Ernst, wie Anm. 64, S. 125. Im altesten erhaltenen Rech-
nungsbuch der Schmiedegilde sind vom ersten Rechnungsjahr 1617 an regelmaBig Ankaufe
und Abgaben von Steinkohlen registriert. Rechnungsbuch der Schmiedegilde, 1617-1677,
Stadtarchiv Braunschweig (StABr) G VIII Nr. 451 A.
67 Kohlenregister von 1593-1659 sowie von 1639, Stadtarchiv Hildesheim (StAHild)
100-66 Nr. 464 a; Kohlenrechnung 1660-1678, StAHild 100-66 Nr. 473 b.
32 Dirk Neuber
In den groBeren niedersachsischen Stadten unterhielten die Schmiedegilden
Steinkohlenmagazine, in denen sie fuderweise Kohlen einlagerten und in be-
darfsgerechten Mengen an ihre Mitglieder abgaben.68 Angesichts des schaum-
burgischen „Exportschlagers" Schmiedekohle war insbesondere die zweite Half-
te des 17. Jahrhunderts von den merkantilistischen Versuchen der Regierungen
in Hannover und Osnabriick gepragt, ihre Schmiede durch Importverbote fiir
Schaumburger Kohlen zur Verwendung der schlechteren einheimischen Kohlen
zu zwingen - in der Regel mit wenig Erfolg. Im Fiirstbistum Osnabriick gab bei-
spielsweise 1688 ein Schmied zu Protokoll, er wollte lieber seinen Hammer in die Erde
Vergraben alfi an Stelle der Schaumburger Kohlen die einheimischen gebrauchen
zu miissen.69 Angeblich lieB sich mit einem Fuder Obernkirchener Kohlen drei-
mal so viel und so gut Schmieden.70 Neben den Schaumburger Kohlen zogen die
dortigen Schmiede auch Dortmunder Kohlen den einheimischen vor.71
Kalkbrennereien
Neben dem Schmieden war das Kalkbrennen eine der friihesten Kohleverwen-
dungen iiberhaupt: Einerseits bereitete die Beschickung derprimitiven Kalkofen
mit Kohle keine technischen Probleme. Andererseits gab es nahezu keine Kohle-
sorte, die zu schlecht war, um nicht zumindest zum Kalkbrennen benutzt werden
zu konnen. Daher wurden bei vielen Zechen Kalkofen errichtet, um unverkaufli-
che und iiberlagerte Kohlenbestande doch noch einer wirtschaftlichen Verwer-
tung zu unterziehen.72
Zwar hatte auch Herzog Julius 1582 bei Wolfenbiittel erfolgreiche Versuche
durchfiihren lassen, mit Steinkohlen Kalk zu brennen.73 Die friihesten schriftli-
68 Vgl. z.B. Vorsteher der Schmiede- und Schlossergilde an Magistrat zu Braunschweig,
25.1.1834, Stadtarchiv Braunschweig (StABr) D III Nr. 6.
69 Protokoll des Amtes Wittlage, 28.4.1688, Niedersachsisches Staatsarchiv Osnabriick
(NStAO) Rep. 150 Wit. Nr. 1390.
70 Gravamina der sambtlich Schmiede wieder die Steinbrechers und Kohl Schreiberjo-
han Vogelsangh, 4.10.1674, NStAO Rep. 150 Wit. Nr. 1390.
71 Paul Rohde, Geschichte der Steinkohleniorderung im Amt Iburg, in: Osnabriicker
Mitteilungen, 27, 1902, S. 38-193, S. 60f. Um Kohlen aus den osnabriickischen Gruben bei
Borgloh und Oesede zum Schmieden brauchbar zu machen, mussten 50% Holzkohlen zuge-
setzt werden.
72 Ebert, Darstellung, wie Anm. 19, S. 48. AuBerdem soil gebrannter Kalk mit Stein-
kohlenaschenresten einen vorziiglichen Mortel abgegeben haben, wahrend Holzasche der
Qualitat schadete. Johann Beckmann, Anleitung zur Technologie oder Kentniss der Hand-
werke, Fabriken und Manufacturen, vornehmlich derer, die mit der Landwirthschaft, Poli-
zey und Cameralwissenschaft in nachster Verbindung stehn, Gottingen 21780, ND Leipzig
1970, S. 238.
73 Proba mit Steinkohlen Kalck zu brennen, 31.1.1582, Niedersachsisches Staatsarchiv
Steinkohle als Ausweg? 33
chen Nachrichten von der Anwendung dieses Verfahrens im heutigen Nieder-
sachsen stammen jedoch aus Osnabriick, wo die Stadt 1540 fur ihre Festungsbau-
ten einen umfangreichen Kalkofenbetrieb mit Piesberger Kohlen aufnahm. Da-
nach diente das Bergwerk mitsamt den Kalkofen 200 Jahre lang ausschlieBlich
der Deckung des stadtischen Kalkbedarfs,74 bis die vorziigliche Eignung des Pies-
berger Anthrazits zum Heizen von Stubenofen entdeckt wurde.
In Hannover wurde 1747 das unrentable Kalkbrennen mit Eilenriedeholz auf-
gegeben.75 Fortan konzentrierte sich die Kalkproduktion auf Linden sowie bis
weit in das 20. Jahrhundert auf die kalk- und brennstoffreiche Deister-Siintel-Re-
gion, wobei ein vermehrter Umstieg auf steinkohlenbefeuerte Kalkofen erst Ende
des 18. Jahrhunderts zu beobachten ist. So wurde die seit 1777 mit Holz befeuerte
Volksener Kalkbrennerei durch hdheren Wunsch seit 1796 mit Steinkohlen des in
jenem Jahr am nahen Daberg aufgenommenen herrschaftlichen Steinkohlen-
bergwerks betrieben76 und am Nesselberg wurde 1793 etwa ein Drittel derKoh-
lenforderung des Briinninghauser Bergwerks zum Kalkbrennen verwendet.77 So
verdankten in der Deister-Siintel-Region viele Bergwerke ihre Existenz der Kalk-
brennerei. Erinnert sei hierzudem an den „Kalkjohann" genanntenjohann Eges-
torf, mit dessen Bergwerken und Kalkbrennereien die Industrialisierung in Lin-
den bei Hannover ihren Anfang nahm.
Salinen
Die zentrale Erfindung, um Steinkohle auch auBerhalb von Schmiedefeuern und
Kalkofen einsetzen zu konnen, war die Entwicklung eines geeigneten Feuerro-
stes, welche in den 1570erjahren in der hessischen Saline Allendorf gelang. Der
weitere Weg dieser Innovation fiihrte iiber das heutige Niedersachsen nach West-
falen. Bis 1600 war auBer in Allendorf lediglich bei Harzburg, in Salzhemmen-
dorf am Osterwald, Soldorf bei Rodenberg und einigen wenigen westfalischen
Salinen mit unterschiedlichem Erfolg mit Kohlen gefeuert worden.78
Insgesamt hat sich die Kohlenfeuerung zunachst nur in wenigen Salinen
Wolfenbiittel (NStAW) 2 Alt Nr. 5244, pag. 3-12.
74 Rohrs, Erz, wie Anm. 2, S. 55ff.
75 Protokoll Rat Eichfeld und Baumeisterjunge an Regierung zu Hannover, Anlage B,
20.1.1755, Stadtarchiv Hannover (StAH) AAA Nr. 3227.
76 Seit der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts entstanden vielerorts groBe Kalkwer-
ke mit Ringofen. Vgl. dazu Manthey/ Vohn-Fortagne, Industriegeschichte, wie Anm. 31,
S. 246ff.
77 Bericht Amtmann Schepp an Rentkammer zu Dillenburg, Coppenbrugge, 27.1.1794,
OBAFin. Min. f. 31 Nr. la.
78 Peter Piasecki, Das deutsche Salinenwesen 1550-1650. Invention - Innovation - Dif-
fusion, Idstein 1987, S. 166.
34 Dirk Neuber
durchsetzen konnen. Ursachen hierfiir waren noch unausgereifte technische Ver-
fahren und die oft zu hohen Transportkosten der Kohle. Zudem ermoglichte die
Anfang des 18. Jahrhunderts rasch verbreitete Innovation der Dorngradierung
wesentliche Brennstoffeinsparungen. Hierdurch wurde die allgemeine Kohlen-
verwendung bei vielen deutschen Salinen zwar noch lange verzogert, aber auf
Dauernicht verhindert.79 Im 19.Jahrhundert setzte dann ein Konzentrationspro-
zess hin zu wenigen groBen Salinen mit erbohrten konzentrierten Solen und Ei-
senbahnanschluss fiirgiinstigen Kohlen- und Salztransport ein.80 So konnte etwa
die 1831 von Johann Egestorff gegriindete Saline Egestorffshall bei Badenstedt
dank einer 1837 erbohrten gesattigten Salzsole und der Kohlen des nahen Dei-
sters in den folgenden Jahrzehnten zu einer der groBten Salinen Mitteleuropas
werden.81 Egestorffhall steht am Ende der im folgenden geschilderten Entwick-
lung der niedersachsischen Salinen von der Holz- zur Steinkohlenfeuerung. Da-
bei zeigt sich, dass es - abhangig von den lokalen Brennstoffressourcen - jahr-
hundertelang zu einem Nebeneinander beider Feuerungstypen kam.
Die zweite deutsche Saline nach Allendorf, in derim lG.Jahrhundert Versuche
zur Steinkohlenfeuerung durchgefiihrt wurden, war Juliushall wahrend der Re-
gierungszeit von Herzog Julius. Es gelangihmjedoch nicht, in ausreichenderNa-
he geeignete Steinkohlenvorkommen zu erschlieBen, so dass zwar 1584 Probe-
siedungen mit Steinkohlen stattfanden, es wegen der weiten Transportentfernun-
gen aber nicht rentabel war, den Siedebetrieb dauerhaft von Holz auf Kohle um-
zustellen. In Salzhemmendorf dagegen gelang es um 1585, die drei herrschaftli-
chen Salzkothen mit Osterwalder Steinkohlen zu befeuern,82 wahrend die Ge-
werken der nebenan gelegenen gewerkschaftlichen Siedehauser erst 1786 anfin-
gen, anstelle selbstgelieferten Holzes die Kohlenheizung einzufiihren.83 Erst 1825
79 Hans Otto Gericke, Von der Holz- zur Kohlenfeuerung in den Salinen der ehe-
maligen Provinz Sachsen, in: Sachsen-Anhalt. Beitrage zur Landesgeschichte, H. 4, Halle
1995, S. 7-58, S. 51; Hans-Heinz Emons; Hans-Henning Walter, Alte Salinen in Mitteleuro-
pa. Zur Geschichte der Siedesalzerzeugung vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Leipzig
1988, S. 25-27; Peter Piasecki, Innovationen im deutschen Salinenwesen im lG.Jahrhun-
dert, in: Christian Lamschus (Hrsg.), Salz - Arbeit - Technik. Produktion und Distribution
in Mittelalter und FriiherNeuzeit, Liineburg 1989, S. 163-177; S. 166f.; Ders., Salinenwesen,
wie Anm. 78, S. 224.
80 Emons /Walter, Salinen, S. 27ff.
81 Ebd., S. 1 2 6 f f . Beim Bau der Saline wurden alte Rohren gefunden, die mit der Friih-
zeit des Deisterbergbaus in Zusammenhang standen: 1639 war die dortige Sole schon ein-
mal fur kurze Zeit mit Deisterkohlen gesotten worden; erst zweihundert Jahre spater konnte
Egestorff den vom 30jahrigen Krieg zunichte gemachten alten Plan verwirklichen. Ebert,
Darstellung, wie Anm. 19, S. 7f; S. 18f.
82 Piasecki, Salinenwesen, wie Anm. 78, S. 166.
83 Bis dahin nutzten sie nur ansonsten unbrauchbaren Reisig; zudem erbrachte der
Verkauf der Holzasche jahrlich 150 Reichstaler. Vgl. Andreas, Eine Reise ins Lauensteini-
Steinkohle als Ausweg? 35
fand der Prozess der Steinkohleneinfiihrung im Salzhemmendorfer Salinenwesen
nach 240 Jahren seinen Abschluss.84
Der erste Hinweis auf Kohlenverwendung zum Salzsieden in Schaumburg
stammt von 1584. 85 Wenig spater gelang es Fiirst Ernst, seine friiher von Salzim-
porten abhangige Grafschaft ausschlieBlich mit im eigenen Land mit Steinkohle
gesottenem Salz zu versorgen und dariiber hinaus noch etwas zu exportieren.86
So konnte in Schaumburg in den folgenden zweijahrhunderten durch den Koh-
leneinsatz eine zusatzliche Belastung der Walder- wie sie von zahlreichen ande-
ren holzbefeuerten Salinen ausging - wirksam vermieden werden.
Im bisher auf Salzimport angewiesenen Fiirstbistum Osnabriick lieB Ernst Au-
gust II. seit 1722 nach einem geeigneten Standort fur ein Salzwerk suchen und
konnte schlieBlich 1725 im neuen Salzwerk zu Rothenfelde den Siedebetrieb in
vollem Umfang aufnehmen lassen.87 Mangels landesherr lichen Forstbesitzes und
angesichts des schlechten Zustandes derMarkenwalderhatte die Beschaffung des
erforderlichen Brennholzes vermutlich erhebliche Probleme bereitet. Hier bot
sich jedoch die Kohle des nicht weit entfernten Borgloher Bergwerkes als idealer
Brennstoff geradezu an.
1809 lieB die Stadt Miinder ein Kohlenbergwerk anlegen, dessen Hauptzweck
es war, das fur die Salzpfannen der seit dem Mittelalter betriebenen Interessen-
ten-Saline notige Brennmaterial zu gewinnen. Die Kohle sollte den unentgeltli-
chen Brennholzbezug aus dem stadtischen Forst ersetzen, zu dem derSalzhof be-
rechtigt war.88 Die Stadt profitierte doppelt: angesichts hoherHolzpreise konnte
das bisher an die Saline abgegebene Holz anderweitig zu hoheren Preisen ver-
sche, in: Hannoverisches Magazin 1769, 45.-46. St., Sp. 705-736; Sp. 725.
84 Oberbergrat Engels,: Geschichte der ehemaligen Saline zu Salzhemmendorf, in:
Zeitschrift fur Bergrecht 22, 1881, S. 194-219; S. 201ff.
85 Kontrakt zwischen Graf Adolf und Hermann von MengerBen, 11.8.1584, zitiert nach
Schunke/Schulbe, Gesamtsteinkohlenbergwerke, wie Anm. 7, S. 23-25.
86 Bei der Wieden, Fiirst Ernst, wie Anm. 64, S. 129f. Nach dem Tod des Fiirsten 1622
verfiel das Salinenwesen wahrend des 30jahrigen Krieges zunachst wieder. Weniger aus-
fiihrlich, aber auf aktueflem Forschungsstand, vgl. Helge Bei der Wieden, Ein norddeut-
scherRenaissancefiirst. Ernst zu Holstein-Schaumburg; 1569-1622, Bielefeld 1994 insbes. S.
77-81. Zweihundert Jahre spater, 1822, wurden in Soldorf mit 1.440 t Kohle ca. 434 t Salz
gesotten und damit die zu Fiirst Ernst's Zeiten erreichte Salzproduktion nur unwesentlich
iiberschritten. Ober-Salinen-Inspektor Thiele, Beschreibung der vereinigten Salinen Sool-
dorf und Masch, bei der Stadt Rodenberg in der Grafschaft Schaumburg, Kurhessischen
Anteils, in: Archiv fur Bergbau und Hiittenwesen 5, 1822, H. 2, S. 320-345; S. 342.
87 Alfred Bauer, Die Entstehung des Salzwerks Rothenfelde und seine ersten Jahrzehn-
te, in: Ohlhoff, Gerhard (Hrsg.), Bad Rothenfelde. Vom Salzwerk zum Heilbad. Bad Ro-
thenfelde 21986, S. 55-71; S. 55-63. Ausfiihrlich zur Saline vgl. Paul Rohde, Geschichte der
Saline Rothenfelde, in: Osnabriicker Mitteilungen 31, 1906, S. 1-128.
88 Manthey/Vohn-Fortagne, Industriegeschichte, wie Anm. 31, S. 290.
36 Dirk Neuber
kauft werden, wahrend stattdessen Kohle aus der Grube gegen Bezahlung an die
Saline geliefert werden konnte und mit dem folgenden Aufschwung des Miin-
deraner Salinenwesens in beiden Branchen neue Arbeitsplatze entstanden.89
Insgesamt ermoglichte die vorindustrielle Verwendung von Steinkohle zum
Salzsieden die Produktion von groBeren Mengen Salz, als unter Beibehaltung der
Holzfeuerung moglich gewesen ware. So konnte sich das mittlere Niedersachsen
von einer Salzimport- zu einer Salzexportregion wandeln. Daneben konnte aber
auch die Holzfeuerung bis weit in das 19. Jahrhundert bei jenen Salinen konkur-
renzfahig bleiben, die iiber Rechte zum giinstigen oder kostenlosen Holzbezug
verfiigten.
Ziegeleien
Die Verwendung fossiler Brennstoffe zum Ziegelbrennen markiert eine wichtige
Wende. Denn der Ziegel-Massivbau ist zwar in der Friihen Neuzeit immer wieder
als Mittel zum Holzsparen propagiert worden.90 So lange, wie die Ziegel mit Holz
gebrannt wurden, konnte durch den Bau von Steinhausern tatsachlich aber nur
kostbares Eichenbauholz durch groBere Mengen Brennholz fur die Ziegelherstel-
lung ersetzt werden. Erst durch die Kohle konnte die Baubranche von dem nach-
wachsenden Bau- und Brennstoff Holz unabhangig und zu einem der groBen
Wachstumssektoren der Industrialisierung werden.91
Die Moglichkeit, Steinkohlen zum Ziegelbrennen zu verwenden, wurde erst-
mals von Herzog Julius von Braunschweig-Wolfenbiittel genutzt. 1582 lieB er in
einem kleinen Ziegelofen mit Steinkohlen Ziegel brennen.92 Erst einjahrhundert
nach seinem Tod lasst sich das Verfahren wieder nachweisen, als der Lauenstei-
ner Amtmann Wedemeyerund Pachterdes OsterwalderBergwerks um 1700 eine
Ziegelei in Eldagsen pachtete, die er mit Kohle vom Osterwald betrieb.93 Auch
89 Ulrich Manthey, Von der Salzgewinnung zur Industrialisierung. Erganzungen zu
Bad Miinders Wirtschaftsgeschichte, in: DerSoltjer 18, 1993, S. 71; Manthey /Vohn-Forta-
gne, Industriegeschichte, wie Anm. 31, S. 236ff.
90 Vgl. etwa J.F. Unger, Vortheile zu Ersparung derBaumaterialien, in: Hannoverische
Gelehrte Anzeigen 1750, 11. St., Sp. 41-43; Hollenberg, Patriotischer Vorschlag, die Erspa-
rung des Eichenholzes betreffend, in: Westfalische Beytrage zum Nutzen und Vergniigen,
11.2.1792,6. St., Sp. 49-54.
91 Joachim Radkau; Ingrid Schafer, Holz. Ein Naturstoff in der Technikgeschichte,
Reinbek 1987, S. 20 If. Die Mechanisierung des Ziegelformens und kontinuierlich befeuerte
Ringofen setzten der Produktion seit der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts zudem auch
keine technischen Mengengrenzen mehr.
92 Herzog August Bibliothek Wolfenbiittel 14.22. Aug. 4to, pag. 7 v. Aufpag. 125v-126r
farbige Tuschezeichnung u. a. iiber das Brennen von Ziegelsteinen mit Steinkohlen.
93 Alheidis v. Rohr, Lauensteiner Glas vom Osterwald (1701-1827), in: Heimatland,
Steinkohle als Ausweg? 37
die Steine zum Bau des Forts George bei Hameln wurden 1770 mit Steinkohlen
gebrannt.94 Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts wurden zahlreiche Ziege-
leien gegriindet, die den steigenden Bedarf der wachsenden Siedlungen und Fa-
briken nach Mauer- und Dachziegeln befriedigten. Sie lagen zum Teil dort, wo es
wie im Raum Deister-Siintel-Osterwald95 sowohl Ton als auch Kohle gab sowie
seit der Jahrhundertmitte rund um Stadthagen.96 Auf der anderen Seite entstan-
den bis 1900 etwa 30 absatzmarktnahe Ziegeleien rings um das rasch expandie-
rende Hannover.97
Topfereien
Gewaltige Holzmengen verschlang der Brand von Topferwaren. Gerade im soge-
nannten Portland zwischen Leine und Weser gab es eine Reihe Topferorte, und
in Duingen z.B. sogar Kohle direkt vor Ort. Das Brennen von Steingut mit Kohle
war zwar technisch moglich, doch scheuten die Topfer die Risiken einer Umstel-
lung. Sie waren namlich auf ihr erlerntes Erfahrungswissen angewiesen, um in
den unterschiedlichen Phasen des Brandes die jeweils erforderlichen Hitzegrade
zu erzielen. Ein einziger Fehler konnte den ganzen Brand verderben. Da Kohle
fur die Topfer vollig unbekannte BrenneigenschaftenbesaB, traute sich in der Re-
gel niemand, einen ersten Versuch zu wagen und dabei zu riskieren, die Arbeit
mehrerer Wochen zu verderben. Das finanzielle Risiko einer Umstellung warum
so groBer, weil zuvor in den Umbau des Of ens etwa 20 Reichstaler investiert wer-
den mussten.98
So gab es letztlich kaum einen Topferort, wo der Steinkohlenbrand nicht erst
in Gang kam, nachdem die Obrigkeit den Bau von Versuchsofen finanziert oder
Pramien fiir den ersten gelungenen Steinkohlenbrand ausgelobt hatte." Dabei
hing die Intensitat der obrigkeitlichen Einfuhrungsbemuhungen vor allem von
der jeweiligen Einschatzung der Holzversorgungssituation ab. In Duingen bei-
spielsweise gab es seit 1787 immer wieder Anlaufe von Berg- und Forstbeamten,
1991, H. 5, S. 129-134; S. 131.
94 Otto Philipps, Johann und Georg Egestorff: Leben und Wirken zweier nieder-
sachsischer Wirtschaftsfiihrer, Oldenburg i. O. 1936, S. 8.
95 Manthey/Vohn, Industriegeschichte, wie Anm. 31, S. 277ff.
96 Schneider, Industrialisierung I, wie Anm. 15, S. 167 f.
97 Giinter Gebhardt, Steine fiir den Bau Hannovers. Hannovers Ziegeleien von 1800
bis jetzt, in: Heimatland 1995, S. 187-191, S. 187ff.
98 Bericht Amtmann Schuster zu Scharzfeld an Kammer, 14.2.1815, Niedersachsisches
Hauptstaatsarchiv Hannover (HStAH) Hann. 88 A Nr. 4468. Ahnlich auch die Pro Memoria
des Altmeisters der Duinger Topfer, 8.8.1815, ebd.
99 Ausfiihrlich dazu vgl. Neuber, Energie- und Umweltgeschichte, wie Anm. 1, S. 123-
129.
38 Dirk Neuber
die jedoch erst 1822 zur massenhaften Umstellung fiihrten. Auch im osnabrii-
ckischen Amt Iburg wurde zwar seit 1775 eine Topferei mit Steinkohlen betrie-
ben,100 doch stellte in jener Region Holz bis zum Ende des Topferwesens den
weitaus bedeutendsten Brennstoff dar.101
Eine absolute Ausnahme stellte die unter existentiellem Innovationsdruck re-
lativ problemlos vollzogene Einfiihrung der Kohlenfeuerung bei den Topfern der
Grafschaft Spiegelberg dar. Sie galten nicht umsonst als die schlimmsten Holz-
frevler im Lande, weil sie ihren iiber das Berechtigungsholz hinausgehenden
Brennstoffbedarf nicht nur durch Zukauf, sondern auch durch „Selbstbedie-
nung" in den Forsten deckten.102 Da die Spiegelbergischen Forsten die von den
Topfern jahrlich benotigten 287 Klafter unmoglich zu liefern vermochten, be-
miihten sich Rentkammer und Regierung zwischen 1772 und 1792 in Uberein-
stimmung mit den jeweiligen Amtmannern, das Topferwesen durch Konzessi-
onsverweigerungen sowie Beschrankungen des Holz- und Tonbezugs zum Erlie-
gen zu bringen. Unter diesem Druck gelang es den Steintopfern, einen GroBteil
des Brennholzes durch den Einsatz von Steinkohlen zu substituieren.103 Wenige
Wochen, nachdem 1793 das nahe Briinninghauser Bergwerk in Betrieb gegangen
war,104 stellte auch derletzte dersechs spiegelbergischen Steintopfer seinen Ofen
auf Kohle urn.105
Glashiitten
Auch Glashiitten zahlten zu den bedeutenden „holzfressenden Gewerben".106
Die Standortbedingungen in den groBen Waldern des Leine-Weserberglandes
waren fur Glashiitten lange giinstig, zumal es in der Region einige holzbefeuerte
100 Bericht Amtsverwalter Friedrichs zu Relliehausen an Kammer zu Hannover, 19.3.
1800, HStAH Hann. 74 Springe Nr 667.
101 Ernst Helmut Segschneider, Das alte Topferhandwerk im Osnabriicker Land,
Bramsche 1983, passim. Auch im NStAO finden sich keine dariiber hinausgehenden Hin
weise auf Steinkohlenverwendung in Topfereien.
102 Bericht Amtmann Wagner zu Coppenbriigge an Rentkammer zu Dillenburg,
24.7.1772, HStAH Hann. 88 A Nr. 1929.
103 Amtmann Schepp zu Coppenbriigge an Landesregierung zu Dillenburg, 18.2.1793,
HStAH Hann. 88 A Nr. 1929.
104 Gunter Gebhardt, Kohle vom Nesselberg - die Gruben in der Grafschaft Spie-
gelberg, in: Heimatland 1994, S. 81-84, S. 81.
105 Bericht Amtmann Schepp zu Coppenbriigge an Rentkammer zu Dillenburg, 27.1.
1794, OBAFin. Min.f. 31 Nr. la.
106 Davon wurden allerdings nur 72 kg fur die eigentliche Warmeerzeugung benotigt,
der Rest fur die Gewinnung der als Flussmittel genutzten - haufig importierten - Pottasche.
Sieferle, Unterirdischer Wald, wie Anm. 43, S. 84.
Steinkohle als Ausweg? 39
Salinen gab, von denen Holzasche bezogen werden konnte.107 Die Steinkohlen-
lagerstatten im Leine-Weserbergland begiinstigten zugleich aber insbesondere
im 19. Jahrhundert die Entstehung zahlreicher Steinkohlen-Glashiitten.
Im heutigen Niedersachsen wurde vermutlich erstmals 1701 mit Hilfe eines
englischen Glasmeisters eine mit Steinkohle befeuerte Glashiitte am Osterwald
eingerichtet. Mit ihr erschloss der Lauensteiner Amtmann dem von ihm gepach-
teten Bergwerk neben seinen anderen steinkohlenbefeuerten Gewerbebetrieben
eine weitere Absatzquelle. Der Glasqualitat tat die Feuerung keinen Abbruch,
vielmehr wurde das Lauensteiner Kristallglas im 18. Jahrhundert weithin ge-
schatzt.108 1755 wurde eine Steinkohlen-Glashiitte am Kleinen Siintel gegriin-
det.109 Da sich immer wiederHalden unabsetzbarerKohlen auftiirmten, war das
dortige Bergwerk weitgehend von der Glashiitte abhangig.110 Uber ein Jahrhun-
dert lang deckte das Bergwerk vorallem den Brennstoffbedarf der 1886 endgiiltig
stillgelegten Glashiitte.111
Einerum 1726 im Fiirstbistum Osnabriickaus merkantilistischen Erwagungen
unweit derKohlengruben von Borgloh gegriindeten Glashiitte reichte dergiinsti-
ge Brennstoff allein nicht zum Gedeihen, da alle iibrigen Rohstoffe von weither
angefahren werden mussten und zugleich die Glaser nur schleppenden Absatz
fanden. 1738 gab der letzte Pachter auf.112
Die bis heute bedeutende Schaumburger Glasindustrie nahm ihren Anfang in
der ersten Halfte des 19. Jahrhunderts mit der Ansiedlung von gleich vier Glas-
hiitten am Hang der Biickeberge. Dort gab es nicht nur die fur die Glasherstel-
lung notigen mineralischen Rohstoffe und einen fiir ordentlichen Zug im Glas-
ofen sorgenden, den Nordwesthang hinaufstreichenden Wind, sondern auch
gleich an diesem Hang gelegene Steinkohlengruben mit fiir die Glasherstellung
107 Eberhard und Irmgard Tacke, Die Entstehung der „Furstlich Braunschweigischen
Glas- und Spiegel-Fabriken" im Soiling, Ith und Hils. Zur staatlichen Industrieplanung und
-ansiedlung im braunschweigischen Weserbergland um 1750, in: Neues Archiv fiir Nieder-
sachsen 18, 1969, S. 221-234; S. 232ff.
108 Rohr, Lauensteiner Glas, wie Anm. 93, S. 1 3 0 f f . ; Michael Mende, Osterwald, Klein
Siintel und Steinkrug. Denkmale der kohlegebundenen Glasindustrie in Niedersachsen, in:
Der Anschnitt 42, 1990, H. 5-6, S. 169-180, S. 170f.
109 Auch zwei weitere Griindungsdaten fiir eine kohlenbefeuerte Glashiitte am Kleinen
Siintel, 1680 und 1718, sind nicht belegbar. Hans-Dieter Kreft, Streifzug durch die Ge-
schichte der Glashiitte am Kleinen Siintel, in: Der Soltjer 18, 1993, S. 49-57, S. 50f.
110 Ebert, Darstellung, wie Anm. 19, S. 61 ff.
111 Kreft, Streifziige, wie Anm. 109, S. 52-55.
112 Eberhard Tacke, Die fiirstliche Glashiitte in Borgloh bei Osnabriick (ca. 1726-1738).
Eine gliicklose staatliche Industrieansiedlung im merkantilistischen 18. Jahrhundert, in:
Neues Archiv fiir Niedersachsen 17, 1968, S. 341-346; Gerd-Ulrich Piesch, Die fiirstbischof-
liche Glashiitte in Borgloh-Wellendorf, in: Heimat-Jahrbuch 1995 fiir das Osnabriicker
Land, S. 89-94.
40 Dirk Neuber
sehr gut geeigneten Kohlen. Damit boten beide Teile Schaumburgs zu Beginn
des 19. Jahrhunderts ideale Standortbedingungen fur Glasmeister, welche an ih-
ren bisherigen Standorten zunehmend unter Energieproblemen litten und bei
der Ansiedlungsentscheidung groBen Wert auf eine gesicherte Energieversor-
gung legten. So war der Grander der spateren Glashiitte Schauenstein oberhalb
Obernkirchens 113 bereits vom Siintel her mit der Steinkohlentechnologie ver-
traut. Das dortige Bergwerk hatte jedoch erhebliche Forderungsprobleme und
konnte daher nicht regelmaBig die fur den Glashiittenbetrieb benotigte Kohle
fordern.114
Backereien
Beim Backen des Grundnahrungsmittels Brot bot sich ein gewaltiges Holzeinspa-
rungspotential an: um 1818 sollen allein die 48 hannoverschen Backerjahrlich et-
wa 3.500 Klafter Brennholz verbraucht haben,115 welches groBtenteils vom Dei-
ster herangefahren wurde.116 Mit den wachsenden Einwohnerzahlen stieg auch
der Brennholzverbrauch bis 1860 auf 5.000 Klafter.117
Steinkohlen konnten wegen ihres Geruchs und mangels Brennrost nicht ein-
fach im Backraum herkommlicher Ofen verbrannt werden. Es war eine Kon-
struktion notwendig, bei der die Kohlen auBerhalb des Backraumes verbrannt
und ihre Warme iiber Heizkanale an den Backraum abgegeben wurde.118 Erste
nachweisbare Versuche, im heutigen Niedersachsen mit Steinkohlen Brot zu bak-
ken, fanden 1793 unter Grafin Juliane von Schaumburg-Lippe statt. Dabei wur-
den durchaus zufriedenstellende Backresultate erzielt. Aus Bequemlichkeit ging
man aber wieder zur Holzfeuerung iiber.119 Erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts
wurde zumindest in den Backereien der niedersachsischen GroBstadte mit Stein-
kohlen gebacken. In Hannover beispielsweise wurde die Umstellung angesichts
zu erwartender sinkender Brennholz- und Brotpreise seit 1816 diskutiert, sie
scheiterte aber am Zunftwesen mit seinen festgesetzten Brotpreisen: Denn dieje-
nigen Backer, die zuerst umstellen wiirden, hatten dank der deutlich giinstigeren
113 Schneider, Industrialisierung, Bd. 1, wie Anm. 15, S. 154 ff.
114 Kreft, Streifzug, wie Anm. 109, S. 5 If.
115 R., Nachtrag zu den Nachrichten von dem nutzlichen Gebrauche der Steinkohlen,
in: Hannoversches Magazin 1817, 5. St., Sp. 69-72, Sp. 70.
116 Burchard Christian v. Spilcker, Historisch-topographisch-statistische Beschreibung
der Koniglichen Residenzstadt Hannover, Hannover 1819, ND Hannover 1979, S. 186.
117 O. A., Backen mit Steinkohlenheizung, in: Mittheilungen des Gewerbe-Vereins fur
das Konigreich Hannover, N.F. 1860, H. 6, Sp. 304-306.
118 Professor Ruhlmann, Reisenotizen, in: Mittheilungen des Gewerbe-Vereins fur das
Konigreich Hannover, N.F. 1860, H. 3, Sp. 172-178; Sp. 172-174.
119 Schunke/Schulbe, Gesamtsteinkohlenbergwerke, wie Anm. 7, S. 240; S. 247.
Steinkohle als Ausweg? 41
Brennstoffkosten erhebliche Vorteile gehabt. Weil sich der Magistrat auch spater
zu keiner fur alle Beteiligten gerechten Zwangseinfiihrung durchringen konnte,
unterblieb die Einfiihrung der Steinkohlenfeuerung zumindest bis zur Aufhe-
bung der Brottaxfestsetzung imjahre 1867. 120 Und dies, obwohl die technischen
Probleme spatestens in den 1830erjahren weitgehend gelost waren 121 und in der
hannoverschen Militarbackerei seit 1832 bei halbierten Feuerungskosten erfolg-
reich mit Steinkohlen gebacken wurde.122
So bewirkten nicht zuletzt gerade jene Brottaxen, welche die Konsumenten
urspriinglich voriiberhohten Brotpreisen schiitzen sollten, das genaue Gegenteil:
indem sie die Konkurrenz unter den Backern ausschalteten, verhinderten sie die
Einfiihrung kostensparender Innovationen, welche letztlich auch den Konsu-
menten zugute gekommen waren. Allerdings setzten sich in den letzten beiden
Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts die modernen und kostengiinstigen Steinkoh-
lenfeuerungen bei den hannoverschen Backern immermehr durch.123 In Hildes-
heim dagegen hatte der Magistrat die Brottaxe schon 1855 aufgehoben 124 und
die Mitglieder der Backer-Innung in den Jahren danach ihre Ofen auf Stein-
kohlen umgestellt.125
Brauereien
Die Brauerei war einer jener stadtischen Bereiche, in dem nach dem Hausbrand
das meiste Holz eingespart werden konnte - wenn es gelang, zum Steinkohlen-
brand geeignete Anlagen einzurichten. Viel Brennholz warzunachst zum Darren
des Maizes erforderlich. Seit 1816 wirkte Baumeister Wichmann in Hannover. Er
verstand es sowohl, Malzdarren so umzubauen, dass sie bei gleicher Leistung er-
heblich weniger Holz verbrauchten, als auch, zum Torf- oder Steinkohlenbrand
120 Jorg Jeschke, Gewerberecht und Handwerkswirtschaft des Konigreichs Hannover
im Ubergang 1815-1866, Gottingen 1977, S. 130; Ludwig Hoerner, Agenten, Bader und Co-
pisten. Hannoversches Gewerbe-ABC 1800-1900, Hannover 1995, S. 20.
121 Vgl. etwa O. A., Ueber den Gebrauch der Steinkohlen zum Brotbacken, in: Hanno-
versches Magazin 1827, No. 11, S. 81-83.
122 O. A., Beschreibung eines in der Koniglichen Militairbackerei zu Hannover ausge-
fiihrten Backofens mit Steinkohlenfeuerung, in: Hannoversches Magazin 1834, Nr. 20,
S. 713-716.
123 Hoerner, Agenten, wie Anm. 120, S. 22f.; Franz-Josef Bruggemeier, Das unendli-
che Meer der Liifte: Luftverschmutzung, Industrialisierung und Risikodebatten im 19. Jahr-
hundert, Essen 1996, S. 50.
124 Jeschke, Gewerberecht, wie Anm. 120, S. 131.
125 Heinrich Max Humburg, Die erste Hildesheimer Kohlenhandlung in der Almstra-
Be. Bis dahin gab der Rat Holz aus dem Hildesheimer Wald frei, in: Aus der Heimat 1970,
Nr. 11, S. 87.
42 Dirk Neuber
geeignete Darren zu errichten.126 In den folgendenjahren baute er insbesondere
auf Landgiitern im Hannoverschen, Hildesheimischen und Braunschweigischen
zahlreiche zum Steinkohlenbrand geeignete Malzdarren, die auch in Sachsen
und PreuBen nachgebaut wurden.127
Weitere groBe Holzmengen verschwanden unter den Braupfannen, weswegen
etwa Herzog Karl von Braunschweig 1757 Versuche zum Brauen mit Torf anstel-
len lieB.128 Was viele Brauer vor einer Umstellung auf Kohlenfeuerung ab-
schreckte, war die Tatsache, dass die Braupfannen durch den Steinkohlenrauch
starker litten und eher ersetzt werden mussten. So gelang es der schaumburg-lip-
pischen Rentkammer beispielsweise um 1796 zunachst nur kurzfristig, die Brau-
ergilden in Biickeburg und Stadthagen zur Verwendung von Steinkohlen zu ver-
anlassen: weil die Braugerate schneller verschlissen und die Brennholzpreise
noch relativ niedrig waren, kehrten sie bald wieder zur Holzfeuerung zuriick.129
Letztlich waren es die enormen Brennstoffkostenersparnisse, welche im weiteren
Verlauf des 19. Jahrhunderts zu einem vermehrten Ubergang zur Steinkohlen-
feuerung gefiihrt haben diirften. Denn durch sie wurden die Umstellungskosten
sowie die erhohten Instandhaltungskosten der Braugerate in Zeiten standig stei-
gender Holzpreise mehr als wettgemacht.130
Branntweinb
rennereien
Bei der Verwendung von Steinkohlen zum Branntweinbrennen hielten sich
hartnackige Vorurteile, dass der Kohlenrauch den Geschmack verderbe. Ge-
schiirt wurden sie von Fallen, in denen die Umstellung auf Kohlenfeuerung miss-
lang.131 In der Regel verlief die Umstellung aber recht unproblematisch, zumal
sie mit relativ geringem Aufwand zu erreichen war und der Kohlenrauch nicht di-
126 J.F. Wichmann, Die in ganz neuer Art bei dem Brauer, Herrn Georg Meyer, in Han-
nover aufgebauete Malzdarre, in: Hannoversches Magazin, 7.2.1818, Sp. 171-176.
127 Provinzial-Regierung an Magistrat zu Hannover, 10. 8. 1824, HStAH Hann. 80
Hannover I C e Nr. 253.
128 Herzog Karl an Hofgerichts-Assessor Flach zu Braunschweig, 1.6.1757, StABr C VII
Nr. 1402. Es waren aber die Torffe mehr verhindlich als dienlich. Bericht von Horneburg, Braun-
schweig, 18.7.1757, StABr C VII Nr. 1402.
129 Pro Memoria Rentkammer an Furstliche Regierung, 9.12.1816, NSTAB L 3 Lg 3.
130 In Elze beispielsweise hatten sich die Brennstoffkosten gegeniiber dem Holzbrand
nahezu halbiert. Stellungnahme Brauverwalter Sander zu Elze, 13.8.1814, HStAH Hann. 80
Hannover I Cc Nr. 291.
131 E.F. Rettberg, Erfahrungen iiber die Lagerstatte der Steinkohlen, Braunkohlen und
des Torfes, nebst Grundsatzen und Regeln fur die Errichtung der verschiedenen Feuerun-
gen mit Anwendung derselben auf die okonomischen Gewerbe, Hannover 1801, S. 158.
Steinkohle als Ausweg? 43
rekt mit dem Inhalt der geschlossenen Kupferblase in Beriihrung kam.132 Ahn-
lich wie bei den Braupfannen litten auch die Branntweinblasen durch die Stein-
kohlenfeuerung; nach einer Schatzung aus Springe hielten sie nur noch etwa halb
so lange. Dafiir halbierten sich aber auch hier die Feuerungskosten.133
Im heutigen Niedersachsen spielte Schaumburg beim Steinkohlenbrand in
Brennereien eine absolute Vorreiterrolle: Als beispielsweise 1789 im Hanno-
verschen Magazin diskutiert wurde, ob es moglich sei, mit Steinkohlen Brannt-
wein zu brennen, verwies ein Autor darauf, dass im schaumburg-lippischen Lau-
enhagen ebenso wie in mehreren kleineren Brennereien im hessischen Teil der
Grafschaft seit iiber 50 Jahren Branntwein ausschlieBlich mit Steinkohlen ge-
brannt werde.134 Um 1800 wurde die dadurch erzielte jahrliche Holzersparnis in
Schaumburg auf etwa 3.000 Klafter geschatzt.135
Im Fiirstentum Calenberg war das Branntweinbrennen mit Steinkohlen gegen
1800 erst vereinzelt verbreitet - beispielsweise in drei der 42 Brennereien im Amt
Calenberg136 und allein 8 Brennereien in Springe,137 aber auch selbst in einem
Betrieb im nordwestlich Hannovers gelegenen Engelbostel.138 1816 verwende-
te auch eine erste Brennerei in Braunschweig Osterwalder Kohlen, litt jedoch
bei anhaltend schlechten Wegeverhaltnissen unter Kohlenbeschaffungsprob-
lemen.139
Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert zahlte die Branntweinbrennerei zu ei-
ner der bedeutendsten Wachstumsbranchen des Konigreichs Hannover, wobei
132 Bethzold, Rationalitat, wie Anm. 59, S. 56f. Waren zudem Brennraum und Gar-
raum voneinander getrennt, waren Geschmacksverschlechterungen auszuschlieBen. Jo
hann Friedrich Westrumb, Bemerkungen und Vorschlage fur Brannteweinbrenner, Hanno-
ver 1793, S. 84 ff.
133 Stellungnahme Branntweinbrenner Twellmann zu Springe, 17.8.1814, HStAH Hann.
80 Hannover I Cc Nr. 291.
134 W., Zur Beantwortung der Anfragen im 99ten Stuck des Magazins: das Branntwein-
brennen mit Steinkohlen betreffend, In: Hannoverisches Magazin 1789, 103. St., Sp. 1633-
1636; Sp. 1633f. Noch Ende der 1820erjahre wurden im Konigreich Hannover mit 100.000
Fudern Torf und Holz 72.000 Oxhoft (ca. 16,27 Mio. 1) Branntwein gebrannt, wobei Kohle
als regional begrenzt vorhandener Brennstoff immer noch keine nennenswerte Bedeutung
besaB. V. Honstedt, Ansichten iiber Branntwein-Consumption und Fabrikation, in: Hanno-
versches Magazin 1829, No. 100-101, S. 797-804; S. 803.
135 Frohlich, Vortheile, wie Anm. 53, Sp. 1638.
136 Bericht Amt Calenberg, 12.6.1798, HStAH Hann. 74 Calenberg Nr. 660.
137 Bericht Amtsverwalter Friedrichs zu Relliehausen an die Kammer zu Hannover,
19.3. 1800, HStAH Hann. 74 Springe Nr 667.
138 Hans Ehlich, Richters Spriiche, Miillers Miihlen und Schiffer auf der Leine. Neues
aus der Geschichte Garbsens, Garbsen 1995, S. 54.
139 Vorstellung des Branntweinbrenners Friedrich Martin Plockhorst zu Braunschweig,
3.1.1817, NStAW 50 Neu 4 Nr. 8609.
44 Dirk Neuber
nicht nur die bestehenden Brennereien ihre Produktion ausweiteten, sondern
auch zahlreiche neue Betriebe gegriindet wurden. In Hannover und Umgebung
verdoppelte sich beispielsweise ihre Zahl bis 1817 binnen vierjahrzehnten auf 34
Brennereien.140 1819 setzte eine weitere Griindungswelle insbesondere im Ca-
lenbergischen, im Hildesheimischen und im Osnabriickischen ein,141 die bis
1827 dazu fiihrte, dass die Branntweinproduktion nach der Leinen- und Garnfa-
brikation vom Wert ihres Gesamterzeugnisses her zum zweitwichtigsten Indu-
striezweig des Konigreichs wurde.142 Angesichts hoher und seit langem weiter
steigender Holzpreise entschlossen sich Brennereigriinder in der Regel gleich zur
Feuerung mit fossilen Brennstoffen.143
Weil mit Steinkohle gebrannter Branntwein giinstiger angeboten werden
konnte, erhohte sich auch der Umstellungsdruck auf die traditionellen Brenner.
Als 1814 in Hameln Druck auch seitens der iibrigen Biirgerschaft hinzukam, wel-
che angesichts des groBen Brennholzverbrauchs ein weiteres Ansteigen der
Holzpreise befiirchtete,144 kam es zu einer geradezu beispielhaften Umstellung
der Brennereien der Stadt, die jedoch der einzige dokumentierte derartige Fall
ist: Es wurde den Branntweinbrennern geniigend Zeit gelassen, Erkundigungen
iiber die neue Brenntechnik einzuholen und ihre Vorurteile auf einer Informati-
onsveranstaltung mit dem Chemikerjohann Friedrich Westrumb entkraftet. Um
Wettbewerbsverzerrungen durch das Nebeneinander traditioneller und kohle-
verwendender Brennereien gering zu halten, konnte schlieBlich problemlos ver-
ordnet werden, dass die Umstellung aller Brennereien der Stadt binnen zwei Mo-
naten abgeschlossen sein musste.145 Doch nicht in alien Stadten wurde der neue
140 H. D. U. Sonne, Erdbeschreibung des Konigreichs Hannover. Sondershausen 1817,
S. 20.
141 Gustav v. Gulich, Ueber den gegenwartigen Zustand des Ackerbaus, des Handels
und der Gewerbe im Konigreiche Hannover, Hannover 1827, S. 55.
142 Gustav v. Gulich, Ueber den Handel und die iibrigen Zweige der Industrie im
Konigreiche Hannover, besonders iiber den Zustand derselben seit demjahre 1826, Hanno-
ver 1831, S. 41.
143 Eine 1808 in Pyrmont eroffnete Brennerei verbrauchte etwa taglich zum Brennen
von zwei Fass zunachst 50 KubikfuB Brunninghauser Kohlen, stieg dann auf die besseren
Deisterkohlen um, von denen nur 40 KubikfuB benotigt wurden und verwendete seit 1812
schlieBlich Stadthager Kohlen, wodurch noch einmal 10 KubikfuB eingespart werden konn-
ten. Branntweinfabrikant Siemens zu Pyrmont an Brauervorsteher Stolzheise zu Hameln,
19.8.1814, HStAH Hann. 80 Hannover I Cc Nr. 291.
144 Die Hamelner Branntweinbrennereien und die vor der Stadt gelegene Ziegelei ver-
brauchten etwa 1 .000 Klafter Brennholz im Jahr. Vorstellung der Vorsteher und Lohnherren
zu Hameln an den Magistrat der Stadt, 29.7.1814, HStAH Hann. 80 Hannover I Cc Nr. 291.
145 Landdrostei zu Hannover an Stadtschulzen, Biirgermeister und Rat zu Hameln, 7.9.
1814, HStAH Hann. 80 Hannover I Cc Nr. 291. 1793 hatte Westrumb noch prophezeit, dass
Steinkohle als Ausweg? 45
Brennstoff der Branntweinbrenner begriiBt. Da der Kohlenrauch den Anwoh-
nern der Brennereien neue Belastigungen brachte, wurden einzelne Branntwein-
brenner nach der Umstellung von ihren Nachbarn und Mitbiirgern angefeindet -
beispielsweise in Schoningen146 und Osnabriick.147
Steinkohlenverwendung z.u metallurgischen Zwecken
Unbestreitbargehorte die massenhafte Verfiigbarkeit von Steinkohle zu einerder
Grundvoraussetzungen der Entstehung der Schwerindustrie und damit derlndu-
strialisierung iiberhaupt. Erst eine von nachwachsenden Energierohstoffen un-
abhangige Eisenindustrie ermoglichte auch den Ausbau eines Eisenbahnnetzes,
welches wiederum den Transport der Kohle iiberbisherungeahnte Entfernungen
rentabel machte und damit zugleich aber auch die niedersachsische Kohle der
Konkurrenz der westfalischen Kohle aussetzte.
Bis in das 19. Jahrhundert zahlte der Harz zu den Montanregionen von euro-
paischer Bedeutung148 - basierend auf dem Vorhandensein von Erzlagerstatten,
Wasserkraft und Holz als Bau-, Gruben- und Brennholz.149 Trotz umfangreicher
MaBnahmen, die Holzversorgung zu sichern, wurde seit Beginn des 18. Jahrhun-
derts Holzmangel immer wieder zu einem Existenzproblem der dortigen Metall-
hiitten.150 Gereinigte Steinkohle - also Koks - konnte im 19. Jahrhundert einen
entscheidenden Beitrag zur Stabilisierung des Harzer Montanwesens leisten, in-
die Branntweinbrenner heftig gegen die Einfiihrung der Steinkohlen schreyen wurden, denn lei-
der verschliefit ihnen hier ein altes und tief eingewurzeltes Vorurtheil die Augen. Westrume, Bemer-
kungen, wie Anm. 132, S. 84f.
146 Anfrage von Gerichts-SchultheiB, Magistrat und Biirgermeister von Schoningen an
Herzog Karl Wilhelm Ferdinand zu Braunschweig, 26.7.1793, NStAW 2 Alt Nr. 5564. Der
Rauch wurde jedoch fur gesundheitlich unbedenklich gehalten. Untersuchungsbericht des
Ober-Sanitatskollegiums, 22.9.1793, ebd.
147 Stellungnahmen einzelner Magistratsmitglieder, o. D., 1828, NStAO Dep. 3 b V Nr.
1988. 1838 kam es zu einer gemeinschaftlichen Beschwerde von 18 Familien iiber die von ei-
ner Brennerei ausgehenden Rauchbelastigungen. Vorstellung an den Magistrat zu Osna-
briick, o. D.,Januar 1838, ebd.
148 Christoph Bartels, Vom friihneuzeitlichen Montangewerbe zur Bergbauindustrie.
Erzbergbau im Oberharz 1635-1866. Bochum 1992, S. 13.
149 Rolf-Jiirgen Gleitsmann, Der EinfluB der Montanwirtschaft auf die Waldentwick-
lung Mitteleuropas. Stand und Aufgaben der Forschung, in: Kroker, Werner; Westermann,
Ekkehard (Hrsg.): Montanwirtschaft Mitteleuropas vom 12. bis 17. Jahrhundert. Stand, We-
ge und Aufgaben der Forschung", Bochum 1984, S. 24-39, S. 28. Ausfuhrlich zum Harz: Bar-
tels, Montangewerbe, wie Anm. 148, S. 20-40.
150 Hansjiirgen Gerhard, Holz im Harz. Probleme im Spannungsfeld zwischen Holz-
bedarf und Holzversorgung im hannoverschen Montanwesen des 18. Jahrhunderts, in: Nie-
dersachsisches Jahrbuch fur Landesgeschichte 92, 1994, S. 47-77; S. 54.
46 Dirk Neuber
dem sie die bisherigen Schwierigkeiten bei der Energieversorgung der Hiitten
linderten.151
Weil die Qualitat mit Steinkohle verhiitteter Metalle durch den in der Kohle
enthaltenen Schwefel erheblich litt, konnte Steinkohle allerdings nur zur Erzver-
hiittung genutzt werden, wenn sie vorher durch Verkokung - das sogenannte
„Abschwefeln" - vom Schwefel befreit worden war. Der Beginn der Koksherstel-
lung und seine friihe Verwendung zum Erzschmelzen wird gemeinhin mit Eng-
land verbunden, wo es zweifellos zuerst zur massenhaften Koksverwendung in
der Metallurgie gekommen ist. Dagegen wurde bisher kaum zur Kenntnis ge-
nommen, dass hierzu in den 1580erjahren sowohl bei Dresden, als auch in der
Grafschaft Mansfeld und dem Herzogtum Braunschweig durchaus positive Ver-
suche stattfanden. 152 Welfenherzog Julius etwa verfasste nicht nur 1584 eine An-
leitung, wie Steinkohlen auf den Schmelz-, Vitriol- und Salzwerken angewendet
werden konnten,153 sondern es sind auch unzweifelhaft auf sein GeheiB und teil-
weise unter seiner direkten Mitwirkung kleinere Mengen Steinkohlen abge-
schwefelt und auf verschiedenen Hiitten versuchsweise sowohl zur Erzrostung als
auch zur Verhiittung eingesetzt worden. Die Substitution von Holzkohle durch
Koks im groBeren MaBstab scheint jedoch einerseits an der mangelnden Koks-
qualitat, andererseits an der unzureichenden Beherrschung der Verfahrenstech-
nik gescheitert zu sein. 1589 wurden die Versuche nach dem Tod des Herzogs
eingestellt und gerieten bald in Vergessenheit. Ebenso war die Holzversorgung
der Hiitten auch in den iibrigen mitteldeutschen Regionen um 1600 anscheinend
zwar angespannt, aber langst nicht so krisenhaft, als dass Koks eine rentable Al-
ternative dargestellt hatte und die Versuche mit langerem Atem fortgesetzt wor-
den waren.154
Erst im 18. Jahrhundert gelang der Kokstechnologie in der englischen Metall-
industrie der Durchbruch.155 Dieses Wissen verbreitete sich dann in der zweiten
151 Bartels, Montangewerbe, wie Anm. 148, S. 443f.
152 Peter-Michael Steinsiek, Nachhaltigkeit auf Zeit. Waldschutz im Westharz vor
1800, Miinster u. a. 1999, S. 144f. Ausfiihrlich hierzu vgl. Hans Otto Gericke, Die Verwen-
dung von Koks bei der Erzverhiittung im mitteldeutschen Raum um 1584, in: Technikge-
schichte 66, 1999, H. 2, S. 87-113, S. 87-95.
153 L. Beck, Herzog Julius von Braunschweig und die Eisenindustrie am Oberharz,
in: Zeitschrift des Harz-Vereins fur Geschichte und Altertumskunde 22, 1889, S. 302-329,
S. 304 f.
154 Gericke, Verwendung, wie Anm. 152, S. 108 f.; Ders.: Von der Holzkohle zum
Koks. Die Auswirkungen der „Holzkrise" auf die Mansfelder Kupferhiitten, in: Vierteljah-
resschrift fur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 85, 1998, H. 2, S. 156-195, S. 174ff.
155 Bereits um 1773 fuhrte C.F.G. Westfeld in Biickeburg Abschweflungsversuche nach
englischen Vorbild in einem umgebauten Backofen durch. Westfeld, Vom Abschwefeln
der Steinkohlen, in: Hannoverisches Magazin 1773, Sp. 1341-1344.
Steinkohle als Ausweg? 47
Halfte des 18. Jahrhunderts von England her nach Norddeutschland.156 In
Schaumburg fanden erste Verkokungsversuche 1811 in einem Versuchs-Kok-
sofen auf dem Osterholz bei Nienstadt statt.157 Da sie erfolgreich verliefen, wur-
den bis 1813 einige herrschaftliche Betriebe wie die schaumburg-lippische Zu-
ckerfabrik und Branntweinbrennerei in Petzen mit Koks belief ert.158
Nachdem im hannoverschen Oberharz angesichts drohender Betriebsein-
schrankungen in Folge akuten Holzmangels Schmelzversuche mit Schaumburger
Koks auf den dortigen Blei- und Silberhiitten positiv ausgefallen waren, wurde
1816 die Verkokung auf dem Osterholz bei Nienstadt wieder aufgenommen und
die Kokerei in den folgendenjahrzehnten immer weiter ausgebaut. Ab 1818 war
die Lieferung von jahrlich 140.000 Balgen Koks (ca. 2.100 t) zu den Ober- und
Unterharzer Hiitten vertraglich vereinbart.159 1820 rollten ca. 2.805 tKoks auf et-
wa 1.200 bis 1.400 Fuhrwerken von Nienstadt in den Harz, zehnjahre sparer fur
4.788 t etwa 2.000 bis 2.500 Fuhrwerke.160 Dies sind Dimensionen, die auf einen
fur damalige Verhaltnisse gewaltigen Energietransfer hindeuten.
Bevor mit der Bahn Koks von der Ruhr in das Konigreich Hannover gelang-
ten, standen Schaumburger Koks praktisch konkurrenzlos dar.161 Lediglich auf
dem hannoverschen Gaswerk fielen als „Abfallprodukt" ebenfalls Koks an, die
aber aufgrund ihrer miserablen Qualitat kein Betrieb freiwillig verwendete.162
156 Beispielsweise findet sich in den Akten der Berginspektion Borgloh (NStAO Rep.
620 Nr. 24) eine detaillierte Beschreibung und Zeichnung eines englischen Backkoksofens
aus dem Jahr 1769. Vgl. auch Westrumb, Etwas von den Vortheilen, welche die Ab-
schweflung der Steinkohlen gewahrt, in: Hannoverisches Magazin 1787, 9. St., Sp. 129-140
sowie Hans Jiirgen Teuteberg, Britische Friihindustrialisierung und kurhannoversches Re-
formbewuBtsein im spaten 18. Jahrhundert, in: Vierteljahresschrift fiir Sozial- und Wirt-
schaftsgeschichte 86, 1999, H. 2, S. 153-180; S. 177.
157 Bergassessor Finze, Die Entwicklung der Koksdarstellung auf den Steinkohlenberg-
werken in der Grafschaft Schaumburg, in: Zeitschrift fiir das Berg-, Hiitten- und Salinenwe-
sen im preuBischen Staate 60, 1912, S. 185-212; S. 186; Versuchsprotokoll Oberfaktor Bauer
zu Osterwald, 14.3.1811, HStAH Hann. 52 Nr 5222.
158 Finze, Entwicklung, wie Anm. 157, S. 189.
159 Da sich die Steinkohle beim Verkoken aufblahte, ergab eine Balge Kohle zwei Bal-
gen Koks. Bericht Bergrat Frohlich an Rentkammer, 28.1.1818, NSTAB K2 KNr. 764. 100
Balgen leichter Koks wogen ca. 1,54 t.
160 Koksproduktion nach Schunke/Schulbe, Gesamtsteinkohlenbergwerke, wie Anm.
7, Anlage III.
161 Weil alljahrlich groBe Geldsummen fiir den Kokskauf ins Ausland gingen, lieB die
hannoversche Regierung 1826 am Deister Verkokungsversuche vornehmen. Die Deister-
koks scheinen sich aber beim Probeschmelzen auf den Harzer Hiitten nicht bewahrt zu ha-
ben. Finze, Entwicklung, wie Anm. 157, S. 190.
162 Seit 1838 wurden die Oberharzer Hiitten zeitweilig angewiesen, diesen inlandi-
schen Koks zu verwenden. Olaf Grohmann, Geschichte der Wasser- und Energieversorgung
der Stadt Hannover von den Anfangen bis zur Gegenwart, Hannover 1991, S. 34f.
48 Dirk Neuber
1865 bezogen allein die Kommunion-Unterharzer Silberhiitten jahrlich 5.130 1
Schaumburger Koks - inzwischen allerdings langst per Bahn. 163 Bereits seit Ende
der 1830erjahre zahlten auch die kurhessischen Hiitten Riechelsdorf, Veckern-
hagen, Holzhausen und die Maschinenfabrik Henschel in Kassel zu den regelma-
Bigen Abnehmern von Schaumburger Koks.164
Auch bei der Verwendung von Koks zur Eisenverhiittung lassen sich die ersten
Versuche bis zum innovativen Herzog Julius zuriickverfolgen.165 Doch erst in
den 1850er Jahren brachte das rasante Wachstum der deutschen Eisenindustrie
die endgiiltige Durchsetzung der modernen Kokshochofenwerke gegeniiber der
traditionellen Holzkohlentechnologie.166 So lange, wie das mit Holzkohle ver-
huttete Eisen eine bessere Qualitat besaB und der Bedarf rasch anstieg, konnten
zwar die traditionellen Eisenhiitten in den waldreichen Mittelgebirgen noch ne-
ben den neuen Koksstahlwerken existieren.167 Doch die Verwendung von Koks
im Hochofenbetrieb erwies sich trotz mehrerer Versuche als untauglich und wur-
de bis Ende der 1860er Jahre nicht zuletzt wegen der nur aufwendig zu beschaf-
fenden Brennstoffe von nahezu samtlichen Eisenhiitten wieder aufgegeben. Bis
auf die Sollingerhiitte bei Uslar stellten sie auch die Eisenfrischerei, das soge-
nannte „Puddeln" wieder ein und zogen sich auf die Produktion von Holzkohlen-
roheisen und die EisengieBerei zuriick.168
Das durch die ErschlieBung der Kohle ermoglichte nahezu unbegrenzte
Wachstum der Eisenindustrie fand damit nachjahrhunderten der Abhangigkeit
vom Vorhandensein von Holz, Erz und Wasser fortan abseits der Walder statt:
Die seit Mitte der 1850er Jahre gegriindeten neuen Eisenhiitten lagen entweder
163 Bericht Bergamt Goslar an Kammerdirektion der Bergwerke zu Braunschweig, 7.11.
1864, niedersachsisches Staatsarchiv Wolfenbiittel Neu 4, Nr. 8991.
164 Finze, Entwicklung, wie Anm. 157, S. 189.
165 Gericke, Verwendung, wie Anm. 154, S. 93.
166 Der vermehrte Einsatz von Kokshochofen begann in Oberschlesien in den 1830er
Jahren, im Saarrevier in den 1840erjahren und seit Beginn der 1850erjahre im Ruhrgebiet.
Rainer Fremdling, Technologischer Wandel und internationaler Handel im 18. und 19.
Jahrhundert. Die Eisenindustrien in GroBbritannien, Belgien, Frankreich und Deutschland,
Berlin 1989, S. 144-153.
167 Rainer Fremdling, Innovation und Mengenanpassung. Die Loslosung der Eisener-
zeugung von der vorindustriellen Zentralressource Holz, in: Hansjorg Siegenthaler (Hg.):
Ressourcenverknappung als Problem der Wirtschaftsgeschichte, Berlin 1990, S. 17-46; S. 31-
34. Dasjahr 1854 markiert den absoluten Hohepunkt derHolzkohlenroheisenproduktion in
Deutschland mit einem raschen Abfall in den darauffolgendenjahren. Fremdling, Technolo-
gischer Wandel, wie Anm. 166, S. 341.
168 Michael Mende, Aus der Blute ein Sturz in relative Bedeutungslosigkeit: Die Eisen-
hiitten des Harzes und Weserberglandes im 19. Jahrhundert, in: Kaufhold, Karl Heinrich
(Hg.): Bergbau und Hiittenwesen im und am Harz. Hannover 1992, S. 56-96, S. 78.
Steinkohle als Ausweg? 49
wie die Georgsmarienhiitte direkt bei den Erz- und Kohlenlagerstatten, oder zu-
mindest so verkehrsgiinstig, dass sie fehlende Rohstoffe billig per Bahn beziehen
konnten. Beispielsweise konnte so die 1860 in Betrieb genommene Ilseder Hiit-
te169 Koks aus Schaumburg beziehen.170
Faz.it
Bislang war die Umweltgeschichte vor allem auf die aufsehenerregenden Ereig-
nisse und drastischen Entwicklungen fokussiert. Die Energiegeschichte blickte
insbesondere auf „holzfressende" GroBgewerbe und den binnen weniger Jahr-
zehnte erfolgten Wandel zum auf massenhafte Steinkohlenverwendung angewie-
senen Industriesystem. AuBer Acht gelassen wurde dabei vielfach, dass sich diese
Alleinherrschaft der Industrie171 nur auf jene industriellen Ballungsraume be-
schrankte, welche seit Mitte des 19. Jahrhunderts bei vielen Kohlenzechen sowie
an den Bahnknotenpunkten entstanden. Dagegen blieben die landlichen nieder-
sachsischen Steinkohlenreviere auf den ersten Blick unspektakular: Die Ausbeu-
tung der seit Jahrhunderten bekannten Kohlenlagerstatten erlebte zwar im 19.
Jahrhundert einen beschleunigten Aufschwung. Doch da im allgemeinen genug
Brennholz zur Verfiigung stand und hochstens von raumlich und zeitlich eng
begrenzten Holzmangelsituationen die Rede sein konnte, setzte sich die mit vie-
len Vorurteilen behaftete Kohle nur sehr allmahlich durch. Und Industrialisie-
rungsimpulse gingen von den Bergwerken selbst in ihrer unmittelbaren Umge-
bung kaum aus.
Diese Beobachtungen passen in das bisherige Bild der niedersachsischen
Wirtschaftsentwicklung: das heutige Niedersachsen war weit davon entfernt, eine
wesentliche Vorreiterrolle in der Industrialisierung zu spielen. Veranderungen
fanden nur verzogerte Anwendung und erreichten nur an wenigen Orten die an-
derswo erreichten Dimensionen. Der von der Universalgeschichte favorisierte
Siegeszug der Steinkohle war im mittleren Niedersachsen von zahlreichen men-
talen und technischen Hemmnissen begleitet. Wie im Vorangegangenen gezeigt
werden konnte, wurde gerade bei traditionellen Gewerben die flachendeckende
Diffusion der Steinkohlenverwendung letztlich doch erst durch den Preis, und
nicht durch die zahllosen staatlichen Einfuhrungsbemuhungen initiiert, nach-
dem Vorurteile und technische Hemmnisse abgebaut waren. Als besonders inno-
vationsfeindlich erwiesen sich insbesondere Gewerbe, die in Ziinften organisiert
169 Vgl. Wilhelm Treue, Geschichte der Ilseder Hiitte. Peine 1960.
170 Finze, Entwicklung, wie Anm. 157, S. 198f.
171 Joachim Radkau, Technik- und Umweltgeschichte, in: GWU 48, 1997, H. 7/8, S. 479-
497; 50, 1999, H. 4, S. 250-288; H. 5/6, S. 356-384, Teil II, S. 272f.
50 Dirk Neuber
waren: ihr korporativer Charakter sowie die kommunalen Ordnungen standen
innovativen Einzelgangen entgegen.
Wahrend Kohle der Energietrager von Wachstumsbranchen wie Salinen,
Kalkbrennereien, Ziegeleien, Branntweinbrennereien, Glasfabriken und Hiitten-
werken wurde, blieb im landlichen Raum und bei vielen traditionellen Gewer-
ben Holz noch lange der wichtigste Brennstoff. Selbst in Schaumburg, das spate-
stens seit dem 16. Jahrhundert eine Energieiiberschussregion war und weithin
Schmiedekohle exportierte, wurde dieser Ressourcenvorteil - abgesehen von ei-
nigen herrschaftlichen Betrieben - im Inland vor Mitte des 19. Jahrhunderts
kaum genutzt. Andererseits ermoglichte die Steinkohle auch im mittleren Nie-
dersachsen im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert ein wirtschaftliches Wachs-
tum, wie es auf Basis nachwachsender Energietrager unvorstellbar gewesen ware:
Es war das regionale Vorkommen der Kohle, welches schon lange vor der allge-
meinen Verfiigbarkeit von Energie durch das Eisenbahnnetz die Griindung neu-
er Gewerbebetriebe und Fabriken ermoglichte, deren Betrieb auf Basis des vor-
handenen, vielerorts schon bis an die Kapazitatsgrenze genutzten Holzes anson-
sten nicht moglich gewesen ware.
Auch den traditionellen Harzer Montanbetrieben bot die niedersachsische
Steinkohle die Moglichkeit, knappe Holzkohle durch Koks zu ersetzen. Aller-
dings fiihrte die massenhafte Koksverwendung in den aufstrebenden Schwerin-
dustrieregionen der groBen Kohlenreviere zur Entstehung einer die abgelegenen
Harzer Hiitten existenziell bedrohenden Konkurrenz. Ahnlich erging es schlieB-
lich auch den niedersachsischen Steinkohlenbergwerken: Es war ihr Dilemma,
dass ihre Kohle in der Friihen Neuzeit - als sie kaum nachgefragt wurde - jahr-
hundertelang nahezu vergeblich angeboten wurde. In der industriell gepragten
Neuzeit jedoch - als die groBe Stunde der Kohle gekommen war - gerieten die
Bergwerke durch per Eisenbahn giinstig transportierte bessere Konkurrenzpro-
dukte unter einen existenziellen Wettbewerbsdruck, dem sie schlieBlich allesamt
erlagen.
3.
Bonam sylvarum partem in vicinia
Politisch-generierte Ressourcenknappheit und reichsstadtische
Kompensation: Goslar, Walkenried und die Landesherren
im 16. Jahrhundert.1
Von Cai-Olaf Wilgeroth
1. Waldverlust: Harzforsten, Bergbau und historiographische Ignoranz.
Anni Christi 1562. 1563. Interea civitas nostra tot bonis nuper exuta de aliis coemendis co-
gitavit. Bonam sylvarum partem in vicinia possidebat conventus Walkenredensis, quarum
termini ita in antiquioribus chartis definiuntur: Die VierBerge von derhohen Warte an bis
an des Heiligen Creuzes Holz in den Gose Winckel / von dem heiligen Born bis an den Ku-
kuks Berg / der Ulrichsberg / der Dorneberg nach den Lodenberge. Hujus sylvae ligna infe-
1 Bei den folgenden Ausfiihrungen handelt es sich um die erweiterte und mit Anmer-
kungen versehene Fassung eines Vortrages, den der Verfasser im Rahmen der Tagung „Be-
grenzte Ressourcen. Der Umgang mit Rohstoffen und Energie im Mittelalter und in der
Neuzeit" der Historischen Kommission fur Niedersachsen und Bremen am 12.05.2005 in
Clausthal-Zellerfeld gehalten hat. Zugleich stellt der Aufsatz einen Ausschnitt aus dem mo-
mentan laufenden Gottinger Dissertationsvorhaben des Verfassers da, welches dieser am
Institut fur Historische Landesforschung unter Betreuung PD Dr. Peter Aufgebauers sowie
als Mitglied des DFG-Graduiertenkollegs 1024 „Interdisziplinare Umweltgeschichte. Natu-
rale Umwelt und geseflschaftliches Handeln in Mitteleuropa" bearbeitet. Der Arbeitstitel
lautet: Cai-Olaf Wilgeroth, Menschen im Wald zwischen Harz und Borde. Umweltge-
schichtliche Untersuchungen zum Stadt-Wald Verhaltnis in Niedersachsen: Goslar und Hil-
desheim im Spatmittelalter und in der Friihen Neuzeit.
Es werden folgende Abkiirzungen verwendet:
StA GS - Stadtarchiv Goslar
UB GS - Georg Bode (Bearb.), Urkundenbuch der Stadt Goslar und der in und bei Goslar
belegenen geistlichen Stiftungen, Band I bis V, Halle und Berlin 1893-1922/1956
NdsStA WF - Niedersachsisches Landesarchiv, Staatsarchiv Wolfenbuttel
NdsHStA H - Niedersachsisches Landesarchiv, Hauptstaatsarchiv Hannover
In Zitaten beinhalten eckige Klammern Kommentare des Verfassers, runde Klammern
aufgeloste Kiirzungen oder Erganzungen.
52 Cai-Olaf Wilgeroth
riora Hermannus Abbas Walkenredensis hoc anno Senatui Goslariensi vendidit pro sexcen-
tisflorenis Marianis, hactamen lege, ut cum arboribus ad aedificandum utilibus relinque-
rentur singulis jugeris arbusculae duodecim, & spatio decern annorum sylva lignis
caedendis liberaretur. Quo finito temporis intervallo anno 1571. Georgius Abbas sylvas has
eadem lege demetendas civitati locavit pro quadringentisjoachimicis, viginti tamen annis
ad caesionem indultis.2
Der Goslarer Pfarrer und Diakon zum Frankenberg, Johann Michael Heinec-
cius3 hat zu Beginn des 18. Jahrhunderts im sechsten Buch seiner voluminosen
„Goslarer Antiquitaten" einen Gedanken formuliert, der uns im Folgenden be-
schaftigen soil: Unldngst so vieler Giiter beraubt war unsere Stadt inzwischen daraufbe-
dacht, anderes zusammenzukaufen. Einen Gutteil Wdlder in der Nachbarschaft besaJS der
Walkenrieder Konvent, deren Grenzen in recht alten Urkunden so definiert werden: Die
VierBerge [. . J Das Unterholz dieses Waldes hat der Walkenrieder Abt Hermann in die-
semjahr dem Goslarer Rat fur 600 Mariengulden verkauft; jedoch unter der Majigabe, daji
der Wald mit zum Bauen nutzbaren Bdumen belassen werde, zwdlf Baumchen aufeinem
einzelnen Morgen iibrig blieben, und er nach einem Zeitraum von zehnjahren vom Holzfdl-
len befreitsei. Als die ser Zeitraum imjahre 1571beendet war, hat der Abt Georg diese abzu-
erntenden Wdlder zu gleichem Recht der Biirgerschaftfiir 400Joachimsthaler ausgetan, je-
doch auf zwanzigjahre zum Abholzen gewdhrt. Unser Gewahrsmann datiert die Vor-
gange wie angegeben auf diejahre 1562/63 bzw. 1571.
Nach der Wiirdigung noch eines weiteren damals zwischen Zisterziensern und
Rat geschlossenen Vertrages, welcher insbesondere den Stadthof des Klosters
und seine Pertinenzien zum Gegenstand hatte, kommt Heineccius abschlieBend
zu dem zeitkritischen Urteil: Observari itaque hie meretur, quanta hoc tempore rerum
omnium vilitas fuerit, cum tanti sylvarum tractus & ' sacellum, cujus in locum binae civium
aedes poterant aedificari, tantillo pretio venierint.* SinngemaB paraphrasieren wir:
Wie groB die Wertlosigkeit aller Dinge damals gewesen ist, lasse sich daran beob-
achten, daB so groBe Bestande an Wald und eine Kapelle, an deren Stelle zwei
biirgerliche Wohnhauser errichtet werden konnten, um solch geringen Preis ver-
kauft worden sind.
Derart pejorative Beurteilungen des 16. Jahrhunderts waren (und sind) fur ei-
nen Goslarer nicht gerade untypisch, und Heineccius' Status als geistlicher Autor
trug gewiB sein Ubriges zu dessen Sicht auf diese Jahre bei. Als an umwelt- und
ressourcengeschichtlichen Fragen interessierte Leser seiner Worte miissen wir
2 Johann Michael Heineccius, Antiquitatum Goslariensium et vicinarum regionum li-
bri sex [. . .], Frankfurt am Main 1707, pag. 505.
3 Vgl. Sabine Graf, Art. Heineccius, in: Horst-RiidigerjARCK u.a. (Hrsg.) , Braunschwei-
gisches Biographisches Lexikon (8. bis 18. Jahrhundert), Braunschweig 2006, S. 312-313.
4 Heineccius, wie Anm. 2, pag. 505.
Ressourcenknappheit und reichsstadtische Kompensation 53
uns hierbei jedoch vielmehr fiir das mittelbare Ergebnis dieser abschlieBend be-
klagten „Entwertungsprozesse" interessieren. Unser Chronist benennt solches
gleich zu Anfang: der pachtweise Ankauf der inner- wie auBerstadtischen Wal-
kenrieder Giiter, insbesondere aber von ansehnlichen Waldbereichen, durch die
Stadt Goslar.
Was sich daran im Einzelnen kniipfte, und welche schluBendliche Ausweitung
das Verkaufsvolumen bis 1579 noch erfahren sollte, wird weiter unten Gegen-
stand derUntersuchung sein. Hier soil zunachst auf die Begriindungslogik einge-
gangen werden, die Heineccius den umfangreichen Goslarer Kaufgeschaften zu-
grunde liegen sah: Mit tot bonis nuper exuta - unldngst so vieler Giiter beraubtbefm-
den wiruns im Heinecciusschen Werkin einem Abstand von gerade einmal fiinf
Druckseiten zu der kurz vorher bemerkenswert knapp gehaltenen Behandlung
des Riechenberger Vertrages vom 13. Juni 1552. 5 Bekanntlich hatte die Stadt
Goslar nach wechselvollen, seit den spaten 1520er Jahren nicht mehr endenden
Auseinandersetzungen mit Heinrich dem Jiingeren in diesem Friedensvertrag
schlieBlich einen GroBteil der so lange ungestort zu Pfand besessenen Berg-, Hiit-
ten- und Forstanteile im und am Harz an den Herzog von Braunschweig-Wolfen-
biittel unwiderruflich abzutreten.6 Der Riickbezug auf diese in der Ereignisfolge
gerade einmal zehn Jahre zuriickliegende Erschiitterung des Goslarer Selbstbe-
wuBtseins diirfte daher an dieser Stelle des Heinecciusschen Textes mit unldngst
fiir jeden halbwegs aufmerksamen Leser eindeutig hergestellt gewesen sein.
Unser Gewahrsmann sieht nun aber eine kausale Verkniipfung zwischen den
seinerzeit zu beklagenden Giiterverlusten und den neuerlichen Liegenschaftser-
werbungen gegeben. Dabei kommt es ihm zudem offenbar zuvorderst auf die
Frage der Forst- und GeholzeinbuBen an, wenn er ohne Umschweife sogleich von
einem bonam Sylvarum partem in vicinia spricht und auf dessen Holznutzungsmog-
lichkeiten eingeht. Auch scheint das bonam dabei mehr als eine bloB quantitative
Angabe auszudriicken. Es diirfte in qualitativer Hinsicht nicht zuletzt im selben
MaBe positiv konnotiert gemeint sein, wie im vorangehenden exuta die miBbilli-
gende Bewertung der Vorgange von 1552 enthalten sein mag.7 Folgt man dieser
implizit wertenden und erklarenden Sicht auf die Geschehnisse, so lautet die er-
kennbare und im Folgenden zu iiberpriifende These: Der Goslarer Rat hat sich
auf der Suche nach ausgleichenden Alternativen fiir die zu verzeichnenden Wald-
5 Ebd., pag. 500.
6 Als neueste, den Forschungsstand spiegelnde Darstelhmg des Gesamtkontextes vgl.
die Aufsatze in: Rammelsberger Bergbau Museum (Hrsg.), Der Riechenberger Vertrag,
Goslar 2004.
7 Vgl. exuo, I,2,b, fS jmd. einerSache berauben,bzw. y als milit. terminus technicus: dem
Feinde etwas abnehmen, ihn zwingen (nothigen) etwas wegzuwerfen, in: Karl Ernst Georges,
Ausfiihrliches Lateinisches Handworterbuch, ND Darmstadt 1998, Sp. 2644- 2645.
54 Cai-Olaf Wilgeroth
verluste im Harz um den Erwerb neuer, fur den stadtischen Holzbedarf nutzbarer
Waldungen bemiiht (cogitavit), und zu diesem Zweck sozusagen eine aktive kom-
pensatorische Giiter- und Ressourcenerwerbspolitik betrieben. Dafiir konnte er
die seitens Walkenried angebotenen Moglichkeiten nutzen und ins nordliche
Harzvorland vorstoBen, wo er bisher - glaubt man Albert Volker, dem Pionier der
Goslarer Forstgeschichte - eigentlich keinerlei territoriale Ambitionen gehegt
hatte.8
Eine derart progressive" Sicht auf die Goslarer Geschichte im Verfolg der un-
leugbaren Zasur des Riechenberger Vertrages kann angesichts dessen, was ge-
meinhin mit der Goslarer Wald- und Ressourcengeschichte dieser Epoche in
Verbindung gebracht wird, einige Faszination beanspruchen. Zum einen ist der
Gedanke kompensatorisch motivierter Giitererwerbungen in dieser Form weit-
8 Albert Volker, Die Forsten der Stadt Goslar bis 1552, Goslar 1922, passim. DaB Vol-
ker in seiner untersuchungsbedingt eingeschrankten Perspektive auf den Harzwald den res-
sourcenokonomischen Blick auf das Stadt-Umland-Verhaltnis vergiBt, mag verstandlich
sein; in jedem Fall ist es angesichts der lokalen montanwirtschaftlichen Konkurrenzsituati-
on nicht vorstellbar, daB sich die Holzokonomie der Stadt Goslar und ihrer Burger nur im
Harzwald abspielte; auch private und kirchliche Liegenschaften des Umlandes muBten hier
mit integriert werden, um den alltaglichen Bedarf zu befriedigen. Gegen Volker sei dabei
etwa an das Kloster Neuwerk und die informellen Moglichkeiten zur EinfluBnahme auf des-
sen wirtschaftliches Gebaren durch die Ratsvormunder verwiesen; dazu schon Alexander
Grundner-Culemann, Die Flurnamen des Stadtkreises Goslar, Teil III: Namen aus dem Be
reich der Feldmark und der Klosterforst, Goslar 1966, S. 29 f. ; allg. auch Erich Schiller,
Biirgerschaft und Geistlichkeit in Goslar (1290-1365). Ein Beitrag zur Geschichte des Ver-
haltnisses von Stadt und Kirche im spaten Mittelalter, Stuttgart 1912, passim; auch Ute R6-
mer-Johannsen, Goslar, Neuwerk, in: Ulrich Faust (Hrsg.), Germania Benedictina Bd. 11:
Norddeutschland. Die Frauenklosterin Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Bremen, St.
Ottilien 1984, S. 250-280, hier S. 255f.; speziell Else Brokelschen, 750 Jahre Neuwerk.
Wandlungen eines Benediktinerklosters, in: Dies., 750 Jahre Kloster Neuwerk, Goslar 1936,
S. 1-46, hier S. lOf. zu den „procuratores, provisores oder Vormunden" seit dem 14. Jahr-
hundert: „Ihre Zahl betrug zwei, drei oder vier. Sie entstammten den alten Ratsfamilien und
wurden vom Rat auf eine bestimmte Zeit ernannt. Bis zur Zeit der Reformation haben sie
die Giiter- und Finanzpolitik des Klosters entscheidend bestimmt [sic!]. Sie geben die Ein-
willigung zu Veranderungen im Klostergut, sie erscheinen als Zeugen bei Kauf und Verkauf
von Renten und Liegenschaften, und sie besorgen die Anlage von Klostergeldern. Sie stel-
len eine Kommission des Rates dar, handeln also nicht selbstandig, sondern sind an dessen
Willen gebunden." Seit dem 14. Jahrhundert ist der nordlich-vorharzerische Besitz des Klo-
sters auffallend stark angewachsen (Romer-Johannsen, ebd., S. 264). Die Frage, ob es bloBer
Zufall ist, daB sich die im 16. Jahrhundert ebenfalls fur die Stadt verloren gegangenen, weil
faktisch an den Herzog von Braunschweig- Wolfenbiittel gelangten Neuwerker Besitzungen
und diejenigen, welche man von Walkenried zu erwerben trachtete, partiell an gleichen Or
ten befanden, sei hier fur den Moment nur in den Raum gestellt. Trachtete man hier, an alte
informelle Verbindungen anzukniipfen? Solches ist z.B. vorstellbar fur Weddingen und Im-
menrode, vgl. Romer-Johannsen, ebd., S. 257-259 und 264; s. unten Kap. 5.
Ressourcenknappheit und reichsstadtische Kompensation 55
hin singular in der Chronistik und Forschungsliteratur zum Goslarer 16. Jahrhun-
dert. Hiergilt gemeinhin einzig die Devise vom beklagenswerten Rumpfbestand
der Goslarer Stadtforst seit 1552. Zum anderen wird der Blick auch vom „ewigen"
Harzwald und - wie zu zeigen sein wird - letztlich sogar vom Bergbau abgewen-
det. Gegeniiber der Einfachheit in Heineccius' Darstellung muB der Grundge-
danke jedoch noch hinsichtlich der nur angedeuteten stadtischen Motivationszu-
sammenhange differenziert und einer Neudatierung unterzogen werden.
Ein noch kurz zu tatigender Blick auf die iibrigen Chronisten dieser Jahre un-
terstreicht Heineccius' Einzigartigkeit, legt ein solcherbei diesen doch entweder
ein konzeptionell bedingtes Desinteresse oder eine - im Ubrigen auch fur spatere
Historikergenerationen typische - historiographische Konditioniertheit im Hin-
blick auf die Goslarer Geschichte der Eriihen Neuzeit offen. Betrachtet man die
Goslarer Chronik des Hans Geismar9 oder diejenige seines Nachfolgers Hans
Caspar Brandes,10 so erfahrtman schlichtweggarnichtsiiberdie VierBerge als al-
ternatives HolzreservoirvordenToren der Stadt Goslarim lG.Jahrhundert; diese
werden ebenso wenig erwahnt wie die Walkenrieder Giiter iiberhaupt. Sofern
Waldkontexte eine Rolle in der Aneinanderreihung von Nachrichten und Anek-
doten spielen, ist es stets der Harzforst, der in den Blick gerat.11 Allenfalls erfahrt
die abholzende Frevelung der Landwehren quasi sensationsheischende Erwah-
nung.12 Abgesehen von wetterphanomenologischen Notizen und Folgen fur die
9 Gerhard Cordes (Hrsg.), Die Goslarer Chronik des Hans Geismar, Goslar 1954.
10 Hans Giinther Griep (Hrsg.), GoBlarische Chronika des Hans Caspar Brandes, Gos-
lar 1994.
11 Am Beispiel Geismar exemplifizierbar: Cordes, wie Anm. 9, S. 123 (1549): Des don-
nersdages na Luciae sint des h: forsters midt 44 marine in dem Klockenbarge gewest, wolden de essel
panden; by den esselen weren 12 borger, do averst de 44 de essel an vellen, sindt de doch dar vanjegaget,
und 4 darvan dodt gschoten, und 10 buren thorn dode gebracht. oder S. 154 (1551) : im Harz seien
etlicke 100 borne midt den worthelen uth der erde geworpen. Donnerdach na s: Katarina wardt Hin-
rick Sluman im Klockenarge dot geschoten.
12 Griep, wie Anm. 10, S. 254 (1667): den 18. Febr. hat Heister von dem Amte Levenburg den
Knick lafien abhauen. Es ist aber als bald solches Ihrfurstl. Durcheluchtigkeiten zu Wolfenbuttel als den
neuen Schutz Herren kund gethan, welcher so fort mit 60 Reutern zu Hulfe gekommen, das alle unset
Furhleut so fort das Holz hereingefahren, das meiste aber der Amtmann ihm und den stifle Hildesheim
sich zu Nutzen machen. DaB es sich bei Landwehrfreveln im Ubrigen ebenfalls um einen nicht
eben geringen Akt der Aggression mit unmittelbarer ressourcenokonomischer Tragweite han-
delt, ist inzwischen Uberzeugung des Verfassers; vgl. abgesehen vom an anderer Stelle darzu-
legenden Beispiel Hildesheim etwa die dezidierte Beschreibung der Landwehr als holt (Ge-
holz) im Register des Amtes Liichow (Klaus Nippert (Bearb.) , Die Register der Amter Liichow
und Warpke (1548-1574), Hannover 1996, S. 37 und 96-98). Die Landwehr nicht nur als sym-
bolischer und kontrollierender Demarkationsbereich bei der arealen Ressourcensicherung,
sondern als kultivierte Ressource selbst, ist bei der Untersuchung von Landwehrkontexten
und -konflikten bisher zu kurz gekommen. Demgegeniiber scheint der strategische Aspekt
56 Cai-Olaf Wilgeroth
Vegetation (Wind, Diirre) stellen Forst und Holzung dabei jedoch stets nur die
Biihne zwischenmenschlicher Auseinandersetzungen dar, ohne selbst Gegen-
stand des Interesses zu werden. An einem fehlenden BewuBtsein fur die prinzipi-
elle Angewiesenheit auf den Rohstoff Holz und dessen Wachstumsraum Wald
kann derlei Ignoranz freilich nicht gelegen haben, solches war - spatestens bei
Brandes - durchaus vorhanden war.13 An hinlanglichem Stoff fur die beliebten
Geschichten voll von Zank und Hader, Mord und Totschlag hatte es in den Vier
Bergen - wie unten darzustellen - allerdings auch nicht gemangelt. Gleichwohl,
hinsichtlich der Vier Berge nur sprichwortliches Schweigen im Walde.
Bei den Walkenrieder Chronisten wiederum erfahren die Verkaufsvorgange
immerhin eine Erwahnung. Ihr Bemiihen um Erklarungen weicht dabei notwen-
digerweise von demjenigen Heineccius' ab. Wahrend ein naturgema.6 berechtig-
tes Desinteresse oder auch die schlichte Unkenntnis der Motive Goslars als Kau-
fer wohl zuzugestehen ist, suchen die betreffenden Autoren vielmehr nach Griin-
den auf der Verkauferseite, also Walkenrieds: Zwar erwahnt auch Johannes
Letzner Ende des 16. Jahrhunderts die Vier Berge in seiner „Wafkenrieder Chro-
nik" u nicht dezidiert bei der Behandlung von des Closters Holtzforsten, Weide, Wie-
iiberbetont. Auch Martin Pries, Die Liineburger Landwehr aus kulturgeographischer Per-
spective, in: Niedersachsisches Jahrbuch fiir Landesgeschichte 78, 2006, S. 1-16, vernachlas-
sigt diesen im 16. Jahrhundert im Rahmen der verstarkten Abgrenzung und Usurpation von
Nutzungsspharen immer wichtiger werdenden Aspekt vollig.
13 Griep, wie Anm. 10, S. 285 (1703): den 2Advend ist ein mdchtiger starker Wind entstanden,
wie Ao 1660 der in Harze grofien Schaden gethan, und ganze Berge sollBdume mit samt Wurtzeln aus
der Erden gerifen, hey den Auerhahnen lagensie iibern Weg, das man nicht hat konnen durchgehen oder
fahren, das man die Wege erstlich aufrdumen miifien, nach diesen ist der Bocksberg bey den Auerhah-
nen diirre worden, und viele andere mehr Berge in den harze. In unsern Holze hat Gott sey gedanket es
so grojse Noth nicht gehabt, als infurstlichen, das man die holzunng nothwendig miifien ab kohlen und
aufhauen lajien. Nach diesen hat die Holzung vonjahren zujahren in harze merklich abgenommen in
diesen 17 secula da man so wohlhohe Ursache hatte, den lieben Gott um ein gutes Gedeyhen und gnd-
dige Beschiitzung vor alien Ungliick zu behiiten, den erstlich kann Er strafen mit Feuer, mit Wind-
sturm, mit den Wurm und Drdgnisse, das uns der Hebe Gott fiir solche Strafe bewahret. Wenn der
Mensch auf der Welt komtt, wenn er von der Welt scheidet mujs Holz dasein, summa man kann weder
Salz noch Bergwerk sonder Holz bauen oder zu gute machen, und wenn der Mensch die aller Kostbahr-
sen Speisen auf der Welt hatte und in der Kdlte sollte EJsen, und ohne Salz gleich falls so ware ihn da-
mit nichts gedient, wie davon Doctor Luther in seinen Tischreden gedenket, fol. 130 da er spricht Holtz
ist der grofiten und nbthgisten Dinge eins in der Welt, das man bedarfund nicht entbdhren kann. Gott
giebet uns zwar was zu unserer Leibes nahrung und Nothurfgehbret, aber wegen unserer Siinde entzie-
het Er es uns bfters. Dieweil nun die starke Holzung abnimt als lafitE.E. Vester Rath der Stadt Goslar
das Gemeine Stadtwese(n), was die alien an die Wafier oder sonsten hierund da mit Holz gebauet, von
jahren zujahren wen esfaul ist und einfallt mit Mauerwerk wieder machen, und werden die Steine an
Sudner Berge gebrochen.
14 Fritz Reinboth (Hrsg.), Johannes Letzner: Die Walkenrieder Chronik. [. . .] (1598),
Walkenried 2002.
Ressourcenknappheit und reichsstadtische Kompensation 57
sen, Garten und dem dabei liggenden Ackerbaw (Cap. 30). Er zahlt sie jedoch zusam-
men mit einem Teil der iibrigen Walkenrieder Giiter in und bei Goslar im Zuge
der Wiirdigung von Begabungen des Klosters durch etliche Burger aus den Stddten
und andere wolmiigenden Leutte (Cap. 15) auf, um sogleich zu beklagen, daB dieser
Stiick viel sindt aus Unfleis und Unachtsamkeit von abhanden bracht und unnterschlagen,
auch zum Teil durch Uneinigkeit der Conventualn verhandelt und verpartieret wurden.15
Heinrich Eckstorm, der beriihmte Prior des Klosters, registriert diese Giiterver-
schiebungen in seinem „Chronicon Walkenredense" lediglich, spricht in zitieren-
der Kenntnis der verfaBten Vertrage auch von der sylva, dimidio miliari a(b) Goslar
distans.16 Uberdie moralische wiejuristische RechtmaBigkeit derVerauBerungen
gibt erkein Urteil ab, was moglicherweise dem mittlerweile in diesen Angelegen-
heiten anhangigen Verfahren beim Reichskammergericht geschuldet war.17 Jo-
hann Georg Leuckfeld schlieBlich erwahnt in seiner Abhandlung der zum Stift eh-
mahls gehdrten Hdlzungen die Vier Berge und ihre Verpachtung am Unterholz an
Goslar ausdriicklich (nebst weiteren dortigen Geholzen, die ebenfalls Bestandteil
der einstigen Vertrage waren) . 18 Gleiches gilt fur die iibrigen Liegenschaften, wie
den Closter=Hoff, und ihren Besitzerwechsel. Da Leuckfeld seinerseits jedoch um
Heineccius' Arbeit an den „Goslarer Antiquitaten" wuBte, mochte er sich nach ei-
gener Aussage an gegebener Stelle nicht weiter iiber die Walkenrieder Liegen-
schaften bei Goslar verbreiten.19 Wenn wir nach einer Beurteilung der Verkaufe
fragen, so finden wir diese vor allem indirekt in Leuckfelds weitgehend negativer
15 Ebd., S. 68f.
16 Heinricus Eckstorm, Chronicon Walkenredense sive catalogus abbatum [. . .],
Helmstedt 1617, pag. 241: A.C. 1563. Hermannus Abbas & Conventuales verndunt Senatui Gosla-
riensi Sacellum e(x) regione curia Walkenredensis situmpro 160. Vallensibus. Ex sacello Senatus fecit
duas aides, easq(ue) cuibus habitandas heat., pag. 260-262 zu den Giiterverkaufen an Goslar
zwischen 1543 und 1579 insgesamt, die Vier Berge werden pag. 262f. behandelt.
17 Vgl. unten Kap. 6
18 Johann Georg Leuckfeld, Antiquitates Walckenredenses, oder Historische Beschrei-
bung der vormals beriihmten Kayserl. Freyen Reichs-Abtey Walckenried [. . .] Theil 2: han-
delnd von allerhand darinnen vorgegangenen Closter-Sachen, Leipzig und Nordhausen
1705, S. 438.
19 Ebd., S. 448 (§ 4 zum Closter=Hoff in Goslar): dahero (ich) mich in weiterer Anfuhrung
nicht aufhalten will, gleichwie auch nicht in ausfuhrlicher Beschreibung des genanten Closter=Hofes /
von welchem vermuthlich daselbst der an der Franckenberger Kirchen stehende gelahrte Prediger Hen
M. Heineccius in seiner unterhanden habenden Goslarischen Chronicke ein mehres aus alten Documen-
ten beybringen wird. Hier wird en passant ein Aspekt erwahnt, der bei der Beurteilung der
Informiertheit unserer Gewahrsleute sicherlich nicht ganz vernachlassigt werden darf: die
unterhanden habenden alten Documente - Heineccius hatte mit dem Goslarer Ratsarchiv sicher-
lich einen besseren Fundus als Leuckfeld, da das Walkenrieder Archiv eine sehr „wechsel-
volle Geschichte" nebst einigen zu vermutenden Verlusten zu erdulden hatte (vgl. Alphei,
wie Anm. 22, S. 734).
58 Cai-Olaf Wilgeroth
Einschatzung derdabeijeweils agierenden Abte oderPrioren. Fiirihn handelte es
sich schlichtweg um einen Ausverkauf der Klostervermogens, insofern waren
ihm die Interessen der Kaufer dabei nebensachlich.20
Ein konzeptionell bedingtes Ausblenden der Perspektive des Geschaftspart-
ners ist bei der auf die eigentliche Klostergeschichte fokussierten Primarliteratur
sicherlich verstandlich. Wieso sollte man sich auch aus Walkenrieder Perspektive
Gedanken iiber die Motive der stadtischen Ankaufer vormaligen Klosterbesitzes
machen? Vom hiesigen Interessiertheitsstandpunkt aus waren vielmehr Klagen
iiber die unvermeidlichen VerauBerungen Bestandteil der literarischen Darstel-
lungsabsicht - vor allem eben in derklosternahen geistlichen Chronistik.21 Ahn-
liches gilt auch fur die von Walkenried her denkende Forschungsliteratur.22 An-
gesichts ihrer Fragerichtung beachtet sie die Goslarer, Gottinger oder Nordhau-
ser23 Motive bei den jeweiligen Erwerbungen nicht.
20 Besonders deutlich am Beispiel des Abtesjohannes Holt-Egel (Leuckfeld, wie Anm.
18, S. 91-96, bes. 95) oder des Prokurators und Subpriors Liborius Hirsch (ebd. S. 108-110
undS. 131-133).
21 So zeigt etwa Leuckfeld, wie Anm. 18, S. 449, deutlich an, was er von den VerauBe-
rungen der Klosterguter an den Goslarer Rat halt, wenn er beispielsweise bemerkt, daB, ah
aber die Closter=Guther hin und wieder verkauffet und durchgebracht wurden, auch Abt Herman be-
reits die Closter=Capell in solcher Stadt nicht weit von diesem Hofe imjahr 1563 vorkahle [sic!] 160
Thaler an den Rath daselbst uberlassen hatte [. . .].
22 Sie ist weitgehend gesammelt bei Cord Alphei, Walkenried, in: Ulrich Faust (Hrsg.),
Germania Benedictina Bd. 12: Norddeutschland. Die Manner- und Frauenkloster der Zi-
sterzienser in Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Hamburg, St. Ottilien 1994, S. 678-
742, bes. 730-734; grundlegend: Nicolaus Heutger, 850Jahre Kloster Walkenried, Hildes-
heim 1977 (2007 unter dem Titel „Kloster Walkenried: Geschichte und Gegenwart" iiberar-
beitet neu erschienen, vom Verfasser aber nicht mehr eingesehen).
23 Von der Forschung anscheinend unbemerkt waren seinerzeit fast auch die Nordhau-
ser Liegenschaften im Falle der volligen Zerschlagung des Konvents und einer dann nicht
mehr zu leistenden Bewirtschaftung an den dortigen Rat verschrieben worden, vgl. dazu:
Das Kloster Walkenried in der Uberlieferung des Stadtarchivs Nordhausen, bearb. v. Peter
Kuhlbrodt und Fritz Reinboth, Nordhausen 1995, Urk. Nr. 1-9. (Alphei, wie Anm. 22,
S. 691). Alphei (ebd., S. 690f.) benennt nur die potentiellen GiiterverauBerungen in Gottin-
gen. Die Frage der stadtischen Initiative oder Interessiertheit bei derartigen Giitertransak-
tionen scheint in der Forschung gar nicht gestellt; das Kloster wird zum Initiator und Anbie-
ter, und es werden lediglich zisterziensische Griinde angefiihrt: administrative Not, wirt-
schaftlicher Bankrott und Wertverlust der Besitzungen besonders nach dem Bauernkrieg
1525 (vgl. ebd, S. 694). DaB gerade die Stadte hier aber nicht bloB eine sich unvermittelt
bietende Gelegenheit zur Gutervermehrung bereitwillig nutzten, sondern mit einigem Vor-
lauf an stadtischer Initiative und taktischem Kalkiil durchaus gerechnet werden muB, ver-
mag auch das Beispiel der Altstadt Hildesheim und der Zisterze Marienrode zu zeigen; vgl.
dazu dann die entsprechenden Abschnitte in Wilgeroth, wie Anm. 1. (vorauss. Kap. IV.2
Provisoren und Zisterzen. Stadt und Kirche treffen sich im Wald: Neuwerk, Marienrode
und Walkenried).
Ressourcenknappheit und reichsstadtische Kompensation 59
Weniger verstandlich sollte allerdings das Aufmerksamkeitsdefizit in der auf
Goslar konzentrierten Forschungsliteratur sein, insbesondere weil diese sich
groBtenteils um montanwirtschaftliche und somit ressourcenokonomische Fra-
gen dreht. Da hier nicht der Platz ist, das gesamte Untersuchungsspektrum zur
„Nach-Riechenberg-Geschichte" Goslars zu besprechen, muB es weitgehend bei
der Benennung dieser Diagnose bleiben.
Nurso viel sei summarisch festgehalten: Bis auf Heineccius stelltnurnoch C. E.
P. Holzmann als Herausgeber des „Hercynischen Archivs" im 19. Jahrhundert
den Erwerb der Walkenrieder Giiter nebst der Vier Berge und die Verluste im Be-
reich von Berg- und Hiittenwesen sowie Harzwaldungen in einen quasi-ursachli-
chen Zusammenhang: „IndeB hatte die Reformation im Gegentheile auch sehr
gute Folgen fiir Goslar [. . .] Das Coster Walkenried hatte langst schon in hiesiger
Gegend betrachtliche Giiter besessen, deren Benutzung der Stadt sehr vorteilhaft
hatte sein konnen. [. . .] Die Reformation begann und griff immer weiter um sich,
und wo dies geschah, da muBten die Closter unnennbar verlieren. Ganz dasselbe
fand auch Statt bei Walkenried, das oft gezwungen war, zu verkaufen und zu ver-
pfanden. Gestiitzt auf kaiserliche Privilegien, im Falle derNoth, Besitzungen ver-
auBern zu diirfen, hatte dieses Closter manche der letztern verschiedentlich an
Goslar auf bestimmte Jahre verkauft oder vielmehr verpfandet. Dabei gewann
Goslar natiirlich sehr [. . .] ".24 Im Gegensatz zu Heineccius ist Holzmann offenbar
noch etwas besserinformiert und bespricht, wenngleich fragmentarisch, die auch
uns interessierenden Pacht- und Kaufvertrage bereits ab 1543 (bis 1579) . Sein Fa-
zit hierzu lautet, daB zwar die von Goslar zu zahlenden Pachtsummen sehr hoch
gewesen seien, und gerade die erworbenen Holzungen nicht so viel Barschaft ein-
gebracht hatten - angeblich „weil damals des Holzes noch mehr in diesen Gegen-
den wuchs und der Preis geringer war". Unter dem Strich habe die Stadt aber bei
alldem mehr gewinnen konnen als das entferntere Walkenried, insbesondere weil
der 1562er-Vertrag wegen der Vier Berge so wichtig gewesen sei.25
Abgesehen davon, daB Holzmann im Hinblick auf die Holzpreis- und Waldzu-
standsfrage irren diirfte, bleibt doch seine Diagnose richtig: Angesichts des dro-
henden Verlustes von Bergwerken und Forsten hatten die Goslarer Verantwortli-
chen in der Schwebephase vor dem Riechenberger Vertrag „einige fiir sie sehr
wichtige Vertrage mit Walkenried geschlossen" und sich somit die betreffenden
Giiter auch iiber einen solchen Einbruch der stadtischen Besitzstande hinaus ge-
24 Christian Erdwin Philipp Holzmann, Irrungen zwischen Braunschweig-Wolfenbiit-
tel und Goslar wegen Walkenried; mit Urkunden, in: Ders. (Hrsg.), Hercynisches Archiv
oder Beitrage zur Kunde des Harzes und seiner Nachbarlander. Einziger Band, Erstes bis
viertes Stuck, Halle 1805, S. 84-102, hier S. 85f.
25 Holzmann, wie Anm. 24, S. 88 f.
60 Cai-Olaf Wilgeroth
sichert.26 Die noch bei Heineccius mit cogitavit auf Seiten der Goslarer Stadtvater
gesuchte Initiative expliziert Holzmann freilich nicht mehr.
Diejenige moderne Goslarliteratur, welche die keineswegs unbekannten Gii-
terverhandlungen iiberhaupt beachtet, ignoriert den durch Heineccius explizier-
ten und von Holzmann aufgegriffenen Befund von einerbewuBten, kompensato-
rischen Wald- und Ressourcenerwerbung seitens derStadt, obwohl erbei griind-
licher Durchsicht der stadtarchivischen Findbiicher (B-Bestand) durchaus ins
Auge springt.27 Sogar Karl Bruchmann, langjahriger Stadtarchivar, benennt die
Vorgange und ihre Ursachen lediglich klosterlicherseits: „Da entstand mit der
Reformation, die in Goslar 1528 Eingang fand, eine vollig neue Lage. [. . .] in
Thiiringen [. . .] wurden die benachbarten Kloster gebrandschatzt und zerstort.
Diesen landfriedenbrecherischen Unternehmungen fiel auch das Kloster Wal-
kenried schon 1525 zum Opfer. Es ist nun interessant festzustellen, welche Folge-
rungen Kloster Walkenried gerade in bezug auf Goslar, wohin iibrigens einige
Klosterinsassen beim Heranziehen der Bauern gefliichtet waren, und seinen hie-
sigen Besitz aus all diesen Geschehnissen zog".28 Bruchmanns Ausfiihrungen
miinden in eine Edition des ihm immerhin bekannten ersten Vertrages zwi-
schen Stadt und Kloster vom 11. November 1533. Der Autorgibt den Vorgangen
dann aber doch eine schiefe Gewichtung, wenn er resiimiert: „Wie eindrucksvoll
spricht aus diesem Dokument die Not des Klosters zu uns, das nach der 1525 er-
folgten Zerstorung offenbar die Hoffnung auf einen Wiederaufbau bereits aufge-
geben hatte. Man warjedenfalls darauf bedacht, sich wenigstens einen Platz zu si-
chern, wo man noch ungestort durch all den Aufruhr leben konnte, wohin man
ausweichen konnte. [. . .] Allerdings wird man andererseits annehmen diirfen,
daB die Stadt gern die Moglichkeit ergriff, diesen Klosterbesitz an sich zu brin-
gen; denn alle geistlichen Niederlassungen innerhalb der Stadtmauern wurden
bei allerreligiosen Einstellung des mittelalterlichen Menschen doch in den Stad-
ten wegen der ihnen zustehenden oder von ihnen erlangten Sonderrechte irgend-
wie als Fremdkorper in den Stadten empfunden. Hier konnte also Goslar auf vol-
lig legitimen Wege einen solchen geistlichen EinfluB ausschalten und zugleich
seinen Besitz mehren, was vielleicht um so wichtiger war, als ihm wenige Jahre
zuvor sein Bergwerks- und Forstbesitz weitgehend entgangen war." Nur in diesem
letzten Nebensatz klingt der unseres Erachtens dominierende Kompensations-
sachverhalt iiberhaupt an. Aber selbst die im weiteren Text dezidiert benannte
26 Ebd., S. 86.
27 Spatestens seit Grunder-Culemanns Flurnamenwerk miiBte man fur die Besitzver-
schiebungen im Harzvorland zugunsten Goslars eigentlich sensibel gewesen sein (vgl.
Grundner-Culemann, wie Anm. 8, insbes. S. 32-34 und S. 46).
28 Karl Bruchmann, Goslar und Walkenried. Alte Bindungen iiber den Harz, in: Gosla-
rer Bergkalender (1960), S. 38-45.
Ressourcenknappheit und reichsstadtische Kompensation 61
Erwerbung des Walkenrieder Forstbesitzes der Vier Berge wird von Bruchmann
nur en passant registriert, und die klosterliche anstatt der stadtischen Perspektive
als Erklarung perpetuiert.
Diese Befunde sind durchaus symptomatisch fiir die historiographische Be-
schaftigung mit der „Nach-Riechenberg-Phase" der Goslarer Geschichte. Die fiir
die Friihe Neuzeit schon fast identitatsstiftende „Meistererzahlung" vom Nieder-
gang einer dereinst bliihenden Bergbau-Metropole am Harzrand im Verfolg der
Ereignisse um den Riechenberger Vertrag, die ewige Litanei auf die Gruben-,
Hiitten- und eben auch Harzwaldverluste, hat nicht zuletzt die Perspektive und
Wahrnehmung der Forschung in und um die Reichsstadt lange Zeit gepragt:
Goslarund derBergbau, Goslar und derHarzwald -jenseits dieses Beziehungs-
geflechtes gab es anscheinend nichts zu forschen. Mit Riechenberg 1552 ging
hier eine dereinst ruhmreiche Epoche jah zuende, danach gab es nur noch AnlaB
zu „Katzenjammer".
Dieser forschungsgeschichtliche Befund ist zugegebenermaBen sehr pointiert
und trifft angesichts der jiingsten Goslarstudien, die sich erfreulicherweise viel-
fach besonnen und neuorientiert haben, auch langst nicht mehr zu.29 Auch fiir die
Friihe Neuzeit wurden mit von Zweckoptimismus und Pragmatismus getragenen
Entwicklungen Lichtblicke erkennbar. Dennoch: Im Hinblick auf den Wald, sah
man - so laBt sich der forschungsgeschichtliche Befund nach wie vor in einem
passenden Wortspiel zusammenfassen - bisher den Wald im Umland vor lauter
fehlenden Baumen im Harz nicht. Dies ist umso bedauerlicher, als waldwirt-
schafts-, forstnutzungs- und umweltgeschichtlich auswertbare Quellen zum ei-
gentlichen Goslarer Stadtforst fiir das 16. Jahrhundert (seit Riechenberg) weitge-
hend fehlen. Sie flieBen erst im 17. Jahrhundert reichlicher. Fiir die Phase davor,
kann aber die Geschichte der Vier Berge und ihrerNutzung „einspringen". Auch
sie kann uns etwas iiber die im Sombartschen Sinne30 „holzern gepragten" Be-
diirfnisse, Nutzungsweisen, Vorstellungen und Neuorientierungen auf Seiten der
Verantwortlichen in einer seit 1552 nicht mehr nur ausschlieBlich bergbaulich in-
teressierten Stadt erzahlen.
29 Vgl. zur Revision des iiberkommenen Geschichtsbildes die Beitrage in Rammelsber-
ger Bergbau Museum, wie Anm. 6.
30 Dem Wirtschaftshistoriker Werner Sombart verdankt die vormoderne Epoche ihre
Charakterisierung als Zeitalter von „ausgesprochen holzernem Geprage". Er hob damit auf
die Allgegenwartigkeit und Unabdingbarkeit der „Zentralressource" Holz ab (vgl. Werner
Sombart, Der moderne Kapitalismus. Historisch-systematische Darstellung des gesamteu-
ropaischen Wirtschaftslebens von seinen Anfangen bis zur Gegenwart, Bd. II/2: Das euro-
paische Wirtschaftsleben im Zeitalter des Friihkapitalismus, vornehmlich im 16., 17. und 18.
Jahrhundert, Berlin 81969, S. 1138; zum Begriff Zentralressource: Rolf Jiirgen Gleitsmann,
Aspekte der Ressourcenproblematik in historischer Sicht, in: Sripta Mercaturae 15, 1981,
Heft 2, S. 33-89, passim).
62 Cai-Olaf Wilgeroth
2. Walderwerb: Goslar und Walkenried zwischen Reformation,
Riechenberger und Territorialisierung.
Es soil zunachst darum gehen,jene Schritte nachzuzeichnen, in welchen Goslar
und Walkenried zueinander fanden und vertragseinig wurden. Dafiir seien vorab
die lokalen Rahmenbedingungen der Giiterverhandlungen kurz in den Blick ge-
nommen.
Aus dem bereits angedeuteten zweiten, fruhneuzeitlichen „Griindungsmy-
thos" der Stadt Goslar,31 also Riechenberg und seinen Folgen, mag angesichts des
in groben Ziigen allgemein bekannten Geschehens nur das fur unser Thema we-
sentliche skizziert werden: Mit seinem Erfolg in der Hildesheimer Stiftsfehde
(1519-1523), wie erim QuedlinburgerRezeB fixiert worden ist, fielen dem Braun-
schweig-Wolfenbiittelschen Herzog Heinrich dem Jiingeren zugleich enorme
Geldmittel wie Gebietsteile des Hochstiftes Hildesheim zu. Dies lieB ihn gleich in
doppelter Hinsicht mit der Reichsstadt Goslar aneinandergeraten: Das Geld
ermoglichte es ihm, ab derMitte der 1520erjahre die seitens der Stadt generatio-
nenlang ungestort zu Pfand besessenen Forstbesitzungen im Harz (1525/1526)
sowie den Bergzehnten des Rammelsberges (1527) einzulosen und sogleich in
Eigenregie zu nutzen. Die Gebietsgewinne wiederum deckten sich mit den Hil-
desheimischen Amterbezirken Vienenburg, Wiedelah und Liebenburg unmittel-
bar bei Goslar, was fur uns besonders wichtig ist, da die Vier Berge und Walken-
rieder Giiter auf eben diese Amter verteilt lagen.
Was folgte, ist weithin bekannt: Die Stadt wollte (und konnte) nicht so, wie der
Herzog wollte, so daB man unweigerlich in Streit iiber den Wald und das Montan-
wesen geriet.32 Der Herzog sperrte „seine" Walderfiir die stadtischen Holz- und
Kohlebediirfnisse, die Stadt zog vor Kaiser und Reichskammergericht und be-
miihte sich, die Angelegenheit im Kontext der reformatorischen Wirren dem
Schmalkaldischen Bund als causa religionis zu verkaufen, um die Unterstiitzung
der Bundesfiirsten zu erlangen.33 Nach jahrelangem ebenso handfesten wie pa-
31 Em erster, mittelalterliche Mythos kniipft sich mit all seinen legendaren wie histori-
schen Zutaten an die Entdeckung der Silber- und Erzvorkommen am Rammelsberg und ih-
re spatmittelalterliche Ausbeutung unter stadtischer Regie.
32 Vgl. exemplarisch die weitgehend bergrechtsgeschichtliche Untersuchung von Paul
Jonas Meier, Der Streit Herzog Heinrichs des Jiingeren von Braunschweig- Wolfenbiittel
mit der Reichsstadt Goslar um den Rammelsberg, Goslar 1928.
33 Gundmar Blume, Goslar und der Schmalkaldische Bund 1527/31-1547, Goslar 1969;
Friedrich Seven, Die Goslarer Reformation und der Kampf um den Rammelsberg, in:Jahr-
buch der Gesellschaft fur niedersachsische Kirchengeschichte 94 (1996), S. 75-93; allg. Ga-
briele Haug-Moritz, Der Schmalkaldische Bund 1530-1541/42: eine Studie zu den genos-
senschaftlichen Strukturelementen der politischen Ordnung des Heiligen Romischen
Reichs Deutscher Nation, Leinfelden-Echterdingen 2002.
Ressourcenknappheit und reichsstadtische Kompensation 63
pierenen Hin und Her inklusive herzoglichem Exil von 1543 bis 1547 muBte sich
die Stadt 1552 im Riechenberger Vertrag einem „Diktatfrieden" unterwerfen und
dabei den groBten Teil der bisher genutzten Forsten im Harz abtreten. Ein der
Stadt weiterhin gewahrter Rumpfbestand deckte sich nahezu mit dem spateren
Stadtforst. Dort behielt sich der Herzog allerdings die Forst- und Jagdhoheit vor,
die Goslarer durften ihr Vieh weiden und Holz einschlagen, sowie die praktische
Seite der Forstwirtschaft eigenverantwortlich betreiben.34
Vor diesem Hintergrund soil nur auf die Aspekte der stadtischen Holzversor-
gung und des Waldverlustes hingewiesen werden. Die Sperrung der nunmehr
auch de facto herzoglichen Walderund die Restriktion der Ko hie- und Holzliefe-
rungen bedeutete nach Ausweis der Akten vor allem fur die stadtischen Hiitten-
betreiber einen herben Schlag. DaB sie jedoch nicht die einzigen Betroffenen wa-
ren, laBt die montanhistorisch iiberlagerte Goslarforschung bisweilen ebenso
vergessen, wie es im Konflikt selbst auf den ersten Blick kaum eine explizite Rol-
le zu spielen schien. Dennoch zeigen unzahlige Konfliktprotokolle im Goslarer
und Wolfenbiittler Archiv ein gesellschaftlich breiteres und alltagliches Betrof-
fenheitspotential - auch schon in den Jahren des forsthoheitlichen Schwebezu-
standes zwischen form eller Auf kiindigung der forstlichen Pfandbesitzverhaltnis-
se (1525/1526) und Riechenberger Vertrag (1552). 3S Die gesamte Einwohner-
schaft war von den Waldverlusten auf die eine oder andere lebenspraktische Art
und Weise betroffen. Denn - mit Ernst Schubert gesprochen - der Wald war die
unabdingbare energetische wie materielle Lebensgrundlage der spatmittelalterli-
chen Stadt.36 Gerade die permanente Konkurrenzsituation zwischen den berg-
und hiittenmannischen Holzinteressen einer prosperierenden Montanwirtschaft
einerseits und den alltaglichen Waldanspriichen einer an eben diesem montan-
wirtschaftlichen Erfolg demographisch wachsenden „Restbevolkerung" anderer-
seits lieB sich prinzipiell nur durch flachenhafte Ausdehnung der Waldnutzung
entzerren. Der Rat hatte im 15. Jahrhundert nicht umsonst Walderwerbspolitik
betreiben miissen.37 Nach 1525 sahen sich alle stadtischen Interessensgruppen
34 Im Vertragsexemplar des Stadtarchivs in Goslar finden sich die hier entscheidenden
Passagen im Abschnitt Zum sechstn (StA GS Urk. Stadt Goslar Nr. 1223, fol. 2r).
35 Der Verfasser bereitet im Rahmen seiner Dissertation neben der sozial-, wirtschafts-,
forst- und umweltgeschichtlichen Auswertung auch eine Edition dieser im Stadtarchiv
Goslar in den Gravamina des Forstes [. . .] vomjahr 1525 bis insjahr 1 536 gesammelt vorliegen-
den Konfliktprotokolle vor (StA GS B 2268; die auf dem Titelblatt bei Anlage des Stiicks ur-
sprunglich angegebene Laufzeit wird in der heute gebunden vorliegenden Kompilation je-
doch noch uberschritten).
36 Ernst Schubert, Der Wald: wirtschaftliche Grundlage der spatmittelalterlichen Stadt,
in: Bernd Herrmann (Hrsg.) , Mensch und Umwelt im Mittelalter, Stuttgart 1986, S. 257-274.
37 Auch fur den von der Forschung herausgearbeiteten Nexus zwischen dem Goslarer
Ubertritt zur Reformation bzw. zum Schmalkaldener Bund und den Auseinadersetzungen
64 Cai-Olaf Wilgeroth
am Wald plotzlich auf ein rein politisch definiertes areales Minimum zuriickge-
worfen. Und die ortlichen Auseinandersetzungen nach 1552 in eben den neural-
gischen Kontexten Holzwirtschaft und Weidenutzung an den neuen Grenzberei-
chen des jetzigen Stadtforsts (und dariiber hinaus) verdeutlichen, wie wenig aus-
reichend der verbliebene Waldbezirk fur die obwaltenden Anspriiche der
Gesamtstadtbevolkerung war.
Abgesehen von diesen ganz konkreten Einschrankungen, mit denen man sich
bei der Waldressourcenversorgung jetzt tagtaglich zu arrangieren hatte, wenn
man nicht mit den wenig zimperlichen herzoglichen Untertanen und Bedienste-
ten aneinandergeraten wollte, ist dabei noch ein weiteres Moment zu bedenken:
Auch mentalitatsgeschichtlich diirfte es nur schwer zu verkraften gewesen sein,
daB man sich als Goslarer plotzlich mit exkludierenden Forstherrlichkeiten kon-
frontiert sah, wo zuvor fur die Stadt und ihre Bewohner in naturraumlicher Hin-
sicht nahezu Grenzenlosigkeit geherrscht hatte. Obwohl man den Wald - in wel-
chem tatsachlichen Zustand er auch gewesen sein mag38 - vor Augen hatte, durf-
te man ihn nicht mehr ungehindert fiir die eigenen Bediirfnisse nutzen.
Angesichts dieser realen wie mentalen Einschnitte in der Goslarer Wald- und
Holzsituation ist es daher spannend zu sehen, wie der Rat sich um eine Losung
mit Heinrich demjiingeren um die Ressourcen des Harzes laBt sich im selben MaBe die Un-
terworfenheit des (Engeren) Rates unter eine ressourcenfokussierte „Volksstimmung" in der
Stadt verdeutlichen. Es waren die Gilden, Bergknappen und der „gemeine Mann", welche
als treibende Kraft die Reformation in Goslarer gegen den eigentlichen Wunsch der lange
kaisertreuen Ratsgeschlechter erzwangen (vgl. Uvo Holscher, Die Geschichte der Refor-
mation in Goslar, Hannover 1902, insbesondere S. 35 ff.).
38 Herzog und Stadt warfen sich in Zuge der Auseinandersetzungen gegenseitig die De-
vastierung der Waldungen vor. Insbesondere der Herzog benutzte dieses Argument zur
Rechtfertigung seiner Restriktionshaltung in puncto Holz und Kohlen - es gehe um die Scho-
nung der seitens der Stadt arg zerhauenen Walder, wolle man noch langer einen Nutzen davon
haben (z.B. herzoglicher Vorwurf: StA GS B 2272, Litiscontestatio cum annexa exceptione
peremptoria Herzogen Heinrichs desjungern, 1530 Marz 18, fol. 2 r; stadtischer Komplementarvor-
wurf: StA GS B 2275, Briefbuch, unpag., z. J. 1535/1536). Es bleibt die von Joachim Radkau
aufgeworfene Gretchenfrage der Forstgeschichte, inwieweit man derart tendenziosen Aussa-
gen realitatsabbildenden Gehalt zubilligen mochte (vgl. jetzt zusammenfassend Joachim
Radkau, Holz. Wie ein Naturstoff Geschichte schreibt, Miinchen 2007, S. 97401, 150-152 und
157-159). Halbwegs objektive Forstbeschreibungen liegen fiir die erste Halfte des 16.Jahrhun-
derts noch nicht vor. Da der Wald aber in groBeren zeitlichen Dimensionen funktioniert, las-
sen sich Ruckschlusse auf den einstigen Waldzustand auch aus sehr viel spateren Schriftquel-
len Ziehen; Peter-Michael Steinsiek hat sich hierum bemiiht; er spart jedoch die eigentliche
Goslarer Stadtforst aus seinen Betrachtungen aus (vgl. Peter-Michael Steinsiek, Nachhaltig-
keit auf Zeit. Waldschutz im Westharz vor 1800, Munster 1999). Fiir diese Bestande liegt die
erste stadtische Forstbesichtigung erst zumjahre 1692 vor (StA BS B 2326) . Die angrenzenden
Harzwaldungen erfahren ihre forstwirtschaftliche Bestandaufnahme erst seit der Mitte des
16. Jahrhunderts. Da der Stadtforst in seinen Grenzen jedoch ein politisches Konstrukt ist,
Ressourcenknappheit und reichsstadtische Kompensation 65
derresultierenden Probleme bemiihte: Ganz zu schweigen von den militarischen
Anstrengungen im Schmalkaldischen Krieg, machten sich die Stadtvater neben
ihren juristischen Revindikationsbemiihungen vor Kaiser und oberstem Reichs-
gericht (welche nie zu einem formellen Ende kommen sollten) auf die Suche nach
neu zu erschlieBenden Rohstoffquellen. Man fand sie vor den nordlichen Toren
der Stadt, wo sich die Giitermasse des im Bauernkrieg39 stark in Mitleidenschaft
gezogenen Zisterzienserklosters Walkenried zum Verkauf anbot.
Umweltgeschichtstheoretische Anklange: Was nachfolgend ausgefiihrt wird, soil
vor dem Hintergrund des Riechenberger Vertrages und in Anlehnung an das vom
Schweizer Umwelt- und Klimahistoriker Christian Pfister in die Umweltge-
schichtsschreibung eingebrachte „1950er-Syndrom"40 etwas plakativals „1552er-
Syndrom" umrissen werden. Pfister hob mit seiner Begriffpragung auf die ener-
giegeschichtlichen Veranderungen in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts ab,
als die Umstellung der weltweiten, industriellen Energiewirtschaft von Steinkohle
auf Erdol in allerKonsequenz stattfand. Der GoslarerRat vollzogim lG.Jahrhun-
dert natiirlich keine Umstellung im Bereich des Energiegrundstoffes, um die
Waldverluste und damit verbundene Holzknappheit zu kompensieren. Selbst
wenn damals in Teilen Niedersachsen bereits Steinkohle gefordert wurde,41 sollte
Holz doch bis ins 19. Jahrhundert als Energietrager weithin ohne Konkurrenz
bleiben.
Unter dem „ 1552er-Syndrom" soil hier eine unseres Erachtens im Zuge des 16.
Jahrhunderts auf Seiten des Rates zu erkennende Umorientierung im Umgang
mit dem Ressourcenreservoir Wald verstanden werden, welche durchaus mit den
sich wandelnden holzrohstofflichen Bedarfsstrukturen und forstlichen Eigen-
tumsverhaltnissen korrespondiert haben konnte, denen die Stadt sich seit der
zweiten Jahrhunderthalfte gegeniiber sah.
Im Folgenden sollen daraufhin die vertraglichen Ubereinkiinfte derjahre zwi-
schen 1533 und 1579 betrachtet und hinsichtlich ihrer Ursachen, Inhalte, Zusam-
menhange und Rahmenbedingungen vor allem aus stadtischer Sicht besprochen
werden die dortigen Zustande zunachst nicht wesentlich von denjenigen der herzoglichen
Nachbarwaldungen abgewichen sein. Angesichts der Goslarer Montanwirtschaft ist vielmehr
von einer quasi-konzentrischen Degradation der Walder um die Stadt herum auszugehen.
39 Vgl. den Uberblick bei Heutger, wie Anm. 22, S. 60-62 (Walkenried im Bauern-
krieg): Der Bauernkrieg habe dem Kloster Walkenried Wunden geschlagen, von denen es
sich nie wieder erholen konnte (Alphei, wie Anm. 22, S. 715).
40 Christian Pfister, Das 1950er Jahre Syndrom. Eine Epochenschwelle der Mensch-
Umwelt-Beziehungen zwischen Industriegesellschaft und Konsumgesellschaft, in: GAIA 3
(1994), Heft 2, S. 71-90.
41 Vgl. den Beitrag von Dirk Neuber in diesem Band.
66 Cai-Olaf Wilgeroth
werden. Die Texte liegen teilweise im Original, teilweise abschriftlich im Stadtar-
chiv Goslar vor.
Wyr Paulus, abt, [. . .J, undderganze convent unser closters Walckenridenn [. . .] bekennen
[. . .] : Nachdem und dieweil sich die dingallenthalben wunderlich begeben undauch man-
cherley ufruhr, emporunge und bewegunge des gemeinen volks erheben, auch in dieser selbti-
gen ufriirischen und lesten zeyten vyl closter in landen und furstenthiimben werden vorstort,
vorwiist, als das die ordensperson allenthalben umbher in den selbtigen landen und fur-
stenthiimben zu hoen und spot der ganzen religion kein hiilf ader schirm habend im elende
laufen, das wir uns auch also uns dan bereit im ersten ufrhiir einmal widerfaren und besche-
en, das bemelt unser closter durch die aufruhrerischen bauern obgewiinnen, alles was dorin-
ne nicht allein, sondern auch was dorauf&en ufdem lande zustendig ist befunden, zubrochen,
entwanth, genommen, verzert und vernichtiget wurden, [. . .] so haben wir vorangezeithe
auch andere unsere beswerende ursachen zum capitel in unserm vorgenannten closter und an
gewontlicher stadt vorsamlet notdiirftiglich bedacht und sie allenthalben bewugen, und so
vyle, damit wir uns, unsern mitbenenten, so esgots wille und uns moglich were, in zeitlichen
frieden unser lebelang erhalten mochten, uns entschlossen, nemlich und also, das wir uns mil
den erbarn und wolweisen hern burgermeistern und rat, auch erlichen gilden von ganzer ge-
meine stad Goslar wegen alle unser bewegliche und unbewegliche giiter, also wir vor und in
der stadt Goslar und dor umblang, nemlich Immenrodt, Handorffund die guter zu Ebelin-
gerodt und sonst allenthalben doselbst haben, unsern hofmit alien den darzu gehorenden
boden,furwerken, meyerhofen, land und wesen, zinsen, ufkommen und renten, also ingem-
leten unsrern hqf alle jerlichs gehorende und fallen, gutlich undfurndlich underredt, voreni-
get, vorgleichet und vortragen inform, meinunge und gestalt, als hir nachfolget: [. . .J.42
Vorstehend gekiirzt zitierte Narratio einer Urkunde vom 11. November 1533
stellt den Auftakt einer Reihe von Vertragen und Schriftstiicken dar, welche zwi-
schen dem vom Bauernkrieg arg mitgenommenen Kloster Walkenried mit der
nicht minder durch herzogliche Invektiven geplagten Stadt Goslar zustande kom-
men sollten.
Abt und Konvent, schildern hier zunachst ihre desolate Situation als ursachlich
fur eine vertragliche Ubereinkunft mit dem Goslarer Rat im Hinblick auf samtli-
che (sic!) Walkenrieder Giiter, ihr Zubehor, sowie ihre naturalen und monetaren
Pertinenzien bzw. Gefalle innerhalb und auBerhalb der Reichsstadt. Im Einzel-
nen kommt man zu einer Art treuhanderischer Vereinbarung: Im Falle der volli-
gen Vereinnahmung des Kloster durch die weltliche uberkeit solle es den Konvents-
mitgliedern nach ihrer dann notwendigen Flucht fuglich ader bequemlich sein [. . .J
42 StA GS B 2688: Vertrag zwischen Abt und Konvent zu Walkenried und der Stadt
Goslar, 1533 November 11 (Kopie), hier zitiert nach der sprachlich vereinheitlichten Ab-
schrift bei Bruchmann, wie Anm. 28, S. 39-41.
Ressourcenknappheit und reichsstadtische Kompensation 67
uf gemelten erbarn rat, gylden und ganz gemein stadt Goslar in ufgenannten unserm hofe
und buden nach unserm gelegen und bequemheit zu wonen frei ingelassen und ingestadt
werden. Der Rat solle die Asylanten gleich iren bilrgern zu recht und gewalt schiltzen,
vorteydigen und handhabenund sie bei ihren althergebrachten Rechten und Privile-
gien in Goslar belassen; auch sollen sie alien unsern [=ihren] giitern nach unser [=ih-
rerj notdurft, alse wir vor alters gehabt, (zu) gebrauchen ungehindert sein. Sobald je-
doch das Kloster durch die uberkeit ingenommen aderso vorstort und vorwust und nicht
mit unsern ordenspersonen besetzt wider wiirde und die personen alle, wie die gein Goslar
vorordent, vorstiiben und siinst kein personen gehorsam unsern closters mehrvorhanden we-
ren, also dan sail und mag ein erbar rat vorbenent [. . .] alle unsere bewegliche und unbe-
wegliche erb-, eigen- undfryen giiter vorbezeichent [. . .] ane idermenniglichen vorhinder-
nisse unnd vorbietent innehmen und die gleich ander der stad giiter vorfrey und eygen besit-
zen, inhaben, trewlich vorwahren und die inform, maji und gestalt, alse hyrnach volget,
gebrauchen: Die Giiter miiBten durch den Rat administrativ betreut werden, und
dieser habe entsprechende Register zu fiihren. Die aufkommenden Gefalle soil-
ten bis zur verhofften Wiedererrichtung des Klosters eingenommen und zu glei-
chen Teilen der Stadt bzw. dem Konvent zufallen. Falls das Kloster nicht widerumb
ufgeriist ader mit unser ordens person besetzt, sollen alle vorangezeigte unser guter alle mit
alle der gerechtigkeit, nichts darvon ausgesondert, dem erbarn und wolweisen rate und ge-
meiner stadt Goslar zu Gots lobe und erhen, auch zu forderunge gemeins nutzes aufgetragen,
gegeben und geey genet, diefrey, erblich, raulich, ewiglich und ummerdaher zu haben, zu ge-
brauchen und zu besitzen.
Imjahre 1533 stellte dieser Vertrag einerseits die voraussetzungsvollste, ande-
rerseits die riickhaltloseste Vereinbarung iiber einen Giiterbesitzwechsel zwi-
schen Stadt und Kloster dar: Voraussetzungsvoll war sie wegen ihrer dezidierten
Abstufung bei den Bedingtheiten des Inkrafttretens, riickhaltlos deshalb, weil sie
im auBersten Falle ohne jede Einschrankung die komplette, hiermit nun ihren
Umrissen benannte Walkenrieder Giitermasse an den Rat iiberschrieben hatte.
Es erscheint ebenso paradox wie pragmatisch, daB beide Vertragspartner vom je-
weils anderen Extrem der prospektierten Entwicklungsmoglichkeiten her am
meisten von der Ubereinkunft profitiert hatten.
Der Vertrag ist so jedoch nie zur Anwendung gekommen, weil Walkenried da-
mals noch einmal fur kurze Zeit auflebte und seine Giiter offenbar weiterhin
eigenstandig nutzen wollte. Grundlegende Bande waren damit in der vorgegebe-
nen Richtung jedoch gekniipft, so daB es imjahre 1543 unter fur den Konvent re-
ligions-politisch nicht nennenswert verbesserten Umstanden43 zu einer aberma-
ligen vertraglichen Absprache kommen konnte, in welcher die oben genannten
43 Vgl. den Uberblick bei Alphei, wie Anm. 22, S. 690-692.
68 Cai-Olaf Wilgeroth
Walkenrieder Liegenschaften auf zunachst neun Jahre partiell an die Stadt ver-
pachtet wurden.44
Dabei konkretisierte sich die Beschreibung der verhandelten Giitermasse
nochmals dahingehend, daB Abt und Konvent bekunden, sie hatten beziiglich al-
le unser freihen bewechlichen und unbewechlichen guter [. . .] innen und aufierhalb der
stadt Goslarmit dem Rat verhandelt, daB dem Kloster der eigentliche zisterziensi-
che Stadthof nebst alien zu dessen Unterhalt erforderlichen Rechten und Gefal-
len weiterhin ebenso zustandig sei wie einige dafiirunabdingbare Geholze, Stein-
briiche und Wiesen im naheren Umkreis der Stadt. Da kegen haben wir dem Ehrba-
ren und wollweisen Rathe zu Goslar und der gemein daselbst zum besten unsere freihen
guether furwarck zu Immenrode, Hahndorff, Ebelingerott, die wiesen und landerei doselbst,
das land am Mulberge, die landerei und wiesen am suttborgerberg45 in und aufierhalb der
landwehr [. . .] den pleihoff mit den zweyen zugehorenden boden und unser boden ahn dem
kerchoffe [. . .] mit aller gerechticheit und freyheit neun jar langk [. . .] iiberantwurt, um
sie so zu nutzen, wie man selbst es bis dato getan hatte. Es folgen dann noch die
hier nicht weiter interessierenden Zahlungsmodalitaten und Sanktionsbestim-
mungen. Unter dem Strich erhalt die Stadt also hier die Nutzungsrechte an den -
so konnte man sagen - groBflachig wirksamen, dorflichen Liegenschaften des
Klosters, wahrend letzteres sich nur eine Art rechtlich abgesicherten Stiitzpunkt
in der Stadt vorbehalt und ganz punktuell dasjenige, was an Naturalien und Roh-
stoffen zu dessen notturfft [. . .] und erhaltunge [. . .] notwendich sein wolt. Ange-
sichts der nur voriibergehenden EntauBerung der landlichen Giiter und Vorwer-
ke, mochte man die lokale Stellung und Kontrolle sicherlich nicht ganzlich auf-
geben.
Die dorflichen Liegenschaften im Harzvorland waren jedoch nicht das einzi-
ge, was in diesem Jahr verhandelt worden ist. Nur fiinf Monate spater kam ein
Vertrag zustande, bei dem es ausschlieBlich um die zwischen den soeben be-
nannten Dorfschaften Immenrode,46 Hahndorf und Ebelingerode sich erstrek-
kenden Vier Berge ging. Obwohl dieses Waldgebiet historisch gesehen eigentlich
44 Vgl. StA GS B 2688, (dreimalige) Copey der Verschreibung uf9Jahr, 1543 Juli 25; StA GS
Urk. Stadt Goslar Nr. 1196.
45 Interessanterweise sind es eben dieser Muhlenberg und der Sudmerberg, wo das
Kloster zwar die Wiesen und das Ackerland verpachtet, sich die Geholznutzung jedoch de-
zidiert vorbehalt. Moglicherweise sollte letztere schlichtweg die Brenn- und Bauholzversor-
gung der in der Stadt befindlichen Dependance sicherstellen.
46 Leuckfeld, wie Anm. 18, S. 384 f., unterliegt einer Verwechslung, wenn er Immenrode
zunachst als bei dem Closter ohnweit bey der so genanten Pelz-Miihlen gelegen nennt, und es dann als
an den Rath zu Goslar vor 130. Gulden auff neun Jahr verpachtet sieht; Walkenried hatte Besitzun-
gen in zwei Orten mit Namen Immenrode, eine bei Goslar, eine am Siidharzrand; letztere war
als Bestandteil des Fundationsgutes die durch Adelheid von Walkenried gestiftete villa Immen-
roth = flmmenrode (vgl. Friedrich Reinboth u.a., Walkenrieder Zeittafel. AbriB der Orts-
Ressourcenknappheit und reichsstadtische Kompensation 69
dem Vorwerk Ebelingerode zugeordnet gewesen sein diirfte, stellte es als damals
besonders kostbares Ressourcenreservoir offenkundig einen Sonderkomplex in
der zisterziensischen Besitzmasse dar, dessen Nutzung nunmehr separat geregelt
wurde. Inwieweit die Waldung 1533 schon einmal Bestandteil der Verhandlungs-
masse war, laBt sich angesichts ihres scheinbaren Sonderstatus nur vermuten; erst
im jetzigen Kontrakt jedenfalls ist von ihr explizit die Rede:47
Abt Johannes Holtegel bekennt, daB er mit Wissen und Zustimmung seines
Konvents in unseres Klosters Gehultze zu Ebbelingerode, genannt die VierBerge, von der
Hohen warte an die beeden Kolunge, von derHogen warthe bis ahne dasHeilig creutzHoltz,
von des Heiligen creutzHoltz in den gosewinkel von dem Heiligen Born bis ahn kuchaus-
berg, den kuchausberg, den ulrichs berg, und den dornberg nach dem lodenberge dem Rat
der Stadt Goslar die abnutzunge in dreienjaren [. . .] eyn mahll abzuhauwen und da van
zu nehmen gegen eine gewisse Summe verschrieben habe. Neben den Zahlungs-
modalitaten enthalt der Vertrag dabei fiir die Goslarer noch folgende Einschran-
kung: Bei der Nutzung sollen und wollen (sie) auff jedem acker \sic\\, neben dem buw
und nutzeholt zwolffhegereis uber die die beredt stehen, (stehen) und hegen lassen. Es kam
den Walkenrieder Verantwortlichen also sowohl auf die Schonung ihrer Bau- und
Nutzholzsortimente (Oberholz) als auch auf eine nachhaltige Bewirtschaftung
der Waldbestande an - die HegereiBer sollten den Fortbestand des Geholzes (Un-
terholz) sichern. Urn die Nutzungsweise auch im angemahnten Rahmen zu ge-
wahrleisten, wurde derRatzudem darauf verpf lichtet, hinfiirder und zu ewigen Ge-
zeiten einen getreuen Holzforster, dersolche Gebirge, Loden und Hegereis, auch anderstdn-
dig Holz, neben den Gebirgen und Gehultzen, so wie uns vorbehalten, dieselben zum
getreulichsten zu verwerten, auf Ihr eigen Besoldung ihnen selbst und unserm Kloster zum
Besten (zu) halten und (zu) versorgen. Sollten die Bestande dereinst neuerlich hieb-
reif emporgewachsen sein, und sich das Kloster dann abermals zu deren Vergabe
entschlieBen, so solle der Rat das Vorkaufsrecht haben.
Zweierlei ist hervorzuheben: Erstens, daB es ein stadtischer Forster sein sollte,
der die Waldbestande in den Vier Bergen und auch jene iibrigen, dem zister-
ziensischen Stadthof weiterhin vorbehaltenen Geholze betreuen sollte. Offenbar
und Klostergeschichte. Aus urkundlichen und literarischen Quellen zusammengestellt, Wal-
kenried 1989, S. 12 f.).
47 Vgl. zur Frage der besitzrechtlichen Stellung der Vier Berge unten Kap. 3; StA GS B
2688, Copey des kauffs wegen abnutzung der veer barge uff ~3Ja.hr gerichtet, 1543 Dezember 26; StA
GS Urk. Stadt Goslar Nr. 1197; es ist iibrigens auffallig, daB auch von den anderen zisterzi-
ensischen Geholzen bei Goslar im Zuge der Verhandlungen und in den Vertragen bemer-
kenswert betont gesprochen wird, wahrend die iibrigen ressourcenbkonomisch nutzbaren
Landschaftsformationen (Wiesen, Acker, Weiden) zumeist nur im Rahmen klassischer Perti-
nenzienkataloge gefaBt werden. Auch dies eventuell ein Hinweis auf die Sonderstellung der
Ressource Holz zur damaligen Zeit bzw. im damaligen Kontext.
70 Cai-Olaf Wilgeroth
vertraute Walkenried hier der stadtischen Kompetenz in derlei forstlichen Aufga-
benbereichen (oder wollte man sich lediglich einen Bediensteten sparen?). Zwei-
tens, spricht aus der verwendeten Terminologie eine gewisse ressourcenoko-
nomische Grundhaltung: Der agrarkulturelle Begriff acker verweiBt in diesem
forsdichen Kontext unseres Erachtens auf eine rein konsumtive Mentalitat des
schlichten Aberntens von Waldbestanden.
Dazu gilt es zu beriicksichtigen, daB es sich bei vorliegender Urkunde dem
Wordaut nach hochstwahrscheinlich nicht um eine klosterliche, sondern um eine
stadtischer Konzeption entstammende Empfangerausfertigung bzw. -formuli-
erunghandeln diirfte, so daB wirinihrdie damalige Sicht-,Denk- und Sprechwei-
se des Rates vor uns haben.48
Vorallem abergibt es Hinweise in der stadtischen Uberlieferung, daB sich die
oben bereits aufgeworfene Frage nach der Initiative bei vorstehenden Giiterver-
handlungen nicht so eindeutig mit einer Suche Walkenrieds nach Kaufern fiir sei-
ne nicht mehr zu unterhaltenden Liegenschaften beantworten laBt, wie dies die
bisherige Literatur suggeriert. Der 1533er-Vertrag mag noch weitgehend diesem
klosterlichen Kalkiil entsprungen sein, aber spatestens fiir die VerauBerungen
der Jahre 1543 gilt es dann genauer hinzusehen.
Datierend vom 16. September 1537 findet sich in den Walkenriedbezogenen
Akten des Goslars Archivs ein Schreiben Dr. Friedrich Reiffstedts, seines Zei-
chens stadtischer Anwalt beim Reichskammergericht in Speyer. Dieser teilt dem
Rat mit, daB ihn vor zwei Tagen der Nordhauser Stadtschreiber davon in Kennt-
nis gesetzt habe, daft mein herr [= der Goslarer Rat] in absicht stehen sollen, von dem
herrn Abt zu Walckenrode die gewelde, so er umb Gojilar haben soil, abzukaufen. Und wie
wol ich nu zu sollich von mein herrn nit bin ersucht worden, so hab ich doch nit underlassen
kiinnen euch derhalben hiemit in der geheim zu schreiben, dafi meins bedenckens zu solli-
chem nit zu freuen (sei). Denn seines Erachtens werde der Herzog von Braun-
schweig-Wolfenbiittel alles daran setzen, seinerseits diese gewelde [. . .] an sich zu
Ziehen. Darumb wollen daran sein, dafi mein herrn in sollich vigilieren, doch secreto consi-
lio, die sach ansehen, und bis zu endt bringen, den(n) sonst mocht die geoffenbart unddurch
den herzogen abgewendet werden. Er habe dem Rat in geheim sollichs an ort und ende, do
es zu thun, [. . .] anzuzeigen nit verhalten sollen noch wollen. Der durch seine Position
am Reichskammergericht gut informierte und mit juristischem Weitblick begab-
48 Dies wird indirekt im Konzept eines Ratsschreibens an den Abt vom 18. Dezember
1542, worin der Rat die kurz zuvor gepflogene Unterredung der Geschaftspartner in Goslar
nochmals rekapituliert, die daraufhin gefallte Ratsentscheidung mitteilt und vorschlagt,
daB ernun anhand jeweils ausgetauschter Vertragsentwiirfe eine besiegelte Reinschrift aus-
stellen wiirde. Inwieweit dabei der Rat das sprichwortlich letzte Wort haben konnte, ist frei-
lich nur zu vermuten (StA GS B 2688, Walckenrede Anno 1542, 1542 Dezember 18) .
Ressourcenknappheit und reichsstadtische Kompensation 71
te Anwalt laBt hier seinem Dienstherren offenkundig gleichermaBen eine Mah-
nung zur Vorsicht wie zur Eile zukommen.
Einiges hangt dabei hinsichtlich der Tragweite des Dokuments an der Inter-
pretation des Begriffs gewelde- nur Wald, odergenerell Herrschaft(-sbereich)?49
Injedem Fall wird aber ein Wettlauf um die WalkenriederRessourcen bei Goslar
deutlich - zwischen der Stadt und einem nicht minder interessierten Herzog
Heinrich dem Jiingeren. Dabei diirfte dieser Wettlauf sich vor allem auf die Vier
Berge als fiirbeide Parteien interessantem Holzreservoirbezogen haben, wie aus
einem Schriftwechsel des Folgejahres recht deutlich wird: Die durch das Schrei-
ben aus Speyer moglicherweise alarmierte Stadt Goslar - man wahnte sich wohl
angesichts des Vertrages von 1533 in einer Art prinzipieller Wartestellung auf die
klosterlichen Besitzungen - muB sich schleunigst an den Abt von Walkenried ge-
wandt haben. Dieser zumindest entschuldigt sich in einem Schreiben vom 25.
September 1538 wegen Verkaufung des Ho lz.es dafiir, daB ersich angesichts dringen-
der Geschafte im Moment nicht naher mit einer vorangegangenen Anfrage des
Rates des verbergeschen holz kauffs wegen befassen konne.50 Er werde jedoch
schnellstmoglich eingehender antworten; diese Antwort findet sich unter dem 23.
Oktober. Wegen verkauffung der Vier berge habe man sich beim Rat wohl zu erin-
nern, dafi Ir lenger dan jares frist [= 1537] mit uns umb das geholtz unser whelt die vier-
berge genent Euch zukhomen zu lassen gehandelt. Darauffirauch so bait unsren guten wil-
len vornhomen habt. DaB das Geschaft bisher nicht vollzogen sei, liege aber nicht
am Kloster. Stattdessen habe man nit wenig ob ewren vorzoge beswerung getragen und
alwege besorget who solchs ruchtpar, das wyr und ir selbst daran gehindert werden.51
Wir halten hier kurz inne und rekapitulieren: Der Abt von Walkenried mahnt an-
gesichts eines im Vorjahr, also 1537, avisierten Geschafts wegen der Vier Berge
zur Eile. Der Rat, welcher doch mit Verhandlungsofferten urspriinglich an das
Kloster herangetreten sei, solle nun nicht langer zogern, damit die prinzipielle
Ubereinkunft nicht publik und moglicherweise von dritter Seite durchkreuzt
wiirde. Und diese Gefahr bestand: Denn neben der Initiative des Rates zum Er-
49 August Lubben, Mittelniederdeutsches Handworterbuch, ND Darmstadt 1995, S. 122,
gibt an: ge-welde (-welt, -wait, -wolt) - 1. Gewalt, Gewaltthat, 2. Herrschaft; Macht, Geltung;
Matthias Lexer, Mittelhochdeutsches Handworterbuch. ErsterBand, Leipzig 1872, Sp. 982,
gibt: ge-welde - coll.(ectiv). zu wait, waldung, waldgegend. DerUnterschiedbedingt die Ent-
scheidung der Frage, ob sich der Rat also um die Walkenrieder Giiter allgemein oder nur die
Waldung der Vier Berge bemiihte bzw. was von beidem dem Anwalt brisanter anmutete. Die
etymologische Schnittmenge von Wald und Herrschaft ist bei alledem natiirlich stets zu be-
denken.
50 StA GS B 2688, Verkaufung des Holies Anno 1538, 1538 September 25.
51 StA GS B 2688, Abtzu Walkenriet an eine erbarn Raht wegen Verkauffung der Vier berge An-
no 1538, 1538 Oktober 23.
72 Cai-Olaf Wilgeroth
werb der Vier Berge lag dem Kloster noch ein weiteres Angebot vor: Nhun wollen
wyr euch nicht vorhalten, daji uns heute dato whi ir inligende zuvornehmen, geschriben ist,
darauJS ir am besten ermessen kont, was euch ufe dem vorzoge disfhals ervolgen mag. Es
handelt sich bei dem eingelegten Schriftstiick um ein Kaufangebot des Herzogs
von Braunschweig- Wolfenbiittel, der ebenfalls an das Kloster mit Kaufinteresse
herangetreten war. Zwar habe man gleich diese muthung abslagen und euch nochmals
zum besten weigern wollen, doch die Goslarer, denen wyr alles guthen gonnen miiBten
erkennen, daji solchs kein gestalt oder guter grundt hat sonderlich dyweil dero holtz noch
unverkaufft und in unseren handen ist. Etwas unklarbliebt anschlieBend eine allge-
mein geauBerte Befiirchtung hinsichtlich Gefahren auch fur andere Walkenrie-
der Besitzungen - vielleicht ein Hinweis auf den seinerzeit schon angedachten,
spateren Erwerb ebenfalls durch die Stadt.
Die Stadt sah sich in ihrem geheimen Bemiihen um die ErschlieBung neuer
Holzquellen - wir befinden uns inmitten der Phase herzoglicher Holz- und Koh-
lerestriktionen fur die Stadt - ausgerechnet von ihrem groBen Rivalen Heinrich
demjiingeren bedrangt. Diesem sei namlich, so der Wortlaut seines Schreibens
an Walkenried vom 15. Oktober 1538, bericht worden, das ir etliche geholze in unserm
gerichte levenburg sollet haben, die vier berge genant, welche ir willens zuvorkauffen. weil
uns nun derselben zu unserm saltz liebenhalle wolgelegen, so ist an euch unser gnedig beger,
ir wollet uns derselben umb ein geburlich kaufgelt lassen zustehen. und ob ir zu vollentzie-
hung des kauffs etliche dero ewren wollet abfertigen so haben wyr derhalben unseren ampt-
mann zur levenburg hennechen koch befhel gegeben den kauffvon unser wegen myt euch zu
handeln.52 Die vom Abt artikulierte Angst um seine iibrigen Giiter lag vielleicht in
derartig formulierten Anfragen begriindet: Hatte er dem unmiBverstandlichen
herzoglichen „(An-)Gebot" sofort nachgegeben, hatte er moglicherweise einen
Prazedenzfall geschaffen. Dann lagen vielleicht dem favorisierten Zusammenar-
beiten mit der Stadt Goslar quasi-prophylaktische Vorbehalte gegeniiber der Ter-
ritorialstaatsbildung zugrunde, in welchen man sich mit der Stadt gewiB einig
wuBte. Sicherlich aber hatte derVerkauf an den erstarkten Landesherren in einer
ungleich schwierigerzu verhindernden kompletten Abholzung des Waldgebietes
fur die Sudpfannen bei Salzgitter resultiert, wahrend mit dem geschwachten
Goslarer Rat ein differenzierteres Einvernehmen erzielt werden konnte.
Weshalb es dann noch bis 1543 dauern sollte, bis eine Ubereinkunft hinsicht-
lich der Vier Berge (und der iibrigen Giiter) zustande kam, bleibt ebenso unklar
wie die stadtischen Verzogerungsgriinde des Jahres 1537. Es verwundert ein we-
nig vor dem Hintergrund der jeweiligen Veranlassung zur Eile. Die bis dahin ge-
wechselten bzw. aufgesetzten Schriftstiicke zeigen uns, daB man wohl noch das
eine oder andere in betreff der detaillierten Zahlungsmodalitaten zu klaren hatte,
52 Ebd.
Ressourcenknappheit und reichsstadtische Kompensation 73
daB man Ortstermine zwecks Zustandsbeschau der Giitermasse abhielt, und was
der Rat an den klosterlichen Vorstellungen modifizieren wollte. Auch sind fiinf
Jahre in den Wirren der damaligen Epoche nicht unbedingt eine lange Zeit; viel-
leicht konnte man den geheimzuhaltenden Schritt dann auch doch erst gehen, als
der Schmalkaldener Bund Heinrich den Jiingeren im Sommer 1542 ins Exil ge-
trieben hatte.
Bei alledem, wie auch im spateren Verlauf der Geschichte, dominieren stets
die Vier Berge und ihr Holz das Verhandlungsgeschehen. Sie sind fur die Betei-
ligten, insbesondere aus Goslarer Sicht, offenbar das entscheidende Element in
der Walkenrieder Giitermasse, deren iibrige Bestanteile zumeist nur summarisch
genannt werden.53
Hatte Goslar-nach dem „gescheiterten" Versuch von 1533 - mit denbeiden Ver-
tragen von 1543 dann den sprichwortlichen FuB in die seitens Walkenried bereit-
willig aufgehaltene Tiir gestellt, sollte es ihn dort in der Folgezeit auch behalten,
bis man 1579 ganz nominell Hausherr auf den bis dahin immer wieder zeitweise
gepachteten Giitern werden konnte.
Gleich als erstes nutzten die Ratsherren offenkundig das Andauern des her-
zoglichen Exils, um die holzernen Reserven der Vier Berge noch etwas langer als
die vereinbarten drei Jahre nutzen zu diirfen: Aufgrund einer stadtischen Ge-
sandtschaft der vierberge halben umb erstreckunge der hauwzeit ist der Konvent bereit,
eine solche Verlangerung zu den bisherigen Bedingungen fur weitere anderthalb
jar (zu) willigen - nicht jedoch, ohne zuvor derhalb noch besichtigunge der gehulze vor-
genommen zu haben.54 Die Riickkehr des Herzogs nach der Schlacht bei Miihl-
berg (24. April 1547) konnte damals niemand voraussehen, so daB die Neuver-
pachtung der Vier Berge ausgerechnet auf weitere anderthalb Jahre (bis 1548)
wohl zuvorderst dem Zustand der Waldungen (oder der Goslarer Tafelamtskiste?)
geschuldet war.
Auch kommt bereits 1549 ein weiterer Vertrag zustande, in dem - nun erstmals
53 Ein Beispiel unter vielen: Am 4. September 1551 schreibt der damalige Abt mit Blick
auf den die Giiterkomplexe kombinierenden Vertrag von 1549 an die Stadt den vortragk die
vier berge und unset andern guter vor und in gojSlar gelegen betreffend (StA GS B 2689) . Und diese
Reihenfolge der Aufzahlung ist dabei symptomatisch und kennzeichnend fur alle sonstige
Kommunikation. Gerade dann in den stadtischen Provenienzen im spateren Kontext der ju-
ristischen und handfesten Auseinandersetzungen mit den Herzogen von Braunschweig-
Wolfenbiittel um die Walkenrieder Liegenschaften werden die Waldungen deutlich hervor-
gehoben, indem ein ebenso quantitativer wie qualitativer Unterschied in der Berucksichti-
gung der Vier Berge gegeniiber den iibrigen Liegenschaften in den Formulierungen ge-
macht wird.
54 StA GS B 2689, zwei Schreiben des Abtes Johannes an den Rat wegen erstreckung der
zeit in den 4 berg abzuhauwen, 1545 Juli 31 bzw. August 19.
74 Cai-Olaf Wilgeroth
seit 1533 wieder kombiniert - die Walkenrieder Geholze und sonstigen Liegen-
schaften inklusive der Vier Berge auf 26 Jahre an den Rat verpachtet werden, da
voir obangezeigt unser gehulze undgueter wie vorgemelt, nicht ausgeschlossen, selberfur unfi
daselbstszu Gofilar zugebrauchen nicht von nothen oderbedacht, sondern [. . .] aufezuthuen
geneigt, und ein Ehrbarer Rat von alien die vorheit habe, auch die negesten dartzu
sein.3
Das Kloster, welches sich die prinzipielle Verfiigungsgewaltiiberalle diese Gii-
ter nattirlich vorbehalt, begriindet seine Entscheidung also mit der seinerseits
nicht mehr erforderlichen Nutzung der Giiter. Wir diirfen wohl davon ausgehen,
daB der wahre Grund eher in einer gewissen Unfahigkeit zur weiteren eigenstan-
digen Verwaltung der Liegenschaften zu suchen ist. DaB man Goslar als Pachter
gegeniiber anderen Anwartern neben seinem Vorkaufsrecht auch durch seinen
lokalen Bezug hervorgehoben sah, ist deshalb nicht ganz unwichtig, weil darin ei-
ne Art konservatorische Hoffnung stecken diirfte: Die Stadt war unmittelbar auf
die mit den Giitern verkniipften Ressourcen angewiesen und wiirde sie dement-
sprechend pfleglich, d.h. nachhaltig, behandeln. Auch wurde sie weiterhin auf ei-
nen zu unterhaltenden forstknecht fiir alle Walkenrieder Geholze verpf lichtet.
Die Vorbehalte gegeniiber dem Herzog und seinem potentiellen Unmut lieB
man scheinbarfahren - das Geheimnis warja auch seit 1543 keines mehr, und im-
merhin hatte man eine juristisch valide Vertragsgrundlage erreicht, an der auch
ein Landesherr im Nachhinein nicht mehr so ohne weiteres riitteln konnte. DaB
und wie er es dann dennoch versuchte, bleibt noch zu besprechen. Nur so viel:
nicht nur Liebenhall benotigte nach wie vor Brennmaterial.
Es muB an dieser Stelle ungeklart bleiben, wie es vor dem Hintergrund dieser
allumfassenden Ubereinkunft (1549) im Jahre 1561 dann wieder zu einem neuer-
lichen Separatvertrag iiber die Vier Berge kommen konnte, worin die Stadt im
stiffts geholtzzu Ebelingerode [. . .] die abnutzunge in zehenjahren zu den Konditionen
eines auf das Unterholz heschr'Ankten gewohnlichen gebraucherwirhtxmd sich aber-
mals auf einen getrewen holtzfurster der solche hauvuung der vier berge und ander stendig
holz zum getrewlichsten hege und verwahre verpflichtet.56 Klarende Dokumente zur
Genese dieser „Extra-Urkunde" liegen nicht vor, auch klafft in der Akteniiberlie-
ferung um diesejahre herum eine Liicke in der sonst recht regen Korrespondenz.
Heineccius erschien das Stuck immerhin als so zentral, daB erdie Geschichte der
Vier Berge fiir Goslar gerade mit diesem Vertrag beginnen lieB. Moglicherweise
waren die Waldungen nach 1549 doch noch einmal aus der Giitermasse heraus-
gelost worden - vielleicht war ihr Zustand so schlecht, daB das Kloster als nomi-
neller Eigentiimer von einer Art Veto hinsichtlich weiterer Nutzungen Gebrauch
55 StA GS B 2689, 1549 Juli 25; StA GS Urk. Stadt Goslar Nr. 1216.
56 StA GS Urk. Stadt Goslar Nr. 1242a, 1562 Januar 7.
Ressourcenknappheit und reichsstadtische Kompensation 75
machte. Eine SchutzmaBnahme, die ahnlich konservatorischen Erwagungen ent-
sprungen sein konnte wie die Waldbegehung von 1545. Immerhin gab es durch-
aus klosterliche Beschwerden iiber allzu engagierten Holzeinschlag seitens der
Stadt - allerdings fiir die 1540er-Jahre.57
Wie auch immer, unter der hier interessierenden Perspektive des kompensato-
rischen Ressourcenerwerbs durch die Stadt ist selbst an dem 1561er-Dokument
bemerkenswert, daB gegeniiber vorher relativ kurzen Pachtzeitraumen nunmehr
langerfristige Ambitionen in diesem Waldgebiet expressis verbis zutage traten.
Auch Zehnjahre sind im Rahmen eines Unterholzbetriebes schon ein Zeitraum,
der iiber eine einmalige Umtriebsperiode hinausweisen konnte (26 Jahre natiir-
lich erst recht) .58 Und ganz so gewohnlich sollte der Gebrauch auch gar nicht aus-
fallen. Denn gegeniiber einem in den bisherigen Vertragen immer betonten ein-
maligen Abhauen und Ernten der Schlage,59 wurde nun offenerformuliert: inzfl-
henjahren [. . .] abzuhauwen und ihres besten zugeniessen und zugebrauchen - von nur
einmaligem Einschlag ist keine Rede mehr, und der Rat konnte sich die Nutzung
der Bestande freier einteilen.
Diese deutliche Ausdehnung des Pachtzeitraums an den Waldungen muB je-
doch nicht zwingend darauf verweisen, daB mit der Ausweitung der Nutzungs-
dauer auch eine Steigerung der Nutzungsintensitat einhergehen sollte. Zwar ware
solches sicherlich denkbar, ganz gemaB der Devise: Viereinhalb Jahre hatten sei-
nerzeit zurkompletten Abnutzung der Bestande noch nicht ausgereicht. Deshalb
erwirbt man nun ein zehnjahriges Nutzungsrecht. Gerade vor dem Hintergrund
der inzwischen unwiederbringlich verloren gegangenen Harzwaldungen und
dem daraus resultierenden bzw. empfundenen Holzdefizit hatte solches Sinn er-
geben.
Doch laBt sich auch eine andere Motivation denken (und die untenstehend
vorzunehmende Auswertung der Einschlags- und Holzverkaufsregister dieser
Jahre stiitzt diese These) : Hochstwahrscheinlich hatte der Rat inzwischen ein lan-
gerfristiges Interesse an den Waldungen - nicht etwa mit Blick auf deren kom-
plette Abnutzung nach Kahlschlagmanier, sondern weil erhier die juristisch ab-
zusichernde Chance erblickte, ein neues, nachhaltig zu bewirtschaftendes Holz-
reservoir fiir die stadtische Energieversorgung zu begriinden. Auch dies fiigt sich
in den Kontext derHarzwaldverluste nahtlos ein, gehtjedoch von einer vollig an-
57 Siehe am Ende dieses Kapitels.
58 Vgl. Hans Hausrath, Geschichte des deutschen Waldbaus. Von seinen Anfangen bis
1850, Freiburg 1982, S. 19 bzw. 33 (Umtriebszeiten beim Unterholz im Nieder- bzw. Mittel-
wald von 3, 5, selten mehr als 7Jahren im 15./16. Jahrhundert).
59 Vgl. oben die Zitate aus StA GS B 2688, Copey des kauffs wegen abnutzung der veer barge
uff 3 Jahr gerichtet, 1543 Dezember 26; StA GS Urk. Stadt Goslar Nr. 1197: eyn mahll abzuhau-
wen und da van zu nehmen.
76 Cai-Olaf Wilgeroth
deren ressourcenokonomischen Grundeinstellung beim Rat aus: Eine Form der
Nachhaltigkeitsmentalitat namlich, die sich so erst im Laufe des 16. Jahrhunderts
herausgebildet hatte. Denn in den Verhandlungen der 1530er-Jahre, die in den
Vertrag von 1543 miindeten, haben wirnoch ganz den auf bloBe Aberntung von
Holzflachen {acker) fokussierten Rat vor uns. Das zeigt sich zunachst an den sehr
kurz gewahlten Pachtzeitraumen und wird an den zugehorigen Registern noch
deutlicher - man versuchte damals in kiirzestmoglicher Zeit soviel wie moglich
einzuschlagen und wahrscheinlich hatte man die Vier Berge damals in der Tat
weitgehend abgeerntet.
Nunjedoch, nach einem ProzeB des Umdenkens, sehen wirbeim Rat das oben
beschriebene „1552er-Syndrom" am Werk. Unter neuen ressourcenokonomi-
schen Pramissen benotigten die Verantwortlichen jetzt vor allem die Aussicht auf
langerfristige Planungssicherheit bei der Waldbewirtschaftung, da man die Be-
stande dauerhaft nutzbarmachen wo lite. Es verwundert deshalb kaum, daB gera-
de zum Ablauf der zehn Jahre ein neuerlicher Vertrag zustande kam: Zu Pfing-
sten 1571 verkaufen Abt Georg und der gesamte Konvent zu Walkenried die ab-
nutzung in zwanzigk Jahren und das Recht abzuhauwen an den Rat.60
Goslar hatte die Waldungen offenbarbereits so gut (nachhaltig) bewirtschaftet,
daB Walkenried nichts gegen eine unmittelbar anschlieBende und noch dazu
weitaus langere Pachtvereinbarung hatte. Fur den Rat bedeutete dies jedoch,
noch mehr Gelegenheit zur Implementierung seiner neuen, nachhaltigen Bewirt-
schaftungsvorstellungen zu haben. Deren Entwicklung laBt sich an den sorgfaltig
gefiihrten Abrechnungen des Hauerlohns und Holzverkaufs in den Vier Bergen
ablesen.
Vorher sei aber noch kurz auf den vorlaufigen AbschluB der Walkenrieder Ge-
schafte mit Goslar eingegangen: Weil im Zuge des Magdeburger Krieges und der
obwaltenden Administratorenquerelen dem Kloster iibel mitgespielt worden sei,
und etliche gebeude undt gueter unsers stiffts und besonders die so in oder zu nahendt der
kays.freyen Reichsstatt Gofilar gelegen, darfiirder von unsern ordens personen nicht bewoh-
net worden, undt dermafeen verddet und in abfall gerathen, [. . .] und die ahm jehrlichen
auffkommen, undt als auch in der haushaltunge missen und darben muJSen, auch itzo hin-
wieder in gleichen die gebeude zuerhalten geldes hoch vonndten, [. . .] wir aber angesehen
und bedacht, daf sothane gebeude unserm closter entlegen, auch darzugehdrige gueter nicht
(mehr) [. . .] von unsers stiffts wegen zunutz sein, hatten sich Prior Liborius Hirsch
und der gesamte Konvent 1579 entschlossen, solche unsere guether, mit aller nutzun-
gen in wiesen trifften wasser undt weydt, ahn Ober und underholtze (sic!) dem Rat auf Er-
benzins zu uneingeschranktem Gebrauch zu verkaufen.61 Damit hatte sich die
60 StA GS B 2452, 1571Juni 6.
61 StA GS B 2691, Copey Des Erbkauffs aller Walkenriedisch gueter, 1579 Mai 16; StA GS
Ressourcenknappheit und reichsstadtische Kompensation 11
Stadt nach den mittelbaren wie unmittelbaren Ressourcenverlusten im Zuge des
Riechenberger Vertrages eine erkleckliche neue Rohstoffbasis geschaffen, in de-
ren Nutzung der Rat zumindest de iure hoffen durfte, vom Braunschweig-Wolfen-
biittelschen Landesherrn nicht eingeschrankt zu werden.
Vor allem die nunmehr auch offiziell erworbene Nutzungsmoglichkeit der
Oberholzbestande diirfte dabei von besonderer Bedeutung gewesen sein. Denn
bis dato war dem Rat ja nur das Unterholz zugestanden worden, also die Moglich-
keit zur Brenn- und Kohlholzproduktion. Die Bau- und Nutzholzsortimente,
nicht minder wichtig fur stadtisches Leben und Arbeiten, hatte sich Walkenried
bisher stets vorbehalten - und dariiber im iibrigen auch trotz des stadtischen For-
sters penibel gewacht: Denn als der Rat imjahre 1545 um die Verlangerung der
Einschlagserlaubnis ersucht hatte, konnte das Kloster nicht umhin, denselben zu-
nachst daran zu erinnern, daB man sich noch vor kurzem zu velfeltigen clage schrei-
bens veranlaBt sah, was gestalt (sich) Ewere hawer in den vier Bergen mit niderslagen der
hegereifer und der uberstandigen Eichen borne tun gebaren [. . .J zu wider Ewrer verpflich-
tunge. Sodann ergangene Ermahnungen, der Rat wolle das insehen by den hawren ge-
than (haben), das sie gepurlich und ublich der zeit gehawen hetten, seien jedoch ohne
Wirkung geblieben. Da man annehme, daB auch der Rat an dem ungepurlichen ni-
derslagen keinen gefallen finde, ergehe mit grot vertauen zu euch nochmals die Bitte,
daB die Holzhauer gemaBregelt wiirden.62 Gerade deren Schlagen zur Unzeit
wird uns dabei noch zu beschaftigen haben.
Unter dem Strich bedingten derartige klosterliche Klagen damals jedoch keine
Beendigung der stadtischen Holznutzung. Dem erhobenen Zeigefinger folgte
schon bald die Verlangerung der Pachtdauer - wohlgemerkt um nurmehr andert-
halb Jahre, die Halfte der vorherigen Zeit also, was vermutlich eine waldkonser-
vatorische VorsichtmaBnahme seitens des Konvents darstellte.63
Denn Walkenried war durchaus auf die Schonung und Eigenverfiigbarkeit sei-
ner Oberholzbestande bedacht, wie uns eine Anweisung an den Rat verdeut-
licht:64 Da ein Meier des Klosters zu Hahndorf durch brandt erbarmlich umb haufi,
hoff und seine fahrende habe kummen habe er beim Konvent um Beihilfe nachge-
sucht. Bitten demnach vleissig, Ihr wollen ihm (nach beherzigung seins erlittnenn brandt
schadens) inn den vierbergenn anweisung thuun lassen, das ehr zu seinem vorhabenden ge-
bew ein stugk holz 12 oder 14 schue an ein gelegenen orth muchtfellen und durch fuhre ab-
Urk. Stadt GS Nr. 1269.
62 StAGS B 2689, Schreiben des Abtesjohannes die veer berge belangend, 1545 April 11.
63 Die Gesandtschaft des Rates wird 1545 sicherlich nicht um lediglich 18 Monate wei-
terer Nutzung ersucht haben; angesichts des zu verzeichnenden Einschlagsgebarens der
Stadt ergabe dies auch keinen waldbewirtschaftungspraktischen Sinn - mitten imjahr woll-
te man sicherlich nicht die Arbeit niederlegen (vgl. dazu Kap. 3).
64 StA GS B 2689, Abt zu Walckenrede tegethmeyers holts halven, 1549 August 8.
78 Cai-Olaf Wilgeroth
schaffen lassen. Man behielt sich also die Bewilligung des Bauholzes prinzipiell vor
- denn wieso hatte sich der Meier sonst nicht an den Rat als Pachter der Hahndor-
fer Liegenschaften gewandt? -, bediente sich aber bequemerweise der vertraglich
geregelten stadtischen Waldadministration zur Umsetzung der damit verbunde-
nen Aufgaben. Forsthoheit!
Unwillkiirlich drangt sich an dieser Stelle die Frage auf, wie groB die Versu-
chung der Stadt gewesen sein muB, aus der in ihren Handen liegenden Waldad-
ministration auch schon vor 1579 Kapital zu schlagen und sich klammheimlich
ebenfalls am Nutz- und Bauholz zu bedienen. Zumindest auf lange Sicht sollte
und muBte dies ihr erklartes Ziel in den Vier Bergen sein.
3. Waldbau: Vom holtacker zu einem herlich schoen holtz.
Bevor wir nach der Klarung der Verfiigungsmasse und der Bedingtheit ihrer suk-
zessiven VerauBerung an den Goslarer Rat auf die damit verbundene Nutzung
der Stadt und deren bereits angedeutete Modifikationen im Laufe der zweiten
Halfte des 16. Jahrhunderts eingehen, erscheint ein kurzes Innehalten ange-
bracht. Kurz sei der mutmaBliche damalige Zustand der Vier-Berge-Waldungen
und somit deren iiberhaupt moglicher Nutzungsertrag eingeschatzt.
Einen Hinweis gibt uns bereits der Wortlaut der getroffenen Abnutzungsver-
einbarungen, wie er eben besprochen und uns auch vom Zeitgenossen Eckstorm
unter dem Jahre 1579 mitgeteilt wird. AuBer den iibrigen Giitern sei auch ein
Wald verkauft worden, von dem es heiBt: Ex hac sylva petuntur arbores aedificijs
vicinorum praediorum servandis aptae. Anno 1562. Hermannus Abbas ligna hujus sylvae
inferiora vendidit Senatui Goslariensi pro 600.floreno uno faciente 21 . grossos Marianos.;
hac tamen lege, ut cum arboribus ad aedificandum utilibus relinquerentur singulis jugeris
arbusculae duodecim, & ' spatio decern annorum sylva lignis caedendis liberaretur.65 Wenn
wir diese Mitteilungen Eckstorms und die Vertragstexte einer ersten Einschat-
zung zugrunde legen, so diirfen wir von einem mittelwaldartigen Bestand ausge-
hen, also von einer Mischung aus bauholzfahigem Oberholz in klosterlicher Nut-
zung und dem vom Goslarer Rat abzuerntenden Unterholz. Darauf verweist
auch der in den Dokumenten verwendete Terminus LaB- oder HegereiBer:
Durch das Stehenlassen von zwolf dieser BaumschoBlinge (arbusculae) pro Mor-
gen sollte das schnellere, natiirliche Wiedererwachsen des Waldes ebenso unter-
stiitzt wie brauchbares Stammholz produziert werden. Es handelt sich um eine
typische Erscheinung der Mittelwaldwirtschaft.66 Und die Beschreibung einer
65 Eckstorm, wie Anm. 16, pag. 26 If.
66 Vgl. Brage bei der Wieden u.a., Niedersachsisches Waldworterbuch. Eine Samm-
lung von Quellenbegriffen des 11. bis 19. Jahrhunderts, Melle 1993, S. 91: LaBreis.
Ressourcenknappheit und reichsstadtische Kompensation 79
Diversifikation der Bestande in personell getrennte Nutzungsebenen paBt eben-
falls sehr gut zu den bekannten Erscheimmgsformen des vormodernen Mittel-
waldbetriebes, wie sie von Hans Hausrath skizziert werden.67
Prinzipiell entsprachen Mittelwalder damals sicherlich am ehesten den multi-
funktionellen Anforderungen einer klosterlichen Ressourcenokonomie. Wir fin-
den die charakteristische Mischung aus Brennholz-, Nutzholz- und Bauholz-
elementen auch in anderen Klosterkontexten Niedersachsens wieder.68 Unter
Berufung auf August Seidensticker kann Hausrath dabei den klosterlichen Wal-
dungen in Niedersachsen grundsatzlich einen vergleichsweise guten Zustand am
Ubergang vom Mittelalter zur Friihen Neuzeit unterstellen - auch und gerade im
Gegensatz zum damaligen Harz: „In den iibrigen braunschweigisch-hanno-
verschen Landen bestand nach Seidensticker die Forstwirtschaft des 15. Jahrhun-
derts in schlimmer Waldverwiistung. Nur die Klosterwalder machten eine Aus-
nahme."Allerdings seien diese dann nach der Reformation ebenfalls verfallen.69
Die Ursachen dieses angeblichen Verfalls nennt Hausrath freilich nicht, sie sind
sicherlich auch kaum pauschalisierbar und lagen keineswegs nur in den Konven-
ten begriindet.
Um zunachst den moglichen Stellenwert der Vier Berge im Rahmen der
Walkenrieder Klosterokonomie und ihre dementsprechende Nutzung vor den
Verkaufen an Goslar etwas besser einschatzen zu konnen, sei ein kursorischer
Blick auf die Geschichte dieser Walkenrieder Liegenschaften getatigt. Hier muB
vieles jedoch Spekulation bleiben, da zur eigentlichen Nutzung der Giiter bei
Goslar keinerlei Schriftquellen iiberliefert sind.70
Walkenrieds erstes Auftreten am Ort ist bergbaulichen Interessen geschuldet.
67 Hausrath, wie Anm. 58, S. 28-38.
68 Deutlich fur Lamspringe: z.B. NdsHStAH Hild. Br. 3, 11 Nr. 3: Erlasse der Herzoge
[. . .] von Braunschweig-Wolfenbiittel an das Kloster Lamspringe betr. Holzlieferungen aus
dessen Forsten, 1572-1625, und NdsHStA H Hild. Br. 3, 11 Nr. 56, Holzregister des Klosters
Lamspringe, 1621-1622; sowie fur Marienrode: vgl. NdsHStAH Cal. Br. 7Nr. 1144, Der ver-
botene Holzverkauf aus den Marienrodischen Klosterforsten,1594.
69 Hausrath, wie Anm. 58, S. 279; vgl. August Seidensticker, Recht- und Wirtschaftge-
schichte norddeutscher Forsten, besonders im Lande Hannover. 2 Bande, Gottingen 1896.
70 Vgl. dazu Alphei, wie Anm. 22, S. 716: „Welchen Anteil die einzelnen Betriebsteile an
der Wertschopfung der gesamten Stiftsbkonomie im Mittelalter und im 16. Jh. hatten, ist den
Walkenrieder Quellen nicht zu entnehmen, da Zinsregister und Rechnungen fur diesen Zeit-
raum nicht iiberliefert sind. Erst fur das 17. Jh. liegen einzelne Forst- und Zinsregister [. . .]
vor"; die folgende Schilderung der Besitzgeschichte Walkenrieds in Goslar stiitzt sich auf Al-
phei, Walkenried, S. 713-716, sowie Walter Baumann, Die wirtschaftliche Entwicklung Wal-
kenrieds im Uberblick, in: Heutger, wie Anm. 22, S. 99-135, bes. 126f.; an urkundlicher
Uberlieferung zur Besitzgeschichte in Ebelingerode sind heranzuziehen UB GS I 486 (1227),
622 (1246); UB GS II 87-92 (1263), 104-106 (1265), 114-115 (1266), 175-181 (1272), 188-189
(1273), 289 (1281), 304 (1283), 341 (1286), 344 (1286), 362 (1288); UB GS III 252 (1311),
80 Cai-Olaf Wilgeroth
Spatesten um 1170 muB man dort einen Stadthof besessen haben, und ein unda-
tiertes Giiterverzeichnis des Goslarer Domstiftes (nach 1186) vermerkt Walken-
rieds Wortzinspflicht gegeniiber den Kanonikern fiir vier Hausstellen in der
Stadt. 1209 bestatigt Otto IV. dem Kloster seinen Stadthof in Goslar, 1225 bzw.
1234 wird die Abgaben-, Handels- und Zollfreiheit durch Privilegien Heinrichs
(VII.) urkundlich belegt. Fiir unser Thema relevant sollten dann vor allem die Er-
werbungen derjahre 1269 bzw. 1263-1282 werden: Unter dem ersten Datum ver-
kauften die Grafen von Wohldenberg Walkenried ihre Stadtkurie nebst Kapelle
und Fischteich - diese sollte der Haupthof der Zisterzienser und somit deren ad-
ministrative und kommerzielle Zentrale in Goslar werden. Sechsjahre zuvorhat-
te man bereits neun Hufen in Ebelingerode erworben, zwischen 1272 und 1282
kaufte man dann das gesamte Dorf samt Zehnten von den Herren von dem Dike
und errichtete dort einen zweiten AuBenhof, eine nova curia mit Grangienfunkti-
on. Diese unterstandjedoch nicht dem rector curia des Stadthofes, sondern einem
eigens bestellten magister curiae. Von diesen beiden Hofen aus bewirtschaftete
Walkenried seine oben beschriebenen Liegenschaften bei Goslar v.a. in Immen-
rode, Hahndorf, Weddingen, Grauhof (bis 1382), Biintheim und Sudmerberg.
Wir konzentrieren uns hier lediglich auf die Grangie Ebelingerode-Neuhof
und zitieren den Salzgitteraner Heimatforscher Carl Witt: 71 „In der Nahe von Im-
menrode sind mehrere Ortschaften Wiistung geworden. [. . .] 4. Ebelingerode
wird westlich von Immenrode am Abhang der ,Vier-Berge' gelegen haben. Sei-
nen Namen diirfte es seinem Griinder Ebeling verdanken. Von diesem Orte
schrieb sich das ,freie' Geschlecht von Ebelingerode, das in der ersten Halfte des
12. Jahrhunderts auftritt. Seine Mitglieder waren nahe verwandt mit der Goslar-
schen Freienfamilie von dem Dike. Diese war ihr Erbe zu Ebelingerode [. . .]
(und) besaB [. . .] Grundstiicke und den Zehnten der Ansiedlung. Verschiedene
Giiter des Geschlechts kamen an das Zisterzienserkloster Walkenried am Siid-
harz, und so verkauften 1266 Dietrich und Johann v. d. Dike dem Kloster 7
[neun?] Hufen zu Ebelingerode. Den Zehnten erwarb Walkenried 1272. Am 5.
August 1311 gestattete Bischof Heinrich von Hildesheim den Armen und Siechen
des Neuen Hospitals an der Konigsbriicke zu Goslar, den Raum von etwa 30
Morgen Wald bei Ebelingerode auszuroden [cf. UB GS III 252]. Ebenso gab im
folgendenjahre Herzog Heinrich der Wunderliche von Braunschweig dem Neu-
en Hospitale das Recht, im Felde von Ebelingerode, welches zu seinem Forst ge-
horte, Kulturen anzulegen [cf. UB GS III 270/271] In einer Grenzbeschreibung
270-271 (1312), 390 (1316), 393 (1316); UB GS V 1257 (1400); auf Einzelnachweise wird ver-
zichtet.
71 Carl Witt, Engere Heimat. Beitrag zur Geschichte der ehemaligen Amter Lieben-
burg und Woltingerode, Salzgitter 1917, S. 401-403; zum im 16. Jahrhundert fiir die Stadt
Goslar ressourcenokonomisch ebenso relevanten Stadthof vgl. unten Kap. 5.
Ressourcenknappheit und reichsstadtische Kompensation 81
um 1470 [UB GS V 1257 (1400)?] wird Ebelingerode noch erwahnt, dann wird der
Ort Wiistung geworden sein. Kloster Walkenried verkaufte 1543 Giiter und Hofe
zu Ebelingerode dem Rat der Stadt Goslar; im Jahre 1562 schloB es mit der Stadt
einen Vertrag wegen der ,Vier Berge' ab. Am 16. Mai 1579 kamen die gesamten
Besitzungen fur 2900 Taler an den Rat der Stadt. - Zwei Waldstiicke in den Vier
Bergen sind noch heute wie im Jahre 1312 Eigentum des Herzogtums Braun-
schweig."
Die von Witt gesammelten Informationen muten gerade hinsichtlich der be-
sitzrechtlichen Stellung der Vier Berge fragmentarisch an und lassen vor allem
unbeantwortet, wie dieses Waldgebiet in den alleinigen Besitz des Klosters Wal-
kenried gekommen ist. DaB solches mit den Erwerbungen in Ebelingerode ver-
kniipft war, ist anzunehmen, angesichts seiner spateren Sonderstellung jedoch
nicht zwingend. Auch der Braunschweiger Herzog und der Hildesheimer Bischof
konnten im 14. Jahrhundert laut Witt iiber einen Teil der Waldgebiete bei Ebelin-
gerode verfiigen - das miissen freilich nicht automatisch Bestande in den Vier
Bergen gewesen sein.72 Uberhaupt ist das Problem parzellengenauer Abgren-
zung und Bilanzierung von Wald-Offenland-Bereichen ja gerade vom 14. bis hin
zum 16. Jahrhundert kaum zu losen. Dazwischen liegt - Witt sagt es fur Ebelinge-
rode selbst - eine Phase von Wiistungsphanomenen, von der auch der Vorharz-
raum bei Goslar nicht unberiihrt blieb. Wo und wann wurde aus Rodeland wie-
72 Witt (ebd. passim) nimmt eine solche Identitat an, wenn er von noch heutigen (= En-
de 19. Jahrhundert) Waldbesitzanteilen des Herzogtums Braunschweig in den Vier Bergen
spricht. Die pertinentia nostri foresti bzw. in nostra districtu, qui fur st dicitur der betreffenden
Urkunden des Herzogs (UB GS III 271/270) verweisen jedoch zunachst einmal nur auf den
bei Ebelingerode zu suchenden Forstbezirk des Herzogs; von den Vier Bergen ist weder hier
noch beim Bischof die Rede. Im Harzkontext diirfte der Forstbegriff damals noch eindeutig
besetzt gewesen sein und sich auf den 1158 von Kaiser Friedrich I. an Herzog Heinrich den
Lowen vergebenen forestum in montanis que dicuntur Harzbeziehen, dessen Bestandteil die
Vier Berge sicherlich nicht waren (UB GS I 241). Die herzogliche Besitznachbarschaft mit
dem Bischof von Hildesheim bei Ebelingerode konnte aus der koniglichen Ubereignung
der urspriinglich zur Pfalz Werla gehorenden Besitzungen an das Bistum Hildesheim im
Jahre 1086 resultieren, aus denen der Harzforst seinerzeit ausgenommen worden war (UB
GS I 142). Bei Ebelingerode waren diese getrennten ehemaligen koniglichen Besitzbereiche
(Harz/ Werla) dann aufeinander getroffen - deshalb die herzogliche und bischofliche Ur-
kunde an das Neue Hospital ohne Bezug zu den Vier Bergen. DaB im 19. Jahrhundert dann
dennoch ein Eigentumsrecht Braunschweig-Wolfenbuttels an diesen Waldungen prokla-
miert wurde, diirfte eher auf die Auseinandersetzung um dieses Gebiet mit Goslar im 16./ 17.
Jahrhundert zuriickzufiihren sein. Dabei wurden im Ubrigen nur mehr territorialstaatliche
Forst- bzw. Klosterhoheitsargumente ins Feld gefiihrt, jedoch kein Ruckbezug auf herge-
brachte Braunschweiger Besitzrechte aus dem 14. Jahrhundert hergestellt. Auch die Hildes-
heimer Landesherrschaft bemiihte dann nach der Restitution des GroBen Stiftes die Amtzu-
gehorigkeit der Waldungen als Reklamationsgrund.
82 Cai-Olaf Wilgeroth
der Wald? Was blieb unter dem Pflug? Spannend erscheint, daB der Rat im Rah-
men seiner Vormundschaft iiber das GroBe Heilige Kreuz (Neues Hospital) 73
bereits iiber indirekte EinfluBmoglichkeiten im Gebiet Ebelingerode verfiigt ha-
ben diirfte. Vor dem Hintergrund von dorflichen Besitzrechten auch des Klosters
Neuwerk, mit denen „das nordliche Vorgebiet der Stadt Goslar [. . .] durch-
setzt" 74 war, erhohte sich somit sicherlich das stadtische Interesse an den dorti-
gen Erwerbungen im 16. Jahrhundert - auch und gerade gegen Territorialisie-
rungsanspriiche des Herzogs. Denn gewohntermaBen war das Gebiet eben schon
langer durch die Stadt und ihre Bewohner groBflachig integriert worden, und
man hatte auf die Ressourcenabschopfung moglicherweise in relativ direkter
Weise EinfluB genommen (und eben nicht nur iiber ohnehin obwaltende zen-
tralortliche Marktmechanismen).75
DaB das Dorf Ebelingerode nach 1470 (1400) als terminus post quem wiist ge-
fallen sein soil, ist angesichts der alleinigen Erwahnungen eines bloQen furwarck
Ebelingerott im Zuge der spateren Pachtvertrage durchaus vorstellbar.76 Wir hat-
ten dann am Ort im 15. /16. Jahrhundert nur noch mit einem zisterziensischen
AuBenhof- in welchem Zustand auch immer- zu rechnen. Um von dort nun the-
matisch in den Wald zu gelangen, greifen wir insbesondere auf Erkenntnisse
Winfried Schenks iiber die zisterziensische Bewirtschaftung von Waldern in Siid-
deutschland zuriick.77
Ein guter Zustand der Holzung ware demzufolge als Konsequenz einer admini-
strativen Betreuung durch ein Vorwerk (Grangie) prinzipiell durchaus vorstellbar
und nicht untypisch fur zisterziensisch „gepflegte" Kulturlandschaften. Schenk
73 UBGSV22.
74 Romer-Johannsen, wie Anm. 8, S. 264; vgl. unten Kap. 5.
75 Was hier in groben Ziigen als informelle EinfluBnahme der Stadt auf Ressourcenstro-
me aus dem landlichen Bereich beschreiben wird, geht zuriick auf Erkenntnisse der moder-
nen Stadt-Umland-Forschung, die ihre Wurzeln u.a. in den Uberlegungen des Geographen
Walter Christaller zur zentralortlichen Raumwirksamkeit von Stadten findet; vgl. den Uber-
blick bei Thomas HILL, Die Stadt und ihr Markt. Bremens Umlands- und AuBenbeziehun-
gen im Mittelalter (12.-15. Jahrhundert), Stuttgart 2004, passim, sowie Werner Trossbach
u.a., Die Geschichte des Dorfes. Von den Anfangen im Frankenreich zur bundesdeutschen
Gegenwart, Stuttgart 2006, S. 68-70 (Dorter im Sog der Stadte).
76 Vgl. oben zu Anm. 44.
77 Winfried Schenk, Siiddeutsche Kulturlandschaften unter zisterziensischem EinfluB:
Historisch-geographische Auspragungen und aktuelle planerische Anforderungen, in: Ul-
rich Knefelkamp (Hrsg.), Zisterzienser. Norm, Kultur, Reform - 900 Jahre Zisterzienser,
Berlin u.a. 2001, S. 211-238, hier S. 230f.; in die folgenden Uberlegungen sind auch Er-
kenntnisse Winfried Schichs zur Kulturlandschaft der Zisterzienserkloster zwischen Elbe
und Oder eingeflossen (vgl. Winfried Schich, Die Gestaltung der Kulturlandschaft im enge-
ren Umkreis der Zisterzienserkloster zwischen mittlerer Elbe und Oder, in: Knefelkamp,
ebd., S. 179-209); dezidierte Einzelnachweise unterbleiben.
Ressourcenknappheit und reichsstadtische Kompensation 83
stellt fest, daB das Wiistfallen oder von Zisterzen sogarbewuBt praktizierte Wiist-
legen von Dorfern mit anschlieBend nur noch einsam verbleibendem AuBenhof
„die Entwicklung der sich seit der spatmittelalterlichen Wiistungsphase wieder
schlieBenden Walder begiinstigt" habe. Auch eine zisterziensischerseits begrenz-
te Anzahl an Siedelstellen in den Klosterdorfern habe diesen Effekt gehabt. Die
„walddevastierende bauerliche Nachfrage" in den entsprechenden Bestanden sei
aufgrund des damit niedrigeren Siedlungsdrucks geringergewesen, und einschla-
gige zisterziensische Verordnungen gegen Waldweide oder Streuentnahme so-
wie eine effektive Forstverwaltung hatten gegeniiber den wenigen verbliebenen
bauerlichen Ein- und Umwohnern die Walder fur die Holzproduktion als kloster-
liche Einnahmequelle gesichert. Noch heute wiirden daher Bestockung und Zu-
stand entsprechender Klosterwalder auffallig mit den ehemaligen siedlungsna-
hen Bauernwaldern kontrastieren.
Wir wissen iiber die entsprechenden Verhaltnisse in den Vier Bergen und Ebe-
lingerode nichts. Die Ansiedlung war sicherlich nicht groB, wobei wir wenigstens
von den neun Hufen derer von dem Dike ausgehen miissen. Ob die Zisterzienser
nach der Errichtung ihrer nova curia kiinstliche Siedlungslimitation betrieben ha-
ben, ist unbekannt. DaB im 15. Jahrhundert Ebelingerode im Gegensatz etwa zu
Immenrode oder Hahndorf wiist fiel, konnte zumindest darauf verweisen, daB
Walkenried hier nicht sonderlich auf innerdorfliche Nachbarn erpicht war. Viel-
leicht wollte man die Waldbestande in der Tat selbst kultivieren und bewirtschaf-
tete sie exklusiv vom AuBenhof aus.
Schenk relativiert seine Aussage zur zisterziensischen Waldgiite allerdings
noch in einem wichtigen Punkt: Es sei namlich gegebenenfalls eher die relative
Siedlungsferne klosterlicher Walder gewesen anstatt bloBe zisterziensische Wald-
baukunst oder -politik, welche die Grundlage guter Forstverhaltnisse gebildet
hatte. Die Vier Berge aber stellten auch nach dem Abgang Ebelingerodes kaum
eine siedlungsferne Wiistungsflur dar. Mehrere Dorfer und die Stadt Goslar iib-
ten besagten Siedlungsdruck weiterhin aus, lagen als potentielle Ausgangspunkte
walddevastierender bauerlicher und stadtischer Nachfrage zu nahe und hatten
das Nutzungsvakuum des wiistgefallenen Ebelingerodes miihelos ausfiillen kon-
nen. Was konnte und wollte Walkenried da exkludieren? Als Grundherr in Im-
menrode und Hahndorf oblagen dem Kloster schlieBlich auch gewisse Fiirsorge-
pflichten (Weide, Brennholz, Bauholz) . Zudem bot insbesondere die Stadt Goslar
natiirlich Einnahmemoglichkeiten aus dem Holz, wobei der Stadthof im Zwei-
felsfall als probate Absatzplattform dienen mochte.78 Die Goslarer Tafelamtsregi-
78 Vgl. zur auch im Goslarer Kontext wichtigen Handelshausfunktion dieser Stadthofe
gerade im Spatmittelalter allgemein: Wolfgang Bender, Zisterzienser und Stadte. Studien
zu den Beziehungen zwischen den Zisterzienserklostern und den groBen urbanen Zentren
84 Cai-Olaf Wilgeroth
ster freilich schweigen dazu. Fur den genuin stadtischen Eigenbedarf konnte
Goslar seinerzeit noch iiber genug „eigenes" Holz im Harz verfiigen. Und ein gut
vorstellbarer privatbiirgerlicher Holzbezug vom Walkenrieder Stadthof ware
hochstens in Walkenrieder Registern aufgetaucht. Solche liegen fur das 16. Jahr-
hundert jedoch nicht (mehr) vor.
Spatestens fur das 16. Jahrhundert muB Schenk in Siiddeutschland auch von
„mi61ichen Verhaltnissen" in Klosterforsten berichten, die „das Resultat eines
iiberzogenen klosterlichen Eigenverbrauchs und intensiver Waldnutzung durch
die umliegende [. . .] Bevolkerung" waren. Vor allem in politisch schwierigen
Phasen hatte solches von daniederliegenden Klosterverwaltungen nicht mehr ef-
fektiv verhindert werden konnen.79
Moglicherweise trifft dieses Entwicklungsszenario auf die Goslarer Verhaltnis-
se weitaus besserzu als der Gedanke zisterziensisch vorbildlich gehegter Waldbe-
stande in der Nahe einer „holzfressenden" Bergbaustadt. Auch waren die Zister-
zienser spatestens im 15. Jh. Geschaftsleute, und wir diirfen nicht vergessen, daB
sie selbst im Berg- und Hiittenwesen des Harzes involviert waren. Wenn dann im
16. Jahrhundert im Zuge der Verhandlungen um eine Ubernahme der Goslarer
Besitzungen Walkenrieds durch die Stadt klosterlicherseits das Argument vorge-
bracht wird, infolge des Bauernkrieges sei eine Eigenverwaltung der Giiter nicht
mehr zu leisten, konnte dies wiederum darauf verweisen, daB es vorher durchaus
eine striktere Bewirtschaftung mit kommerziellen Interessen gegeben hatte.
Wie auchimmersich die genaue Situation um die VierBerge vor der Mitte des 16.
Jahrhundert nun dargestellt haben mag, und in welch konkretem Zustand der
Wald sich dabei befunden hatte: Schon angesichts seiner BestandesgroBe, Stadt-
nahe und Verfiigbarkeit handelte es sich um ein interessantes Erwerbsobjekt fun-
die Goslarer Verantwortlichen. Unter den anfangs noch hauptsachlich avisierten
Zielsetzungen einer reinen Brennholzokonomie mit relativ kurzen Umtriebszei-
ten ware auch ein stark iibernutzter Waldbestand noch attraktiv gewesen, da man
ihn sich ziigig wieder hinreichend bestocken lassen konnte. Treibendes Motiv
zum Erwerb war in erster Linie das Bemiihen um rasche Kompensation der in
den 1530er-Jahren so vehement verspiirten Harzwaldverluste durch ein zu recht-
maBigem Eigen besessenes Holzreservoir (und sei es nur in der juristischen Form
der Pacht) .
Das hatte nicht zuletzt auch psychologische und innenpolitische Griinde fur ei-
nen Rat, der fur die Sicherstellung ressourcenokonomischer Selbstbestimmtheit
der Stadtbevolkerung in die Verantwortung genommen wurde. Nichts machte
des mittleren Moselraumes (12.-14. Jahrhundert), Trier 1992, S. 39-43; s. unten Kap. 5.
79 Schenk, wie Anm. 77, S. 231.
Ressourcenknappheit und reichsstadtische Kompensation 85
dies deutlicher als der Verlauf der Goslarer Reformation. Gerade Brennholz war
essentiell fiir die Menschen. Und auch wenn die Vier Berge nicht die gesamte
Stadt wiirden versorgen konnen, konnte der Rat diesbeziiglich zumindest Tat-
kraft vorweisen.80 Denn daB man 1543 dann im Zuge des herzoglichen Exils
noch einmal kurzzeitig Oberwasser im Harzwald erlangen wiirde, war bei Be-
ginn der Walkenrieder Verhandlungen noch nicht absehbar.
Auf welche Weise nutzte die Stadt nun die ihr iiberantworteten Waldbestande?
Erstaunlicherweise sind wirhinsichtlich der archivalischen Uberlieferung fiir die
Vier Berge besser mit umweltgeschichtlich auswertbaren Holzverkaufs- und Ein-
schlagsregistern ausgestattet als fiir den eigentlichen Stadtforst. Forstortspezifi-
sche Abrechnungen der Goslarer Holzherren fiir Bestande im Harz liegen - bis
auf allzu fragmentarische Ausnahmen - erst seit Ende des 16. Jahrhunderts vor.
Umso erfreulicher ist es, daB stattdessen fiir die Vier Berge als einer Art stadti-
schem Eigen(wald)betrieb anhand der fiir die Jahre 1544 bis 1547bzw. 1565/1566
vorliegenden Register representative Zeitschnitte unmittelbar vor und nach dem
Riechenberger Vertrag moglich werden.81 Dabei ist es sicherlich gewagt, an seri-
elle Quellen mentalitats- und motivationsgeschichtliche Aussagen zu kniipfen.
Doch scheint es unter hermeneutischen Aspekten mangels Alternativen oppor-
tun, durch eine grafische und tabellarische Auswertung dieser Register zumin-
dest fiir die Vier Berge wertvolle Hinweise auf Bewirtschaftungsmodus, -intention
und -modifikation seitens des Goslarer Rates zu erhalten, nachdem wir fiir den
Harzwald jenerjahrzehnte ansonsten uninformiert bleiben.82
80 Vgl. oben Anm. 37.
81 Es handelt sich um folgende Signaturen des Goslarer Stadtarchivs: StA GS B 2284,
2452, 4437, 6072, 6073, 6076 und 6077; diese Register beziehen sich ausschlieBlich auf den
Einschlag oder Verkauf von Malterholz; davon bleibt das fragmentarische und noch nicht
einzuordnende Register in StAGS B 4437 (Malterholzeinschlag 1543?) im Folgenden unbe-
riicksichtigt, ebenso StA GS B 6068 und 6069, zwei Register zum Binden bzw. Verkauf von
Wasen.
82 Nicht beriicksichtigt sind bei dieser Aussage die Moglichkeiten, aus durchaus vorlie-
genden holzverbrauchsbezogenen Registern Ruckschlusse auf den Harzwald und seinen
Zustand zu Ziehen (z.B. Sagemiihlen-, Gruben- oder Brandholzregister). Eine entsprechen-
de Auswertung wird dabei allerdings erschwert, da vom bloBen Holzbedarf/verbrauch na-
tiirlich nur bedingt auf die lokale Holzentnahme geschlossen werden kann. Dies gilt erst
recht vor dem Riechenberger Vertrag, als Goslar noch die gesamte Region ressourcenoko-
nomisch zu integrieren vermochte; nach Riechenberg, unter den Bedingungen starker terri-
torialstaatlich restringierter Materialfliisse, ist der Bezug von Goslarer Holzverbrauchsregi-
stern auf die Goslarer Waldbestande mutmaBlich unmittelbarer, somit besser lokalisierbar -
gerade dann, wenn man die transporttechnischen Rahmenbedingungen damaliger Zeit in
Relation zu Sortimentierung und Preis des erwahnten Holzes setzt.
86
Cai-Olaf Wilgeroth
Malterholzeinschlag 1544
(Quelle: StA GS B 6076)
Summe It. Tabelle (Maker): 3924 Soil It. Register (Matter): 3433*
senkrecht: Malteranzahl | waagerecht: Abrechnung der Hauerlohne (wochenweise; nach Ein-
schlagmenge) | ,/-Z)=Januar - Dezember | HP= Hiebpause | ??= Daten unbekannt auf-
grund von Uberlieferungsliicke | farbliche Unterteilung der Balken = Zahl der pro Woche be-
schaftigten Holzhauer.
* Die groBe Abweichung blieb auch bei mehrmaliger Durchsicht des Registers unerklarlich.
Zur Erlauterung: Die insgesamt drei Diagramme basieren auf der Abrechnung
der wochendichen Hauerlohne (waagerechte Achse) fur die angegebenen Jahre.
Dabei findet sich in den Registern stets die Diktion (exemplarisch): Sab(a)to nha
Oculi | vij lot Lampe Giseckes vo(r) \ xiiij molder.83 So konnen wir nicht nur die Na-
men der Waldarbeiter und ihren Verdienst ermitteln, sondern auch die einge-
schlagenen Holzmengen genau nachvollziehen. Es diirfte sich also um Akkord-
arbeit gehandelt haben. Als relevante Parameter interessieren uns hier nur die
wochendichen Einschlagsmengen (senkrechte Achse), die Zahl der angelegten
83 StA GS B 4437.
Ressourcenknappheit und reichsstadtische Kompensation
87
Hauer (farbliche Unterteilung) und der Zeitraum, in dem iibers Jahr gesehen ein-
geschlagen wurde.
Malterholzeinschlag 1545 bzw. 1547
(Quelle: StA GS B 2284 und 6077)
vim
600 ■
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Jim
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100 ■-=■■
= §=05^
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&bik It. Tabelle (Maker): 4827 So// It. Registern (Malter): 6087*
senkrecht: Malteranzahl | waagerecht: Abrechnung der Hauerlohne (wochenweise; nach Ein-
schlagsmenge) | J- D =Januar - Dezember" | HP= Hiebpause | ??= Daten unbekannt
aufgrund von Uberlieferung (extrapoliert in Idealverteilung aus bekannter Maltergesamt-
zahl | farbliche Unterteilung der Balken = Zahl der pro Woche beschaftigten Holzhauer.
* Differenz resultiert aus fehlender Lage in der Mitte des 1545er-Registers.
Sehr langer Februar resultiert aus unerklarlicher zweimaliger doppelter Abrechnung"
einer Woche bei unterschiedlicher Wochenbezeichnung.
Wirbeginnen beim Einschlagszeitraum fur diejahre 1544 bzw. 1545/1547: 84 Im
ersten Jahr der erworbenen Abnutzungserlaubnis erstreckte sich die Hiebperi-
84 Die folgenden AuBerungen zu den saisonalen Gepflogenheiten waidmannischer Ta-
tigkeit basieren weitgehend auf der heutigen Beriicksichtigung der Jahreszeitenverteilung;
die Goslarer Bedingungen des 16. Jahrhunderts konnten davon durchaus verschieden gewe-
88 Cai-Olaf Wilgeroth
ode gemessen an waidmannischen Gepflogenheiten bereits ungewohnlich weit
ins Jahr hinein (bis Mitte Mai) , um nach einer halbjahrigen Pause von Mai bis No-
vember erneut einzusetzen. In den Wintermonaten, der klassischen Holzemte-
zeit, ging der Einschlag mit geringer Intensitat weiter, pausierte nur um Weih-
nachten herum. Ahnlich stellt sich die Situation der Folgejahre 1545/1547 dar,
wobei die Hiebzeit nochmals ausgedehnt wurde und bis zum Hochsommer (An-
fangjuli) auBerordentlich lange anhielt. Es schloB wiederum eine Pause an, dies-
mal fiir gut vier Monate von Juli bis November. Zwar kennen wir die saisonale
Hiebverteilung des dazwischen liegenden Jahres 1546 nicht, jedoch diirfen wir
davon ausgehen, daB sich unter dem Strich eine durchgangige Hiebperiode von
etwa acht Monaten jejahr ergab. Gerade fiir 1546 sind insgesamt 8221(!) Malter
Holz ansonsten kaum denkbar - irgendwann muBten diese ja geschlagen wer-
den, vermutlich mit noch mehr Arbeitskraften.85
Zur Beurteilung dieser knapp zweidritteljahrigen Hiebperiode vollziehen wir
einen Ortswechsel ins Hildesheimische. In einem Schreiben der Rate zu Minden
vom 6. Mai (sic!) 1584 an den Amtmann zur Marienburg wird eine Beschwerde
seitens des Klosters Marienrode wegen defi holzens im tofimerbergk angezeigt: Der
Amtmann habe sich unterstanden, das Kloster unpillicherweise zu beeindrechtighen.
Und da von ermelten closter oder denen irigen des holzens halben bei euch ansuchunge be-
schiedhet [. . .], so khonnen sie dock von euch kein richtig bescheid od(er) anweisung (erhal-
ten), dahero sie dann dies jar kaum den dritten theil notturftiger holzung, und wie sie deren
von alters kundtlich berechtiget, [. . .] bekomen, unangesehen das sie derhalben bei euch
vielfaltig angehalten, aber inen die pilligkeit nit begegnen mugen. Sondern vielmehr, dafe
sie sie jhedesmals mit blojien worten und vergeblicher vertrostung solange ufgehalten und
hingewiesen worden, bife das derfrulinge eran getreten. Da daJS beschen, hat man vermeint-
lichfurgewandt, dafi holz wehre numehr gruen, hette ausgeschlagen und wollte sich keines-
weges thun noch verandtworten lassenjheniger zeit die holzung anzugreiffen, noch dieselbe
dergestald verwusten zulassen.86 Im Friihjahrund Sommer- so die hierentscheiden-
de Information - schlug man eben kein (Brenn-)Holz ein, wenn man die Bestan-
de schonen und sich selbst nicht mit saftfrischem und vollbelaubtem Holz bela-
sen sein angesichts der sogenannten „Kleinen Eiszeit", in welcher wir uns damals zeitlich be-
finden.
85 Die Kenntnis dieses Wertes basiert auf dem Uberlieferungsgliick: das Register des
Jahres 1547 war offenbar die bloBe Fortfiihrung desjenigen von 1546; zwar fehlt der 1546er-
Teil, jedoch ist die letzte Seite des verlorenen Abschnitt zugleich die erste Seite des Folge-
jahres (recto/verso). Auf der letzten Seite eines Jahres wurde immer aufsummiert, so daB
wir zumindest die Einschlagssumme fiir 1546 angeben konnen (vgl. StA GS B 6077).
86 NdsHStA H Cal. Br. 7 Nr. 1108, Streitigkeiten zwischen dem Kloster Marienrode und
dem Amte Marienburg wegen der dem Kloster zustehenden Holzungsgerechtigkeit im ToB-
merberge, 1584-1601.
Ressourcenknappheit und reichsstadtische Kompensation 89
sten wollte. Vor dem Hintergrund dieser auch heute noch giiltigen Regel gibt das
saisonale Einschlagsgebaren des Goslarer Rates in den Jahren zwischen 1544
und 1547 bereits deutliche Hinweise auf die zugrunde liegende Motivation: Man
wollte solange wie moglich einschlagen, um so viel wie moglich aus dem Wald
herauszuholen. Man schlug das Holz, sooft und solange man dessen bedurfte und
legte eine offenbar unabdingbare Pause (warum?) nurin den Hochsommer- und
Herbstmonaten ein. Bezeichnenderweise beschwerte sich Walkenried dann 1545
ja auch iiber das Einschlagsverhalten der stadtischen Waldarbeiter, weil diese
nicht nur mehr als bloBes Unterholz, sondern eben auch nicht ublich der zeit geha-
wen hatten.87 Im Friihsommer jedoch lieB der Rat sogar am meisten Holz ein-
schlagen. Und die Arbeit in den Vier Bergen ruhte in den Sommer- und Herbst-
monaten selbstverstandlich nicht: iiber das ganze Jahr verteilt waren die Wasen-
binder damit beschaftigt, die kleineren Zweige und Aste zu Biindeln zu binden.88
Damit sind wir beim nachsten Parameter angelangt: der Einschlagsmenge.
Wie konsumtiv der Rat in diesen Jahren agierte, wird erkennbar, wenn man sich
die schieren Quantitaten und ihre Entwicklung vergegenwartigt. Die Einschlags-
menge kletterte von anfanglich knapp 4000 (3500) Maltern Holz auf insgesamt
8221 Malter des Jahres 1546; 1545 bzw. 1547 waren es zusammen 6087, wobei das
Gros angesichts von nur neunwochiger Hiebkampagne 1547 natiirlich auf das
Vorjahr entfiel (5439: 654). 1546 war urspriinglich das letzte der zunachst erwor-
benen drei Einschlagsjahre, und die Zahlen sprechen fur sich: 8221 Malter sind
das Anderthalb- bis Zweifache der bisherigen Einschlagsvolumina. Und wenn
wir die 650 Malter von 1547 auf das ganze Jahr hochrechneten, so kame bei anhal-
tendender Hiebtatigkeit und gleichbleibendem Einschlagsgebaren theoretisch
abermals ein Wert von einigen tausend Maltern heraus. Die Schlagzahl hatte sich
jedesjahr drastisch erhoht, so daB sich die Einschlagsmengen stets um einige tau-
send Malter gesteigert hatten. DaB Goslar dann 1547 mit dieser Form des schie-
ren Aberntens derBestande (Raubbau?) nicht fortfahren konnte, warmoglicher-
weise den Zeitumstanden geschuldet - wir befinden uns im historischen Ereignis-
verlauf kurz vor der Schlacht bei Miihlberg. Vielleicht hatte man fur den Moment
die Holzung aber auch schlechterdings erschopft, wogegen freilich der abermali-
ge Erwerb schon im Jahr 1549 sprache.
Zu diesem sich abzeichnenden Bild von einer rein konsumtiven Form der
Waldnutzung paBt als dritter Parameter schlieBlich auch die enorm groBe Be-
schaftigtenzahl: In den Hochphasen des Jahres 1545 waren bis zu 28 Holzfal-
ler(rotten) in den Bestanden unterwegs und ernteten das Unterholz ab; fiir das
nachfolgende Jahr 1546 diirfte diese Zahl moglicherweise sogar noch iiberboten
87 Vgl. oben zu Anm. 62.
88 Vgl. StA GS B 6096, Uthgave vor wasen tho binden, 15444546.
90 Cai-Olaf Wilgeroth
worden sein. Auffallen muB jedoch, wie betrachtlich die Zahl der Waldarbeiter
im Jahresverlauf auch schwankte.
Gleichwohl ergeben unsere drei Parameter zusammengenommen ein klares
Bild vom Vorgehen des Goslarer Rates und lassen Riickschliisse zu auf das zu-
grundeliegende Ressourcennutzungsverstandnis: Man hatte das Unterholz zur
Abnutzung teuer erworben, also gait es solches auch effektiv abzunutzen - ohne
Riicksicht auf den nachmaligen Zustand der Bestande. Von Nachhaltigkeit noch
keine Spur! Denn das ubergebiihrliche Schlagen sogar zur Unzeit machte letzt-
lich alle vertraglichen Bemiihungen der Zisterzienser um Erhalt der Bestande
(LaBreiBer) zunichte. Der Rat betrieb hierwohl Kahlschlagwirtschaft zugunsten
der dringenden Holz- und Kohlbediirfnisse seiner Stadt und ihrer nach wie vor
im Montanwesen tatigen Bewohner. Es gait, die Jahre des herzoglichen Exils und
das somit wiedermogliche Wirtschaften rund um den Rammelsberg gewinnbrin-
gend zu nutzen, solange die Gunst der Stunde anhielt. Riickstande waren aufzu-
arbeiten. Und selbst wenn man um die waldschadigenden Folgen des eigenen
Vorgehens wuBte (wovon wir vor dem Hintergrund damaligen forstlichen Wis-
sens eigentlich auszugehen haben): War es zum gegebenen Zeitpunkt aus Gos-
larer Sicht iiberhaupt angezeigt, sich in den Vier Bergen in Zuriickhaltung zu
iiben?89
Die Kontrastierung mit der Zeit nach dem Riechenberger Vertrag soil diese
Diagnose der Goslarer Waldnutzungskonzeption als ausschlieBlich konsumtiv
verdeutlichen und zugleich deren Wandel hin zu einem nachhaltigeren Nut-
zungsverstandnis aufzeigen. In Anbetracht der drei Parameter Menge, Zeitraum
und Beschaftige sprechen die Zahlen dabei fur sich: Am Beispiel des fiir die Jah-
re 1565/1566 vorliegenden Einschlagsregisters erkennen wir die veranderte Vor-
gehensweise des Rates. Die Hiebperiode dauerte nur noch von Dezember bis
Anfang Marz und umspannte somit lediglich die eigentlichen Wintermonate,
der Schwerpunkt lag dabei im Januar. Die Zahl der Hauer blieb mit maximal
zwolf iiberschaubar, und die eingeschlagenen Mengen lagen mit nicht einmal
89 Hier waren eigentlich auch die parallelen Entwickhmgen um den Harzwaldbesitz
der Stadt Goslar einzubeziehen; in diesem Kontext hatte man 1543 mit den stadtbegiinsti-
genden Grenzziehungen des „Kleinen und GroBen Schnitts" (Kaiserforst, Albrecht-von-
der-Helle-Forst) unter der Herrschaft der Bundesfiirsten gerade einen vorteilhaften Ent-
wicklungsstand erreicht (vgl. z.B. StA GS B 2304, Sammelakte: Aufzeichnungen bzgl. Gos-
larer Forstbesitz). Vielleicht meinte man vor diesem Hintergrund, sich das Abernten eines
bloB peripheren Waldstiickes erlauben zu konnen - die Vier Berge sozusagen als schnelle,
additive und zwischenzeitliche Holzversorgung; zur Ambivalenz der ressourcenokonomi-
schen Abwagungsprozesse im Kontext Montanwesen-Wald vgl. auch die Ausfuhrungen bei
Bernd Marquardt, Umwelt und Recht in Mitteleuropa. Von den groBen Rodungen des
Hochmittelalters bis ins 21. Jahrhundert, Zurich u.a. 2003, bes. S. 178-182 (Umweltrecht der
Industrieforstbezirke: Das Recht der nachhaltigen Energiewirtschaft).
Ressourcenknappheit und reichsstadtische Kompensation
91
Malterholzeinschlag 1565/1566
(Quelle: StA GS B 2452)
700
600
500
400
300
QDQOj
a.ssa
5 ~
2
S-|>'1 §2221 «««»:;
DB «J X C"p.(,OHBHOHOHOH0.Q.0.0.E:=SE;SE;SaD-OHOHOHOH^&^&OHOHOHD-eHD-OHD-
Summe It. Tabelle (Matter): 2733 V2 So// It. Registern (Malter): 2767 V2
senkrecht: Malteranzahl | waagerecht: Abrechnung der Hauerlohne (wochenweise; nach Ein-
schlagsmenge) | D- N= Dezember - November | HP= Hiebpause | farbliche Unterteilung
der Balken = Zahl der pro Woche beschaftigten Holzhauer.
2800 Maltern weit unter denjenigen der 1540er-Jahre. Immer noch hoch zwar,
aber es laBt sich hierbei bereits ein Trend zur MaBigung erahnen, der in der Fol-
gezeit anhalten sollte und dabei gewiB nichts mit einem eventuell unergiebigen
Zustand der Bestande zu tun hatte.90
Vielmehr hatte der Rat offenbar seine Bewirtschaftungsvorstellungen gean-
dert. Wir konnen hier nur spekulieren: Mit dem Riechenberger Vertrag sah man
sich im Harzwald auf den vielzitierten Rumpfbestand des Stadtforsts zuriickge-
worfen, um den es zudem nicht allzu gut bestellt gewesen sein diirfte angesichts
seiner vorherigen montanwirtschaftlichen Ubernutzung. Die Vier Berge, in den
1540er-Jahren noch als bloBer Brennholzfundus genutzt, erhielten schon von da-
90 Vgl. unten Anm. 94.
92 Cai-Olaf Wilgeroth
her eine neue Bedeutung fiir die Stadt: Einerseits boten sie - auch bei zunehmen-
der Verdrangung der Burger aus dem Berg- und Hiittenbetrieb - eine willkom-
mene Erganzung zu den nach wie vorknappen Ressourcenkapazitaten der Stadt
(Hausnotdurft, Zulieferergewerbe, Handwerk, Eigenbetriebe); andererseits bil-
deten sie - psychologisch wichtig - ein Gebiet eigener Herrschaft vor den Toren
der Stadt, wo allenfalls einige Bauern des Umlandes, kontrollierbar in Goslarer
Pachtverhaltnissen, Nutzungsanspriiche hatten91 - jedenfalls aber ohne jene im
Stadtforst vertraglich fixierte Forsthoheit des Herzogs.
Wer waren die Abnehmer des eingeschlagenen Holzes? Und welche Mengen
wurden gekauft? Es ware eine schone Bestatigung unsererbisherigen Uberlegun-
gen, wenn sich Namen, Professionen und Mengen der jeweiligen Kaufer in die
Goslarer Wirtschaftskonjunktur der betreffenden Jahre einordnen lieBen: Inso-
fern namlich, als daB wir fiir die oben diagnostizierte erste Phase des bloBen
Raubbaus an den Waldungen (1544-1547) eben auch eine deutliche Dominanz
der holzbediirftigsten GroBverbraucher (v.a. Hiittenbetreiber) unter den Kaufern
erkennen konnten - resultierend aus einer bevorzugten Bedienung gerade dieser
Bediirfnisse durch den Rat. Dann - nach dem Riechenberger Vertrag - miiBte
dementsprechend ein breiteres Spektrum der Stadtbewohner an der nachhaltige-
ren, wenigermontanmonopolwirtschaftlich ausgerichteten Waldwirtschaft parti-
zipiert haben. Andererseits besaB die Stadt natiirlich auch nach 1552 noch eine
erkleckliche Zahl groBerer wie kleinerer „Holzfresser" (Vitriolhaus, Bleihof, Zie-
gelei, Kalkrose); und auch schon in den 1540er-Jahren hatten selbstverstandlich
alle Einwohner der Stadt Brennholzdefizite, die der nicht unumstrittene Rat tun-
lichst befriedigen muBte.92
Die sich hier abzeichnende statistische „Gretchenfrage" moge fiir den Moment
unentschieden bleiben. Da eine prosopographisch zu untermauernde Interpreta-
tion des Zahlenmaterials an dieser Stelle zu weit fiihren wiirde, sehen wir davon
ab, die ohnehin nicht immer ganz sicher zu transkribierenden Namen der Kaufer
vor und nach 1552 einfach tabellarisch zurDiskussion zu stellen. Zu viele Fragen
zur Einordnung der 98 bzw. 87 Personen sind noch (und bleiben) unbeantwortet.
Nur so viel: Natiirlich finden sich prominente Namen des Goslarer Hiittenmi-
lieus unter den Kaufern, auch an vorderer Position - aber eben nicht nur, und in
den 1540er-Jahren kaum signifikanter als in den 1560er-Jahren. Das Spektrum
der Kaufer ist zu beiden Zeiten differenzierter zu beurteilen.
Auch haben wir sowohl 1565 als auch 1544-1547 mit noch anderen Brenn-
holzquellen der Stadt zu rechnen, deren statistische Beriicksichtigung aufgrund
91 Vgl. unten Anm. 109.
92 Fiir den alltaglichen Brennstoffbedarf diirfen dabei die hier nicht betrachteten Wa-
senholzsortimente selbstverstandlich nicht auBer Acht gelassen werden.
Ressourcenknappheit und reichsstadtische Kompensation 93
fehlenderUberlieferungjedochunmoglichist. Es wiirde dasBild also zu sehrver-
falschen, spiegelte man ausschlieBlich die Vier-Berge-Register an der Wirt-
schaftslage der Stadt. Auch tauchen gar nicht alle Abnehmer von Vier-Berge-
Holz darin auf, da ein gemessen Teil Holz stadtischen Einrichtungen und Aufga-
ben zugute kam (Vitriolhaus, Kalkrose, Ratsstube, Grauer Hof, Wegebau, Depu-
tatholz etc.) und an anderer Stelle lediglich summarisch verbucht wurde.93
Nur eine Bemerkung zur Mengenverteilung: Sie scheint 1565/1566 homoge-
ner verlaufen zu sein als 1544, wo wir eine deutlichere Spitzengruppe ausmachen
konnen - nicht deutlich genug jedoch, um die These von einem klaren Holzmo-
nopol (des Montangewerbes) in den 1540er-Jahre zu bestatigen. Auch miissen
saisonale Erwerbsvorlieben der Kaufer noch erklart werden, wie sie der Diktion
der Register zu entnehmen sind (exemplarisch) : Sab(a)to nha Reminescere \ vj gul-
den) Ludeke Heifien \ vor Ix molder.
Wie auch immer man die Verkaufszahlen und Kauferhorizonte letztlich inter-
pretieren mag, die Veranderungen im oben nachgezeichneten Einschlagsgeba-
ren des Goslarer Rates spiegeln bereits eindriicklich genug ein sich wandelndes
Nutzungsverstandnis und -bediirfnis auf Seiten der Stadt Goslar wider. Man be-
wirtschaftete die Vier Berge seit der zweiten Jahrhunderthalfte umsichtiger, kon-
trollierter und zuriickhaltender. Dies bestatigt auch ein Blick in die Tafelamtsbii-
cher spaterer Jahre, in denen die Verkaufe an Malter- und Wasenholz sowie des-
sen jeweilige „Produktion" verrechnet sind: Die Einschlagsmengen stagnierten
auf einem relativ moderaten Level von einigen hundert Maltern (Holz) bzw.
Schock (Wasen).94 Die Mentalitat vom einfach abzuerntenden, holzernen acker
hatte man aufgegeben, um sich fortan dem Ziel von einem herlich schoen holtz95 zu-
zuwenden.
93 StA GS B 2283, Upnhame van vorkofftem holte uth den veer barghen de anno xliiij, xlv, xlvj
und xlvij, (nach 1547).
94 Z.B. StA GS B 91, Tafelamtsrechnung 1580: 716 Schock; B 100, Tafelamtsrechnung
1585: 645 Malter, 197 Schock; damals freilich hatte der Rat - rechtlich abgesichert - auch
wieder andere Waldbezirke zur Verfiigung (Stadtforst), und muBte nicht in den Vier Bergen
soviel wie moglich einschlagen. DaB die geminderten Einschlagsvolumina nicht einem
schlechterdings devastierten Waldzustand der Vier Berge geschuldet waren, erhellt aus den
in Kap. 4 zu besprechenden dortigen Konflikthorizonten - das Holz war da und man stritt
sich trefflich darum. Seit Mitte der 1590er -Jahre blieben die entsprechenden Rubriken zu
den Vier Bergen in den Registern dann iibrigens leer. Der Streit mit dem Herzog legte die
stadtische Waldwirtschaft dort also offenkundig lahm.
95 So werden die Vier Berge dann - vielleicht bewuBt beschonigend - vom Rat im Kon-
text seiner Querelen mit dem Herzog" und seinen Untertanen bezeichnet (StA GS B 2691,
Verzeichnisse der Ldnderey davon der Vorwalter zu Walckenrede die Zinse einem Ehrbaren Rade der
Stad Goslar jehrlichs vorheentholt und auffnimpt, (nach 1595), fol. lr).
94 Cai-Olaf Wilgeroth
4. Waldfrevel: Der Amtmann zur Liebenburg, die Bauern des Umlandes
und die Ohnmacht eines Forsters.
Die Auswertung der Malterholzregister hat ergeben, daB sich beim Rat der Stadt
Goslar nach dem Riechenberger Vertrag und dem endgiiltigen Verlust der
Harzwaldungen offenbar ein ProzeB des Umdenkens in der Waldbewirtschaf-
tung vollzogen hatte. Dementsprechend verfolgte man nunmehr langerfristige
und nachhaltigere Ambitionen in den Vier Bergen. Spatestens seit dem endgiil-
tigen Erwerb der Walkenrieder Waldungen im Jahre 1579 ist dabei auch an ein
forstwirtschaftlich breiteres Nutzungsspektrum zu denken als nur die Erzeugung
von Brennholz- und Wasensortimenten im Rahmen einer Niederwaldbewirt-
schaftung.
Dies wird aus einem anderen quasi-seriellen Quellenbestand deutlich, der im
Zuge der baldigen Auseinandersetzungen zwischen der Stadt Goslar und den
Herzogen von Braunschweig-Wolfenbiittel um die Vier Berge und die iibrigen
Walkenrieder Giiter entstanden ist. Es handelt sich um eine Reihe von protokol-
larischen Berichten des stadtischen Vier-Berge-Forsters Dietrich Elling iiber Ver-
letzungen der Goslarer Waldhoheit vom landesherrlichen Umland her. Diese
Dokumente96 liegen in dichter Folge fur die Jahre 1599-1628 vor und spiegeln
nicht nur die stadtischerseits zu beklagenden Einfalle und Holzfrevelungen
durch die herzoglichen Amtsuntersassen und -bediensteten wider. Vielmehr
spricht aus ihnen auch - quasi ex negativo und zwischen den Zeilen gelesen - das
stadtische Gegenmodell zum „schandlichen Treiben" der Bauern und Amtleute.
In Grundziigen erfahren wir so etwas iiber die Idealvorstellungen der Stadt (bzw.
ihres Forsters) von einer richtigen und guten Waldbenutzung. Zugleich werden
uns aufschluBreiche Details iiber damalige wirtschaftliche, forstliche und gesell-
schaftliche Strukturen rund um den Wald mitgeteilt.
Bevor wir uns diesen sehr lebensnahen Beschreibungen naher widmen, sei
aber die Frage geklart, wie es dazu kommen konnte. Hatte nicht Goslar mit Wal-
kenried einen formellen Abnutzungs- bzw. Ubereignungsvertrag hinsichtlich der
Vier Berge und sonstigen Liegenschaften geschlossen? Und dies nicht zuletzt des-
halb, um dem bekanntermaBen gleichsam vorhandenen Interesse des Landes-
herrn (Saline Liebenhall) einen rechtserheblichen Riegel vorzuschieben - auch
vor dem Hintergrund gemeinsamer klosterlicher wie stadtischer „ Antipathie" ge-
geniiber territorialstaatlichen Mediatisierungsbestrebungen?
96 Ein chronologisch geschlossener Bestand von etwa siebzig Folioseiten (Einzelblat-
ter/Doppelbogen) in StA GS B 2452; die Ursache seiner Genese diirfte die gleiche sein wie
bei den vom Verfasser eingehend untersuchten Gravamina des Forstes von 1525ff. (vgl. oben
Anm. 36): man sammelte Argumente fur einen ReichskammergerichtsprozeB in Form von
Forstfrevelereignissen.
Ressourcenknappheit und reichsstadtische Kompensation 95
Die Erklarung findet ihren Ausgangspunkt in der Entwicklung der Walkenrie-
der Schirm- und Schutzherrschaft begriindet.97 Auf die religions- und territorial-
politisch verworrene Situation ist hier nicht naher einzugehen, ebensowenig auf
die innerkonventlichen Differenzen. Nur soviel sei mitgeteilt: Die Grafen von
Honstein, kaiserlich verordnete Inhaber der Schutzvogtei iiber das Kloster im 16.
Jahrhundert und seit 1567/78 bestatigte Administratoren, hatten als Inhaber der
Vermogensverwaltung und Wirtschaftsfiihrung den VerauBerungen seitens des
Konvents bzw. seiner Vorstander an die Stadt stets zugestimmt, hatten solche so-
gar gefordert zwecks Sanierung der Klosterokonomie.98 Die eigentlichen ober-
schutzherrlichen Gerechtsame iiber Walkenried besaB jedoch das kurfiirstliche
Haus Sachsen. Nachdem es diese im Jahr 1574 an das Bistum Halberstadt abge-
treten hatte, wurden sie unter der bischoflichen Regierung des Welfen Heinrich
Julius 1583 von dort an Braunschweig-Wolfenbiittel iibergeben; letzteres besaB
zugleich die Anwartschaft auf die Halberstadtischen Lehen Honsteins. Mit dem
Tode des Grafen Ernst von Honstein im Jahre 1593 standen Herzog Heinrich Ju-
lius sowohl die Obervogtei als auch die bisher seitens Honstein ausgeiibte
Schutzherrschaft zu. Folgerichtig wahlte ihn der Konvent zum Administrator.
Damit sollten die Probleme fiirGoslarbeginnen, denn der Herzog forderte die
verauBerten Giiter fiir das Klostervermogen zuriick, indem er die geschlossenen
Vertrage widerrief: Sed tamen ipsi contradictum est, a Reverendifeimo & Illustrifeima
Pricipe &Domino, Dn. Hernico-Iulio. Episcopo Halberstadens. DuceBrunsvic. &Lunae-
burg. Administrator e, quod Monasteium inprecio enormiter esset laesum; quod Conventua-
les primarij ad contractum non essen(t) adhibibiti; quod non accefeisset consensus Illusitri-
Jiimi Principis, Dn. Iulij Ducis Bruns. & Lunaeburg sub cuius iurisdictione nonnihil bo-
97 Vgl. Heutger, wie Anm. 22, S. 63-65 und 69-72 (Die Administratoren des Klosters);
Alphei, wie Anm. 22, S. 690-695; Leuckfeld, wie Anm. 18, S. 105-119; Gerhard Streich,
„Stift und Closter Walkenried". Die niedersachsischen Zisterzen zwischen Reichsstand-
schaft und Landsassigkeit, in: Peter Aufgebauer u.a. (Hrsg.), Festgabe fiir Dieter Neitzert
zum 65. Geburtstag, Bielefeld 1998, S. 196-228, hier S. 213-217; Friedrich Wagnitz, Walken-
ried und die Geschichte der Welfen, Walkenried 1982, S. 6-8; die Einzelnachweise unter-
blieben.
98 Eckstorm, wie Anm. 16, pag. 260: Huic contractui quidem consensum praebuerunt Volck-
marus.Wolfgangus Comes ab Honstein, & Johannes S. Theologiae Doctor, Veteris-Campi Abbas. Der
Abt von Altenkamp war damals Visitator des Klosters; vgl. auch die spatere Klageschrift
des Rates gegen Herzog Heinrich-Julius in den Artikeln 8 bis 11 (StA GS B 2691).
99 Ebd., pag. 260. Trotz seiner personlichen Nahe zu den welfischen Administratoren,
widmete er sein Chronicon doch Herzog Friedrich-Ulrich, stellte der spatere Prior Walken-
rieds hier Zweifel an der RechtmaBigkeit des herzoglichen Widerrufs der Vertrage in den
Raum: An etiam penes Procuratorem fuerit potestas vendendi bona ista primaria, iudicet penes quern
est iudicium. Ilia sed in Camera Augusta sub iudice lis est. (ebd.).
96 Cai-Olaf Wilgeroth
nur am Rande; ebensowenig furs Erste die Frage der vorgeblichen oder tatsachli-
chen herzoglichen Motive.100 Entscheidend sind vielmehr die konkreten Vor-
kommnisse im Zuge einer Auseinandersetzung um die holzernen Ressourcen der
energie- und rohstoffbediirftigen Nordharzregion.
Noch bis in das Jahr 1593 hinein war mit den Vier Bergen aus Sicht der Stadt al-
les in Ordnung, und es ist anzunehmen, daB man die Bestande seit knapp 14 Jah-
ren vollig eigenverantwortlich am Unter- wie Oberholz nutzte. Unter dem 18.
August 1593 wendet sich der herzogliche Bergvogt an den Rat, weil jetz vor den
Barge an dribescheiben in den gebellen [= Gopel/Geipel] hoch nottihg. Nicht alleine auff
m g Fund Herren gruben besonders auch so wollauffEinesErbaren rades gruben.Deshalb
gelange die Bitte an den Rat, dieselben wollen zu der behuffdurch denforster einen bu-
chen baum zu hauwen an weissen lassen.101 Wir erfahren nicht, ob und wo der Rat
den erbetenen Buchenstamm anzuweisen und zu fallen verstattet hat. Da das
Schriftstiick jedoch in einem Aktenkonvolut iiberliefert ist, welches sich aus-
schlieBlich mit den Vier Bergen beschaftigt, diirfen wir zumindest annehmen,
daB der Rat der Bitte in diesem Waldbestand nachkam (oder zumindest spontan
diese Waldungen vor Augen hatte, als es um die Uberpriifung der Erfiillbarkeit
ging) . Losgelost vom tatsachlich erfolgten Einschlag einer Buche gehen daraus je-
doch zwei umwelt- wie herrschaftsgeschichtlich wichtige Informationen hervor:
Erstens, die Vier Berge wurden vom Rat mittlerweile als Bau- und Werkholzre-
servoir angesehen, und d.h. auch genutzt, miissen also in einem adaquaten Zu-
stand gewesen sein.102 Zweitens, die herzogliche Seite sah sich damals offenbar
noch an die RechtmaBigkeit der Walkenrieder Vertrage gebunden (oder gab sol-
ches vor) - immerhin ersuchte man ganz offiziell um eine Art von „Amtshilfe".
Doch weder fur die Giiterkontrakte noch fur die Waldungen sollte diese Art
des Bestandsschutzes noch sehrlange gewahrt bleiben: Erste Befiirchtungen wur-
100 Vgl. unten Kap. 6.
101 StAGSB2452.
102 Es war dem Verfasser nicht moglich, die technikgeschichtliche Frage nach den
Durchmesseranforderungen von Treibscheiben im Gopel/Geipelbetrieb zu klaren. Laien-
haft interpretiert hat man sich wohl nicht eben den geringsten Brusthohendurchmesser der
benotigten Buchenbaume vorzustellen, wenn die Treibscheiben durch das bloBe Schneiden
von Baumscheiben erzeugt wurden. Insofern laBt sich so auf das zumindest vereinzelte Vor-
handensein stattlicher Oberholzbaume in den Vier Bergen schlieBen; zur damit einherge-
henden Frage der tatsachlichen Nutzung der Vier Berge als Bauholzreservoir sei zudem an-
gemerkt, daB die damaligen Goslarer Tafelamtsregister ebenso wie zeitgleiche Spezialab-
rechnungen fur Bauholz leider durch ausgesprochene Brevitat bzw. Formalisierung
gekennzeichnet sind. Dies hat zur Folge, daB zwar Bauholzquantitaten und mitunter -qualit-
aten benannt werden, nicht jedoch deren Herkunft (Forstorte etc.). Die im Folgenden ange-
deuteten Erkenntnisse zum Nutzungshorizont der Vier-Berge-Waldungen leiten sich des-
halb ausschlieBlich aus konfliktiven Quellenbestanden ab.
Ressourcenknappheit und reichsstadtische Kompensation 97
den sogar schon einen Monat vor der Bauholzanfrage des Bergvogtes laut.103 In
einer notariell beglaubigten Protestatio geben Biirgermeister und Rat zu Protokoll,
ihnen sei nach angelegter kundtschaft glaubwiirdig furkommen [...], welcher gestalt der
furstliche Braunschweigische Amtmann zu Liebenburg, auch Bergvogten und Oberverwal-
ters Knecht alhier, neben noch anderen zweyen, so ihnen unbekannt, durch Winckelgafen
am verschienen Sonnabendt, war der 14. tagjulij stylo veteri, bei abendtlicher zeitt zwi-
schen sieben und acht uhren ohngefehrlich :\ welches ohn alien zweiffel [. . .] damit es desto-
weniger von den nachbarn in acht genommen wiirde, mochte geschehen \: zu eines Erbaren
Rahts hoiffe der Graue oder walckenreider hoiffgenant sich solten gefunden haben, daselbst
mitteinander underredung gepflogen und undt nach gepflogener solch underredung der
amptman den ring an der thiir ergriffen, auch ein klein spanchen vor derselben thiir ausge-
schnitten, und die andere ihme darzu glilck gewiinschet, darbei es auch nicht erwenden las-
sen, sondern den folgenden Sontags morgen am sutmerberge in dem feldtbusche am knicke,
auch in den Vier bergen neben Peter Bruningfl. Oberforstersichfinden, daselbst zwei mahl-
zeichen, als wolffangel an zwei Baume hauen lassen, ferner zu Immenrode eines erbarn
Raht Pfbchtener [Pdchtener?] vor sich bescheiden, undt was undt wieviel ein jeglicher an
meierzahl, an acker wiesen undsonst hette, erkundiget haben sollten. Obwohl der Rat be-
kennen muB, daB man noch zur zeitt nicht grundtlich wissen kontte, wohin solches ge-
richtet oder gemeinet, so protestiere er schon jetzt fiir den Fall, daB es dahin gemeint
sein solte, das der amptman zu behuffl.f.g. undHerrn, HerzogHeinrichsJulij, sich zur pos-
session desselben hoffes, geholzes, feldtbusch, landerei und gueter zunehmen gesinnet. Man
droht sodann mit dem Gang vor Reichskammergericht wie auch mit Pfandungs-
und VerfestungsmaBnahmen vor Ort, um seinen rechtmaBigen besitzzu manuteni-
ren. Allerdings wird beschwichtigend betont, man hielte das Ganze gegebenen-
falls fiir einen bloBen Alleingang des Amtmanns und seiner Begleitern, mochte
dahinter aber kaum eine herzogliche Initiative vermuten.
DaB der Rat mit seinen MutmaBungen durchaus richtig gelegen hatte, zeigt
schon die Schilderung der jeweiligen Reaktion genannter „Verdachtiger" auf die
Uberbringung dieses Protestschreibens: Wahrend der Amtmann Peter Droge-
miiller die amtliche Kopie des Notariatsprotokolls vom stadtischen Boten ohne
besondere Widerworte annimmt, reagieren Oberforster Peter Briining und Berg-
vogt Heinrich Scharre so, als fiihlten sie sich bei etwas ertappt: Der eine habe das
Ganze durchaufe nun nicht wollen hdren, sondern ist stracks davon gangen, der andere
habe die Dokumente weder hdren noch annehmen wollen.
Zweifelsohne hatte es sich ja auch um eine konspirative „Nacht-und-Nebel-
Aktion" gehandelt, bei der man sich - mangels offizieller Legitimation? - sogar
genotigt gesehen hatte, die eigene Zuversicht durch die Semiotik symbolischer
Gesten zu befordern: Die Tiir, ihr Ring und dessen Ergreifung konnten fiir die
103 StA GS B 2452, Protestatio des Rates (Notariatsinstrument), 1593 Juli 18.
98 Cai-Olaf Wilgeroth
Beanspruchung des Stadthofes und der ihm qua Ertragsspeicherung und Pachter-
hebung administrativ zugeordneten Walkenrieder Acker stehen; der Holzspann
miifite im Sinne eines pars pro toto als Versinnbildlichung der holzernen Res-
sourcen innerhalb der zisterziensischen Besitzmasse gelesen werden, also fur die
Vier Berge, den Sudmerberg sowie verstreut liegende Einzelgeholze stehen. Von
daher wiirden auch Interesse und Beteiligung von Oberforster und Bergvogt
plausibel - sie brauchten das Holz. Der Amtmann seinerseits hatte gewisse terri-
toriale Ambitionen: Die Walkenrieder Giiter lagen groBtenteils in seinem Amts-
bezirk, stellten jedoch verfiigungsrechtlich gesehen extraterritoriales Gebiet dar;
nicht zuletzt benotigte auch er permanent Holz - wir denken an den unter Beteili-
gung seines Vorgangers 1537/1538 miBlungenen Versuch, sich die Vier Berge fiir
die Saline Liebenhall einzuverleiben.104
Ob damals schon der Herzog fiir das Vorgehen seiner lokalen Amtstrager for-
mell verantwortlich zeichnete, geht aus den vorliegenden Dokumenten nicht her-
vor, ist jedoch bei allem, was iiber Herzog Julius' Regierungsintensitat bekannt
ist, mehr als wahrscheinlich. Die sehr bemiihte Unschuldsvermutung des Rates
diirfte diplomatischen Riicksichten geschuldet gewesen sein. Spatestens fiir das
Jahr 1597 werden solche Uberlegungen dann ohnehin obsolet, weil man aus be-
rufenem Munde von den wahren Absichten des Herzogs unterrichtet wird: 105 Im
Kontext einer eher unbedeutenden, jedoch symptomatischen Auseinanderset-
zung um eine vom herzoglichen Forster veranlaBte Abholzung des biirgerlicher-
seits gepachteten Buschwerks deft Suttmerberges erklart der Oberzehntner Christof
Sander gegeniiber dem Ratssyndikus und im Beisein seiner Kollegen Peter Briin-
ing und Andreas Koch (Forster) unmiBverstandlich, daB er in derlei Angelegen-
heit nicht gedenke, sich in weitleuffige disputation mit den stadtischen Gesandten
zu begeben. Vielmehr were (es) aberan deme, dafi vor dieser Zeitt ihn zwei underschiedt-
liche furstliche befehlsschreiben zu handen kommen, darinnen ihnen sich der Walckenriedi-
schen holtzungk anzunehmen ufferlegt. Ahnliches gelte fiir den Amtmann zur Lieben-
burg und die iibrigen Walkenrieder Giiter. Und weil sie solche befehle noch bei ihnen
hetten, theten sie sich nach denselbigen richten.
Damit war die sprichwortliche Katze aus dem Sack, und es verwundert direkt
ein wenig, daB die prozeBbefordernde Supplikation des Rates an das Reichskam-
mergericht noch fast ein Jahr auf sich warten lieB. Erst unter dem 31. August 1598
liegt diese in den Akten vor. 106 Der Quellengattung gemaB wird in ihr die Vorge-
schichte des Konfliktes wiedergegeben und dabei insonderheit ein geholtze, die Vier
104 Informativ zum Zusammenhang von Holzverbrauch und Saline vgl. Witt, wie
Anm. 71, S. 62-65 (Der Betrieb der Saline Liebenhall unter den Herzogen).
105 StA GS B 2692, Instrumentum super turbata possessione sindici (Notariatsinstrument) ,
1597 September 24.
106 StA GS B 2692, Original supplicatio pro citations, 1598 August 31.
Ressourcenknappheit und reichsstadtische Kompensation 99
Berge genandt sowie die Nutzung ann ober undt undergeholtze hervorgehoben. Nach
einer Phase des ungestorten Besitzes und NieBbrauches durch die Stadt und stets
bereitwilliger Pachtzinsverbuchung seitens des Klosters sei man daran dann von
demjahr 93 hero de facto spoliiert und destituirt worden. Neben den recht abstrakten,
summarischen Schilderungen der pacht- und meiergutbezogenen Querelen (Ab-
gabensperre/Pachtgeldentzug) wird sodann zuvorderst derProbleme in den Vier
Bergen bemerkenswert konkret gedacht. Gleiches trifft zu auf die beim Reichs-
kammergericht eingereichte und iiber weite Strecken wortgleiche Klageschrift
des Rates.107 Synoptisch greifen wirnurjene Details heraus, die das oben bereits
skizzierte Bild vom Vorgehen des Amtmanns und des Oberforsters in den Vier
Bergen bzw. Immenrode vervollstandigen:108 Ersterer habe namlich nicht bloB
zwischen Vier Bergen und Heilig-Kreuz-Geholz an einen Schneidbaum, daran eines
Erbaren Raths march gestanden, ein ander march, alji ein Wolffangell hauwen, und den
aufigehauwenn sporn mit gein Immenrode nehmen lassen, sondern itzgenannter Ampt-
mann, undsein mitgefehrte hatten im Zuge dieser frevelhaften Entfernung des stad-
tischen KuhfuBes (Grenzeichen) diesen erst noch respektlos in ihren Schutzwagen
geworffen und sodann im dor ff Immenrode [. . .J zu verstehen geben, das sie dadurch das
Geholze die Vier Berge genandt eingenommen hetten.
Man beachte: Bezeichnenderweise verkiindete Amtmann Peter Drogemiiller
seine Tat demonstrativ, unmittelbar und personlich vor den ortsansassigen Bau-
ern und Meiern von Immenrode. Einerseits sollten hier sicherlich ipso facto ge-
wandelte Macht- und Hoheitsverhaltnisse schlechterdings rituell implementiert
werden - auch und gerade bei den der Stadt Goslar verpflichteten Pachtern. An-
dererseits konnte der Amtmann vielleicht begriindetermaBen hoffen, daB man
ihm gerade in Immenrode und den anderen umliegenden Dorfern bereitwillig
Gehor fur seine Botschaft schenkte: Immerhin waren die dort ansassigen Bauern
durch die in den Vier Bergen weitgehend exklusiv und streng gehandhabte stadti-
sche Eigenwaldwirtschaft als direkte Anrainer und ehemalige Nutzer der Bestan-
de ganz besonders betroffen.109 Der Amtmann wuBte hier moglicherweise um
107 StA GS B 2691, Articulierte Clag, (undatiert); NdsStA WF 6 Alt Nr. 545, Klageschrift
des Rates, 1599 Marz 20.
108 Die Einzelnachweise unterbleiben, alle Zitate stammen im Folgenden aus den in
Anm. 106 bzw. 107 genannten Dokumenten (Supplikation bzw. Klageschrift) im StA GS
bzw. NdsStA WF.
109 DaB der Rat als Pachtherr der dortigen Bauern diese natiirlich nicht ganzlich aus den
angestammten Waldungen heraushalten konnte, wird deutlich aus einer Formulierung in StA
GS B 2691, (nach 1595), einem Verzeichnisse der Ldnderey davon der Vorwalter zu Walckenrede die
Zinse einem Ehrbaren Rade der Stad Goslarjehrlichs vorheentholt und auffnimpt Dort heiBt es fol. 1 r :
Ehrstlich die Hoeltzinse die vierebarge genandt, ist ein herlich schon holtz. Der Rat kassierte also
durchaus Holzzinsen fur Nutzungen in den Vier Bergen; und selbst wenn hier nicht gesagt
100 Cai-Olaf Wilgeroth
ein schwelendes Unzufriedenheitspotential gegeniiber der stadtischen Admini-
stration. Dieses sollte sich in den folgendenjahren undjahrzehnten dann auch in
zunehmend unverhohleneren und selbstbewuBteren Holz- und Waldfreveln der
Bauern Bahn brechen. Der vorgeblich so friedliebenden Klage des Rates von
1599, daB vondiesem allemzu Goslar und darumb hero insonderheit aber im Gerichte Lie-
benburgzu Handtorff, Immenrode, im Gericht Wiedela zu Weddi und andern obarticulir-
ten orthen ein gemein geschrey und unmuth sey, konnte also mitunter die begriindete
Befiirchtung zugrunde gelegen haben, dieses Geschrei und derUnmut richte sich
vor allem gegen die Stadt und ihre Ressourcenverwaltung selbst.
Den AnstoB lieferte dabei das offizios-offizielle Vorgehen des herzoglichen
Forstpersonals, welches fortan keine Gelegenheit auslieB, die stadtische Holznut-
zung entwederzu behindern odersich selbst in den Vier Bergen zu betatigen: Bei-
spielsweise seien, als ein Erbar Rath vor ungefehr dreien jaren in denselben vier Bergen
gemeiner Stadt und Biirgerschafft zu guthe etzlich wafiholtz hawen lassen, [. . .] diefurstli-
che Braunschweigische Holtzforstere zugefahren, den holzhauweren das hauwen verbothen,
die fuhrleute genotiget, das auffgeladen holtze abzuladen, auch etzliche von denselben ir
pferdt und wagen aufzuspannen angehalten und das iibrige wajiholz, ohngefehrlich 43.
Schock, wohin ihne geliebet abfiihren lassen. Den Holzforster des Rates, welcher die
Bestande beforsten und begehen sollte, hatten sie dort lengernicht leiden wollen, ihn al-
so vertrieben und zu dem endt ihme ein rohr, so er neben einen spieji an der seitten zutra-
gen gepflogen, genohmen. SchlieBlich habe der herzogliche Oberforster Peter Briin-
ing zu mehren [Malen] [. . .] auji derselbigen vier pergen [. . .] hurten-Ruthen zu hauwen
und auszufuhren vergdnnet, und dort selbst auch Holz einschlagen lassen.
Diese eindringliche Betonung der wald- und holzbezogenen Konfliktereignis-
se bestatigt im Nachhinein einmal mehr den oben gewonnen Eindruck, es sei
dem Rat bei seinen Walkenrieder Bemiihungen zuvorderst um den Erwerb drin-
gend benotigter Holzressourcen gegangen.
Wie sehr wir dann das in den Frevelprotokollen Dietrich Ellings festgehaltene
Gebaren der landesherrlichen Untertanen und Beamten in den Vier Bergen als
im Widerspruch mit der stadtischen Idealvorstellung von richtiger Waldbehand-
lung und Holznutzung stehend lesen konnen, wird deutlich anhand einer speziel-
len Formulierung in der erwahnten stadtischen Klageschrift: [Artikel] 56. Item
wahr, das auch der furstliche Braunschweigische Oberforster, Peter Briining genannt, sich
auch dip jars noch ohnlengst neben etzlichen des stiffts Walckenried verwanten und dienern
darinnenfinden lassen, holzhauwer anlegen und weitlich dawider hauen und das holz hin
wird von wem, so haben wir doch an die Bauern des Umlandes zu denken. Goslarer Burger
hingegen diirften ihr Holz auf dem stadtischen Holzmarkt vom Rat erworben haben. Die im
Folgenden besprochenen Forsterberichte Dietrich Ellings zeigen jedoch, daB die Bauern da-
bei vom Rat in ihrer Nutzung strikt reglementiert worden sind.
Ressourcenknappheit und reichsstadtische Kompensation 101
und wieder verkauffen lassen.110 Der hier zentrale Ausdruck weitlich dawider laBt
sich mit Hilfe der Gebriider Grimm sprachlich zu einem „unwaidmannisch" mo-
dernisieren.111 Damit wird sprachterminologisch die Referenz zu einem allge-
meinen waldwirtschaftlichen Wissens- und Normenkatalog hergestellt, und wir
diirfen daher annehmen, daB der Rat offenbar seine eigenen und durchaus wohl-
iiberlegten Vorstellungen von einem brauchbaren Wald und dessen Behandlung
hatte. Der stadtische Forster war diesbeziiglich als verlangerter Arm des Rates
Funktionstrager vor Ort. Er sollte die Waldbauvorstellugen implementieren und
als Korrektiv bei forstlichen Fehlentwicklungen wirken. Insofern sind seine mit-
unter sogar kommentierenden Protokolle Ausdruck dessen, was er vor dem Hin-
tergrund der stadtischen „Forstplanungen" als korrekturbediirftig und schadhaft
erachtete. Entsprechende Planungsgedanken miissen also in die vorliegenden
Texte eingeflossen sein und konnen - behutsam interpretierend - in ihren
Grundlinien herausgelesen werden, ohne dabei freilich elaborierte Forstwirt-
schaftsprinzipien zu erhalten.112
Eine dementsprechende Auswertung soil und kann hier nur exemplarisch er-
folgen, indem die skizzierten Erkenntnismoglichkeiten im wirtschafts-, forst-,
und gesellschaftsgeschichtlichen Bereich schlaglichtartig angedeutet werden.113
Zunachst einmal sind es forstgeschichtliche Informationen, die fur unser The-
ma von Interesse sind, vor allem in einer Zeit, in welcher waldzustandsbeschrei-
110 StA GS B 2691; die Variante in NdsStA WF 6 Alt Nr. 545 hat weidtlich dawider hawen
lassen; die Supplicatio pro citatione des Rates (StA GS B 2692) schreibt weidlich darwider hau-
wen bzw. waidlich dawider (NdsStA WF 6 Alt Nr. 545).
111 DWB, Band 28, Sp. 605: weidlich ~ von Wald (cf. waidlich); DWB, Band 2, Sp. 870:
dawider (uneigentlich) ~ dagegen.
112 Der Verfasser ist sich bewuBt, daB er hier ein Idealbild vom Verhaltnis „Entschei-
dungsebene - Funktionarsebene" zeichnet, welches so in der historischen Realitat kaum
existiert haben diirfte. Gerade am Beispiel der friihmodernen Staatlichkeit und ihrer loka-
len Funktionstrager ist solches in der historischen Forschung inzwischen Gemeingut, auch
im Bereich des Forstwesens und seiner Geschichte: Der vormoderne Forster/Forstknecht
vor Ort ist inzwischen ins Zwielicht geriickt angesichts des begriindeten Verdachts von zwi-
schen Delinquenten (Bekannte/Verwandte?) und Dienstherren gespaltener Solidaritatsbe-
ziige vor allem bei seinen waldpolizeilichen Entscheidungen (vgl. Anm. 134). Dies im Hin-
terkopf erscheint der Waldbeamte als hermeneutisches Konstrukt an dieser Stelle jedoch
brauchbar, um die Forsterberichte in dergenannten Weise auszuwerten, ohne dabei standig
die Identitat von forsterlicher und ratsherrlicher Sichtweise zu hinterfragen. Immerhin liegt
ein solidaritatsbefordernder Konflikt mit auswartigen Forstfrevlern vor. Ohnehin muBten
wir konsequenterweise ja auch die Ratsmitglieder gegeniiber ihren Kollegen und dem Rest
der Einwohnerschaft hinsichtlich ihrer je eigenen Waldansichten individualisieren, was
letztlich am Quellenbestand scheitert.
113 Ausfuhrlicher dann Wilgeroth, wie Anm. 1; vgl. zu den Berichten kurz auch schon
Holzmann, wie Anm. 24, S. 91-93, der allerdings nur deren Wert als Frevelprotokolle be-
trachtet und die Vielschichtigkeit der Information ignoriert.
102 Cai-Olaf Wilgeroth
bende Schriftquellen sowohl aus stadtischer Provenienz als auch mit auBerharze-
rischer Pertinenz so gut wie gar nicht vorliegen.114
Diedrich Ellingk Forster in den vier Bergen berichtet- so oderso ahnlich setzen die
auf der stadtischen Kanzlei aufgezeichneten Protokolle stets ein -, daJS in diesem
Jahr [= 1599] Curdt Immenrodt zu Handorff und Hans Fricken zu Immenrodt, einjeder
allejahr ein Fuder Eichenholz, so viel seeks Pferde vor dem Wagen ziehen konnen, hawen
liefeen}15 Eichenholz - eine Baumarteninformation, die angesichts ihrer breiten
Bekanntheit zwar unspektakular erscheint, aber damals in den Quellen eben
doch nicht so haufig war, wie man annehmen konnte. Vor allem noch speziellere
Arten sind sparlich erwahnt, wie etwa die haselen und buchen oder die Linde, wel-
che von einem Hahndorfer zu Gerten geschnitten worden sind.116
Natiirlich konnten auch die modernen Palaowissenschaften, die Forstbotanik
oder die Pflanzensoziologie derartige Informationen iiber das prinzipielle Vor-
handensein von Baumarten im Untersuchungsgebiet liefern. Dabei diirfte sich
basierend auf potentiellen Waldgesellschafstypen oder vermittels Makro- bzw.
Mikroresteanalysen das Spektrum der Arten sogar noch erheblich erweitern. Das
terminologische Vorhandensein (oder Nicht- Vorhandensein) dieser oder jener
Baumart in unseren Quellen spiegelt jedoch nicht nur die Existenz eines botani-
schen Phanomens (oderdes zeitgenossischen Wissens darum), sondern auch die-
jenige eines kulturgeschichtlichen: Das spezifische Aufmerksamkeitspotential
gegeniiber unterschiedlichen Baumarten resultierte allgemein aus ihrer jeweili-
gen ressourcenokonomischen Relevanz im Rahmen damaliger Gesellschafts-
und Wirtschaftsbedingungen. Was man nicht gebrauchte, beachtete man wohl
auch nicht, und die Zeiten des Botanisierens um seiner selbst Willen waren noch
fern. Oder bediente sich unser Forster schon einer der eigenen Profession ge-
schuldeten, reduktionistischen Terminologie?
Neben den Baumarten erfahren wir aus den Konflikthorizonten etwas iiber die
Sortimentsstarken und Zweckbestimmung der Holzer, teilweise sogar bezogen
auf einzelne Forstorte: drei hundert und zwantzigk schock wasen [. . .] ferner ein fuder
114 Die seit 1546 vorliegenden Braunschweig-Wolfenbiittelschen Forstbereitungen be-
ziehen sich zunachst ausschlieBlich auf den eigentlichen Harzwald (vgl. allg. Hans-Joachim
Kraschweski, Wirtschaft und Gesellschaft vor dem DreiBigjahrigen Krieg, in: Horst-Riidi-
gerjARCK u.a., Die Braunschweigische Landesgeschichte. Jahrtausendriickblick einer Regi-
on, Braunschweig 2001, S. 483-512). Bestandesbeschreibungen zum Harzvorland fehlen
noch lange Zeit. Hier bieten einzig die Erbregister der betreffenden Amter und Kloster eine
Moglichkeit, Einblicke in den Zustand der jeweiligen Holzungen eines Gebietes zu erhal-
ten. Die diesbeziigliche Durchsicht ebendieser Register durch den Verfasser ergab dabei
ein sehr disparates Bild vom Informationsgehalt dieser Quellengattung.
115 StA GS B 2452, Forsterbericht, 1599 Mai 12.
116 StA GS B 2452, 1615 Mai 27.
Ressourcenknappheit und reichsstadtische Kompensation 103
hopfenstangen [. . .] ein fuder eichenholtz [■ ■ ■] zwei fuder hude Ruden [. . .] ein fuder
Schnetel [. . .] und ein fuder Zaun gereden seien 1599 von unterschiedlichen Personen
unerlaubt gehauen worden.117 Wir erfahren zwar nicht, wo genau der Einschlag
stattfand, und aus welchem Holz diese Sortimente bestanden, aber immerhin be-
kommen wir eine Ahnung davon, in welchen Alterklassen sich der Gesamtbe-
stand damals bewegte. Denn zu jedem Sortimentsterminus paBt eine bestimmte
Starke des Holzes. In manchen Fallen wird diese sogar genannt: Der Propst zum
Reiffenberge [. . .] habe vor ohngefehr 14. tagen in den vier Bergen zehen Eichen Beume zum
theill 29. zum theill 26. schuh langk und ein weinigk dicker ah eine hechttonne einschla-
gen lassen. Ein FischfaB? - Dies bedeutete einen beachtlichen Durchmesserund
diirfte unsere schon durch die Geipelscheiben gestiitzte These von einer seitens
der Stadt mittlerweile betriebenen Bauholzwirtschaft in den Vier Bergen noch-
mals unterstreichen.118 An anderer Stelle ist von Eichen eines butterfasses dicke die
Rede, was auf jiingeres Alter als zuvor verweiBt. Auch an die gemeinhin schwa-
cheren Nutzholzsortimente haben wir zu denken, auf welche es der Stadt bei ihrer
Bewirtschaftung ebenfalls angekommen sein diirfte.
In seltenen Fallen lassen sich die aus Baumarten und Sortimenten abgeleiteten
Information zum Waldbestand auch im Raum verorten: Wenn auf Anweisung
Peter Briinings, des herzoglichen Oberforsters zu Langelsheim, zunachst zwei-
hundertt schock wasen in den Vier Bergen am Kuckucksberge gehauen worden sind, und
dieser im gleichen Jahr auch am Kuckucksberg [. . .] in einem jungen hey 40. Malder
holtz, sodann nochmals siebzig Schock Wasen und hundert Malter Holz an den
Eichenheistern nach hauen lassenhat, da zuvor ein Erbar Rath einen hagen machen lassen,
so erfahren wir recht genau etwas iiber den Forstort Kuckucksberg und seinen
vorherigen wie nachherigen Bestockungsgrad.119 Derartige Einschlagszahlen
miiBten nun noch auf die Waldflache umgerechnet werden.
Apropos Waldflache: Die Forsterberichte geben auch den einen oderanderen
historisch-geographischen Hinweis an die Hand: Dem Verfasser hat sich bei sei-
nen Untersuchungen bisweilen die Frage nach dem eigentlichen Umfang des
Waldgebietes gestellt. War es iiberhaupt groB genug, um ein derart intensives En-
gagement der Stadt zu rechtfertigen, wie der Verfasser es hier darlegt? Das heuti-
ge Vier-Berge-Areal erscheint doch eher gering dimensioniert. Allerdings heiBt
es zumjahr 1614, daB Henni Unverhauen [. . .] und Daniel Heinen, beide Einwohner zu
117 StA GS B 2452, Ftirsterbericht, 1599 Mai 12.
118 Natiirlich hatte urspriinglich nicht die Stadt die Eichen zu solchen Stammdurch-
messern heranwachsen lassen; dieses Verdienst gebiihrte Ende des 16. Jahrhunderts wohl
noch der ehemals zisterziensischen Bauholzschonung, wie sie in den ersten Abnutzungsver-
tragen verankert war. Die Stadt Goslar iibernahm diese „Schatze" und diirfte sie weiter ge-
hegt und gepflegt haben.
119 StA GS B 2452, Forsterbericht, 1607 Mai 16.
104 Cai-Olaf Wilgeroth
Immenrode, undt Simon RoJSen, einwohner zu jerstidde [. . .J an einem andern ortt bey der
oley von demforster uffder warte angewiesen, da das beste holtz in den vier bergen stunde,
urn dort Stammwasen zu schlagen. 120 Neben der erfreulichen Mitteilung iiber die
Giite des dortigen Holzes, seien die mit den lokalen Verhaltnissen unvertrauten
Leser darauf hingewiesen, daB die Olei, ebenfalls ein Waldgebiet, hier als Be-
standteil der Vier Berge benannt wird, heute aber nicht mehr dazugezahlt werden
diirfte. Die Vier Berge des 16. Jahrhunderts hingegen gewinnen dadurch gegen-
iiber heutigen Verhaltnissen einiges an Ausdehnung.
Die schluBendliche Auswertung samtlicher Forstwirtschaftsaspekte wird die
oben geauBerte Vermutung bestatigen, daB es sich in den Vier Bergen in puncto
der vorhandenen Sortimente und ihrer erkennbaren Verteilung im Bestand spa-
testens Ende des 16. Jahrhunderts um einen Mittelwald handelte.
DaB bei aller Willkiir der herzoglichen Administration das Holz natiirlich
nicht vollig grundlos eingeschlagen wurde, sondern auch die deren Holzhauer
entsprechend zweckgebunden ihre Anweisungen durch Forster und Amtleute er-
hielten, darf man trotz alledem annehmen. Wir erfahren zumeist etwas iiber die
jeweilige Bestimmung der unrechtmaBig eingeschlagenen Wasen, Malter und
Stammholzer: Holzmann erwahnt etwa die vom Oberforster Peter Briining mit
einem gewissen Privatinteresse angelegte Ziegelei nebst Tongrube bei den Vier
Bergen. Das Holz dazu nahm dieser sich einfach.121 Uberhaupt waren es wohl
hauptsachlich landesherrliche Eigenbetriebe und Funktionstrager, welche von
dem Holz profitierten. Beispielsweise wurden auf GeheiB des Rentmeisters Joa-
chim Teichmeier von den zimmerleuten des Herzogs fur den Schleusenbau an der II-
se bei Hornburg neun und zwantzigk eichen beume eingeschlagen.122 Auch die lan-
desherrlichen Kloster und Konvente in Ohlhof (Kloster Neuwerk) , Riechenberg,
Grauhof (Kloster Georgenberg) und Woltingerode wurden versorgt bzw. durften
sich bedienen.123 DaB auch die Saline Liebenhall ihren Teil erhalten haben wird,
ist anzunehmen.
Nicht zuletzt waren es aber die Bauern des Umlandes, vor allem aus Immenro-
de und Hahndorf, welche im wahrsten Sinne des Wortes auf eigene Rechnung ar-
beiteten und so den Bestanden zusetzten: Luddeke Unverhauen, seines Zeichens
120 StA GS B 2452, Forsterbericht, 1614 April 9.
121 Holzmann, wie Anm. 24, S. 92; StA GS B 2452, Forsterbericht, 1612 Marz 21, nach
Peter Briinings Tod kaufte der Herzog dessen Witwe die Ziegelhiitte ab und betreib diese
durch seinen Amtmann weiter (StA GS B 2452, Forsterbericht, 1614 Marz 31 und 1618 Marz
28; passim).
122 StA GS B 2452, Forsterbericht, 1602 Februar 27 und Mai 22.
123 StA GS B 2452, Forsterbericht, 1604 Januar 28: Probst zu Riechenberg: Bauholz,
Verwalter zum Ohlhof: Bauholz, Zaungerten; 1614Juni 4: Ohlhof: hopffstifehn oder stangen;
1599 Mai 12: Grauhof: hude Ruden fur den Schafereibetrieb.
Ressourcenknappheit und reichsstadtische Kompensation 105
Forstknecht in herzoglichen Diensten124 auf der Warte bei Hahndorf, scheute
sich nicht, ein lukratives, kleines Familienunternehmen nebenher zu betreiben:
Das Holz, welches seine beiden Sonne in den Vier Bergen einschlugen, lieB der
Vater nach der stadt fahren, um es dort zu verkaufen, teilweise sogar im Zuge des
Vorkaufs noch vor den Toren. 125 Gerade als Forstknecht machte er sich damit bei
seinem stadtischen Kollegen Elling sehr unbeliebt (Berufsethos?). Deshalb soil-
ten wir uns bei alien protokollierten Anschuldigungen fragen, ob sie der objekti-
ven Wahrheit entsprachen; etwa jene, derzufolge Unverhauen extra ein herde vieh,
neuntzehn heuptter in Kommission nahm und diese bewuBt in die hey undjungen lo-
hen teglichs treiben liejie, damit die vierBerge und holtzungjo gar verwustet werden sollten.
Fur diesen Akt der Sabotage soil er sogar einen eigen hirten engagiert haben.126
Andere Bewohner der Dorfer Immenrode und Harlingerode gerierten sich
gleichermaBen waldschadigend, indem sie iiber Gebiihr ihr Vieh weideten und
standig die Erweiterung der offenbar stadtischerseits durchaus zugestandenen
Viehquoten reklamierten: Zwei regularen Rindern, einem Ochsen und 13 Kii-
hen sollen die handorffschen mitt den Pferden nachfolgen und sagen worumb es ihnen
nicht vergonnett sein sollte, weill die Kiihe die weide da haben. Hier trifft bauerliche
Waldnutzungslogik auf stadtische Waldschonungsbestrebungen, ein grundsatzli-
ches Problem, dem sich auch das Heilig-Kreuz-Holz gegeniiber sah, welches bey-
124 StA GS B 2452, Forsterbericht, 1609 Januar 28, passim: Unverhauen muB durch die
herzogliche Forstadministration unter Peter Briining zum Forstknecht iiber die Vier Berge
bestellt worden; in dieser Funktion bewohnte er die Hohe Warte bei Hahndorf, einen der
Grenzpunkte des Waldgebietes. Es ist anzunehmen, daB Unverhauen auch schon zu Gosla-
rer Zeiten eine entsprechende Funktion innegehabt hat, da es damals iiblich war, die Wart-
punkte im Gelande, zumeist Bestandteile der Landwehr, mit dauerhaften Bewohnern zu be-
setzen und ihnen gewisse Nutzungsprivilegien im jeweils bewachten Abschnitt einzurau-
men. Die Loyalitat dieser Personen gait dabei nicht immer ihrem Dienstherren, sondern
vielfach ihrer eigenen Person. Wenn Unverhauen also zunachst unter Goslarer Administra-
tion tatig war, dann jedoch nahtlos in herzogliche Dienste iiberwechselte, so steht er bei-
spielhaft fur einen bestimmten Typus von dorflich-landlichem Funktionstrager, wie er im
Zuge des Territorialisierungsprozesses in den sich zwischen stadtischer und landesherrli-
cher Gebietsdominanz wandelnden Rahmenbedingungen auftauchte. (vgl. dazu dann aus-
fiihrlicher: Wilgeroth, , wie Anm. 1) Dem lag freilich nicht Opportunismus zugrunde, son-
dern vielfach auch Zwangslagen (vgl. unten zu Anm. 131).
125 StA GS B 2452, Forsterbericht, 1600 Mai 24 und 1610 Februar 16; leider ist eine Re-
aktion des Rates auf die extramurale Vorkaufs- und intramurale Kauftatigkeit seiner Burger
nicht vermerkt. Steuerte man gegen, wie es eigentlich iiblich gewesen ware? Oder gab man
dem elementaren Bediirfnis nach Brennholz nach? Auch andere Dorfbewohner betatigten
sich an dieser „Hehlerei" des Vier-Berge-Holzes und verkauften dasselbige als Brennholz-
laufer und Kiepentrager in die Stadt (was im Rahmen ressourcenokonomischer Stadt-Um-
land-Verhaltnisse prinzipiell ja auch nicht ungewohnlich war, abgesehen von der unrecht-
maBigen Beschaffung der Ware) (vgl. StA GS B 2452, Forsterbericht, 1599 Mai 12).
126 StA GS B 2452, Forsterbericht, 1603 Juli 9 und 1614 Juli 23.
106 Cai-Olaf Wilgeroth
de von kuhen undt pferden jo so weinigk vorschonet wurde.127 Angesichts der fakti-
schen Riickendeckung derartiger Aktionen durch die herzogliche Forstadmini-
stration, konnte die Stadt derlei Schaden in denjungen Heiden von Pferden, Kuhen,
Schaffen, und Schweinen damals nur noch visitieren lassen, wohingegen sie friiher
sicherlich strenger durchgegriffen hatte.128 Das gilt auch fur das wilde Einschla-
gen von Holz, von dem sich die der Stadt gegeniiber zunehmend respektlos auf-
tretende bauerliche Bevolkerung nicht mehr abhalten lieB: Es kohmme auch nie-
mandts mehr hin in die vier Berge, allein die Einwohner von Immenrode und Handorff,
und schleppen und dragen das holtz mit sich nach hauji, auch geben sie ihme, Diederich El-
ling, unnutze wortt, und sagen, waf er in alda in dem holtze zu schaffen hette? und weil
sonst keinforster in die vier Berge kohme, verwilsteten sie das holtz und handelten darin
nach ihrem gefallen.129
DaB kein anderer Forster in die Vier Berge komme (sc. um dort Aufsicht zu
fiihren), ist wohl ein Vorwurf an die herzogliche Administration: Diese selbst be-
diene sich zwar in den Waldungen nach ihrem Belieben und habe dort auch im-
merhin Forstknechte zur sonstigen Waldaufsicht installiert. Allerdings hieBen
solche dann - nomen non est omen! - ausgerechnet Unverhauen, und man gebe
sich keinerlei weitere Miihe bei der Aufsicht iiber deren korrekte Tatigkeit wie
iiberdie Baumbestande: So habe Unverhauen [. . .] nicht grofeuffsicht, und derhalben
die einwdnere zu handorff undt immenrode eine dracht holtzes nach der anderen darauf
holten, und also das holtz durch und durch verwustett werde.130 Die Schuld aber lag in-
des nicht eigentlich bei den Forstknechten. DaB man keinen forster mehr in den vier
Bergen sehe oder vernehme riihre daher, daB Kerll uffder warte dorthin nicht mehr ge-
he, denn: Peter Bruning gebe ihme nichts dafur. Insofern wird vielleicht auch der Ne-
benerwerb Unverhauens im Holzhandelsgeschaft verstandlich.131
Der herzoglichen Seite lag in den Vier Bergen also offenbar wenig daran, eine
territorialstaatliche Forsthoheit vermittels waldwirtschaftlicher Vorbildlichkeit
und administrativer Integration zu implementieren; schlichte Abnutzung eines
giinstig gelegenen Holzbestandes war anscheinend das Ziel. Nebenbei befriedig-
te man die Bediirfnisse der Untertanen, indem man diesen nahezu freie Hand
lieB.
Wie wenig die Vier Berge in die offizielle Struktur der landesherrlichen
Forstverwaltung integriert werden sollten, wird auch daran deutlich, daB es hier
Kompetenzgerangel zwischen dem Oberforster in Langelsheim und dem Amt-
mann zur Liebenburg gab: Ersterer hatte durch den Forstknecht Unverhauen bey
127 StA GS B 2452, Forsterbericht, 1600 Juni 3.
128 StA GS B 2452, Forsterbericht, 1600 Juni 9.
129 StA GS B 2452, Forsterbericht, 1610 Februar 16.
130 StA GS B 2452, Forsterbericht, 1609 Januar 28.
131 StA GS B 2452, Forsterbericht, 1609 Juli 15.
Ressourcenknappheit und reichsstadtische Kompensation 107
der oley [. . .J drey holtzhawer anfangen (lassen), stammwasen zu hauen, wahrend der
Amtmann am folgenden Tag bereits ihnen gebotten sie sollten an dem orte da sie ange-
wiesen nicht mehr hauen und in dieser Angelegenheit auch den Oberforster und
den Forstknecht dazu aufgefordert, dieselben sollten ihme den hauwes anmelden und
das Hauen an besagtem Orte unterlassen.132 Zu guter letzt mischte sich auch das
Kloster Walkenried wieder unter die vorgeblichen Entscheidungskompetenztra-
ger: 1616 gibt Curdt Immenrodt aus Hahndorf zu Protokoll, daB das Closter
Walckenrede ihm sieben Eichen Beume [. . .] erlaubet habe fur sein Bauvorhaben.133
Damals freilich galten die einstigen Vertrage zwischen Stadt und Kloster aber
schon lange nicht mehr.
All dem Stand der stadtische Forster Elling letztlich ohnmachtig gegeniiber.
Die Bauern und Dorfbewohner, mit denen man einst nachbarschaftlich134 zu-
sammengearbeitet oder die man zumindest kontrolliert hatte, sahen sich an frii-
here Vereinbarungen nicht mehr gebunden. Da halfen auch eindringliche Appel-
le an das gesunde Rechtsempfinden nichts, wie sie noch im Jahre 1614 Jochen
Rodtger, ein stadtischer Forstaufseher, an seinen herzoglichen Kollegen in Hahn-
dorf, Luddeke Unverhauen, gerichtet haben soil: Luddeke was will daraus werden,
meine herren, der Erbar Rath der stadt Gojilar, haben an den vier bergen ihr gulden undt
gelt, und ihr gebrauchet des holtzes. Darauf habe Unverhauen nur erwidert, er konte
nichts darzu, er mujite tuhen was ihme der Ambtman zur Liebenburg bevohlen.135 Der
Herzog hatte im Lande die Vorherrschaft iibernommen, und Goslar hatte fortan
de facto auch dort das Nachsehen, wo man sich de iure im Recht befand. Letzt-
lich muBten so alle Aufsichts- und Protokollierungsbemiihungen stets in die mo-
notone Klage miinden, daB die Vierberge [. . .] so jemmerliche vorwustet, das efi zu er-
barmen were.136 Die Dreistigkeit der landesherrlichen Beamten kannte dabei
kaum Grenzen, wenn wir horen, wie Peter Briining zwei Wochen lang Wasenholz
durch Einwohner Hahndorfs einschlagen laBt und dieses Holz anschlieBend in
die Stadt Goslar fahrt.137
Dies muBte den Goslarer Verantwortlichen - abgesehen von der Tatsache des
132 StA GS B 2452, Forsterbericht, 1614 April 9; auch Marquardt, wie Anm. 89, S. 176,
verweiBt auf das notorische Problem im regionalen Kontext von monofunktional gewidme-
ten Industrieforstbezirken, daB die umliegenden Holzungen gegen die Ubergriffe des indu-
striellen Holzbedarf geschiitzt werden muBten. Vielleicht ging es dem Amtmann hier auch
darum.
133 StA GS B 2452, Forsterbericht, 1616 November 28.
134 Man kannte sich. Dietrich Elling kann nahezu jeden holzfrevelnden Dorfbewohner
namentlich benennen, und muB nur selten sein diesbeziigliches Unwissen eingestehen (z.B.
StA GS B 2452, Forsterbericht, 1609 Marz 1).
135 StA GS B 2452, Forsterbericht, 1614 Marz 31.
136 StA GS B 2452, Forsterbericht, 1600 Mai 24.
137 StA GS B 2452, Forsterbericht, 1610 Februar 16.
108 Cai-Olaf Wilgeroth
manifesten Ressourcenverlustes - um so schmerzlicher sein, als man doch ganz-
lich andere Waldbauvorstellungen in den Vier Bergen zu verwirklichen gesucht
hatte. Nur zwei einfache Beispiele zum AbschluB : Dietrich Elling berichtet das Peter
Briining in die vierberge vor etzlichen wochen seeks holtzhauwer [. . .J anweisen lassen, die
darin wasen binden, das holtzaufschliefien, auch mehrentheils die eichen heister, so vordie-
sem, wur ein Erbar Rath daselbst hauen lajien, stehen pleiben, mitt abhauen.138 Der Rat
betrieb also eine Form selektiver Bestandesschonung, indem er sich die zisterzi-
ensische Vorgabe zu eigen gemacht hatte eine gewisse ZahljungerBaume stehen-
zulassen, denen man als Heister zukiinftig groBere Aufgaben zugedacht hatte.
1613 hatten die Mohlhofischen diesen verschienen Wintter, viertzigk schock wasen und
sieben stiege bundt Zaungertten in den vier Bergen hauen lassen. Offenbar hatte die Stadt
damit weniger ein Problem. Den der eigentliche Kritikpunkt in dem Protokoll ist,
daB sie jetzt - Mitte April - noch anitzo mit dem hauwen immerfortfahren.139 In die-
sem Fall war es also die iibergebiihrliche Ausweitung der Hiebperiode, an der
sich der Rat - hierin einst selbst Missetater - storen muBte. Auch diesbeziiglich
hatte man sich offenkundig besonnen.
5. Exkurs: Getreideversorgung wahrend der politischen
und klimatischen „Kleinen Eiszeit".
Bisher waren es vor allem „holzerne" Aspekte, welche unsere Betrachtung der
Beziehungen zwischen Goslar, Walkenried und den Landesherren dominiert
haben. Im vertraglichen Zusammenhang mit dem WalkenriederLiegenschaftser-
werb standen fur die Stadt jedoch von Anfang an auch agrarwirtschaftliche Effek-
te. Auch Lebensmittel konnen zu den knappen Ressourcen gezahlt werden.
Wolfgang Bender betont in seiner Studie zu Zisterziensern und Stadten im Mo-
selgebiet den Stellenwert der klosterlichen Stadthofe fiir die spatmittelalterliche
Gesamtokonomie urbanerZentren.140 Er schreibt den Stadthofen dabei ein Biin-
138 StA GS B 2452, Forsterbericht, 1612 Marz 21.
139 StA GS B 2452, Forsterbericht, 1613 April 10.
140 Bender, wie Anm. 78, bes. S. 13-56: Stadthofe seien „sinnfalligster Ausdruck der
wirtschaftlichen Aktivitaten und derzunehmenden Stadt- und Marktorientiertheit des grau-
en Ordens [. . .] als lokale Wirtschaftszentren der Kloster und als Herbergen fiir Ordenange-
horige" gewesen, zudem hatten sie die „enge Verflechtung des Landes mit der Stadt" doku-
mentiert, indem sie den „Zentralortscharakter der urbanen Siedlungen unterstrichen und
wiederum zentralitatsfordernd wirkten". Die Stadthofe hatten den Zisterziensern die Mog-
lichkeit geboten, ihre UberschuBproduktion abzusetzen, und die stadtische Nachfrage nach
agrarischen und anderen Erzeugnissen zu befriedigen sowie Handelsgeschafte mit der stad-
tischen Bevolkerung abzuschlieBen. Dies „korrespondierte mit einer gesteigerten Nachfra-
ge der standig wachsenden Bevolkerung [. . .] nach Erzeugnissen klosterlicher Mehrproduk-
te jeglicher Art besonders fiir die Lebensmittelversorgung aber auch fiir die Rohstoffverar-
Ressourcenknappheit und reichsstadtische Kompensation 109
del von Funktionen zu, aus dem wir nur die „wirtschaftlichen Aufgaben" heraus-
greifen und in abgewandelter Form auf die Goslarer Konstellation iibertragen
wollen: „Grangienfunktion" - „Handelshof " - „Renthof".141
Benders Ausfiihrungen zeigen uns zunachst, daB sich diese drei Funktionen
kaum immer sauber voneinander trennen lieBen bzw. vielfach miteinander korre-
spondierten (Grangie - Handelshof), im Laufe der Zeit zudem flieBend ineinan-
deriibergingen (Grangie /Handelshof- Renthof). Eine agrarokonomische Gran-
gienfunktion des Goslarer Stadthofes war im Laufe seiner Geschichte moglicher-
weise am wenigsten prasent, denn die Anwesenheit in Goslar war wohl
zuvorderst dem montanwirtschaftlichen Engagement der Zisterzienser geschul-
det.142 Lediglich in den Giiterkontrakten des 16. Jahrhunderts schimmert mit den
erwahnten umfanglichen Pertinenzien und Giiterannexen des Stadthofes eine
Art von Eigenwirtschaftlichkeit jenseits des urspriinglichen Bergbaus auf. Jedoch
sollte hier die agrarwirtschaftliche „Kooperation" mit dem AuBenhof in Ebelin-
gerode nicht vergessen werden.143 Der Stadthof selbst wird dabei als Zinshebe-
stelle im Rahmen der Pachtverhaltnisse des Umlandes sowie zur Sammlung und
Lagerung der Agrarertrage gedient haben.
Uns interessiert vorrangig die eigentliche Handelsfunktion der Niederlassung:
Diese befand sich - und das ist vielleicht schon der vielsagendste Befund - auf der
bereits im Mittelalter so bezeichneten „KornstraBe".144 Die Namensgebung die-
ses vom ostlichen Stadteingang, dem Breiten Tor, direkt zum Marktplatz fiihren-
den StraBenzuges kam dabei nicht von ungefahr, sondern riihrte sicherlich auch
vom dort anzusiedelnden zisterziensischen Getreidehandel her. Dieser basierte
beitung des Handwerks (Holz, Wolle, Haute, Eisen etc.)." Und „ohne die Versorgung durch
einheimische und auswartige geistliche Institutionen" waren groBere Stadte kaum in der
Lage gewesen, groBen Einwohnerzahlen in ihren Mauern zu beherbergen. Mit der Verande-
rung der klosterlichen Giiterbewirtschaftung (Pacht statt Eigenwirtschaft) im Spatmittelal-
ter habe ein Stadthof dann immer mehr die Rolle der Sammelstelle fiir Pachtzinsen und Ab-
gaben erfullt.
141 Ebd., S. 36-45; vgl. auch Walter Haas u.a., Klosterhofe in norddeutschen Stadten,
in: Cord Meckseper (Hrsg.), Stadt im Wandel. Kunst und Kultur des Burgertums in Nord-
deutschland 1150-1650, Band 3. Stuttgart-Bad Cannstatt 1985, S. 399-440, bes. S. 408 ff.,
S. 410-421 findet sich ein Verzeichnis der Klosterhofe in Norddeutschland, wobei die Anga-
ben zur zisterziensischen Dependance unter „Goslar" nicht vollig korrekt sind.
142 Alphei, wie Anm. 22, S. 701 f.
143 Ebd., S. 713.
144 Vgl. Karl Frolich, Die Goslarer StraBennamen. Ein Beitrag zur staditschen Verfas-
sungstopographie des Mittelalters und zur vergleichenden StraBennamenforschung, Gie-
Ben 1949, S. 94f.: KornstraBe; Frolich schlieBt sich einer funktionellen Deutung der StraBe
an, wenn er auf die namengebenden Kornwagen abhebt, die vom Breiten Tor zum Markt ge-
fahren seien. Ein Kornhaus als ortsfesten Namensgeber schlieBt er aus, vergiBt jedoch, den
Walkenrieder Hof in diese Uberlegung einzubeziehen.
110 Cai-Olaf Wilgeroth
auf den umfanglichen Walkenrieder Liegenschaften in den Dorfern des Goslarer
Umlandes, wie sie dann im 16. Jahrhundert an den Rat der Stadt verpachtet bzw.
verkauft wurden. Was vom fernen Kloster aus unter den nachreformatorischen
Bedingungen nicht mehr rentabel bzw. administrierbar schien, bot dem Goslarer
Rat die Moglichkeit, den elementaren Anforderungen der stadtischen Getreide-
versorgung Rechung zu tragen.
Diese Kornlieferungsfunktion der sogenannten Walkenrieder Acker lieBe sich
anhand der dazu im Stadtarchiv Goslar vorliegenden Register quantifizieren und
hinsichtlich ihrergesamtstadtischen Relevanz abschatzen.145 Dies muB an dieser
Stelle unterbleiben, wobei abernoch auf Folgendes hingewiesen sei: Herzogliche
BlockademaBnahmen gegeniiber der Stadt in den Jahren nach 1525 hatten dem
Rat gezeigt, wie sehr man auf ein frei zugangliches agrarisches Umland angewie-
sen war, und welches Verwundbarkeitspotential darin lag, iiber den Zugang zur
Stadt nicht selbst bestimmen zu konnen. Dies gait eben nicht nur im Hinblick auf
Holz und Kohle, sondern fur alle moglichen Handelswaren.
DerTerritorialisierungszugriff Heinrichs desjiingeren erstreckte sich dem An-
spruch nach bis vor die Tore der Stadt, spatestens nach Riechenberg 1552, letzt-
lich aber schon als Konsequenz derHildesheimer Stiftsfehde seit 1523 mit Uber-
nahme der stifthildesheimischen Amter Liebenburg und Vienenburg im Zuge
des Quedlinburger Rezesses.146 Auch die an den Herzog gekommenen Kloster
Riechenberg und Georgenberg sind hier zu beriicksichtigen - sie hatten Besit-
zungen in diesem Umland, welches lange Zeit automatisch auf die Stadt Goslar
orientiert gewirtschaftet und produziert haben diirfte. Ein machtigerLandesherr
konnte da theoretisch ansetzen, zumal sich fortan auch verstarkt andere Abneh-
mer agrarischerProdukte im Oberharz finden sollten. Die schwierige Ertragslage
unter den klimatischen Bedingungen der sogenannten „Kleinen Eiszeit" diirfte
das Goslarer Empfinden dieses territorialpolitischen Drohpotentials dabei noch
erheblich verstarkt haben.147
Besonders am Schicksal der Neuwerker Besitzungen konnte das Interesse der
Stadt deutlich werden, die bisherige Selbstverstandlichkeit der Ressourcen- und
Lebensmittelversorgung auch weiterhin zu gewahrleisten: Das nordliche Vor-
land der Stadt Goslar war mit Klosterbesitz Neuwerks durchsetzt, quasi von die-
145 Vgl. z.B. StA GS B 2688, Anno 1543Mychaelis anfengcklich. Register des walckenredeschen
gudes by wemejerlyken tinse undfelle bedaget ock welcke tynse gegeve und de noch schuldich syn, 1543-
1551. Darin finden sich sowohl die monetaren wie naturalen Einnahmen des Rates verbucht;
in StA GS B 2705 bzw. 2705, zwei weiteren Registern, finden sich dann zu den Jahren 1562-
1565 die inname van vorkofftem korn als Weite, Rogge, haver, und Gerstenn verzeichnet.
146 Dazu Meier, wie Anm. 32, S. 80-83.
147 Zur „Kleinen Eiszeit" vgl. statt vieler: Riidiger Glaser, Klimageschichte Mitteleuro-
pas. 1000 Jahre Wetter, Klima, Katastrophen, Darmstadt 2001, pass.
Ressourcenknappheit und reichsstadtische Kompensation 111
sem dominiert (Immenrode, Dornten, Weddingen, Langelsheim, Jerstedt, Ohl-
hof). Vor dem Hintergrund der Ratsvormundschaft iiber das Kloster und seine
Wirtschaftstatigkeiten konnen wir also von einer informellen Gebietsherrschaft
der Stadtvater ausgehen, auf welcher die regionale Ressourcendominanz Goslars
nicht zuletzt fuBte.148 Eine Dominanz allerdings, die im Zuge der reformatori-
schen Wirren zwischen Goslar und Neuwerk unter der mit rechtem Nonnentrotz
erbetenen Einmischung Heinrichs des Jiingeren und seiner Nachfolger ins Wan-
ken geriet, weil die Herzoge die Giiter Neuwerks im ehemaligen GroBen Stift
Hildesheim ebenso beschlagnahmten wie den Ohlhof, das klosterliche Vorwerk
bei Goslar. Seit Mitte des 16. Jahrhunderts (spatestens ab 1575) war der agrar-
wirtschaftliche Arm des Klosters damit fur die Belange der Stadt ebenso lahm-
gelegt wie zuvor schon die umfanglichen Neuwerker Wald- und Forstrechte. Er-
schwerend kam hinzu, daB der Nonnenkonvent sich iiber die Glaubensfrage
zerstritten hatte, und alle konzertierten Revindikationsbemiihungen daran schei-
tern muBten.149
Die Walkenrieder Giiter boten dem Rat die willkommene Chance, auch im Be-
reich der Lebensmittelversorgung kompensatorisch tatig zu werden. Interessan-
terweise deckte sich der Einzugsbereich des Walkenrieder Giiterbesitzes sogar
partiell mit demjenigen Neuwerks (deutlich bei Immenrode und Weddingen).
Wollte der Rat hier an alte Bindungen ankniipfen oder solche vielmehr aufrecht-
erhalten, um Ressourcenstrome auch zukiinftig auf die Stadt zu lenken? Konnte
er iiber die unmittelbaren Walkenrieder Pachter hinaus auf innerdorfliche Mit-
nahmeeffekte bei den iibrigen ortsansassigen Meiern und Bauern hoffen?150
148 Romer-Johannsen, wie Anm. 8, S. 255 und 264; Goslar selbst besaB keine direkten
agrarischen Liegenschaften im Harzvorland. Bei einer geschatzten Einwohnerzahl von 6000-
7000 Personen um 1500 lieB sich stadtische Entwicklung und Prosperitat in fiir den Rat ver-
laBlicher Weise nur durch eine Kontrolle auch der agrarischen Grundversorgung sicherstel-
len (vgl. zu den demographischen Aspekten: Peter-Johannes Schuler, Goslar - Zur Bevolke-
rungsgroBe einer mittelalterlichen Reichsstadt, in: Meckseper, wie Anm. 141, S. 443-456).
149 Romer-Johannsen, wie Anm. 8, S. 257-259 und 263f. bzw. 265f.; seit 1575 unter-
band Herzog Julius jegliche Zufuhr von den Neuwerker Giitern nach Goslar.
150 Derlei Uberlegungen sind relativ unbefangen formuliert und basieren auf einer
betont unformalistischen Vorstellung von innerdorfgemeinschaftlichen, grundherrlichen,
marktwirtschaftlichen wie auch machtpolitisch-landesherrlichen EinfluBgroBen. Ein Stuck
weit speisen sie sich auch aus „revolutionaren" Uberlegungen, wie sie Jiirgen Schlumbohm,
Bernd Marquardt u.a. zurje lokalen Realitat fruhmoderner Territorialstaatlichkeit angestellt
haben (Jiirgen Schlumbohm, Gesetze, die nicht durchgesetzt werden - ein Strukturmerkmal
des friihneuzeitlichen Staates?, in: Geschichte und Gesellschaft 23 (1997), S. 647- 663; Mar-
quardt, wie Anm. 89, bes. S. 16-18). Fiir das wirtschaftliche Stadt-Land-Verhaltnis um Goslar
harren sie ihrer historiographischen Aufarbeitung; allg. Ansatze: Trossbach, wie Anm. 75,
S. 80f. (Dorfgemeinde und Staatsbildung), sowie Marquardt, wie Anm. 89, S. 204-211 (Stadte
und regionale Netzwerke lokaler Herrschaften); allg. auch Rolf Kiessling, Die Stadt und ihr
112 Cai-Olaf Wilgeroth
6. Fazit: Natur und Macht in Zeiten ressourcenokonomischer
Territorialisierung.
Jahrhunderte lang hatte die Stadt Goslar den Harzwald und sein Vorland wirt-
schaftlich beherrscht, ohne dort tatsachlich Grundherr zu sein. Angesichts ihrer
vorteilhaften Lage war die Stadt Schwergewicht genug gewesen, um Rohstoffstro-
me und wirtschaftspolitische Prozesse an sich zu binden. Im 16. Jahrhundert -
mit dem Einsetzen des Territorialisierungsprozesses und einer verstarkten auch
okonomischen Gebietsintegration durch den Landesherren - griffen solche in-
formellen Mechanismen nicht mehr. Gerade Goslar bekam die neue Konkur-
renzsituation schmerzlich zu spiiren. Nach langem Ringen mit Heinrich dem
Jiingeren muBte man 1552 erkennen, daB die spatmittelalterliche Regionaldomi-
nanz politisch wie wirtschaftlich zu Ende gegangen war. Man verlor die Rechte
am Berg- und Hiittenwesen sowie an den Harzwaldern. Fortan waren neue Wege
zu beschreiten, um sich unter jah gewandelten Rahmenbedingungen das ressour-
cenokonomische Auskommen zu sichern.
Joachim Radkau sprach einst mit Blick auf eine der zentralen Fragen vormo-
dernerUrbanitat vom „Ratsel der stadtischenBrennholzversorgung":151 Ohne ei-
ne gesicherte Energieversorgung basierend auf dem organisch nachwachsenden
Brennstoff Holz muBte urbanes Leben zwangslaufig zum Stillstand kommen. Zu-
dem fungierte Holz als universeller Bau- und Werkstoff und war auch von daher
unersetzlich.152
Hierin lagen unseres Erachtens fur den Goslarer Rat die Beweggriinde seiner
Verhandlungen mit dem Zisterzienserkloster Walkenried begriindet, als letzte-
res seine regionalen Liegenschaften zu verkaufen trachtete: Die Motivation der
Stadt zum Erwerb der Vier Berge haben wir in den Harzwaldverlusten der ersten
Halfte des 16. Jahrhunderts zu suchen, wobei wir im Zuge der Ereignisse einen
Paradigmenwechsel in den zugrundeliegenden Goslarer Waldbewirtschaftungs-
prinzipien konstatieren konnten. Abgesehen von den eigentlichen Vertragen
lieB dieser sich an Einschlags- und Verkaufsregistern ebenso verdeutlichen wie
Land. Umlandpolitik, Biirgerbesitz und Wirtschaftsgefiige in Ostschwaben vom 14. bis ins
16. Jahrhundert, Koln u.a. 1989. Auch wird hier das Spannungsverhaltnis zwischen Stadt
Goslar und herzoglichen Landesherren zu hermeneutischen Zwecken sicherlich ein wenig zu
iiberspitzt dargestellt, wenn man an die spatere „Interessenallianz" vor Ort denkt - Goslar
und seine Bewohner blieben fur den Herzog natiirlich wichtig im Rahmen der spateren Un-
terharzer Montanstrukturen. Dennoch: In den turbulenten Jahren des 16. Jahrhunderts
konnte Goslar solches nicht absehen. Eine selbstbestimmte Ressourcenverfiigbarkeit muBte
zudem generell angenehmer sein als eine solche von Herzogs Gnaden.
151 Joachim Radkau, Das Ratsel der stadtischen Brennholzversorgung im „holzernen
Zeitalter", in: Dieter Schott, Energie und Stadt in Europa, Stuttgart 1997, S. 43 ff.
152 So insbesondere auch Schubert, wie Anm. 36, passim.
Ressourcenknappheit und reichsstadtische Kompensation 113
an spateren konfliktbeziiglichen Schriftquellen. Eine noch in den 1540er-Jahren
obwaltende Mentalitat des bloBen Aberntens von Holzackern wich mit den tie-
fen Einschnitten des Riechenberger Vertrages von 1552 der Erkenntnis, daB
man die stadtische Grundversorgung mit Brenn-, Nutz- und Bauholz auf eine
breitere und dauerhaftere Grundlage stellen miisse. Die Vier Berge wurden zum
mittelwaldartig gehegten und genutzten Holzreservoir des Rates, um dabei dem
stadtischen Eigenbedarf ebenso zu dienen wie der VerauBerung des Holzes an
die Einwohner.
Seit den 1590er-Jahren kollidierte dieser stadtische Waldbetrieb sowohl mit
der landesherrlichen Administration Walkenrieds wie mit dem territorialstaatli-
chen Bedarf an Holz und anderen Waldressourcen. Im Zuge der resultierenden
Auseinandersetzungen um die Vier Berge stoBen wir seitdem auf eine Vielzahl
von Akteuren im Wald: Herzogliche Amtleute, Oberforsterund Holzhauergerie-
ten dabei - gefolgt von dorflichen Eorstknechten und bauerlichen Hirten - vor
Ort mit stadtischen Forstern, Biirgern und Notaren aneinander - ebenso wie ihre
jeweiligen Vorstellungen von rechtmaBiger Waldnutzung und Forsthoheit.
Radkau stellte seine groBe synthetisierende Abhandlung einer Weltumweltge-
schichte unter die Uberschrift „Natur und Macht".153 Macht - so konnte man es
verkiirzt ausdriicken - gereicht ihm zum Explicans im Beziehungs- und Nut-
zungsgeflecht von Mensch (Gesellschaft) und Natur.
Dieser Macht-Begriff fiigt sich als Erklarungsmoment gut in die Geschichte der
Vier Berge ein: Wirbefinden uns mit dem 16.Jahrhundert in einer (forst-)hoheit-
lichen Schwebephase. Die Stadt Goslar sah sich als rechtmaBige Eigentiimerin
der Waldungen einem Landesherrn gegeniiber, dem es auf die Durchsetzung ei-
ner derartige Rechtszustande iiberwolbenden Territorialherrschaft ankam. Auf
der lokalen Ebene, in den Vier Bergen, hatte sich dieser forstpolitische Schwebe-
zustand seinerzeit sogar in der Landschaft ablesen lassen - an einem devastierten
Waldbestand.
Die Bestande litten darunter, daB die Stadt sie nicht mehrzu hegen vermochte,
wahrend die herzoglichen Beamten noch nicht im Rahmen ausreichend fester
Strukturen zu agieren brauchten und sich der Geholze einfach selektiv annah-
men. Das Waldgebiet hing quasi-anarchisch in der Luft zwischen landesherrli-
cher Territorialhoheit und stadtischer Regionalherrschaft - eine Unentschieden-
heit, die den Waldern schon immer schlecht bekam.
Die spezifische Positionierung derDorfbewohner von Immenrode und Hahn-
dorf in diesem Konflikt zeigt ebenfalls diese unklaren Verhaltnisse an. Auch die
Bauern muBten im Wettlauf um knappe Ressourcen ihre Chancen zwischen un-
153 Joachim Radkau, Natur und Macht. Eine Weltgeschichte der Umwelt, Miinchen
2000.
114 Cai-Olaf Wilgeroth
klaren landesherrlichen und stadtischen Anspriichen nutzen. Man konne nicht
anders, hat Luddeke Unverhauen, bezeichnenderweise zu Protokoll gegeben.
Vielleicht ahnte (oder befiirchtete) man, daB bei dereinst vollausgepragter lan-
desherrlicher Forsthoheit genausowenig eine ungehinderte Partizipation an der
Waldnutzung moglich sein wiirde, wie zu Goslarer Zeiten.
Die Zuganglichkeit zum Wald war damals zunachst eine Frage der schieren
Machtverhaltnisse, die Korrektheit seiner Nutzung eine solche der Perspektive.
Wir haben hier den Standpunkt der Stadt eingenommen, von dem aus sowohl die
herzoglichen als auch die bauerlichen Verhaltensweisen im Wald als Freveltaten
angesehen werden muBten. Unwillkiirlich ist man geneigt, dem fur die landes-
herrliche Beamtenschaft zuzustimmen und den Bauern Verstandnis entgegenzu-
bringen. Doch das ware unhistorisch und wir enthalten uns jeder moralischen
Verurteilung.
Am Ende noch eine Anmerkung zum weiteren Verlauf des Konfliktes im 17.
Jahrhundert: In dem verzweifelten Versuch, dem „Spiel" von Macht und Ohn-
macht zu entrinnen, reichte der Goslarer Rat 1598 beim Reichskammergericht
eine Supplicatio pro citatione gegen den Herzog von Braunschweig- Wolfenbiittel
ein.154 Daran sollte sich ein langjahriger ProzeB kniipften, zu dem parallel sich
aber - die zeitgleichen Forsterberichte Dietrich Ellings zeigen es - auch weiter-
hin Freveltaten in den Vier Bergen ereigneten. Hinzu kommt, daB sich dann mit
der Restitution des Hochstiftes Hildesheim und der Riickgabe des Amtes Lie-
benburg die Rechtslage und Machtkonstellation ab 1635 nochmals verkompli-
zierten.155
An den zugehorigen Akten der Archive in Goslar bzw. Wolfenbiittel wird da-
bei deutlich, wie prioritar es dem Rat auf die Holzung vor den Toren der Stadt an-
gekommen ist. Zwar wird in den Klageartikeln der Stadt ebenso der herzoglichen
wie spateren klosterlichen Invektiven beziiglich der Vorwerke, Meiergiiter,
Pachtzinsen und Kornabgaben gedacht; jedoch ergibt sich aus einer quantitati-
ven wie qualitativen Dominanz der Vier-Berge-Klagepunkte ein eindeutiges
Bild: Dem Rat war es vor allem um die holzernen Ressourcen gegangen, als er
mit Walkenried ins Geschaft kam.156 Vielleicht hatte man seinerzeit auf Seiten
154 Vgl. StA GS B 2692: Original Supplicatio pro citatione, 1598 August 31.
155 Vgl. die Akten im StA GS B 2692 bzw. B 2452 (Walkenrieder Acker), sowie im
NdsStA WF 11 Alt Walk Nr. 37 (Walkenrieder Akten, 1508ff.; z. Zt. der geplanten Einsicht-
nahme leider zur Sicherungsverfilmung in Biickeburg); 6 Alt Nr. 545 (Reichskammerge-
richt): der Rotulus lauft vom 20. Marz 1599 bis zum 12. September 1665; Hildesheimer Be
standezumThemaimNdsHStAHHild. Br. 1,6,9, Nr. 11 und Hild. Br. l,9,2Nr. 14, 19,20
und 33.
156 Etwas Statistik: Abzuglich derganz allgemeinen, formaljuristischen sowie lediglich
Ressourcenknappheit und reichsstadtisctie Kompensation 115
des Klosters sogar eine „Alles-oder-nichts-Taktik" bei den Verkaufsverhandlun-
gen gefiihrt, um eine Zerstiickelung des Besitzes und miihsame Verhandlungen
mit einer Vielzahl von Einzelkaufern zu vermeiden. Der Erwerb der agrarischen
Liegenschaften lieBe sich dann als Bedingung fiir den Erwerb der Holzungen vor-
stellen. Gleichzeitig erinnern wir uns an die klosterliche Beteuerung, man wolle
am liebsten mit dem lokal verorteten Rat, nicht so gerne mit dem territorialen
Herzog ins Geschaft kommen.
Wir verfolgen diesen ohne Ausgang gebliebenen ProzeB nicht weiter, weil er
fiir unser Thema nur wenige Informationen liefert, vielmehr rechtsgeschichtli-
ches Interesse beanspruchen diirfte: Wie bei den meisten Prozessen wahrend der
damaligen Epoche territorialstaatlicher Durchsetzung von Hoheitsanspriichen
geht es nicht um das „wie" von Nutzungen, sondern zumeist um das „ob" bzw.
„wer". Der Informationsgehalt bewegt sich deshalb - mit Ausnahme der stadti-
schen Klageschrift - auf einer eher abstrakten, formaljuristischen Ebene, weniger
im Bereich konkreter alltags-, wirtschafts- oder umweltgeschichtlich relevanter
Einzelheiten.157 Zudem nimmt der vorliegende ProzeB bei Fragen derRechtma-
Bigkeit von klosterlichen GiiterverauBerungen bzw. deren ungestorter Nutzung
durch den Kaufer nur seinen Ausgang. Im gerichtlichen Verlauf tritt dann immer
mehr die Frage in den Vordergrund, ob der Herzog von Braunschweig-Wolfen-
biittel als Administrator des Klosters iiberhaupt riickwirkend EinfluB auf Ver-
tragsabschliisse zwischen dem Kloster Walkenried und Dritten nehmen diirfe,
wie er dies unter einem vielleicht nur frommelnden „ad-pias-causas-Deckmantel-
chen" der Klosterordnung von 1569 mit „laesio-enormis-Arg\imentena hinsicht-
Giiterteile benennenden Artikel (Nr. 1-45) beziehen sich von den 67 (62) Nummern der
stadtischen Klageschrift allein 7, noch dazu die ausfiihrlichsten und detailliertesten, auf die
Vier Berge und dortige Holzfrevel. Ein Abschnitt blofler Aufzahlung und Benennung der
Einzelgiiter beginnt in Artikel 22 (17) bezeichnenderweise mit dem geholtz, die vier berge (Die
unterschiedliche Zahlung der Artikel resultiert aus diesbeziiglich voneinander abweichen-
den Uberlieferungsbestiinden: StA GS B 2691 bzw. NdsStA WF 6 Alt Nr. 545).
157 Hier bestatigt sich die Kategorisierung der einzelnen ProzeBdokumente nach ihrem
jeweiligen rechts-, wirtschafts- oder sozialgeschichtlichen Informationsgehalt, wie sie Ernst
Pitz, Ein niederdeutscher KammergerichtsprozeB von 1525. Beitrag zum Problem der
rechtsgeschichtlichen und wirtschaftsgeschichtlichen Auswertung der Reichskammerge-
richtsakten, Gottingen 1969, S. 7f., S. 95 ff. vornimmt. Dezidierte Zeugenaussagen liegen im
Bestand leider nicht vor; Marquardt, wie Anm. 89, S. 245f., kann hier eine „Forschungslii-
cke" fiir die Bestande des Reichskammergerichts und des Reichshofrates attestieren: „Eine
systematische Auswertung [. . .] unter umweltrechtsgeschichtlichen Gesichtspunkten steht
noch aus." Obwohl sich hier durchaus etwas in der Forschung tut (z.B. Stefan von Below
u.a., Wald - von der Gottesgabe zum Privateigentum. Gerichtliche Konflikte zwischen Lan-
desherren und Untertanen um den Wald in der friihen Neuzeit, Stuttgart 1998) trifft diese
Diagnose nach wie vor zu - die reichen Bestande an Akten der obersten Reichsgerichtsbar-
keit harren ihrer umwelthistorischen Entdeckung.
116 Cai-Olaf Wilgeroth
lich einer Zweckentfremdung von Klostergiitern tat.158 Damit verlassen wir je-
doch den engeren ressourcenpolitischen Bereich, wenngleich die grundlegende
Entscheidung in derlei Fragen enorme rohstoffliche und materielle Konsequen-
zen fur die jeweils Betroffenen zeitigen mochte.
Statt dessen enden wir an diesem Punkt des Geschehens zu Anfang des 17. Jahr-
hunderts mitjenem Satz Holzmanns, den auch dieseran das Ende seiner Darstel-
lung gestellt hat: „Weiter glaubt sich der Verfasser hier nicht erklaren zu diirfen,
weil sein Zweck war, Alles nur geschichdich, nicht juristisch darzustellen".159
158 Vgl. Hans-Walter Krumwiede, Kirchengeschichte Niedersachsens. Bd. 1: Von der
Sachsenmisson bis zum Ende des Reiches 1806, Gottingen 1995, S. 178: ,,1570 ordnete Her-
zogjulius an, die Klostergiiter nur zu den Zwecken zu verwenden, zu denen sie gestiftet sei-
en, „ad pias causas, zu Gottes Lob und Ehre, zur Erhaltung von Kirchen und Schulen und
zum gemeinsamen Nutz des Fiirstentums". In der Praxis waren schon unter Herzogjulius
und seinen Nachfolgern Heinrich Julius und Friedrich Ulrich die Klosterintraden fur die
Wirtschaft des Landes und die Aufbesserung seiner Finanzen wenig skrupelhaft verwendet
worden." Solches ist beispielsweise nachweisbar fur das Kloster Lamspringe und seine For-
sten (vgl. HStAH Hild. Br. 3,11 Nr. 3, Erlasse der Herzoge Julius, Heinrich Julius und Fried-
rich Ulrich von Wolfenbiittel an das Kloster Lamspringe betr. Holzlieferungen aus dessen
Forsten, 1572-1625). Die Maximen dieser Klosterpolitik diirften aquivalent auch im Falle
der Walkenrieder Giiter und ihrer Reklamation Anwendung gefunden haben; zur Sache
auch Leuckfeld, wie Anm. 18, S. 132, und besonders Eckstorm, wie Anm. 16, pag. 260;
Heineccius, wie Anm. 2, pag. 518.
159 Holzmann, wie Anm. 24, S. 93.
4.
Determinanten der Waldentwicklung im Westharz
(16.-18. Jahrhundert)
Von Peter-M. Steinsiek
Einfiihrung
Der folgende Beitrag behandelt die politischen und okologischen Aspekte einer
Forstwirtschaft, welche notwendig nachhaltig den friihneuzeitlichen Bergwerks-
haushalt des Westharzes mit der zentralen Ressource Holz zu versorgen hatte. Im
ersten Teil werden einige Ergebnisse aus vorangegangenen Untersuchungen
resp. Veroffentlichungen referiert und deshalb bewusst kurz und beispielhaft
skizziert. Sie betreffen vor allem die Nutzung und den Wandel der Westharzer
Waldokosysteme.1 Durch den Einsatz von Geographischen Informationssyste-
men lieB sich die Entwicklung verschiedenerZustandsparameter (Baumartenzu-
sammensetzung, Starkengliederung und Dichte der Bestockung) im Untersu-
chungszeitraum bis auf die Forstortsebene hinab analysieren und darstellen.2 Die
1 Untersucht wurden ausschlieBlich die landesherrlichen welfischen Bergwerksforsten.
2 Fur methodische Details vgl. Peter-M. Steinsiek, Martin Jansen, Ulrike Hinuber, Auf
dem Priifstand. Zur Nachhaltigkeit von Wald und Holz im Westharzer Bergrevier vor 1800,
in: Wolfgang lNGENHAEFF,Johann Bair (Hrsg.), Bergbau und Holz. Schwazer Silber - 4. In-
ternational Montanhistorischer Kongress Schwaz 2005 [...], 2006, S. 239-259. Weil noch
nicht alle geplanten Analysen abgeschlossen werden konnten, sind die unten mitgeteilten
Angaben iiber die historischen Holznutzungen und die Waldzustandsentwicklung als vor-
laufig anzusehen.
Peter-M. Steinsiek, s. Z. Institut fur Forstpolitik, Forstgeschichte und Naturschutz der
Universitat Gottingen: Erhebung, Aufbereitung und Darstellung der forsthistorischen In
formationen; okologische Analysen; Planung der Layouts (Karten, Diagramme). Martin
Jansen, s. Z. Institut fur Forstliche Biometrie und Informatik der Universitat Gottingen: An-
leitung und Betreuung der Digitalisierungsarbeiten; okologische Analysen; Planung" der
Layouts (Karten, Diagramme) . Ulrike Hinuber (ebd.) : Durchfuhrung der Digitalisierungsar-
beiten; Planung und Erstellung der Layouts (Karten, Diagramme).
Die Untersuchungen wurden gefordert vom Niedersachsischen Ministerium fur Wissen-
schaft und Kultur aus Mitteln des Niedersachsischen Vorab der Volkswagen-Stiftung, ferner
von der Georg-Ludwig-Hartig-Stiftung, der Hermann-Reddersen-Stiftung sowie von den
Niedersachsischen Landesforsten AoR.
118 Peter-M. Steinsiek
politische Steuerung der Waldnutzung hatte die Schonung der Ressource zum
Ziel und wurde vom Verfasser im Rahmen einer historischen Politikfeldanalyse
untersucht.3
Im zweiten Teil werden bestimmte okologische Risiken der forstlichen Wirt-
schaft im Harz erlautert, um die Gefahrdung der Produktionsziele durch abioti-
sche und biotische Faktoren zu illustrieren. Zu den abiotischen Gefahrdungen
gehorte namendich das Witterungsgeschehen und, als anthropogenes Spezifi-
kum, der Hiittenrauch. Zu den biotischen Risiken zahlte vor allem der massen-
hafte Befall der Fichten durch Borkenkafer.
Umlenkung der Waldentwicklung durch Nutzung
Wir besitzen bereits recht genaue historische Kenntnisse iiber Aufkommen und
Entwicklung zentralerRessourcen im Harz, zumindest in seinem westlichen Teil.
Dies gilt besonders fur die Zeit nach 1500. Neben Wasser hatten zweifellos Wald
und Holz in dem hierzu betrachtenden Zeitraum essentielle Funktionen fur Wirt-
schaft und Gesellschaft zu erfiillen. Bei ihnen handelte es sich auch definitionsge-
maB um echte Ressourcen, d. h. um sich selbst erneuernde Systeme bzw. nach-
wachsende Giiter. Wie gezeigt werden konnte, waren in der Bergwirtschaft des
westlichen Harzes fur die Entstehung von Nachhaltigkeit der Holzversorgung fol-
gende Hauptfaktoren maBgeblich, die zugleich den Schutz des Waldes bewirkten
(Abb. 1).
Neben dem engeren politischen Prozess mit seinen Instrumenten und Strate-
gien zur Umsetzung von staatlichen Waldschutzprogrammen konnten auch Zei-
ten politischer und soziookonomischer Instabilitat im Zuge von Seuchen und
Kriegen zu einem Riickgang der Holznachfrage und somit zu einer Schonung der
Ressource fiihren. Als entscheidend fur das Erreichen von Nachhaltigkeit jedoch
erwiesen sich Nutzungsblockaden. Sie waren das Ergebnis von informalen Kon-
Die Auspragung der Waldzustandsparameter wird in der zusammenfassenden Analyse
maBgeblich von derjeweiligen Flachenausstattung der historischen Forstorte gesteuert. Die
Anwendung von Geographischen Informationssystemen ermoglichte es, die Flacheninhal-
te genauer als bisher zu ermitteln. Dies ist der Grund dafiir, dass die Daten iiber die Ent-
wicklung der Starkengliederung und Holzartenanteile in den Forsten des Westharzes von
den entsprechenden Angaben in fruheren Veroffentlichungen des Verfassers abweichen
konnen (vgl. Peter-M. Steinsiek, Nachhaltigkeit auf Zeit. Waldschutz im Westharz vor 1800,
Munster u. a. 1999; ders., Der Wald in der Bergwirtschaft des westlichen Harzes 1550-1810:
Nutzung, Steuerung, okosystemare Entwicklung, in: Hans-Jiirgen Gerhard, Karl Heinrich
Kaufhold, Ekkehard Westermann (Hrsg.), Europaische Montanregion Harz, Bochum
2001, S. 307-322).
3 Vgl. Steinsiek, Nachhaltigkeit, wie Anm. 2.
Determinanten der Waldentwicklung im Westharz
119
Abb. 1: Hauptfaktoren fiir die Entstehung son Waldschutz itn Westharz vor 1800
(vereinfacht).
kurrenzmechanismen zwischen den gewerblichen und nichtgewerblichen Nut-
zern des Waldes.4
Das verbindende Band istjedoch die Okologie. Wirkommen nicht umhin, das
Verhalten der Okosysteme innerhalb der sehr komplexen Beziehungen, welche
das Verhaltnis der menschlichen Gesellschaft zur naturalen Umwelt pragen, mit-
zuberiicksichtigen. Die naturale Umwelt wiederum ist ihrerseits durch kompli-
zierte, reagible Prozesse gekennzeichnet. Sie bestimmten und bestimmen auch
heute in entscheidendem Umfang die Uberlebensfahigkeit des Menschen.
Holznutzung
Dass der Wald als Lieferant von Brenn- und Baustoffen etc. eine iiberragende
Rolle in der Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Harzes gespielt hat, bedarf an
dieser Stelle keiner naheren Erlauterung. Die folgenden Ubersichten sollen den
hohen nichtgewerblichen Anteil am Holzverbrauch in Erinnerung rufen. Er be-
lief sich auf zusammen 33 % in dererstenHalfte des 18.Jahrhunderts (Tab. 1). Zu-
gleich wird deutlich, in welch groBem Umfang seinerzeit Holz als Energieliefe-
rant eingesetzt wurde (Tab. 2).
4 Diese Mechanismen sind ausfiihrlich beschrieben bei Steinsiek, Nachhaltigkeit, wie
Anm. 2.
5 Die Angaben fiir den hannoverschen Harz umfassen jeweils auch den elbingerodi-
120 Peter-M. Steinsiek
Tab. 1: Verteilung des Holzverbrauchs aufdie hauptsachlichen Konsumenten
am westlichen Harz in der ersten Halfte des W.Jahrhunderts
(Quelle: Steinsiek, Nachhaltigkeit, mie Anm. 2, S. 180).
Hannoverscher Harz
Kommunionharz
zusammen
Holz fur den
Bergwerkshaushalt
65%
69%
67%
Holz f. den privaten
Verbrauch
35 %
31%
33 %
Tab. 2: Anteile des gewerblichen Kohlholzes und privaten Brennholzes am gesamten
Holzverbrauch im westlichen Harz in der ersten Halfte des 18.Jahrhunderts
(Quelle: Steinsiek, Nachhaltigkeit, wie Anm. 2, S. 180).
Hannoverscher Harz Kommunionharz zusammen
Gewerbl. Kohlholz 39 % 41 % 40 %
Privates Brennholz 32 % 29 % 30 %
Die oben bereits angedeuteten externen Einflussfaktoren verursachten zum
Teil betrachtliche Schwankungen in der Nutzungsintensitat der Forsten. Dariiber
hinaus macht Abbildung 2 deutlich, dass im grubenhagenschen bzw. hanno-
verschen Harzteil die Entwicklung ebenmaBiger verlief und insgesamt dort
wesendich weniger Holz genutzt wurde als im wolfenbiittelschen bzw. Kommu-
nionharz.6
Jene Schwankungen sagen jedoch an sich noch nichts dariiber aus, ob und in-
wieweit das Hauptziel der staatlichen Forstpolitik, namlich eine Nachhaltigkeit
der Holzversorgung, erreicht worden ist. Nachhaltigkeit meinte in diesem Zu-
sammenhang die Anpassung der Holznutzung an die Leistungsfahigkeit der Fors-
ten. Als Verbum nach halten tritt sie uns bereits 1654 in einem Forstordnungsent-
wurf fur den Kommunionharz entgegen.7 Nun ist Papier bekanntlich geduldig, so
schen Anteil.
6 Seit 1635 befand sich der Nordteil des westlichen Harzes in gemeinschaftlicher Ver-
waltung der verschiedenen erbberechtigten Linien des Gesamthauses Braunschweig-Liine-
burg. Der Siidteil blieb „einseitig" im grubenhagenschen bzw. hannoverschen Besitz. Die
Kommunion am Oberharz endete 1788.
7 Dort heiBt es, dass vor der Errichtung einer neuen Sagemiihle in der Forst u. a. wohl
Determinanten der Waldentwicklung im Westharz
121
10 10 m ts to to
Abb. 2: Entwicklung der Holznutzungen im Westharz von der Mitte des 16. bis Ende des
1 8 . Jahrhunderts (Quelle: Steinsiek, Nachhaltigkeit, wie Anm. 2, S. 191).
dass es keinen Sinn macht, von der Formulierung eines (vorlaufigen) Programms
bereits auf dessen erfolgreiche Umsetzung zu schlieBen.
Urn solches sicherer ermessen zu konnen, muss neben dem Holzertrag auch
der Zustand der Ressource selber beurteilt werden, und zwar durch die Analyse
von aussagefahigen Zustandsparametern (Baumartenzusammensetzung, Star-
kengliederung und Dichte der Bestockung, s. o.). Diese Analysen ergaben, dass
es im Untersuchungszeitraum (zweite Halfte des 16. bis zweite Halfte des 18.
iiberlegt werden miisse, wie Lange die Holtzung [im Sinne von Holznutzungen; d. Verf.J so aufsol-
chen Sagemiihlen [. . J zu schneiden ist, nach halten konne (Nieders. Landesarchiv, Hauptstaats-
archiv Hannover [kiinftig HStA H], Hann. 84a Nr. 1 [Entwurf einer Forstordnung fur den
Kommunionharz, Kapitel 5, Punkt 1, 1654]). Der Kameralist und Freiberger Berghaupt-
mann HannB Carl von Carlowitz (1645-1714) hat vermutlich als erster den Grundsatz der
forstlichen Nachhaltigkeit (Nachhaltigkeit der Holzerzeugung und Holzproduktion) im
Rahmen seiner „Sylvicultura Oeconomica" erlautert und publiziert. Dennoch fehlt es nicht
an Quellen, die belegen, dass Nachhaltigkeit spatestens seit Beginn der Friihen Neuzeit im
Harzwald ein bekanntes und gebrauchliches Wirtschaftsprinzip gewesen ist (HannB Carl
von Carlowitz, Sylvicultura Oeconomica [. . .], Leipzig 1713).
8 Den Berechnungen zum Holzaufkommen lagen folgende Qjuellengattungen zugrun-
de: Forstrechnungen, Bergwerkstabellen und Kohlenordnungen, Holzverbrauchsiibersich-
ten; weiterhin wurde der Holzverbrauch im Anhalt an die Metallausbringung der Hiitten
nachkalkuliert; fur die Quellennachweise und Berechnungsgrundlagen vgl. Steinsiek,
Nachhaltigkeit, wie Anm. 2, S. 170ff.
122
Peter-M. Steinsiek
Jahrhunderts) im Harz nicht zu raubbauartigen Nutzungseingriffen gekommen
ist, welche den Wald nachhaltig geschadigt oder gar verwiistet hatten.
Allerdings wird dabei auch sichtbar, dass die Forsten ihr Antlitz im Laufe der
Zeit deutlich veranderten:
- In der ersten Halfte des 17. Jahrhunderts nahmen im Laub- und Nadelholz
schwache Holzermit einem Brusthohendurchmesser (BHD; Messung des ste-
henden Baumes bei etwa 1,3 m Hohe) von weniger als 15 cm noch etwa ein
Viertel der Bestockung ein.9 Wahrend des DreiBigjahrigen Kriegs aberkonn-
ten sich die bis dahin stark beanspruchten Forsten insgesamt erholen und da-
mit die rohstofflichen Voraussetzungen fur die sich anschlieBende Bliitephase
des Harzer Bergbaus schaffen. Das nachfolgende Balkendiagramm zeigt die
Verteilung der Stammstarken fur samtliche Baumarten um die Mitte des 18.
Jahrhunderts. Die Vorrate an Kohlholz - mit einem mittleren Brusthohen-
durchmesser von etwa 23 cm - und an Schachtholz - mittlere Brusthohen-
durchmesser bei 34 bis 57 cm - waren beachtlich, und gerade diese Dimensio-
nen spielten eine besonders wichtige Rolle fur das Berg- und Hiittenwesen.
cm BHD
>S0 |1
=>40-50 ^^B5
>30-40 ^ 42
>25-30 ~"~~124
>Z0-Z5 ]19
>15-20 |6
>10-15 ]1
>0-10 z\2
10
20 30 40
Flachenanteile in %
50
60
Abb. 3: Verteilung der Durchmesserstufen bei Laub- und Nadelholz in den Forsten des Westharzes
1731/50; %-Angaben gerundet (Quelle: Steinsiek et al., wie Anm. 2, S. 247).
9 Hierbei ist zu bedenken, dass bei den beiden fraglichen Forstbereitungen der Anteil
derjenigen Holzer, fiir die eine Zuordnung zum Laub- bzw. Nadelholz nicht moglich war,
zusammen etwa 7 % betrug.
10 Die Waldzustandsanalysen wurden fiir vier unterschiedliche Zeitschnitte durchge-
fiihrt. Zur Auswertung gelangte jedes Mai eine General-Forstbeschreibung pro Harzteil (das
hannoversche Protokoll ist nachfolgend jeweils zuerst genannt) : 1596/ 1583 (Nieders. Landes-
archiv, Staatsarchiv Wolfenbiittel [kiinftig StA Wf], 2 Alt Nr. 8481; 4 Alt 10 VIII Nr. 1),
Determinanten der Waldentwicklung im Westharz
123
Ausgedehnte nutzungsbedingte BloBen gab es zu keinem Zeitpunkt,
wenn man von denjenigen absieht, welche durch Sturm- und Schnee-
bruch und auch durch Hiittenrauch verursacht worden sind (s. u.).
Die einstige Vorherrschaft des Laubholzes ging im 17. Jahrhundert zu-
gunsten der Fichte verloren. Bis 1990 konnte die Fichte ihren Anteil auf
70 % steigern.11
uu -
70-
70
60-
se
59
39
61
r
59
c
~ 50 ■
a
44
41
41
E 40 -
ra
c
OJ
J= 30-
o
ra
"■ 20-
30
lo-
o-
1
_
L
_
D Laubholz
n Nadelholz
1583/96 1630/42 1677/91 1731/50 1990
Abb. 4: Laub- und Nadelholzanteile an den Forsten des Westhaiz.es 1583/96-1731/50;
die aktuellen Verhdltnisse spiegelt etwa die Kategorie „ 1990" wider; %-Angaben gerundet
(Quelle: Steinsiek et al., wie Anm. 2, S. 248, verdnd.).
Die umstehenden Karten zeigen die Verteilung der Bestandestypen12 gegen
Ende des 16. Jahrhunderts und um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Von Inter-
esse sind jetzt lediglich die dunkelgrau markierten Flachen mit reiner oder
fast reiner Fichtenbestockung. Man erkennt, dass die Fichte, welche urspriing-
1630/1642 (HStAH, Celle Br. 57 Nr. 189; StA Wf, 92 NeuANr. 1), 1677/1691 (HStAH, Harm.
84a Nr. 19; Harm. 84a Nr. 23), 1731/1750 (HStA H, Harm. 82a Lauterberg Nr. 63; StA Wf,
4 Alt 16 Nr. 357-359).
11 Der vermeintlich leichte Riickgang der Fichtenanteile zwischen der zweiten Halfte
des 17. und der ersten Halfte des 18. Jahrhunderts ist moglicherweise auf die Quellenlage
zuriickzufuhren. Denn die Forstbeschreibungen vor allem des jiingsten Zeitschnitts sind we-
sentlich ausfuhrlicher und sorgfaltiger abgefasst als die alteren Beschreibungen. Sie erlaub-
ten daher auch eine genauere Skalierung der Zustandsparameter.
12 Die Bestandestypen bezeichnen Bestande, welche durch bestimmte Mischungsver-
haltnisse der zu Laub- bzw. Nadelholz zusammengefassten Baumarten charakterisiert sind.
124
Peter-M. Steinsiek
ill].]
111113
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SIS I
Determinanten der Waldentwicklung im Westharz 125
lich vermutlich auf die Hochlagen des Harzes (oberhalb etwa 800 m u. NN)
beschrankt war, bereits im 16. Jahrhundert den Harzrand z.B. unweit Miin-
chehof erreicht hatte, obgleich sie in der fraglichen Zeit noch nicht massiv ge-
fordert wurde.13 Eine planmaBige Verjiingung der Forsten setzte im Harz
iiberhaupt erst Mitte des 18. Jahrhunderts ein.14 Und auch da gait, dass dem
Laubholz aufgrund der besseren Kohlen-Brennwerte ausreichende Flachen
belassen werden mussten. Hinzu kam, dass die Waldnutzungsrechte, nament-
lich die Weiderechte der Bevolkerung, Laubholzbestande wesentlich voraus-
setzten. Gleichwohl ist das Vordringen derFichte im Untersuchungszeitraum
nicht zu iibersehen. Details konnen hier wie auch im Folgenden nicht erortert
werden.
Auf der gegeniiberliegenden Seite:
Abb. 5: Verteilung der Bestandestypen in den Forsten des Westharzes 1583/96 (links) und
1731/50 (rechts) (Quelle: Steinsiek et al., wie Anm. 2, S. 250).
Zur Erlauterung:
- Die groBraumige Schlagwirtschaft kam der Verjiingungsokologie der Fichte
entgegen.
- Eine indirekte Forderung erfuhr die Fichte auch dadurch, dass sie vom Wild
und vom Vieh weniger verbissen wird als das Laubholz.
- Die fruhneuzeitliche Kleine Eiszeit mit ihrer kiihlen und feuchten Witterung
in der Vegetationsperiode unterstiitzte die okologischen Anspriiche derFich-
te ebenfalls und diirfte zu ihrer Ausbreitung mit beigetragen haben.15
- Nutzungs- und immissionsbedingte Bodenverschlechterungen konnen auf
bestimmten Standorten ebenfalls zu einer Begiinstigung derFichte gegeniiber
dem anspruchsvolleren Laubholz fuhren.
Risiken
Damit sind diejenigen Faktoren angesprochen, welche im Harz die Forstwirt-
schaft in besonderer Weise pragten und die Verfiigbarkeit der Waldrohstoffe be-
grenzten. Zu einer Destabilisierung der Waldokosysteme konnte zunachst bereits
13 Unterhalb des Verbreitungsoptimums der Fichte nimmt die Konkurrenzkraft des
Laubholzes mit abnehmender Meereshohe zu.
14 Im Kommuniongebiet des Westharzes war 1750 die Anordnung geschehen, in Zu-
kunft darauf zu achten, dafi Tannen brter mit Tannen Saamen, und Reviere worauf sonst hartes
holtz gestanden, auch mit harten Saamen wieder besaet wiirden (HStA H, Harm. 82a Lautenthal
Nr. 30 [pag. 250f.]). Ahnliches ist aus dem hannoverschen Harz iiberliefert.
15 Eine geringere Aktivitat der Sonne, ein verstarkter Vulkanismus sowie eine schwa-
chere Auspragung des Golfstroms werden als Ursachen der Kleinen Eiszeit (etwa 15.-19.
Jahrhundert) im Nordatlantikraum angesehen.
126
Peter-M. Steinsiek
Abb. 6: Nutzungsvielfa.lt ah Programm: Holz und Reisig fiir gewerbliche und private Zwecke,
Waldweide, Jagd. Daneben warder Wald Lebensraum (auch) fiir den Menschen und hot zahlrei-
che Beschdftigungsmbglichkeiten (Quelle: Forst-Magazin, 1763, Titelblatt [Ausschnitt]).
der Entzug von Biomasse durch Holznutzung und Waldweide fiihren. Nicht al-
lein der Export von Nahrstoffen auf Standorten, die von Hause aus nahrstoffarm
sind, sondern auch Versauerungsprozesse konnen zu langfristigen Veranderun-
gen und Verschlechterungen der Boden fiihren und damit auf die Lebensbedin-
gungen des Waldes Einfluss nehmen. Wenn, wie im Harz geschehen, etwa bis zu
13 Festmeter Holz pro ha und Jahr den Forsten entnommen und gegebenenfalls
auch das besonders nahrelementreiche Laub und Feinreisig von derBevolkerung
eingesammelt wurden, dann wird deutlich, dass dies allein bereits die Leistungs-
fahigkeit bestimmter Waldstandorte stark beeintrachtigen musste.17 Dariiberhin-
16 Die Ziege (im Mittelgrund des Kupferstichs) gait von Amts wegen und grundsatzlich
als waldverderblich und durfte daher meist nicht an der Waldweide teilnehmen. Umso be-
merkenswerter erscheint deshalb ihre Verwendung in dieser programmatischen Illustrati-
on. Sie weist insofern auf die besondere Bedeutung der Ziegenhaltung fiir die menschliche
Subsistenz in jener Zeit hin. Im Harz scheint die Ziegenweide im Wald nur ganz gelegent-
lich und bei Vorliegen besonderer Griinde zugelassen worden zu sein.
Determinanten der Waldentwicklung im Westharz
127
aus ist wahrscheinlich, dass sich in vielen Fallen die Anfalligkeit der Waldbaume
gegeniiber Schadereignissen erhohte.
In diesem Zusammenhang darf besonders im Harz der Hiittenrauch oderbes-
ser die durch ihn verursachte Beschadigung der Waldstandorte nicht unerwahnt
bleiben. Die gasformige Emission von Schwefeldioxid und Schwermetallen hat
in der naheren und weiteren Umgebung der Hiitten zu teilweise flachenhaftem
Waldsterben gefiihrt und die Waldboden bis heute gepragt. Dem Hiittenrauch
selber kam damit der Charakter eines forstlichen Standortsfaktors im Harz zu.
Sehr bekannt geworden ist die von dem Chemiker Dr. Julius von Schroder und
dem Stadtischen Oberforster zu GoslarCarl ReuB 1883 veroffentliche Monogra-
phic „Die Beschadigung der Vegetation durch Rauch und die Oberharzer Hiit-
tenrauchschaden". 18
Abb. 7: Haufenrostung von sulfidischen Erzen unter freiem Himmel. Links im Hintergrund sind
die Schmelzhiitten an der beachtlichen Rauchentwicklung zu erkennen (Quelle: Georg Engelhard
Lbhneyfi, Bericht, Vom Bergkwerck, Wie man dieselben Bawen, und in guten Wolstandt bringen
soil, sampt alien darzu gehbrigen Arbeiten, Ordnung und rechtlichen Procefi, [Zellerfeld] 1617,
hinter Bl. 79; Ausschnitt).
17 Bei den zuletzt genannten und noch zu nennenden „Eigenschaften" von Waldokosys-
temen, die sich in forstlicher Nutzung oder unter anderweitigem menschlichen Einfluss be-
fanden, handelt es sich selbstverstandlich urn Zuschreibungen aus Sicht des Wirtschafters.
Diese Perspektive folgt der historischen Fragestellung. Uber Art und AusmaB weitergehen-
der okologischer Implikationen ist damit jedoch nichts ausgesagt.
18 Julius von Schroeder, Carl Reuss, Die Beschadigung der Vegetation durch Rauch und
die Oberharzer Hiittenrauchschaden, Berlin 1883. In gleicher Beziehung sah sich dann Carl
128 Peter-M. Steinsiek
Sicher ist, dass iiberall dort, wo im und am Harz Erze gerostet bzw. verhiittet
wurden, die oben genannten Stoffe mit wechselnden Anteilen auf die umgeben-
de Vegetation - und iibrigens auch auf Menschen und Tiere - einwirkten. Eine
Goslarer Urkunde aus dem friihen 15. Jahrhundert besagt, dass die Erzrosten auf
GeheiB des Rates auBerhalb der Stadt angelegt werden sollten, damit die Burger
nicht durch den Gestank belastigt wurden. Das Rosten der Rammelsberger Erze
wird urspriinglich etwa in der Weise stattgefunden haben, wie es oben im Bild
dargestellt ist. In bis zu drei Umgangen wurde das Erz iiber einem Holzfeuer
miirbe gemacht und dabei der gebundene Schwefel freigesetzt. Der elementare
Schwefel sammelte sich in dazu hergerichteten Mulden und konnte auf diese
Weise, wie es hieB, gefangen werden. Ohne Frage hatten die Arbeiter dabei Hol-
lenqualen zu leiden. Imjahr 1639 klagte ein Miihlenbesitzer bei Altenau der Ob-
rigkeit, dass er wegen des Rauches der nahe gelegenen Hiitte kein gesundes Vieh
erhalten konne.19
Der Rauch wirkte zunachst schadlich auf die oberirdischen Pflanzenorgane.
Seine Bestandteile fiihrten ferner und nachhaltig zu einer Versauerung der ohne-
hin oft basenarmen Boden und zu einer groBflachigen Anreicherung bzw.
Mobilisierung von toxischen Schwermetallen. Daraus konnte wiederum eine
Schwachung der Waldbaume resultieren, eine verminderte Stabilitat und damit
Anfalligkeitgegeniiberz. B. Borkenkafern. Diese Zusammenhange iibrigens sind
bereits von forstlichen Zeitgenossen der ersten Halfte des 19. Jahrhunderts im
Harz erkannt und beschrieben worden.
Eine erste namentliche Erwahnung in forstlichem Kontext fanden Waldscha-
den durch Hiittenrauch in den Kommunion-Forstbeschreibungen von 1691/92,
und zwar fur die Lautenthaler Forst am Kleinen Bromberg unweit der Lautentha-
ler Silberhiitte sowie fiir die Wildemanner Forst am Hiitteberg.20 Schon die Be-
schreibung des zuletzt genannten Forstorts durch Groscurt und Ernst in ihrem
Auf der gegeniiberliegenden Seite:
Abb. 8: Ansicht der Bergstadt Wildemann im Harz 1654 aus sudostlicher Richtung (Quelle: Mar-
tin Zeiller, Topographia und Eigentliche Beschreibung Der Vornembsten State [. . .] in denen
Hertzogthiimern Braunschweig und Liineburg [. . .], Frankfurt a. M. 1654, vor S. 109).
ReuB zehn Jahre spater, 1893, zu der folgenden Parodie des hinlanglich bekannten Harzer
Wahlspruchs veranlasst: „Es trocknet die Tanne, es rostet das Erz, Gott troste des armen
Forstmannes Herz!" (Carl Reuss, [Referat iiber Hiittenrauchbeschadigungen im Harz], Ver-
handlungen des Harzer Forstvereins, 1893, S. 45f., Zitat S. 45). Im Harz war iibrigens mit
„Tanne" stets die Fichte (Picea abies [L.] Karst.) gemeint.
19 HStA H, Cal. Br. 3 Nr. 78.
20 HStA H, Hann. 84a Nr. 23, pag. 323; HStA H, Ha. 84a Nr. 25 [Wildemanner Forst,
pag. 13].
Determinanten der Waldentwicklung im Westharz
129
130 Peter-M. Steinsiek
beriihmten Forstabrissbuch von 1680 deutet auf den schadigenden Einfluss von
Hiittenrauch hin, wenn gesagt wird, dass des Berges gantzer Boden [. . .] iiberall tru-
ckener nicht gar fruchtbarer Natur [ist] absonderlich gegen Siiden herab: Daher an solcher
seiten nicht Viel holtzes Zu finden [. . .J.21 Unsere Annahme wird gestiitzt durch den
bekannten Kupferstich aus der Werkstatt Merians von 1654, welcher den fragli-
chen Ort - hier rechts im Bild - aus siidostlicher Richtung zeigt. Die Rauch-
schwaden der Silberhiitte am FuB des Hiittenbergs sind deutlich zu erkennen.
Der Waldzustand in der Rauchfahne derHiitte lasst es nicht unwahrscheinlich er-
scheinen, dass es sich dabei um Schadsymptome handelt. Die Beispiele lieBen
sich vermehren.
In den umfangreichen und ausfiihrlichen Waldzustandsberichten des 18. Jahr-
hunderts wurden Waldschaden durch Hiittenrauch immer wieder und ausdriick-
lich beschrieben. Aus dem Jahr 1845 stammt dann bekanntlich die erste wissen-
schaftliche Auseinandersetzung mit den Waldschaden durch Hiittenrauch im
Harz durch Gustav Rettstadt.22 Rettstadt hatte schon damals erkannt, dass ein
moglicher Pfad zur Schadigung der Baume iiber den Boden fiihren musste.
Schroder und ReuB veranschlagten 1883 die allein im Oberharz an Innerste und
Oker belegenen Schadflachen auf mehr als 4.400 ha.
Eine Umweltverschmutzung ersten Ranges stellten auch die schwermetallhal-
tigen Pochsande dar. Sie entstanden bei der Erzaufbereitung, wurden besonders
mit Innerste und Oker weit in das nordliche Harzvorland transportiert und fiihr-
ten dort bei Uberschwemmungen zu einer Vergiftung der anliegenden Landerei-
en. Ihnen widmete 1822 der hannoversche „Landesphysiograph" Georg Fried-
rich Wilhelm Meyer eine erste bahnbrechende Untersuchung.23 Diesbeziigliche
Auseinandersetzungen zwischen der Harzer Bergverwaltung und der betroffe-
nen Bevolkerung sind freilich schon Mitte des 18. Jahrhunderts aktenkundig ge-
worden.24
AbschlieBend soil von einer Gefahrfiir die Nachhaltigkeit der Holzversorgung
die Rede sein, welche sich in derzweiten Halfte des 18. Jahrhunderts zu einer re-
21 StA Wf, 92 Neu A Nr. 2a [Henning Groscurt undJohann-Zacharias Ernst, Der Gantze
Hoch Fiirstl. Braunschw. Liineburgische COMMUNION Haartz Wie Solcher auffs genaue-
ste gemessen, auffgetragen, Calculiret und beschrieben [. . .], 1680, pag. 304].
22 [Gustav Rettstadt,] Ueber die Einwirkung des Rauches der Silberhutten auf die
Waldbaume und den Forstbetrieb, Allgemeine Forst- undJagd-Zeitung 11, 1845, S. 132-140.
23 Georg Friedrich Wilhelm Meyer, Die Verheerungen der Innerste im Fiirstenthume
Hildesheim nach ihrer Beschaffenheit, ihren Wirkungen und ihren Ursachen betrachtet
[...], Gbttingen 1822. Meyer war zwischen 1832 und 1856 der erste und einzige Inhaber ei-
nes Lehrstuhls fur Forstwissenschaft an der Universitat Gbttingen.
24 Vgl. Steinsiek, Nachhaltigkeit, wie Anm. 2, S. 248f. „Hausthiere, welche aus der In-
nerste ofter saufen, Hiihner, welche den Innerstesand aufpicken, sterben an Bleivergiftung"
(Schroeder & Reuss, wie Anm. 18, S. 155).
Determinanten der Waldentwicklung im Westharz
131
Abb. 9:
Entwicklungsstadien
(teilweise vergrbfeert)
und Frajibild
(verkleinert)
des Buchdruckers
(Ips typographies L.)
(Quelle:
Caspar Heinrich
von Sierstorpff,
Ueber einige
Insektenarten,
welche den Fichten
vorzuglich schddlich
sind, und iiber die
Wurmtrocknifi
der Fichtenwdlder
des Harz.es,
Helms tedt 1794).
gelrechten Katastrophe entwickelte. Gemeint sind die Schaden, welche ein winzi-
ges Insekt, der Borkenkafer und besonders der sogenannte Buchdrucker (Ips ty-
pographic L.) an den Fichten des Harzes anrichtete. Der fragliche Zeitraum
zeichnete sich, abweichend vom Trend derKleinen Eiszeit, durch eine Folge von
heiBen und trockenen Sommern aus. Klimageschichtliche Analysen machen es
wahrscheinlich, dass ahnliche Witterungsbedingungen seinerzeit in Mitteleuropa
verbreitet geherrscht haben. Die Fichte kann unter derartigen Verhaltnissen stark
geschwacht und sogar abgetotet werden - dies vor allem auf Standorten, die f lach-
griindig sind und/oder auBerhalb ihres eigentlichen Optimums liegen.
Eine solche Disposition pflegt der Buchdrucker fur Kalamitaten zu nutzen.
Das Brutgeschaft, fur das sich dieser Kafer, der im Harz auch „schwarzer Wurm"
132 Peter-M. Steinsiek
genannt wurde, neben liegendem Holz mit Vorliebe schwachelnde Fichten aus-
wahlt, kann dieselben bei einer entsprechenden Befallsdichte zum Absterben
bringen. Die Fichten gehen an Wasser- und Nahrstoffmangel zugrunde, sie ver-
trocknen - daher die Bezeichnung Wurm-Trocknis. Wenn auBerdem durch
Sturm, Schnee oder nutzungsbedingt das Angebot an bruttauglichem Holz zu-
satzlich erhoht ist, drohen Massenvermehrungen.
Schriftliche Hinweise auf entsprechende Schaden im Harz liegen bereits aus
dem ausgehenden Mittelalter vor. Mit der zunehmenden Bedeutung des Holzes
fur den Bergwerkshaushalt anderte sich selbstverstandlich auch die Wahrneh-
mung von Storungen und Gefahrdungen der Ressource. Auch solchen Faktoren
ist es zuzuschreiben, dass seit dem 17. Jahrhundert die Schadensmeldungen hau-
figer wurden und sich ein regelrechtes Monitoring herausbildete, welches den
heutigen Waldschadenserhebungen vergleichbar ist. Als eigentliche Krise und
schlieBlich Katastrophe jedoch wurden erst die Kalamitaten seit den 70erjahren
des 18. Jahrhunderts gedeutet und beschrieben.
Worin aber bestand die Gefahr fur die forstliche Nachhaltigkeit? Zunachst
mussten BekampfungsmaBnahmen eingeleitet werden, in deren Verlauf die be-
fallenen Fichten in groBer Zahl gefallt wurden. Ein erhebliches Problem bereitete
dann die weitere Verwertung des Holzes. Im Harz wurden daher eigens Eisenhiit-
ten neu angelegt, um das Schadholz vor dessen Verderb nutzen zu konnen. Einer
solchen kurzen Phase des Holziiberflusses schloss sich eine sehr ausgedehnte
Phase an, in demur wenig hiebsreifes Holz zur Verfiigung stand. Die forstlichen
Obrigkeiten und die Bergwerksbetreiber mussten deshalb ein existentielles Inter-
esse daran haben, derartige Schadereignisse zu verhindern bzw. wirksam zu be-
kampfen.
Es war bereits sehrfriih erkannt worden, dass eine effektive Bekampfungs- und
Vorbeugungsmethode darin bestand, befallene Fichten moglichst schnell zu fal-
len und die Borke mitsamt der Kaferbrut zu verbrennen. Nachrichten iiber die
Wirksamkeit und die Anwendung dieses Verfahrens sind fur den Harz Anfang
des 18. Jahrhunderts aktenkundig geworden. Nachdem freilich besonders Stiir-
me im Verlauf des 18. Jahrhunderts zu einem massenhaften Anfall an Schadholz
gefiihrt hatten und damit auch die Bekampfungskosten drastisch angestiegen wa-
ren, entschlossen sich im Harz die verantwortlichen Berghauptleute, die Sam-
melhiebe einzustellen. Man gab an - und selbstverstandlich fanden sich dafiir
auch die geeigneten Gewahrsleute -, dass der Nutzen des Verfahrens doch im
Grunde gar nicht erwiesen sei. Es wurde den Forstbediensteten aufgegeben,
durch Versuche herauszufinden, welches die wahre Ursache der Wurmtrocknis
im Harz eigentlich sei.
Einige Worte zum wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund: Die Aufklarung
hatte ihr Licht zwar schon in das Studium der Natur entsandt, aber noch langst
Determinanten der Waldentwicklung im Westharz 133
nicht jeden Winkel erreicht. So schrieb der „Insecto"-Theologe Friedrich Christi-
an Lesser aus Nordhausen 1738 den Kafern allgemein ein durchaus zielgerichte-
tes, weil gottgewolltes, erzieherisches Wirken zu.25 Besonders in katholischen Ge-
genden war seinerzeit die Hoffnung verbreitet, dass [. . .J dergleichen Gdttliche
Straffen nicht durch Menschliche Millie undFleiJi, sondern durch Processiones und exercisi-
ren abgewendet werden [. . .] konnten.26 Solches wurde dann Ende des Jahrhun-
derts, 1798, als Volkswahn bezeichnet, welcher bekampft werden miisse, weil er
„Indolenz und Unthatigkeit" nach sich Ziehen konne. „Da die Unwissenheit und
Einfalt es einmal zu einer Glaubenssache gemacht haben, so kommt es den Geist-
lichen zu, einen solchen schadlichen Glauben durch Unterricht auszurotten, und
Licht zu verbreiten".27
Die Ansicht, dass sich Borkenkafer aus Eiern entwickelten, hatte folglich nach
wie vormit dem iiberkommenen Glauben an deren Entstehung aus einer fauligen
Urzeugungsmasse zu wetteifern. Da mochte es noch recht leicht fallen, mit Hin-
weis auf den vermeintlich spekulativen Charakter der noch wenig gesicherten Er-
kenntnisse eben diese in Zweifel zu Ziehen und neuerliche Untersuchungen anzu-
beraumen.
Es bildeten sich zwei Hypothesen zur Entstehung des Fichtensterbens heraus.
Ihre Anhanger schlossen sich zu rivalisierenden Parteien zusammen und nutzten
das entstehende neue Medium der gelehrten Zeitschrift zu ausgiebigen literari-
schen Auseinandersetzungen:
- Die sogenannte Wind-Partei machte geltend, dass Wurzelschaden, welche
durch die Einwirkung starken Windes verursacht wiirden, das Vertrocknen
der Fichten herbeifuhrten.
- Die Anhanger der Wurm-Partei wiederum waren davon iiberzeugt, dass Bor-
kenkafer die erste Ursache des Fichtensterbens darstellten.
Eine bis zuletzt heftig umstrittene Frage war diejenige nach der Virulenz der Ka.-
25 Friedrich Christian Lesser, Insecto -Theologia, Oder: Vernunfft- und SchrifftmaBi-
ger Versuch, Wie ein Mensch durch aufmercksame Betrachtung derer sonst wenig geachte-
ten Insecten Zu lebendiger ErkanntniB und Bewunderung der Allmacht, WeiBheit, der Giite
und Gerechtigkeit des grossen Gottes gelangen konne, Frankfurt, Leipzig 1738.
26 Dieser Hinweis stammt aus dem Brandenburgischen. Im Juli 1748 sah sich die neu-
markische Kammer veranlasst, Vorkehrungen gegen drohende Schaden durch Wander-
heuschrecken zu treffen, welche sich in der polnischen Nachbarschaft bereits eingefunden
hatten. Die Kammer warnte davor, jener oben zitierten polnischen Sicht beizutreten und tat
sie als gefahrlichen Aberglauben ab (Geheimes Staatsarchiv PreuBischer Kulturbesitz, II.
HA, Neumark, Materien, Heuschrecken Nr. 1). Bemerkenswert ist, dass die Kammer sich
von einer Forderung der natiirlichen Gegenspieler groBeren Nutzen erhoffte und dazu ein
Patent wegen Schonung der Stare, Krahen und Dohlen erneuerte.
27 Der besorgte Forstmann, 1798, 1. Bd., S. 358f., 466 f.
134 Peter-M. Steinsiek
fer, mit anderen Worten: BesaBen Borkenkafer die Fahigkeit, auch gesunde Fich-
ten anzugreifen? Von dieser Frage und ihrer Beantwortung hing es entscheidend
ab, auf welchem Weg und mit welchen Kosten weiter vorzugehen ware. Wiirden
die Kafer allein bereits erkrankte Fichten befallen, wiirde dieses Geschehen
kaum mehr als ein Regulativ, ein unausweichlicher natiirlicher Vorgang anzu-
sehen sein. Teure BekampfungsmaBnahmen hatten dann keinen besonderen
Nutzen.
Ganz anders jedoch verhielte es sich, wenn die Frage bejaht wiirde. Dann wa-
ren umfangreiche Vorbeugungs-, Kontroll- und BekampfungsmaBnahmen un-
umganglich. Aus Sicht des preuBischen Ministers Friedrich Anton von Heynitz -
er war von Wolfenbiittel mit Zustimmung Hannovers als Gutachter (auch) iiber
solche Fragen bestellt worden - schienen samtliche Plane fur die Zukunft des
Harzes ohne eine Losung der Borkenkaferfrage vergebens zu sein. Daher seien
alle notwendigen Schritte zur Steuerung jenes landverderbliche [n] UbelfsJ der
Wurmtrocknis unverziiglich einzuleiten und vor allem die erforderlichen Gelder
bereitzustellen, wenn dem unvermeidlichen Untergang des Harzes und selbst benachbar-
ter Amter vorgebeiigt werden soil.28 „Es schmerzt doppelt", musste der Vize-Berg-
hauptmann Friedrich Wilhelm Heinrich von Trebra 1783 in den Schriften der
Berlinischen Gesellschaft naturforschenderFreunde bekennen, „wenn man unge-
mein groBen Schaden durch einen ungemein kleinen Teufel in derNatur anrich-
ten sieht".29 Ahnlich der Sparofen-Literatur entwickelte sich mit der Literatur
iiber die Wurmtrocknis ein eigenes Genre. Ihm ist zu entnehmen, dass bereits
1705 in einem GoslarerBerggebetbuch um den gottlichen Schutz des Waldes vor
schadlichen Wiirmern angehalten worden ist.30 Die Borkenkaferkalamitaten des
18. Jahrhunderts in den welfischen Fiirstentiimern gaben Anlass zur Berichter-
stattung selbst in schwedischen Korrespondenzblattern.
Der hannoverschen Landesregierung erschien die Klarung des Sachverhalts
so bedeutsam, dass sie 1782 iiber die Konigliche Sozietat der Wissenschaften zu
Gottingen immerhin 200 Taler fur die beste Antwort auf die Frage ausloben lieB,
welches die bewahrtesten Mittel wider die sogenannte Wurmtrocknis am Harze
seien. Den Preis gewann ein Harzer, und zwar der Auditor beim Amtsgericht zu
Clausthal, Ludewig Schwickard. Schwickard hatte diejuroren, zu denen, das sei
angemerkt, die besten Kopfe des Kurfiirstentums gehorten, hinsichtlich seiner
Vorgehensweise und der daraus resultierenden Schliisse iiberzeugt. Mit ihm wa-
28 StA Wf, 29 Alt Nr. 14 [11.10.1784].
29 [Friedrich Wilhelm Heinrich] von Trebra, Nachrichten vom Schwarzen Wurm und
der WurmtrockniB in den Fichten oder Rothtannen, Schriften der Berlinischen Gesellschaft
naturforschender Freunde 1783, 4. Bd., S. 77-98, Zitat S. 77.
30 Vgl. Johann Friedrich Gmelin, Abhandlung iiber die Wurmtrocknis, Leipzig 1787,
S. 59f.
Determinanten der Waldentwicklung im Westharz 135
ren sich alle beteiligten Mitglieder der Sozietat einig, dass der Buchdrucker zwei-
felsfrei auch gesunde Fichten angreifen und abtoten konne.
Doch nun geschah etwas Sonderbares, Unerhortes: Die Konigliche und Kur-
fiirstliche Kammer weigerte sich, die Preisschrift in vollem Umfang im Hanno-
verschen Magazin abzudrucken. Fur die Gottinger Professoren kam das Verhal-
ten der Kammer einem Affront gleich. Christian Gottlob Heyne fiirchtete, dass
das Ansehen seiner Gesellschaft beschadigt werden konnte und hielt das von der
Kammer beabsichtigte Vorgehen fur unvereinbar mit der Ehre und Wiirde der
Sozietat. Er ging sogar so weit, darin Gefahren fur die Freiheit des Denkens und
Urteilens erblicken zu miissen.31
Zu den wahren Motiven des Verhaltens in dieser Frage hat sich die Kammer in
Hannover nicht geauBert. Freilich konnen sie nur schwerwiegende Griinde dazu
bewogen haben, ein Verfahren offenkundig scheitern zu lassen, das von ihr selber
auf den Weg gebracht und iiber die Landesgrenzen hinaus publik gemacht wor-
den war. Zwar enthielt Schwickards Schrift, wie von der Kammer richtig bemerkt
worden ist, im Grundsatz nichts Neues. Allerdings lieB sich auch den Argumen-
ten, die dafiir sprachen, dass auch gesunde Fichten vom „Wurm" angegriffen wer-
den konnten und dieser somit in erster Linie das Fichtensterben verursachte,
kaum etwas Substantielles entgegensetzen.
Somit wiirde durch die offentlich gemachte Forderung des Preistragers, zum
Schutz derHarzerFichtenforsten ohne Riicksicht auf die Kosten unverziiglich ta-
tig zu werden und selbst ganze Reviere zu opfern, der Regierung in Hannover ein
entsprechendes Vorgehen formlich aufgezwungen worden sein. Hinzu kommt,
dass eine Veroffentlichung jenes kritischen zweiten Teils der gekronten Preis-
schrift das bisherige Vorgehen als falsch gebrandmarkt hatte. Denn seit den 70er
Jahren des 18. Jahrhunderts durfte aus Kostengriinden Schadholz nicht mehr ge-
sondert aufgearbeitet werden. Hannover war offenbar nicht gewillt, sich das Heft
des Handelns aus der Hand nehmen zu lassen.
Tatsachlich ist man im Harz dann doch noch dazu iibergegangen, den Ver-
wiistungen des Borkenkafers entgegenzuwirken, und zwar in Anlehnung an die
bereits in der Vergangenheitbewahrten und von Schwickard wissenschaftlich be-
statigten MaBnahmen. Moglicherweise mochten weniger die Inhalte der Preis-
schrift an sich, als vielmehr der Zeitpunkt ihrer Bekanntgabe den Regierenden in
Hannover ungelegen gekommen sein.
In diesem Beitrag wurden ganz bewusst diejenigen okologischen Aspekte aus
der Forst- und Umweltgeschichte des Harzes betont, welche in besonderer Weise
die Verfiigbarkeit der Ressourcen Wald und Holz determinierten. Es handelte
sich dabei im eigentlichen Sinn um Risikofaktoren. Deren Einfluss auf die nach-
31 Archivder Akademie der Wissenschaften zu Gottingen, Scient. 196 vol. 15,Fasz. 42.
136
Peter-M. Steinsiek
JfckiitVi then Ji'igjh ^it , 't*j7i ^.j.;
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Abb. 10: Ansicht des Landschaftlichen Hauses zu Hannover mit einer Ausschnittsvergrbfeerung
der Hausinschrift „POSTERITATI"
(Quelle: Niitzliche Sammlungen vomjahre 1758, 4. Teil, Titelkupfer).
haltige Holzproduktion weitestgehend zu mindern, macht das Wesen einer gere-
gelten Forstwirtschaft aus. Im Harz war dieses Risikobewusstsein stark ausge-
pragt. Folglich entwickelten sich hier sehr friih fortschrittliche Methoden der
forstlichen Ertragsregelung.
Weil jedoch bekannt war, dass auch ihre Ergebnisse bis zu einem gewissen
Grade unsicher blieben, ging man im Harz eher vorsichtig mit der Ressource um.
Man hielt Reserven vor und iibte ein auch fur heutige Problemlagen bedenkens-
wertes Redundanz-Verhalten. Solange also der Westharzer Bergwerkshaushalt
darauf angewiesen war, die Versorgung mit Energie, mit Bau- und Werkstoffen
im Wesentlichen aus eigenen Quellen zu gewahrleisten, war Nachhaltigkeit
schlechterdings ein Uberlebensprinzip.
„POSTERITATI", fur die Nachwelt, lautete das Motto als Hausinschrift der
kurfiirstlich-hannoverschen Landstande. Auch die politische Steuerung der Res-
Determinanten der Waldentwicklung im Westharz 137
sourcennutzung stellte einen Versuch dar, die wirtschaftlichen und gesellschaftli-
chen Interessen am Bergbau an die Leistungsfahigkeit der naturalen Nutzungs-
systeme anzupassen. Das Modell versagte jedoch in der schweren okologischen
Krise gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Nicht anders als katastrophal musste aus
Sicht der Betroffenen das Geschehen erscheinen, welches auf mutmaBlich min-
destens 30.000 ha die Fichte der Verwiistung durch den Borkenkafer preisgab.
Jetzt sollten obrigkeitliches Scheinhandeln und sogar kontraproduktives Verhal-
ten das Scheitern des Krisenmanagements vertuschen. DerPolitologe Volker von
Prittwitz hat am Beispiel von neuzeitlichen Umweltkrisen und Bedrohungen das
Verhalten politischer Institutionen analysiert und ist zu ganz ahnlichen Deutun-
gen gekommen. Auch dort stieB er auf Desinformation, Informationsunterdrii-
ckung und Verdrangung. Fur dieses Phanomen pragte er den Begriff des Kata-
strophen-Paradoxes.32
Zusammenfassung und Schlussbemerkung
Mit dem Beginn von planmaBigen, intensiven Bergbauaktivitaten im 16. Jahr-
hundert wurden die Forsten des westlichen Harzes in bisher nicht dagewesener
Weise den gewerblichen und privaten Holzbediirfnissen erschlossen. Die Analy-
se derhistorischen politischen Prozesse zeigt, dass gesetzliche Bestimmungen (re-
gulative Instrumente) , die Einflussnahme iiber wirtschaftliche Mechanismen
(okonomische Instrumente) sowie forstbetriebliche MaBnahmen neben der Auf-
klarung und Kontrolle (informationelle Instrumente) allein nicht ausreichten, um
zunachst die Holzversorgung des Bergwerkshaushalts nachhaltig sicherzustellen
(Abb. 11).
Vielmehr erwies sich im Ringen um die Ressource die Vielfalt der verschiede-
nen Nutzerinteressen als ein auBerordentlich wirksames Mittel gegen Raubbau.
Die Ausstattung der Bergbevolkerung mit weitreichenden Waldnutzungsrechten
(Holzbezug und Waldweide) stellte eine wichtige landesherrliche Initiative zur
Aufnahme und Aufrechterhaltung des Bergbaus dar. Wenn auch derRahmen fur
die Ausiibung jener Rechte immer enger gefasst und eine Umwandlung oder Ab-
losung angestrebt wurden, so ist doch zu keiner Zeit ernsthaft erwogen worden,
dieselben zugunsten des Bergbaus willkiirlich aufzuheben. Dasselbe traf auch auf
die im Harz berechtigten Bewohner der angrenzenden Amter zu. Folglich musste
die Berg- und Forstverwaltung gewahrleisten, dass neben der Holzversorgung
des Montangewerbes auch der nichtgewerbliche Bedarf an Rohstoffen gedeckt
wurde. Weil keine Moglichkeiten bestanden, Holz oderHolzkohlen in groBerem
32 Volker von Prittwitz, Das Katastrophen-Paradox. Elemente einer Theorie der Um-
weltpolitik, Opladen 1990.
138
Peter-M. Steinsiek
Gewerblicher SektDr
Slaatliche
Inslitulionen
n r
Nutzungs-
e=>
PrivaterSeklor
Staatliche Programme
zur nachhalligen Sicherstellung
der Nutzungen des Waldes
J3U
Politi k i m pl&me ntatio n :
regulative
okonomi&che Inslrumente
informationelle
JZL
C
^
<=
<T J> Waldschutz durch
fomnale Nu&jngsbesch.ra'nkurigen
und informs [a Nutzungsblockadan
<*>
Technologies
Defizite der Messung
Holzbzw. SteinkohlE
als Energietrager
: .
S oziob konomisch os
Umfeld:
Zeiten politi&cher
und wirtschafUicher
Instabililat
Okologischc Faktoron: Klima Wilterung Baden phytophage Orgsnismen
Abb. 11: Hauptfaktoren fur die Entstehung von Nachhaltigkeit und Waldschutz im Westharz
vor 1800 (Quelle: Steinsiek, Nachhaltigkeit, wie Anm. 2, S. 262).
Umfang und iiber einen langeren Zeitraum von auswartigen Forsten zu beziehen,
blieb im Harz nur iibrig, die Nutzung des Waldes an dessen Leistungsfahigkeit
anzupassen. Dies war der Grund fur die wiederkehrenden Forstbereitungen. Er-
gab die Gegeniiberstellung von geschatzten Nutzungskapazitaten und kalkulier-
tem Holzbedarf Anzeichen fiir eine mogliche Mangelsituation, kam neben ande-
ren auch die (voriibergehende oder teilweise) Stilllegung von Hiitten als Gegen-
maBnahme zur Anwendung.33
Die Forstwirtschaft ist als ausgesprochene Risikowirtschaft in besonderer Wei-
se den abiotischen und biotischen Bedingungen des Standorts unterworfen. Dies
gilt gerade auch fiir den Harz. Sturm und Schnee haben hierimmerwieder Wald-
schaden zur Folge gehabt und damit eine nachhaltige Holzbedarfsdeckung ge-
fahrdet. Als ein weiteres Spezifikum des Harzes muss in diesem Kontext die
Schadigung des Waldes und seiner Boden durch Hiittenrauch angesehen wer-
den. Waldschaden durch Hiittenrauch sind im Harz seit dem 17. Jahrhundert be-
zeugt. So ist nicht auszuschlieBen, dass eine Anderung der biologischen Bodenei-
genschaften, welche durch den Eintrag von Sauren und Schwermetallen im Zuge
der Erzverhiittung, aber auch durch die intensiven Nutzungen bewirkt wurde, im
Zusammengehen mit Klimafaktoren zu einer umfassenden und zunehmenden
33 In der ersten Halfte des 18. Jahrhunderts findet sich der Hinweis, dass es dringend
erforderlich sei, den Betrieb des Berg- und Hiittenwesens dem Leistungsvermogen der
Forsten anzupassen, damit nicht in wenigen Jahren alles miteinander liegen bleiben und die
gantze Communion crepiren miisse (StA Wf, 30 Alt Nr. 274 [24.3.1723, § 3]).
Determinanten der Waldentwicklung im Westharz 139
Schwachung der Waldbaume gefiihrt hat. Diese wiederum konnte fiir die verhee-
renden Schaden, welche durch Borkenkafer in der zweiten Halfte des 18. Jahr-
hunderts den Fichtenforsten des Harzes zugefiigt wurden, mitverantwortlich ge-
wesen sein. Damit jedoch gerieten auch die bis dahin bewahrten Mechanismen
einer schonenden Waldnutzung in Gefahr.
Die historischen Bestimmungsgriinde fiir den Erfolg oder das Scheitern von
umweltpolitischem Lernen riicken zunehmend in das Zentrum geschichtlicher
Untersuchungen. Das Harzer Beispiel zeigt, dass auf dem Weg der historischen
Analyse verbliiffende Analogien zu aktuellen Umweltveranderungen und ihren
Steuerungsproblemen aufgedeckt werden konnen. Voraussetzung dafiir ist, dass
der Untersuchung der historischen politischen Prozesse ein theoretischer Ansatz
sowie eine nachvollziehbare Methodikzugrundeliegen. Durch sie ist gewahrleis-
tet, dass die Annahmen iiber das Zustandekommen und die Determinanten ge-
sellschaftlichen Handelns in der Geschichte iiberpriifbar bleiben und weiterent-
wickelt werden konnen.
Selbstverstandlich sind moglichst viele und vielfaltige Quellen in die Betrach-
tung einzubeziehen. Fiir eine Fragestellung, wie sie hier vorgestellt wurde, ist es
freilich entscheidend, dass neben der Analyse von historischen Bestimmungs-
griinden fiir die Entstehung und Umsetzung von Politik auch die Zielerreichung
gepriift wird. Der „Erfolg" oder das „Scheitern" der staatlichen Forstpolitik lieB
sich nicht zuletzt am Zustand derRessource selbermessen. Erst die Nachkalkula-
tion der Holznutzungen und die Erhebung von Waldzustandsparametern in ei-
nem dem Untersuchungszweck geniigenden Umfang erlauben es, begriindete
Hypothesen dariiber anzustellen, ob und inwieweit ein historisches Nachhaltig-
keitsziel erreicht wurde oder Raubbau zu einer ernsthaften Bedrohung fiir die
menschliche Subsistenz geworden ist.
Fiir die historische Umweltforschung gilt, dass sich ihre Fragestellungen in der
Regel nur durch ein Zusammengehen von Vertretern der jeweils beriihrten wis-
senschaftlichen Disziplinen adaquat bearbeiten lassen. Die oben referierten For-
schungsergebnisse waren ohne die Einbeziehung derPolitikwissenschaft und der
Biometrie nicht moglich gewesen. Die Beurteilung von Waldressourcenmangel
in der Geschichte setzt neben der Herstellung von begrifflicher Klarheit und ei-
ner Analyse des soziookonomischen Politikfeldes auch voraus, dass die forstli-
chen Quellen angemessen herangezogen und kritisch ausgewertet werden. Dafiir
kann es notwendig sein, Fachvertreter aus Forstwissenschaft (Forstgeschichte)
und Okologie zu konsultieren.
Uber diesen Punkt scheinen in Fachkreisen immer noch Meinungsverschie-
denheiten zu bestehen. Dies ist umso erstaunlicher, da doch derNutzen von Inter-
disziplinaritat gerade auf den Gebieten der historischen Umweltforschung inzwi-
schen hinreichend dokumentiert ist. Die vonjoachim Radkau und anderen in den
140 Peter-M. Steinsiek
1980erjahren angestoBene Debatte iiber die „Berechtigung" historischer Holz-
not-Alarme34 zielte wesentlich auf die Fehler, welche sich durch einen unkriti-
schen Umgang mit (obrigkeitlichen) Quellen ergaben und zu Trugschliissen fiihr-
ten. Dabei bleibt jedoch die oben getroffene Feststellung wichtig, dass Antworten
auf die Frage nach einem geschichtlichen Ressourcenmangel unbefriedigend
sind, wenn nicht versucht wurde, die Ressource ihrerseits in den Blick zu nehmen.
Hierzu ist es freilich unerlasslich, sich auf Fallstudien zu konzentrieren.35 Die
durch sie erhaltenen Erkenntnisse konnen zunachst und grundsatzlich nur fur die
untersuchte Region „Giiltigkeit" beanspruchen. Dennoch erlauben sie, weiterge-
hende Hypothesen dariiber anzustellen, welche Faktoren in ahnlichen Situatio-
nen den Umgang mit der Ressource wesentlich bestimmt haben konnten.
Vor diesem Hintergrund sollte die Auseinandersetzung iiber einen friihindus-
triellen Holz- oder Waldressourcenmangel in Deutschland langst den Charakter
einer Grundsatzdebatte verloren haben. Dies vor allem deshalb, weil sie im Kern,
wie gesehen, den korrekten Umgang mit Geschichtsquellen und deren Analyse
meinte. Wenn von (forstlichen) Umwelthistorikern gleichwohl immer noch Ver-
mutungen iiber Holzmangel angestellt werden, ohne dass eine intensive Beschaf-
tigung mit den forstfachlichen Quellen iiberhaupt fur erforderlich gehalten wur-
de, ist dies einmal mehr iiberraschend. Und sollten zudem auf diesem (beque-
men) Weg, wie es gelegentlich geschieht, Thesen selbst iiber „globale" historische
Strukturen des Umweltverhaltens von menschlichen Gesellschaften gewagt wer-
den, dann sind solche nicht anders als spekulativ zu bezeichnen. Instruktiv wiir-
den sie freilich dann zu nennen sein, wenn sie auf breiter Datengrundlage empi-
risch fundiert und nachpriifbar waren.36
34 Em Ende dieser Auseinandersetzungen scheint noch nicht in Sicht; fur einen Zwi-
schenbericht vgl. Winfried Schenk, Holznote im 18. Jahrhundert - Ein Forschungsbericht
zur „Holznotdebatte" der 1990erjahre, Schweizerische Zeitschrift fur Forstwesen 157, 2006,
S. 377-383.
35 Sofern Forstbeschreibungen iiberhaupt iiberliefert sind, handelt es sich bei ihnen,
wie gesehen, um auBerordentlich wichtige Quellen zur Rekonstruktion von historischen
Waldzustanden. Es konnte gezeigt werden, dass der Mangel einer ihnen innewohnenden
einseitigen, „gouvernementalen" Sichtweise im Kommunionharz durch die Beteiligung von
Vertretern konkurrierender Fachrichtungen, vor allem jedoch durch die Mitwirkung der
verschiedenen fiirstlichen Linien mit ihren gegensatzlichen Interessenpositionen wenigs-
tens teilweise geheilt wurde.
36 Der Institutionenforscher Wolfgang Seibel ist davon iiberzeugt, dass sowohl die Ge
schichts- als auch die Politikwissenschaft von einer gegenseitigen Erganzung profitieren
wiirden. Allerdings bestehe die Gefahr, zu wenig Handlungen und zu schnell Strukturen
wahrzunehmen. Ein exaktes Quellenstudium bewahre vor voreiligen Schliissen (Wolfgang
Seibel, Historische Analyse und politikwissenschaftliche Institutionenforschung, in: Ar-
thur Benz, Wolfgang Seibel (Hrsg.), Theorieentwicklung in der Politikwissenschaft - eine
Zwischenbilanz, Baden-Baden 1997, S. 357-376, hier S. 359, 368).
5.
Die friihneuzeitliche Bauholzversorgung
auf dem Lande
Von Wolfgang Dorfler
In memoriam Ulrich Klages aus Heidenau
Das Schicksal aller mittelalterlichen Stadte entschied sich an der Frage ihres Zu-
griffes auf die Ressourcen Holz und Wasser.1 Die Knappheit des Holzes betraf in
der Friihen Neuzeit bekannterweise die Stadte, die Salinen, Hiitten und Bergwer-
ke. „Die Klage iiber den einreiBenden Holzmangel zieht sich wie der sprichwort-
lich rote Faden durch die Geschichte."2 Die aus den Quellen iiberreichlich beleg-
bare Diagnose des Holzmangels waraberdurchaus interessengebunden,3 so dass
es lohnend ist zu fragen: Wie stand es wirklich mit der Versorgung der landlichen
Bevolkerung mit Holz besonders mit Bauholz? Dieser Frage ist zudem seit lan-
gem weder in der Landes- noch der Forstgeschichte nachgegangen worden.4
Die Schwierigkeit einer Antwort liegt darin, dass es Selbstauskiinfte der landli-
chen Bauherren iiber ihre Wege zum Bauholz nicht gibt.5 Die zeitgenossisch von
1 Ernst Schubert, Der Wald: Wirtschaftliche Grundlage der mittelalterlichen Stadt, in:
Mensch und Umwelt im Mittelalter, Frankfurt/M. 1989, S. 257-274. - Ders., Alltag im Mittel-
alter, Darmstadt 2002, S. 50-64. - Fiir die niedersachsischen Verhaltnisse vgl. Antje Sander,
Organisationsstruktur stadtischer Baustoffversorgung im Spatmittelalter, in: Historisches
Bauwesen Material und Technik.Jahrbuch fiir Hausforschung Band 42, 1994, S. 23-32. -Ant-
je Sander-Berke Baustoffversorgung spatmittelalterlicher Stadte Norddeutschlands, Koln/
Weimar 1995. - BettinaBoRGEMEiSTER, Die Stadt und ihr Wald, Hannover 2005.
2 Stefan von Below /Stefan Breit, Wald - von der Gottesgabe zum Privateigentum,
Stuttgart 1998, S. 41.
3 Below/Breit, wie Anm. 2, S. 42. -Joachim Radkau hatte in den 1980erjahren inten-
siv das zeitgenossische Interesse an der Behauptung vom Holzmangel untersucht, vgl.
DERS, Zur angeblichen Energiekrise des 18. Jahrhunderts: Revisionistische Betrachtungen
iiber die „Holznot", in: Vierteljahresschrift fiir Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Band 73,
1986, S. 1-37.
4 In Regionalstudien allerdings finden sich gelegentlich Hinweise, so bei Heinrich Pro-
ve, Dorf und Gut im alten Herzogtum Liineburg, Heft 11, 1927, S. 48-50 und S. 75-88. -
Harm Prior, Rittergut und Meierhofe auf der Stader Geest, Stade 1995, S. 164-189.
5 Eine Ausnahme sind die im Anschreibebuch von Heinrich Dobbelmann dokumen-
142 Wolfgang Dorfler
Zimmerleuten erstellten Materiallisten, Baurechnungen und Inventare6 lassen
schon die benotigten Baume nach Zahl und Starke nur ungenau erkennen, vor al-
lem iiberliefern sie aber nicht die Wege der Holzbeschaffung. Antrage auf Holz-
bewilligungen sind extrem selten erhalten und zudem kritisch zu lesen, weil fest-
zustellen ist, dass weder das beantragte noch das bewilligte Holz zum Bau der
Hauser und Nebengebaude ausreichen konnte.
Bauholzbedarf nach Majigabe des erhaltenen Baubestandes
Eine aussagekraftige Quelle dagegen sind die Gebaude selbst, denn sie bewahren
ja das Holz, das zu ihrem Bau eingesetzt wurde und erlauben Aussagen iiber
Menge und unter giinstigen Umstanden auch iiber die Herkunft des Baustoffes.
Diese sachkundliche Quelle auszuwerten, wird von der historischen Hausfor-
schung geleistet.7 Sie hat in den letztenjahrzehnten ihr Instrumentarium enorm
tierten Bauholzbeziige. Dessen abgebranntes Haus wurde 1815-17 weitgehend mit Bauholz-
spenden von Nachbarn neu errichtet (drei Viertel der Stamme fur das Gefiige wurde ge-
spendet, ein Viertel vom Bauherren angekauft). Bei gespendetem Holz bleibt die Frage un-
geklart, woher die Spender das Holz bezogen haben. Veroffentlicht sind die baurelevanten
Aussagen der Quelle durch Helmut Ottenjann, Der Neubau eines Artlander Bauernhauses
durch Bauherrn, Bauhandwerker und bauerschaftliche Solidargemeinschaft 1815-1817, in:
Auf den Spuren der Bauleute - Berichte zur Haus- und Bauforschung, Band 8, Marburg
2005, S. 285-353.
6 1. Holzliste mit Anzahl der Baume fiir Schafstall und Scheune in Ottensen (Ldkr. Sta-
de) von 1677 in: StA Stade Rep 30 Nr. 65 Bl. 1-3. - 2. Abbruch und Wiederverwendung ei-
nes bestehenden Hauses und Erweiterung beim Wiederaufbau mit Holzliste fiir das Jahr
1693 bei Hans-Jiirgen Vogtherr, Bauen im 17. Jahrhunderts, Uelzen 1980. - 3. Sehr aus-
fuhrliche Ausschreibung fiir den Neubau eines Bauernhauses im Bremer Landgebiet durch
einen Zimmermann aus der Siidheide von 1713 abgedruckt und erlautert durch: Hans Her-
mann Meyer, Der Fall Heinrich Bude. Das Problem der Einfuhr von Bausatzen ganzer Hau-
ser ins Territorium der Reichsstadt Bremen, in: Landlicher Hausbau in Norddeutschland
und den Niederlanden - Berichte zur Haus- und Bauforschung, Band 4, Marburg 1996,
S. 57-114, hier S. 59-80. - 4. Holzliste und ausfiihrliche Baubeschreibung nach Fertigstellung
eines Hallenhauses (Kiisterhaus) und eines Backhauses in Achim von 1732, in: StA Stade
Rep 83 Stade Nr. 519. - 5. Holzliste fiir den Neubau eines Bauernhauses von 1738 in Vehlen
bei Biickeburg bei Ulrich von Damaros, Baukontrakte und Bauzeichnungen, in: Auf den
Spuren der Bauleute, wie Anm. 5, S. 93-111, hier S. 98. - 6. Holzliste fiir mehrer Gebaude in
einem Inventar von 1777 in Hollen (Ldkr. Diepholz), in: Martfeld - Chronikder ehemaligen
Gemeinde Kleinenborstel, Martfeld 1997, S. 394-398. - 7. Holzliste fiir ein Bauernhaus vom
Ende des 18. Jahrhunderts, die beim Tannenholz auch die Anzahl der Stamme ausweist, bei
Appens (Hrg.), Die Bauern und Hausbesitzer mit ihren Vorfahren in den 55 Dorfern des
Kreises Peine, Goslar 1938, S. 247. - 8. Holzliste fiir ein neu zu erbauendes Kleinbauern-
haus beijulius H. W. Kraft, Kontrakt und Holzliste von 1840 fiir ein Haus in Sottrum, in:
Der Holznagel, Heft 3, 1988, S. 25-28.
7 Die Hausforscher sind oft noch studierte Volkskundler, seltener Kunsthistoriker oder
Bauholzversorgung auf dem Lande 143
verfeinern konnen8 und bedeutende neue Ergebnisse produziert, diese erfuhren
allerdings in den Geschichtswissenschaften wenig Aufmerksamkeit.9 Der Haus-
bau also gibt die eindruckvollste Auskunft iiber die Phasen der Starke landlicher
Bauherren und guter oder zumindest ausreichender Holzversorgung und eben
auch umgekehrt iiber die Phasen des Mangels bzw. der Depression im landlichen
Raum, der Ressourcenknappheit, der Waldverwiistung oder der wirksamen
Holzaufsicht.
Aus derZeit vor 1520 sind in Nordwestdeutschland und den ostlichen Nieder-
landen bisher nur 22 Gebaude bzw. Gebaudeteile bekannt geworden, Bauern-
hauserund Nebengebaudeje etwa zurHalfte.10 Setzt man aber die Liste der alte-
sten landlichen Gebaude fur die Zeit nach 1520 oder gar nach 1560 fort, dann
schwillt sie sprunghaft an. Mehrere Hundert im 16. Jahrhundert erbautet landli-
Architekten, oft und erfolgreich aber auch Handwerker und ehrenamtlich tatige Baudenkmal-
pflegeraus fachfremden Berufen. DerNordwestdeutscher Arbeitkreis fiirlandliche Haus- und
Gefugeforschung als Regionalgruppe des Arbeitskreises fur Hauforschung (AHF) und Fach-
gruppe der Interessengemeinschaft Bauernhaus (IGB) vereint seit 20Jahren auf seinenjahres-
tagungen zwischen 60 und 120 Forscher aus sechs deutschen Bundeslandern und den ostli-
chen Provinzen der Niederlande, davon etwa ein Drittel Laien im oben genannten Sinne. Im
zentraleuropaweit tatigen AHF ist bei 500 Mitgliedern allerdings nur eine kleine Zahl von
nicht hauptberuflich mit dem Thema befassten Forschern eingeschrieben. - Zur Situation der
Forschungsgemeinschaft vgl. Volker Glantzer, Hausforschung in Niedersachsen. Strukturen,
Schwerpunkte, Aufgaben, in: Volkskunde in Niedersachsen. Regionale Forschung aus kultur-
historischer Perspektive, S. 31-41, Cloppenburg 2002 und Ders., Heimatpflege und Denkmal-
pflege in Niedersachsen 1905 und 2005. Ein Vergleich, in: Zukunft Heimat Niedersachsen.
lOOJahre Niedersachsischer Heimatbund, Delmenhorst/Berlin 2005, S. 111-141.
8 Zu nennen sind die Dendrochronologie, die hochgradig verfeinerte Bauaufnahme
nach gefiigekundlichen Kriterien, die verformungsgetreuen Aufmasszeichnungen, die re-
stauratorische Untersuchungen der Wandflachen und die Archaologie in den Gebauden
und der Umgebung des Hauses.
9 Die jiingere universitare Kulturanthropologie ignoriert die Ergebnisse der Hausfor-
schung, geschweige denn, dass sie sich selbst noch forschend engagieren wiirde. Siehe dazu:
Konrad Bedahl, Befund und Funktion. Tendenzen, Moglichkeiten und Grenzen der Haus-
forschung und ihre Beziehung zur Volkskunde, in: Volkskultur und Moderne. Europaische
Ethnologie zurjahrtausendwende. Festschrift fur Konrad Kostlin zum 60. Geburtstag, Wien
2000, S. 355-378. - Wolfgang Dorfler, Hausforschung zwischen „alter" Gefugeforschung
und „neuer" Volkskunde, in: Der Holznagel, Heft 1, 2006, S. 41-53 hier S. 42-45.
10 Heinrich Stiewe, Landliches Bauen zwischen Spatmittelalter und fruher Neuzeit. Er-
gebnis und offenen Fragen zum alteren Hausbau in Nordwestdeutschland, in: Zeitschrift fur
Agrargeschichte und Agrarsoziologie Heft 1, 2006, S. 9-36, hier S. 13-14. Aus der Kompli-
ziertheit der FuBnoten in seiner Arbeit ist zu ersehen, aus welch entlegenen Quellen eine
solche Liste geformt werden muss. Neueste Befunde sind zu erganzen aus: Volker Glant-
zer, Ein spatmittelalterlichen Hallenhaus im Artland, in: Berichte zur Denkmalpflege in
Niedersachsen 4, 2006, S. 121-123. Im stadtischen Bereich sind aus dieser Periode und die-
sem Raum bereits viele Hundert Gebaude aufgefunden worden.
144 Wolfgang Dorfler
che Gebaude sind in Nordwestdeutschland bekannt. Wir haben es mit einer au-
Bergewohnlichen Baukonjunkturmit einem Maximum im zweiten Drittel des 16.
Jahrhunderts zu tun, die zudem zu einer fast vollstandigen Ausraumung des alte-
ren Bestandes gefiihrt hat.11 Das ist ein Charakteristikum des nordwestdeutschen
Raums; in Siiddeutschland 12 oder gar in der Schweiz sind inzwischen zahlreiche
landliche Holzbauten des Mittelalters bekannt, wobei das alteste bisherbekannte
Haus 1176 (d) 13 erbaut wurde.14
Wie viel Holz brauchte man fur ein Bauernhaus in Fachwerkbauweise? Sche-
pers berichtet fur die groBten Bauernhauser von Stammquerschnitten zwischen
120 bis 150 cm und zwolf Meter Lange iiber dem Wurzelstock und also von „ei-
nem kleinen Wald", der fur die Errichtung eines solches Hauses gefallt werden
musste.15 Seedorf konkretisierte die Zahl auf etwa 40 Baume16 und Timm nennt
11 Fred Kaspar, Ein neuer Anfang im Spatmittelalter? Zum mittelalterlichen landlichen
Hausbau in Norddeutschland, in: Haus und Kultur im Spatmittelalter, Bad Windsheim
1998, S. 151-159.
12 Konrad Bedal, Spatmittelalterlicher bauerlicher Hausbau in Siiddeutschland. Ver-
such eines Uberblicks - Bestand, Formen und Befunde, in: The rural house from the migra-
tion period to the oldest still standing buildings. Pamatky Archeologicke - Supplementum
15, Ruralia IV, Prague 2002, S. 240-256. - Ders., Fachwerk vor 1600 in Franken. Eine Be
standsaufnahme, Petersberg 2006.
13 Dieses ist die in der Hausforschung gebrauchliche Kennzeichnung. Sie besagt, dass
das Datum durch die Dendrochronologie ermittelt wurde. Eine solche Kennzeichnung ist
notwendig, da das Baudatumjiingerist als das dendrochronologisch ermittelte, aberregelhaft
bei ganzen Gebauden nur Unwesentliches. Eichenholz wurde zum Zweck des Hausbaus ge-
fallt und frisch verarbeitet. Es wurden Holzfallungen nur zu Zweck des konkreten Baus ge-
nehmigt. Die Holtingsprotokolle setzten nicht nur Fristen fur das Entfernen des gefallten Hoi
zes aus dem Wald - zwischen zwei Tagen (Spelle 1435, Hans Verhey, Waldmarken und Hol-
tigsleute in Niedersachsen im Lichte der Volkskunde, Wiirzburg 1935, S. 117) und 2 Monaten
(Ihr. Koniglichen Majest. Zu Schweden in dero Herzogthiimer Bremen und Verden neu-an-
geordnete Holtz- und Jagt-Ordnung, Stade den 20. Julii 1692, in: Der Herzogthiimer Bremen
und Verden Polcey- Teich- Holz- und Jagt-Ordnung, herausgegeben und gedruckt von Peter
Heinrich Erbrich, Stade 1732, S. 165),sondern auch einejahresfrist fur das Verbauen des zu-
geteilten Holzes (C. H. Edmund Freiherr von Berg, Geschichte der Deutschen Walder bis
zum Schlusse des Mittelalters, Dresden 1871 Neudruck Amsterdam 1966, S. 215-217). Weiter
wurde die leichtere Bearbeitbarkeit des frischen Holzes immer wieder als Argument fur die
ziigige Verzimmerung des gefallten Holzes angefiihrt, was aber angesichts der verbreiteten
Verwendung von Altholz im Bau wohl von untergeordneter Bedeutung war. Bestatigt wird
die Regel des geringen Abstandes zwischen Fallzeit und Bauzeit durch die dendrochronolo-
gisch ermittelten Holzfalldaten bei auch inschriftlich datierten Bauten.
14 Benno Furrer, Living in a wooden box - Late Medieval log houses in central Swit-
zerland and northern Tessin, in: The rural house, wie Anm. 12, S. 143-150.
15 Josef Schepers, Das Bauernhaus in Nordwestdeutschland, Miinster 1943, Neudruck
Bielefeld 1973, S. 86.
16 Hans Heinrich Seedorf, Forstwirtschaft, in: Die Deutschen Landkreise - Der Land-
Bauholzversorgung auf dem Lande 145
30 Baume als notwendig fiir den Bau eines Zweistanderhauses mit Ankerbalken-
geriist.17 Aus Ottenjanns Zahlen lasst sich der Verbrauch von 0,33 m3 Eichenholz
pro Quadratmeter Bauernhausgrundflache berechnen.18 Ein Versuch der exak-
ten Bauholzberechnung wurde im Kreisheimatmuseum Syke untemommen. Das
dort aufgebaute Modell quantifiziert den Bauholzbedarf eines der iiberaus an-
sehnlichen Hauser dieser Region auf 78 m3 oder 112 Festmeter, fiir die ein 120
jahriger Wald von 5000 m3 GroBe hatte gefallt werden miissen. Daraus lasst sich
berechnen, dass hier etwa 50 Eichen als fiir diesen Hausbau erforderlich angese-
hen wurden.19 Eine exakte Analyse des Holzbedarfs an Hand eines vorhandenen
Gebaudes stammt von Ulrich Marx.20 Er hat fiir ein 1812 erbautes Bauernhaus ei-
nen Bedarf von achtzehn 140jahrigen Eichen ermittelt, die als Viertelholzer Ver-
wendung fanden. Im Haus waren weiter vier Deckenbalken, eine Anzahl von
Dachstuhlstandern und das Fachwerk des Hintergiebels aus wiederverwendetem
Eichenholz. Weiter wurden 21 schlanke Fichtenstamme zu Balken und Sparren
verbaut, so dass der Gesamtbedarf fiir das Hausgeriist bei alleiniger Verwendung
von neuem Eichenholz sich auch hier auf mindestens 30 Baumen berechnen
lasst. Darin ist das Holz fiir die Deckenbohlen, die Giebelverschalung und den
gesamten Innenausbau (Fenster, Tiiren, wandfeste Schranke, Treppen) noch
nicht enthalten.
Als Minimum zum Bau eines Kotnerhauses mit drei Dielenfachen werden 20
Eichen mit einem Stammdurchmesser von 50 bis 120 cm und einer nutzbaren
Lange von acht Metern angesehen. Solche Baume waren je nach Standortbedin-
gungen 80 bis 200Jahre alt. Man hatte also aus einem Wald von 1600 Baumen je-
des Jahr ein Kleinbauernhaus erbauen konnen, wenn man nur den Zuwachs ver-
brauchend hatte bauen wollen. Dieser Wald hatte als gepflegter Hochwald eine
Flache von 16 ha benotigt, da man dort 100 „Starkeichen" pro ha rechnet.21
kreis Wesermiinde, 1968, S. 246.
17 Albrecht Timm, Die Waldnutzung in Nordwestdeutschland im Spiegel der Weistii-
mer, Koln/Graz 1960, S. 74.
18 Ottenjann, wie Anm. 5, S. 295-296. Er selbst lieferte auf Grund eines Rechenfehlers
die Angabe von 2,99 m3 pro m2 Grundflache. Zahlen fiir eine solche Berechmmg finden
sich schon bei Helmut Flohr, Bau- und Zimmerhandwerk im Calenberger Land, Hannover
1991, S. 118-121. Daraus lasst sich die Zahl von 0,27 m3 Bauholz pro m2 Grundflache er-
rechnen.
19 Die Angaben sind hoher als die in den zitierten Genehmigungen etc. uberlieferten
und dennoch immer noch deutlich niedriger, als sie nach der Ottenjannschen Berechnung
sein wurden.
20 Ulrich Marx, Kulturrohstoff Holz. Bauholzverwendung am Beispiel eines Vierstan-
derhauses von 1812 in Badeke am Siintel, in: Landlicher Hausbau, wie Anm. 6, S. 255-272,
hier S. 262-267.
21 Walter Kremser, Niedersachsische Forstgeschichte: eine integrierte Kulturgeschich-
146 Wolfgang Dorfler
In der Mittelwaldwirtschaft der norddeutschen Tiefebenen kamen nur 30 bis
60 als Bauholz geschonte Baume auf einem ha Waldflache.22
Im Reichskammergerichtsprozess des Bremer Domkapitels gegen die adelige
Familie Cliiver erklarte der beklagtejohann Cliiver, dass die 68 groBen fruchttra-
genden Eichen, die erund seine Mutterum 1575 in den Waldern des Domkapitels
hatte schlagen lassen, fiir den Bau eines Vorwerkgebaudes bei seinem Adelshof
gebraucht worden seien.23 Ein solches Vorwerk entsprach einem groBen einstel-
ligen Hof mit bis zu acht Dielenfachen. Fiir die Deckenbalken solcher Bauten
nahm man in dieser Zeit quadratisch zugerichtete Holzer mit 30-40 cm Kanten-
hohe und 9 m Lange. Fiir Sparren waren bei einer Dachneigung von 50° diinnere
und etwas kiirzere Baume erforderlich. Deckenbalken, Sparren und regional un-
terschiedlich auch die Rahme waren meist Einzelbaume, an denen noch im ver-
bauten Zustand Wurzel- und Zopfende unterscheidbar ist. Die iibrigen Holzer
des inneren Hausgeriistes und auBeren Fachwerks sind mit der Sage aus oft sehr
starken Baumen als Halb- oder Viertelholzer hergestellt worden. Seit dem 18.
Jahrhundert wurden auch fiir die Balken und Sparren Halb- oder sogar nur Vier-
telholzern verwendet. Man unterschied in den Waldinventaren das hochwertige
lang gewachsene Bauholz fiir Balken, Sparren und Rahme von dem kurzen, das
nur fiir Schwellen und Stander geeignet war (s. u. S. 162).
Stolz und wirtschaftliche Kraft prasentierten die Bauern im 16. und 17. Jahr-
hundert im Erscheinungsbild ihrer Hauser und zwar durch die Machtigkeit der
sichtbaren Holzer im auBeren Fachwerk und besonders auf der Diele. Manche
Stander erreichen iiber 60 cm Breite, ebenso die Unterschlagsriegel im Flett.
Auch die Kopf bander sind von enormer, statisch nicht begriindeter Breite.24 Vom
te des nordwestdeutschen Forstwesens, Rotenburg (Wiimme), 1990, S. 82.
22 Martin Speier/ Ansgar Hoppe, Waldnutzung und Waldzustand mittelalterlicher und
neuzeitlicher Allmenden und Marken in Mitteleuropa, in: Uwe MEiNERs/Werner Rosener
(Hrsg.), Allmenden und Marken vom Mittelalter bis zur Neuzeit, Cloppenburg 2004, S. 47-
63, hierS. 54.
23 Wolfgang Dorfler, Herrschaft und Landesgrenze: die langwahrenden Bemiihungen
um die Grenzziehung zwischen den Stiften und spateren Herzogtiimern Bremen und Ver-
den, Stade 2004, S. 653. - Thassilo von der Decken, Die Familie Cliiver Teil 3, in: Stader
Jahrbuch, Neue Folge, Heft 73, 1983, S. 108; Quelle: StA Stade Rep 27 B 3721q, Bl. 12-28.
Strittig war im Prozess, ob der Adelige in den Waldern des Amtes Ottersberg wirklich nach
seinem Baubedarf hauen durfte. Es spricht einiges dafiir, dass dieser Zweck des Holzge-
brauchs sogar nur eine Schutzbehauptung der Adelsfamilie gewesen ist, denn seine Mutter
hatte zwei Jahre zuvor schon 18 fruchttragende Eichen schlagen lassen, ohne einen Bau
zweck nachzuweisen. Die Kapitalisierung des Bauholzes durch den Adel war bereits iiblich.
Der Wert der gefallten 68 Baume wurde 1575 auf 500 Taler taxiert.
24 Ulrich Klages/ Wolfgang Dorfler /Hans-Joachim Turner, „Bauernhaus-Genealo-
gie" im Landkreis Rotenburg - Eine vergleichende Analyse der Innengefiige alterer Bau
ernhauser 2. Teil, in: Rotenburger Schriften Heft 80/81, 1994, S. 35-114, hier S. 108.
Bauholzversorgung auf dem Lande 147
spaten 17. bis zum 19. Jahrhundert wurden im Elbe-Weser-Dreieck und der siid-
lich angrenzenden Liineburger Heide zwar noch groBe Bauernhauser gebaut,
doch nie mehr unter Verwendung solcher iiberdimensionierter Eichenholz-
mengen.
Zur Quantifizierung des landlichen Bauholzbedarfes miissen Uberlegungen
zur Lebens- bzw. Nutzungsdauer der Bauernhauser und zur Vermehrung der Hof-
stellen sowie der landlichen Nebengebaude angestellt werden. Der sich dabei er-
gebende Bedarf lasst sich fur die Friihe Neuzeit am folgenden Beispiel demon-
strieren: Von den ca. 1000 Bauernhausern des alten Amtes Rotenburg, wie sie
1600 bestanden,25 haben lediglich zehn die nachsten 400 Jahre iiberstanden. Ein
solches Haus kann von derbautechnischen Seite her 500 und mehrjahre alt wer-
den,26 wurde dies aber nur in Ausnahmefallen. Brande, Vernachlassigung, Ver-
anderung der Wirtschaft- und Lebensweise oder das Renommierbedurfhis der
Bewohner haben zu einer „vorzeitigen" Beendigung der Lebensdauer und damit
zu einem Bedarf an neuem Baumaterial gefiihrt. Umgekehrt hat die qualitatvolle
Ausfiihrung eines Baus dessen Uberlebenschancen erhoht, so dass wirin viel gro-
Berem MaBe oberschichtliche als unterschichtliche alte Bausubstanz auf dem
Lande finden. Gute Voraussetzungen fur das wenig veranderte Uberdauern eines
Hauses waren gegeben, wenn die Hausstelle nach primarer Prosperitat herunter
sank und so der Anpassungsdruck in Richtung Modernisierung des Hauses ge-
mindert wurde. Die durchschnittliche Nutzungsdauer eines neuzeitlichen landli-
chen Fachwerkhauses wurde mit 150 Jahren beziffert.
Aber nicht nur der VerschleiB sondern ebenso die Veranderung der Wirt-
schaftsweise fiihrte dazu, dass Bauernhauser und Nebengebaude verschwanden
und stattdessen neue Gebaudetypen errichtet wurden, wodurch neuer Bauholz-
bedarf entstand. Beispielhaft sei erwahnt, dass die Speicher iiberfliissig wurden,
als im 18. Jahrhundert die „Schiittboden" in den Bauernhausern zu Kornspeicher
ausgebaut wurden. Etliche der alten Speicher wurden aber zu Backhausern um-
gebaut und iiberlebten so.27 Die alten Backhauser der Heide waren oft zugleich
auch in einem Teil als Hauslingshauser genutzt,28 aber fur diesen Zweck unprak-
25 Ermittelt aus dem 16. Pfennigschatz des Jahres 1560 (StA Stade Rep 5b Fach 101 Nr.
8) durch Berechnung einer iiber 10 Dorfer durchschnittlichen Schatzsumme von 13 Mark
pro Hof und einem Gesamtschatz von ca. 12000 Mark unter Beriicksichtigung einer gerin-
gen Stellenvermehrung zwischen 1560 und 1600.
26 Das fiihrte zu dem programmatischen Titel der Ausstellung von 1994 im Weserre-
naissance-Museum SchloB Brake: ,,500 Jahre Garantie - Auf den Spuren alter Bautechnik".
Unter dem gleichen Titel ist auch eine Publikation zum Thema erschienen als: Materialien
zur Kunst- und Kulturgeschichte Nord- und Westdeutschlands, Band 12, 1994.
27 Heinz Riepshoff, Speicher und Backhauser in der Grafschaft Hoya, o. J. ca. 1997,
S. 11-38.
28 Eduard Kuck, Das alte Bauernleben der Liineburger Heide, Leipzig 1906, Neudruck
148 Wolfgang Dorfler
tisch, so dass nach der Ausbreitung des Hauslingswesens seit dem Ende des 18.
Jahrhunderts miniaturisierte Hallenhauser als Hauslingshauser in groBer Zahl
neu errichtet wurden. Schafstalle nahmen im 16. Jahrhundert stark an Zahl zu,
verschwanden dann im 19. Jahrhundert weitgehend wieder, oder wurden zu
Kleinbauernhausern umgenutzt. In der gleichen Zeit verschwanden die Feld-
scheunen, die im 17. Jahrhundert als feuersichere Vorratsgebaude auBerhalb der
Hofstellen errichtet worden waren. Stattdessen entstanden im 18. Jahrhundert
groBere hofnahe Scheunengebaude, oft mit angebauten Schweinestallen.
Die landlichen Gebaude Nordwestdeutschlands waren bis zum Ende des 18.
Jahrhunderts aus Eichenholz gebaut, weil kein anderes vergleichbar geeignetes
Bauholz verfiigbar war. Buchenholz ist als Bauholz minderwertig.29 Im Hand-
werk aber wurde Buchenholz verwendet, so bei den Mobeltischlern, den Wagen-
bauern und z.B. fiir Stauanlagen an Wassermiihlen,30 an Stellen also, wo ohnehin
von keinergroBen Langlebigkeit derGerate bzw. Bauwerke ausgegangen wurde.
Als Feuerholz und bei der Erzeugung von Holzkohle und Pottsohl (Kaliumcarbo-
nat zur Glasschmelze) ist es dem Eichenholz gleichwertig gewesen. Es ist die ver-
breitete Beschreibung der Eichen-Buchenwalder der Eriihen Neuzeit aber zu re-
lativieren; den Buchen kamen weniger Fiirsorge und Aufzuchtsbemiihungen zu
Gute.31 Dass Buchen in den Waldern haufig vorkamen, lag daran, dass sie der Ei-
che gegeniiber ein besseres biologisches Durchsetzungsvermogen haben. Der
Siegeszug der Buche hin zum „Dunkelwald" war nach Kremsers Analyse „die
groBte und plotzlichste Umwandlung des Waldes in der Neuzeit";32 er erfolgte
aber erst im 19. Jahrhundert, war durch die groBe Nachfrage nach Buchenbrenn-
holz bedingt und moglich geworden, weil inzwischen Nadelholz in ausreichen-
Hildesheim 1976, S. 216-220; Horst W. Lobert, Arbeiter auf dem Lande, Landwirtschafts-
museum Liineburger Heide, Suderburg 1991, S. 18 und S. 20.
29 Auch der Wert der Bucheckern fiir die Schweinemast ist in den Darstellungen unkri-
tisch zu hoch angesetzt worden. Dazu A. Zimmermann, Untersuchungen iiber das Abster-
ben des Nadelholzes in der Liineburger Heide, in: Zeitschrift fiir Forst- und Jagdwesen Heft
6, 1908, S. 357-391, hierS. 379.
30 Ein Beispiel fiir Antrage auf Buchenstamme zu „Schleusenholz" durch den Miiller zu
Goldbeck (Ldkr. Stade) in denJahrenl677-79: StA Stade Rep 30 Nr. 52.
31 Carl Jordens, Wirtschaftsgeschichte der Forsten in der Liineburger Heide vom Aus-
gang des Mittelalters bis zum Beginn des neunzehntenjahrhunderts, Braunschweig 1931, S.
136. - Die Anlage von Buchenkampen ist eine Seltenheit und Buchenhester wurden nur als
Aufzahlungen im Zusammenhang mit Eichenhesterpflanzungen erwahnt
32 Kremser, Forstgeschichte, wie Anm. 21, S. 13 und S. 73-74. - Die Ortsnamen auf Bu-
che sind in Norddeutschland haufiger als die auf Eiche, was ich als Hinweis auf die biologi-
sche Uberlegenheit der Buche im Rahmen der Spontanvegetation auf den Boden deutet, die
in der mittelalterlichen Ausbauperiode primar genutzt wurden. Dass Berg, wie Anm. 13, S.
143, beide Baumarten fast gleichhaufig in Ortsnamen fand, scheint mir daran zu liegen, dass
er die niederdeutsche Form, die in Bockel, Bokel etc. steckt, nicht beriicksichtigt hat.
Bauholzversorgung auf dem Lande 149
der Menge als Bauholz herangezogen worden war und das langsam wachsende
Eichenholz ersetzen konnte.
Im Protokoll des Holtings auf dem Stuvenwald im Landkreis Harburg von
1555 heiBt es: Albert will ein Huszbwen von 4 Vacken, dartho bedarfhe 5 Balken, 3Boi-
ken, 2 Eeken, 2 Bohme tho Stenderen, 7 Bohm tho Bantholte (Kopf bander und Riegel) ,
7 Bohm tho Legem, (Schwellen) , 10 Spahre.33 Dieser Antrag ist nicht wortlich zu neh-
men, da wirkein einziges Haus mit drei Buchenbalken gefunden haben. Dass der
Bauer in seinem Antrag drei Buchen auffiihrte, ist als Vorwand zu verstehen: das
minderwertige Holz wurde leichter genehmigt, und was er dann wirklich fallte
und abtransportierte, warkaum zu kontrollieren. Wenn ermit dem gefallten Holz
auf seiner Hofstelle angekommen war, war auch die Entnahme ungenehmig-
ten Holzes nicht mehr zu ahnden.34 1559 klagten die Adeligen von Weye gegen
die von Heimbruch, dass diese im Thodt (einem Wald im Ldkr. Harburg) an
Fremde „Ellernholz" verkauften, die Fremden dann aber nicht nur die Erlen, son-
dern auch die Eichen und Buchen schliigen und zwar sogar solche, die „in Mast
stehen".35
In den Bauernhausern des mittleren Elbe-Weser-Dreiecks bestand der „Speck-
balken", also der im Flett in unmittelbarer Nahe zum Herdfeuer liegenden De-
ckenbalken des Hallenhauses, sehr oft aus Buchenholz, ebenso ein Teil der De-
ckenbohlen und das Feuerrahm. Buchenholz wurde in der Nahe des Herdfeuers
verwendet, um durch den scharfen Rauch den Schadlingsbefall des Holzes in
Grenzen zu halten. Der Buchenbalken im Flett ist als ein Kompromiss zwischen
dem Wunsch nach groBtmoglichem Bauen und dem verfiigbaren Eichenbau-
holzangebot zu verstehen und blieb ein Nachteil, da der Anobienbefall von Bu-
chenholz auch durch den scharfen Rauch im Flett nicht verhindert werden konn-
te.36 In der Beschreibung eines Hofes auf der Stader Geest aus dem Jahre 1709
findet sich folgende Notiz, die zugleich fiir den Zustand der Hauser in dieser holz-
33 Willi Meyne, Die ehemalige Hausvogtei Moisburg. Geschichte ihrer Dorfer und Ho
fe, Buxtehude 1936, S. 61-63, hier zitiert nach Ulrich Klages, Amtlich-restriktive Bauholzzu-
weisung und ihre Auswirkung auf das landliche Bauwesen in der Nordheide, in: Bauen nach
Vorschrift? Obrigkeitliche Einflussnahme auf das Bauen in Nordwestdeutschland. Beitrage
zur Volkskultur in Nordwestdeutschland Band 102, 2002, S. 83-96 hier S. 83.
34 Verhey, wie Anm. 13, S. 108.
35 Schreiben vom 30. 7. 1559, zitiert nach Hermann Schettler, Die Markgenossen-
schaft des Todt, Tostedt 1988, S. 39.
36 Beim Abbau eines Bauernhauses in Narthauen (Ldkr. Rotenburg) wurde der Dach-
stuhl durch Zug am vorderen Sparrenpaar niedergelegt. Die alten und schon zweitverwen-
deten Eichendeckenbalken und auch zwischengelegte jiingere Nadelholzbalken uberstan-
den den Aufprall des Dachstuhls, der machtige Buchenbalken im Flett aber zerbarst in meh-
rere Teile, weil er bis in den Kern von Schadlingen zerfressen war; Wolfgang Dorfler,
Haus Narthauen Nr. 1 geborgen, in: Der Holznagel 1, 1989, S. 8-18, hier S. 16-18.
150 Wolfgang Dorfler
armen Zeit steht: Ein Balcke mit im Haufie war mitten entzwey undstunden zwei Stub-
ben darunter, und ein Balcke ist auch geringe, denen ein Buchen Balcke zu Hiilfe gelegt, wel-
chen die Wiirmer bereits gefressen.37
Bei kleineren Hausern vor allem in den Marschen finden sich Eschenholz fiir
Sparren, seltener auch fiir Stander und Balken. Das Eschenholz ist dem Eichen-
holz hinsichdich Zahigkeit und Bestandigkeit gegen Schadlingsbefall ebenbiirtig.
In den Marschen haben Eschen gegeniiber Eichen zudem den besseren Wuchs.
Allerdings erreicht die Esche keinen so kraftigen und geraden Stamm, dass sie
identisch verwendbar ware. Ulmen, Linden und Kastanien finden sich gelegent-
lich an untergeordneten Stellen des Geriistes, etwa als Walmsparren. Obwohl der
in Hannover gebrauchliche Amtseid der Zimmermeister aus dem 18. Jahrhun-
dert vorschreibt: [Ihr habt] Eure Anschldge darnach ein[zu]richten, dass bey neuen, auch
zu reparierenden Gebduden, anstatt der bisherigen Balken und Sparren von Eiche und Tan-
nen oder Ellern, Birken und Espen genommen werden,3& ist es ein singularer Fall, dass
wir Birkenstamme als Bauholz verwendet gefunden haben.39
Zum Nadelholz ist zu berichten, dass weite Teile des heutigen Niedersachsens
bis zu Ende des 18., z. T. auch bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts nicht iiber als
Bauholz nutzbare Bestande verfiigten.40 Das gait nicht nur fiir die Geestgegenden,
sondern ebenso fiir die Mittelgebirge entlang der Weser.41 Allein die Harzregion
und Teile der Siidheide hatten auch schon im Spatmittelalter und der Friihen
Neuzeit mit eigenem Nadelholz bauen konnen.42 Die mittelalterliche Fachwerk-
stadt Quedlinburg ist weitgehend aus Nadelholz des Harzes erbaut, was beweist,
dass aus diesem Holz erbaute Hauser 700 und mehrjahre Bestand haben konnen.
Die Marschen verfiigten ohnehin seit der Friihen Neuzeit kaum noch iiber ei-
gene Bauholzbestande. Marschenhauser entlang der Elbe sind im altesten Be-
37 Prior wie Anm. 4,S. 13undS. 173. Das Protokoll waru. a. aufgenommen worden, weil
der Bauer ohne Erlaubnifi einen grofien Eichenbaum zum Unterhalt seinen HauJSes gefellet hatte.
38 Eidesformel als Anhang an die Cammer-Instruktion vom 24. Februar 1745 gedruckt
bei Ernst Spangeneerg, Sammlung der Verordnungen und Ausschreiben welche fiir samtli-
che Provinzen des Hannoverschen Staates, jedoch was den Calenbergischen, Liineburgi-
schen und Verdenschen Theil betrifft, seit dem Schlusse der in denselben vorhandenen Ge-
setzessammlungen, bis zur Zeit der feindlichen Ursurpation ergangen sind, 1. Theil 2. Ab-
teilung, Hannover 1819, S. 148.
39 Bei einem Dreistanderbau mit einseitiger Kubbung in Bevern (Ldkr. Holzminden)
von 1598 wurde um 1790 die niedrige AuBenwand erhoht, so dass ein scheinbarer Vierstan-
derbau resultierte. Fiir diesen Umbau waren lange Sparrenauflaufer notig, wofiir Birken-
stamme Verwendung fanden, die iiberraschend nun schon mehr als 210 Jahre iiberstanden
haben (pers. Mitteilung Dr. Ulrich Klages, Heidenau, August 2006).
40 Zimmermann, Nadelholz, wie Anm. 29, S. 361-373.
41 Jiirgen Delfs, Die FloBerei in Stromgebiet der Weser, Bremen-Horn 1952, S. 42 und
S. 74-76; Roland Henne, FloBe von der Oberweser, Holzminden 2005, S. 18-19.
42 Beispiele dazu weiter unten S. 164.
Bauholzversorgung auf dem Lande 151
stand des 15. Jahrhunderts aus Eichenholz, aber bereits im 16. Jahrhundert mit
groBen Anteilen machtiger Nadelholzer erbaut. Im 17. Jahrhundert und wieder
seit dem 19. Jahrhundert sind hier sogar die Stander und das auBere Fachwerk
nicht aus Eiche. Die Erklarung dafiir ist die FloBerei auf der Elbe, die Nadelholz
aus der Siidheide, Mecklenburg, Brandenburg und den Gebirgen des „Oberlan-
des", also des Thiiringen Waldes und des heutigen Tschechiens, bis an den Unter-
lauf der Elbe und in die Marschen des Alten Landes brachte, spater auch iiber die
Seitenfliisse ins Landesinnere hinein.43
Das importierte Weichholz nun erlaubte eine viel weitspannendere Bauweise,
als es die Eiche ermoglicht hatte. Die Balken, Rahme und Sparren sind langer
und durch ihr geringeres Eigengewicht bei guter Biegestabilitat auch belastbarer.
Breitere Dielen sowie groBere Balkeniiberstande und damit groBere Dachraume
wurden gewonnen. Es waren auf dem Lande aber zunachst nur die oberschichtli-
chen Bauherren, die sich dieses wertvollen Holzes bedienen konnten. In Stade ist
beispielsweise die aufwandige holzerne Innen- und Dachkonstruktion des
Schwedenspeichers aus gefloBtem Nadelholz gebaut. Aus dem gleichen Holz er-
baut ist auch das Viehhaus des adeligen Bremerschen Gutes in Cadenberge von
1747 (i) 44 (Ldkr. Cuxhaven) und der Kornspeicher des adeligen Gutes Nieder
Ochtenhausen (Ldkr. Rotenburg) von etwa 1788 (d). 1832 (i) wurde dann erst-
mals ein groBes Geestbauernhaus in Ober Ochtenhausen (Ldkr. Rotenburg) mit
importierten Tannenbalken erbaut,45 die offensichtlich mit dem Tiedenhub die
Oste aufwarts gefloBt worden waren. Dieses Wissen riihrt aber nicht aus der
Uberlieferung oder archivalischen Quellen her, die nur selten einmal wie beim
Stader Schwedenspeicher Hinweise geben; es sind vielmehr wieder die Gebaude
selbst, die Auskunft geben. Die verbauten Nadelholzer weisen die Spuren der
FloBzimmerung und durch den Holzhandel angebrachte typische eingeritzte
Zeichen auf, die am Holz auch nach dem Verbauen zu finden sind. Ulrich Klages
43 Delfs, wie Anm. 41, Abb. 30 S. 74; Ulrich Klages, Alte Marschenhauser als Zeugen
der ElbfloBerei, in: Flosserei auf der Elbe, Teil 1: Wege und Ziele ihrer Erforschung, in: Lau-
enburger Hefte zur Binnenschiffahrtsgeschichte 3, 1992, S. 23-27; fur Mecklenburg und
Brandenburg Fritz Solinger, Holzhandel und Waldwirtschaft des Herzogs Adolf Friedrich
II. von Mecklenburg-Strelitz, in: Mecklenburg-Strelitzer Geschichtsblatter, 1928, 119-181,
hier S. 152-155 und 166-171; fur Sachsen: Gerhart Heinz John, Die ElbfloBerei in Sachsen,
Leipzig 1934, S. 88-95.
44 Die Abkiirzung bedeutet, dass das Baudatum durch eine Inschrift iiberliefert ist, sie-
he Anmerkung 13.
45 Die FloBholzverwendung fur die Gebaude in Stade, Cadenberge und Nieder Och-
tenhausen ist in der einschlagigen Literatur zu den Gebauden und in den Denkmalverzeich-
nissen nicht erwahnt. Zum Haus in Ober Ochtenhausen: Ulrich Klages /Wolfgang Dorf-
ler, Ein hauskundlicher Rundgang durch Ober Ochtenhausen, in: Ober Ochtenhausen,
Band I: Geschichte des Dorfes, 2005, S. 736-754, hier: 745-747.
152 Wolfgang Dorfler
fiihrte als erster diesen Beweis an den stehenden Gebauden und bereitete damit
vielen neuen Erkenntnissen den Weg.46 Im Ober Ochtenhausener Haus finden
sich zwei Arten von Bohrungen: groBe als Spuren der ElbefloBerei und deutlich
kleinere vielleicht fiir die Neueinbindung in Form von Oste-FloBen.
Die FloBerei „einheimischer" (also hessischer und niedersachsischer) Holzer
auf der Weser war zunachst eine LaubholzfloBerei, die besonderen Bedingungen
unterliegt. Aus Thiiringen und aus der Siidheide sind auch iiber die Weser schon
in der Friihen Neuzeit NadelholzfloBe bis in die norddeutsche Tiefebene ge-
langt.47 Wirhaben in der 1619 (i) erbauten Diele des Haupthauses von Gut Holte
(Ldkr. Cuxhaven) bereits gefloBte Weichholzbalken verbaut gefunden. Seit dem
19. Jahrhundert sind dann auch aus dem Weserbergland Nadelholzstamme die
Weser abwarts und die Seitenfliisse aufwarts gefloBt worden48 und haben dann
auch den bauerlichen Schichten zur Verfiigung gestanden, wie Hauser in Wum-
mensiede (Niederblockland, Bremen) von um 1810 (d)49 und in Spieka-Alten-
deich (Ldkr. Cuxhaven) von 1826 (i) zeigen. Bei Letzterem sind auch die Kopf-
bander und sogar die Stander aus Nadelholz gefertigt worden.
Der systematische Anbau von Nadelholz in den Geestgebieten des Elbe-We-
ser-Dreiecks begann im friihen 18. Jahrhundert und war, trotz groBen Aufwandes
noch jahrzehntelange von nur geringem Erfolg gekront.50 Es bestanden Wider-
stande der Bauern gegen Tannen- und Kiefernforsten, da die noch immer fiir un-
entbehrlich gehaltene Waldweide in Nadelholzbestanden nicht moglich ist. Ab
1790 standen erste einheimische Tannen, Fichten und Kiefern auch im Elbe-We-
ser-Dreieck als Bauholz zur Verfiigung und flachendeckend wurde ab 1840 fiir al-
le Langholzer (Balken, Rahme, Sparren) nur noch Weichholz verwendet. Wenig
spater sank der Bedarf an Eichenbauholz auch auf der Geest zusatzlich durch die
massenhafte Produktion von preiswerten Ziegelsteinen, die ab 1870 zum Massiv-
bau der AuBenwande fiihrte. Diese Entwicklung war in den holzarmen Marsch-
gebieten der Fliisse und der Nordkiiste schon Jahrzehnte friiher abgelaufen.
46 Ulrich Klages, FloBholzer in den Marschenhausern an der unteren Elbe, in: Histori-
sches Bauwesen, Material und Technik, Jahrbuch fiir Hausforschung 42, 1994, S. 181-214.
47 Delfs, wie Anm. 41, S. 18-22 und S. 74-76; Henne, wie Anm. 41, S. 19 und S. 26.
48 Anzucht von Nadelholz im Soiling nach 1745: Carl Hermann Langerfeldt, Das
Forstwesen im Herzogthume Braunschweig, in: Die Landwirthschaft und das Forstwesen im
Herzogthume Braunschweig. Festgabe fiir die Mitglieder der XX. Versammlung deutscher
Land- und Forstwirthe, Braunschweig 1858, S. 97-170, hier S. 150 und S. 157 FN 120; Delfs,
wie Anm. 41, S. 75.
49 Gutachten zum Haus Bavendamm, Wummensiede 1 durch Ulrich Klages fiir das
Bremer Landesmuseum - Focke Museum mit Datum vom 4. 10. 1992.
50 Ausfiihrlich dazu Friedrich Tamss, Die herrschaftlichen Forsten, in: Das hannover-
sche Amt Rotenburg im 18. Jahrhundert, Rotenburger Schriften, Drittes Sonderheft, 1958,
S. 42-55 und S. 73-74.
Bauholzversorgung auf dem Lande 153
Bauholz aus der Allmende
In der Literatur wird regelmaBig das mittelalterliche Recht zitiert, dass jeder Be-
rechtigte in den gemeinschaftlichen Waldungen schlagen durfte, was er meinte
fur den Eigengebrauch notig zu haben. 1339 hieB das: Ein jeder mag how en to sinnen
Timmer und to sinen Towen,51 also das Bauholz und Zaunholz nach dem Bedarf sei-
ner Hufe frei entnehmen. 1495 wurde dieses Recht starker spezifiziert und die
Zahl der Berechtigten eingeengt; so heiBt es fur den Bereich des Todts im heuti-
gen Landkreis Harburg: Item de holtinges luden int gemen to gefunden, enjewelk have-
ner, im holtinge besetten, mogen sinen kolhofunde sinen inhofbetunen mit eken unde boken-
holte ungepandet, unde denne geliken, ok to erem buwe unde erer berninge (Feuerholz,) na
erer nottofticheit houwen eken und boken holt ungepandet.52 1502 ist es der Versuch alte
Rechte zu verteidigen, wenn auf der Holtigsversammlung des Velberschen
Bruchs die an den Marken berechtigte Bauern, hier „die Erben" genannt, vom
Landesherren fordern: Ein ider Erve schall houwen to syner Notdorft, ein iklicher Erve
magfahren so stark he konde.53 Im Spatmittelalter scheint die Holtingsversammlung
der Ort gewesen zu sein, auf dem der Bauholzbedarf angemeldet und aus nach-
barlicher Kenntnis die benotigten Baume bewilligt wurden. Allerdings sind
quantitativen Aussagen, wie die Zahl derzu schlagenden Baume und das dafiirzu
zahlende Geld, in den Protokollen so gut wie nie iiberliefert.54 Die Aufsichtstatig-
keit dieser Zusammenkiinfte hat sich nach Wortlaut der Protokolle vor allem auf
die AbwehrfremderNutzerund die milde Ahndung ungenehmigter Holzentnah-
men konzentriert; den Bauwiinschen der eigenen Leute haben die Versammlung
nicht erkennbar entgegengewirkt, so dass der Verbrauch von Eichenbauholz
nicht wirksam begrenzt wurde.
Die Markennutzung des Mittelalters wird in der alteren Literatur idealisierend
dargestellt: Die auf ihren Hufen sitzenden Bauern sollen entnommen haben, was
sie brauchten, fern von Profitstreben und Prunksucht also die Walder gepflegt
und so den Spagat geschafft haben, die Baume, die zugleich die wichtigste Mast
lieferten, als universelles Bauholz zu nutzen und gleichzeitig zu schonen.55 Die
Bauern hatten sich an derlukrativen Vermarktung des Holzes nicht beteiligt, weil
51 Zitiert nach Timm, wie Anm. 17, S. 72.
52 Holting im Todtholze vom 8. 10. 1495, zitiert nach Schettler, wie Anm. 35, S. 30.
53 Zitiert nach Verhey, wie Anm. 13, S. 114-115.
54 In Sasbach am Rhein wurden nach dem dortigen Markrecht von 1432 generell 15
Baume fur ein Haus und 11 fur eine Scheune zugeteilt (zitiert bei Berg, wie Anm. 13, S. 211).
Wenn man erganzende Holzbeschaffung ausschlieBt, kann dieses Beispiel als Bestatigung
fur die weiter unten verfolgte These von der schwachen Bauweise spatmittelalterlicher Bau-
ernhauser genommen werden.
55 Z. B. bei Verhey, wie Anm. 13.
154 Wolfgang Dorfler
sie den Ressourcen gegeniiber schonender gewesen waren. Diese Verklarung des
bauerlichen Verhaltens wurde in den 30 und 40erjahren des 20. Jahrhundert aus
ideologischen Griinden gepflegt.56 Die Zusicherung der Bauern, dass eine Forst-
hoheit in ihrer Hand nit Ausreitung des Holz.es zu Folge haben wiirde, ist aber
durchaus realistisch, da die landliche Gemeinde sicher besser als jeder Grund-
oder Landesherr die Kontrolle iiber die Waldungen wahrnehmen konnte.57
Fiir das Bauen in der friihen Neuzeit gait der Idealzustand der freien bauerli-
chen Nutzung der Marken schon nicht mehr. Als Folge der alten bauerlichen
Berechtigungen in den Marken und Allmenden bestand ein Anrecht auf Bauholz-
zuteilung. Als Quellen zurFrage der Holzbewirtschaftung bieten sich die Holzge-
richtsprotokolle und die in der Friihen Neuzeit einsetzende landesherrschaftliche
Gesetzgebung an. Diese Quellen wurden bisher meist unter forstgeschichtlicher
Fragestellung ausgewertet.58 Die „Holtingsprotokolle" und Gesetze geben als ob-
rigkeitliche Quellen die Befiirchtungen und Absichten derLandesherrschaft wie-
der, aber die Note der bauwilligen Untertanen lassen sich allenfalls erahnen. Wie
immer stellt sich bei der Betrachtung von Gesetzestexten die Frage nach der
Durchsetzung derartiger landesherrschaftlicher Regulierungsversuche.59
Die wolfenbiittelsche Forstordnung von 1547 regelte diese Frage nach Christa
Graefes Darstellung folgendermaBen: „ Jeder [Untertan] sei nur in sein eigenthum-
bliche holtze Zimblicher weis und seiner notturft nach zum Hauen berechtigt. Diese
notturft setzte nun aber nicht mehr das jeweilige zustandige Holting fest, sondern
die Zuteilung von Holz geschah auf Anweisung Vnserer beschlossten man oder der Er-
ben gemeinheit, Vnser Ambttleuten, Forster Vnd der Verordneten der Dorffer, einem Gre-
mium also, das sich aus dem zustandigen Gutsherren, dem Vertreter des Herzogs
und den Holzgeschworenen zusammensetzte."60 Der Forstordnungsentwurf im
56 Timm, wie Anm. 17, S. 97.
57 Peter Blickle, Studien zur geschichtlichen Bedeutung des deutschen Bauernstandes.
Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte Band 35, Stuttgart, New York 1989, S. 44-46;
Below/Breit, wie Anm. 2, S. 45 und S. 51.
58 Nachteil der Forstgeschichte fiir die hier untersuchten Fragen ist, dass sie im 19. und
friihen 20. Jahrhundert zumeist von Forstern geschrieben wurde. Die Beamten verstanden
ihren Stand primar als Hiiter des Waldes und also als natiirlichen Gegner der Bauherren
und anderen Nutzer. Die Forsthistoriker reihen mitunter selbst die Amtmanner unter die
Verbiindeten der Waldnutzer und damit die Gegner des Waldes ein, z.B. Fleischmann 1825
zustimmend zitiert von: Walter Kremser, Friihgeschichte des Eichenanbaus in Niedersach-
sen, in: Rotenburger Schriften 61, 1984, S. 7-88, hier S. 64.
59 Grundsatzliche Uberlegungen zum Begriff der „Durchsetzung" bei Thomas Spohn,
Bauen nach Vorschrift? wie Anm. 33, Zur Einleitung S. 1-68 und ebenda Wolfgang Fritz-
sche, Uberlegungen zum Begriff „Durchsetzung" in Bezug auf historische Bauordnungen,
S. 183-204.
60 Christa Graefe Forstleute. Von den Anfangen einer Behorde und ihren Beamten
Bauholzversorgung auf dem Lande 155
gleichen Territorium von 1585 fordert: Wie wol einjede Commun und Gemeinde Wel-
de (Walder) nutzen und gebrauchen, so behuret undstehet uns dock zu, als dem Regents Le-
hen und Landesfursten wegen furstlicher Obrigkeit und tragenden Ampts halbe, rein billigs
notwendigs Aufsehen und also die oberste Inspection daruber haben zulassen.61
Auch der Verdener Bischof Eberhard erlieB 1567 eine „Regulierung der Ver-
haltnisse in den Bauernholzungen", nach der die Anweisung nur durch die bi-
schoflichen Beamten gemeinsam mit gewahlten und vereidigten Holzgeschwore-
nen geschehen durfte.62 Das Beispiel der Bauernholzung in Malstedt (Ldkr. Ro-
tenburg) scheint die Durchsetzung dieser Vorschrift zu bestatigen. Uber sie hieB
es um 1650 : 1st eine dorffschaftliche Holtzung, es darfaber kein Unterthan ohne vorher er-
langte Permission aus Koniglicher Cammer etwas aus solchen Holtz haurn.63 Da im Her-
zogtum Verden die Verhaltnisse gut iiberliefert sind, wird aber klar, dass es neben
der kostenpflichtigen Bewilligung auch die kostenlose Konsensregelung gegeben
hat und sogar weiterhin den „freien Hieb" in einigen der dorfnahen Walder. So
heiBt es 1692 fur Riekenbostel (Ldkr. Rotenburg) und sinngemaB auch fur eine
Reihe anderer Dorfer der Region: [Das Dorf] hat eigene Holtzung von Eichen und
Biichen Holtz untereinander. Die Dorfschafft [. . .] hat darin einenfreyen Hieb, wirdje-
doch von denen Eingesessenen bestmoglichst geschonet und nicht darin gehauen, wo ihnen
nicht die hdchste Not dazu dringet. Uber die Baume in der Allmende des Dorfes Waf-
fensen (Ldkr. Rotenburg) hieB es: Die aufihrem Lande stehenden Baume [konnen]
sie, wan es dem Rothenburgischen Holtzvoigt angemeldet, zu nothigen Bauholtz ohne Ent-
gelt frey fallen. Dagegen ist fur die Vogtei ScheeBel im gleichen Jahr festgehalten:
Wan die Bauren zu reparirung ihrer Gebdude - sonsten wird anitzo nichts consentiret - et-
was fallen wollen, milssen sie den pro tempore Amts Vogt darumb ansprechen und 12 Schill.
Stdmgeldt geben.64
Vielerorts erteilte seit dem 16. Jahrhundert also nicht mehr die landliche Ge-
Braunschweig-Wolfenbiittel 1530-1607. Wolfenbiitteler Forschungen Band 43, 1989, S. 74-
75; darin auch Abdruckderbraunschweigischen Holzordnung des lG.Jahrhunderts im Wort-
laut S. 221-227. Bei Langerfeldt wie Anm. 48, S. 109 lieBt sich die Zusammenfassung dieses
Paragraphen so: „Bauholz darf nurmit Wissen und auf Anweisung der Amtleute, beschloBten
Manner und Forster gehauen werden (auch in den Gemeindewaldungen)".
61 Zitiert nach der Veroffentlichung bei Graefe, wie Anm. 60, S. 240. Diese ansonsten
sehr gut lesbare Arbeit befleiBigt sich beim Abdruck der Quellen eines ungewohnlichen Pu-
rismus in Form der buchstabengetreuen Wiedergabe. Ich habe die Schreibung hier wie bei
den weiter unten folgenden Zitaten vereinfacht.
62 Richard Hesse, Entwicklung der agrar-rechtlichen Verhaltnisse im Stifte, spaterem
Herzogtum Verdenjena 1900, S. 74, FN. 3.
63 Hinrich Zahrenhausen, Ein Verzeichnis der Staatsforsten unserer Heimat aus dem
17. Jahrhundert, in Stader Archiv, Neue Folge Heft 19, 1929, S. 80-90, hier S. 89.
64 Hinrich Miesner (Hrg.), Die Jordebiicher des Kreises Rotenburg 1692/94, Roten-
burg 1938, S. 283 (Riekenbostel), S. 470 (Waffensen) und S. 58 und S. 68 (Vogtei ScheeBel).
156 Wolfgang Dorfler
nossenschaft der Holtingsleute alleine die Erlaubnis zum Fallen, sondern die
Amtmanner der Landesherren mussten iiber die Antrage befinden und lieBen
durch die Forstknechte oder Holzvogte die genehmigten Baume aussuchen, an-
weisen und kennzeichnen. Die Uberreste der alten bauerlichen Berechtigungen
zum Holzbezug aus den Marken begegnen in Norddeutschland aber bis in das
18. Jahrhundert hinein. Ihre Ablosung erfolgte offenbar sehr uneinheitlich, da
zeitgleiche Quellen bestehende Anspriiche wie auch deren bereits vollzogene
Beseitigung wiedergeben. In Gebieten mit bestehender Berechtigung erreichte
das vom Bauwilligen zu entrichtende Geld, namlich Stammgeld und Lohn fun-
die Holzknechte, meist noch nicht den Marktwert des Holzes. Es wurde den
Bauwilligen im 18. Jahrhundert aber- so weit die Quellen dies erkennen lassen
- die gewiinschte Zahl der Stamme zusammengestrichen. Auch in solchen Re-
gionen musste Bauholz auf dem Lande zugekauft oder auf anderen Wegen be-
sorgt werden.
Befriedigende Auskunft iiber die friihneuzeitlichen Verhaltnisse beziiglich der
Bauholzversorgung ist aus den „Holzordnungen", „Reskripten" und anderen ob-
rigkeitlichen Archivalien nicht zu erhalten. Die dort niedergelegten landesherr-
schaftlichen Losungsideen lassen allerdings auf Konflikte riickschlieBen. Als
Beispiel sei die Bekampfung der offenbar weit verbreiteten Bestechungspraxis65
gewahlt: die schlecht bezahlten und schlecht ausgebildeten Holzvogte und
Holzknechte haben sich von den Bauwilligen durch „beilaufende Summen" zu
ziigiger und quantitativ ausreichender Bauholzzuteilung bewegen lassen.66 Gene-
rell ist die Uberlieferung der Bestechungspraxis natiirlich sparlich, da weder die
Zahlenden noch die Empfanger an einer schriftlichen Fixierung interessiert wa-
ren. Die Holzordnungen aber betonen regelmaBig, dass die Holzanweisungen
durch die Vogte ohne Gunst und Gaben zu erfolgen habe.67 Der Erfindungsreich-
65 Below/Breit, wie Anm. 2, S. 52.
66 Langerfeldt, wie Anm. 48, S. 115 spricht distanziert nur von der „in den furstlichen
Erlassen so oft beklagten Untreue der Forster" und fiihrt die Holzverluste iiberwiegend auf
die Aufarbeitung des Holzes durch den Empfanger zuriick, wodurch nach seiner Ansicht
„viel Holz unberechnet blieb".
67 Bremischen Holzordnung von 1588 (HStA Hannover Celle Br. 60 Nr. 25, Bl. 131R
und Bl. 132); Herzog Otto von Harburg an Herzog Otto denjiingeren von Braunschweig
vom 3. 8. 1555: Die Heimbruch'schen Vogte beschweren die Leute auf dem Thot mit Anweisungen des
Bauholzes, um fur sich Trinkgelder zu erpressen; zitiertbei Schettler, wie Anm. 35, S. 36. Hesse,
wie Anm. 62, S. 78 berichtete iiber „eine besondere Vergiitung", die die Rotenburger Vogte
fur die Anweisung von Holz gefordert hatten und die im Landtagsabschied von 1566 verbo-
ten wurde. Die Holzordnung Herzog Christian Ludwigs von 1665 notierte: CVI. Und soil
auch mit Uebernehmung und Schatzung der Leute, mit Schreib- Stamm- und Anweis- Geld iiber altes
und bekanntes Herkommen eines jeden Oris nicht geschritten werden, desgleichen Zehrung auf diesel-
ben oder Annehmungsgeschenck hiemit gdnzlich verboten seyn (Chur-Braunschweig-Luneburgische
Bauholzversorgung auf dem Lande 157
turn beim Abwickeln dieser Geschafte scheint bei Forstern und Bauern groB ge-
wesen zu sein. Der wolfenbiittelsche Holzordnungsentwurf von 1585 zahlt auf:
Die Forstknechte sollen, wenn sie den Untertanen Holz zuteilen, sich dafiir keine
Verehrung geben lassen, sie wiirden Forstbriiche zu ihrem eigenen Nutzen haufig
unterschlagen, sie wiirden eigenmachtig Holzbriiche nachlassen und die Amt-
manner wiirden fur ihre Entscheidungen Gift und Gabe oder einige Stichpfennige
nehmen. SchlieBlich wiirden die Untertanen im Kruge und bei anderen Gelagen fur
die Amtleute bezahlen oder sie ausquitieren.68 Die Landesherrschaft war bemiiht,
diese Gewohnheiten einzudammen, dazu fiihrte man Listen, Bewilligungszettel,
Markierung des bewilligten Holzes und Gegenkontrollen ein, konzentrierte die
Holzbewilligungen auf wenigejahrliche Termine im groBen Rahmen oder fiihrte
die gemeinsame Kennzeichnung des bewilligten Holzes durch eine Gruppe von
Mannern ein.69
Als weitere MaBnahme haben einzelne vorausschauend denkende Landesher-
ren seit derMitte des lG.Jahrhunderts die Walderzu schiitzen gesucht, indem sie
durch die Definition einer generellen Oberhoheit iiber alle Forsten ihres Landes
sich iiber die lokalen Nutzer stellten. Aus der Literatur ist zu ersehen, dass eine
solche Verstaatlichung der Walder nicht nur gegeniiber den bauerlichen Nutzern
der Mark sondern auch gegen Adel und Pralaten durchzusetzen versucht wurde.
Herzog Julius von Braunschweig- Wolfenbiittel stellte 1585 fest: Demnach wir an-
fangs unser Regierung befunden, dafe die Holtzungen in unserem Fiirstenthumb Wolfenbiit-
lischen Theils, die Fiisse sehr nach sich gezogen und diinne warden und deswegen leichtlich
zu vermuthen gehabt, dafe wo dieselben nicht durch sonderliche Mittel wiederumb geheget
und ersparet, man dadurch kiinftig einen unwiederbringlichen Schaden erwarten miis-
sen.70 Seine im gleichenjahr 1585 verfasste Newe Holtz- und Forstordnung gehort zu
den ausfiihrlichsten und interessantesten ihrer Art. Sie ist nur als handschriftli-
cher Entwurf iiberliefert und wurde nicht rechtskraftig.71 Auch wenn die Ursa-
Landesordnungen und Gesetze zum Gebrauch des Fiirstenthums Liineburg, auch angehori-
gen Graf- und Herrschaften Zellischen Theils Caput VIII Section I Von Forst- und Mast-Sa-
chen, Liineburg 1745). 1755 hieB es: [Es] sollen die Beamten. [. . .] dieserwegen [der Besichti-
gung des Altbaus bei Neubauplanen] keine weitere Gebiihr und eben so wenig die Fbrster und
Holzooigte etwas iiber das bisher gewbhnliche Stamm-Geld z.u fordern, oder anzunehmen berechtigt
seyn (Verordnung der Regierung in Stade vom 10. Januar 1775) gedruckt bei Spangenberg,
wie Anm. 38, S. 465-466.
68 Graefe, wie Anm. 60, S. 81 und 249-255.
69 Berg, wie Anm. 13, S. 213.
70 Einleitung zu einem Dekret vom 22. Juni wegen der Eroffnung des Steinkohlenberg-
werks in Hohenbiichen, zitiert nach Kremser, Forstgeschichte, wie Anm. 21, S. 199.
71 Veroffentlicht und erlautert bei Graefe, wie Anm. 60, S. 227-255 und. S. 65-106. Sie-
he auch Kremser, Forstgeschichte, wie Anm. 21, S. 200, der aus dem Entwurf die Erkenntnis
158 Wolfgang Dorfler
chen dafiir nicht sicher bekannt sind, so ist doch wohl die Spekulation erlaubt,
dass dies am Widerstand der Stande gelegen hat. Dieselben hatten an der Be-
schlussfassung der Landesgesetze und also auch jeder Holzordnungen teil und
nutzten ihre Position, indem sie mehrere solcher Ordmmgen verhinderten oder
zumindest so weit verwasserten, dass sie im Resultat unwirksam waren. Herzog
Julius konnte sich nicht durchsetzen. Sein Nachfolger Herzog Heinrich Julius
richtete den Entwurf seiner Forst- und Holzordnung an Grafen, Prdlaten, Stifter,
Kloster, Ritterschaft, Stddte, gemeine Landschaft und alle Unterthanen. Dort schrieb er
unter anderem hinein: Es sollen unsere Fdrsters in der Prdlaten Kloster-Holtzung, auch
denen von der Ritterschaft Geholtzunge [. . .jfleifiig Ufachtung haben, gleich unsere eignen
Geholtzunge, dafi niemand zur Ungebiihr darin verwuste oder haue. Auch er konnte da-
mit nicht durchdringen: „Die Stande verweigerten prompt die Billigung", stellte
Walter Kremser in seiner niedersachsischen Forstgeschichte lakonisch fest.72
Die Forsthistoriker haben die Auseinandersetzungen zwischen den Landesher-
ren und dem Adel um die Herrschaft iiber den Wald und seine Produkte gerne zu
ihrem Thema gemacht und dabei durchgangig Partei ergriffen, indem sie adels-
kritisch und landesherrschaftsfreundlich argumentierten. Sie iibergingen dabei,
dass auch Landesherren aus Geldnot, Jagdleidenschaft oder Nachlassigkeit die
Pflege der Walder hintangestellt haben und mitunter dort, wo sie den Zugriff auf
adeligen Waldbesitz erlangten, Missstande erst verursachten.73 Fur Mecklen-
burg-Strelitz sind die hemmungslosen Verwiistungen, die ein von Geldnoten ge-
driickterFiirst in denjahren vorund nach 1700 verursachte, gut dokumentiert.74
Ldndliche Baukonjunkturen
Fiir die Frage nach dem Zeitpunkt des auch in vielen landlichen Regionen einset-
zenden Bauholzmangels taugen die zeitgenossischen Klagen nicht, da in ihnen
die iiberlagerten Interessen iiberwogen; dagegen konnte man an die Analyse von
Waldzustandsberichten denken. Fiir den Bereich der Stifte Bremen und Verden
gibt es quantitativ auswertbaren Quellen dieser Art erst seit derMitte des 17.Jahr-
hunderts. Die 100 Jahre davor lassen sich aber iiber die Untersuchung von Ge-
bauden und der archivalischen Quellen zum Hausbau erschlieBen, aus denen der
Zeitraum der Bautatigkeit und die verbrauchten Holzmengen ermittelt werden
zitiert, dass Holz nicht zu den Bodenschatzen gehbrt, die man abbauen konnte, vielmehr eine Boden-
frucht war, die es anzubauen gait.
72 Kremser, Forstgeschichte, wie Anm. 21, S. 203.
73 Einen solchen Fall einschlieBlich der adeligen Gegenwehr hat Christa Graefe doku-
mentiert. Es ging dabei um Walder der Familie von der Streithorst in Konigslutter und
Brunsrode (Graefe, wie Anm. 60, S. 100-101).
74 Solinger, wie Anm. 43, S. 126-133.
Bauholzversorgung auf dem Lande 159
konnen. Das Beispiel der Adelsfamilie Cliiver, die im Jahr 1557 zahlreiche frucht-
tragende Eichen im Amt Ottersberg gefallt hatte, um eine GroBbauernhaus zu er-
richten, ist schon zitiert worden. Die Nachricht passt in die eindrucksvolle von
der Hausforschung festgestellte norddeutsche Baukonjunktur, die 1520 langsam
beginnt, 1560 ihren Hohepunkt erreicht und dazu fiihrte, dass innerhalb von 60
Jahren nicht nur groBer Teil des Bestandes an alten Bauernhausern erneuert und
dabei vergroBert wurde, sondern - iiber die in die gleiche Zeit fallende Hofetei-
lung - auch ein starkes Anwachsen derZahl derHofe erfolgte. Zujedem Bauern-
hof gehorten eine Scheune,zu der Mehrheit derHofe jetzt auch ein Schafstall und
oft noch ein Speicher;75 alle diese Fachwerkgebaude sind aus Eichenholz errich-
tet. Die folgende Tabelle zeigt, wie sich die GebaudegroBen (gezahlt in „Fach", al-
so dem Abstand zwischen zwei Deckenbalken) in dem kurzen Zeitraum zwi-
schen 1548 und 1560 verandert haben. Als Beispiel wurden vier Dorfern des Am-
tes Rotenburg (Wiimme) gewahlt.76
Tabelle 1: Grbjie der Gebdude in vier Dorfern des Amies Rotenburg
Dorf
Anzahl der
1548/1560
Hofe
Summe der
Fach77
GebaudegroBen in
1548
1560
Hesedorf
8/8
Hauser
27
32
Scheunen
22
30
Kaven
21
10
Spieker
-
4
Jeersdorf
8/9
Hauser
19
32
Scheunen
11
20
Kaven
5
10
75 In einem Weistum derjahre 1533-44 aus Hollenstedt ist die Berechtigung zum Fallen
des Holzes thorn huse, schune, efft backhuse festgehalten (Kuck, wie Anm. 28, S. 215).
76 Dorfler, Landesgrenze, wie Anm. 23, S. 274-276; Quellen: StAStade Rep 28 I RNr.
17 Bd. 2, Blatt 508-515 und 521-524 sowie Rep 5b Fach 1001 Nr. 8, Blatt 65R-76R und
111-115R.
77 Dass beide Quellen eine gleiche Art von Zahlung nach „Fachen" aufweisen, zeigt der
letzte Ort Abbendorf. Die Stellen dieses Dorfes waren nach einer Wustungsperiode erst zu
Beginn des 16. Jahrhundert neu bebaut worden, so dass der Bestand an Hausern und Scheu-
nen zwischen 1548 und 1560 noch nicht so „veraltet" war, wie der in den anderen Dorfern und
also die Gebaude zumindest bis 1560 weiter genutzt wurden. Bei den Schafstallen allerdings
bestand in Abbendorf ein groBer Nachholbedarf. In Jeersdorf ist die stark angestiegene Zahl
160 Wolfgang Dorfler
Dorf
Anzahl der Hofe
1548/1560
Summe der
Fach
Gebaudegrofien in
1548
1560
Westerholz
7/ 7
Hauser
22
25
Scheunen
21
21
Kaven
19
21
Abbendorf
4/4
Hauser
14
14
Scheunen
12
12
Kaven
1
19
Spieker
1
2
Wenn der Unterschied zwischen den zusammen 27 Fach aller Bauernhauser in
Hesedorf von 1548 gegen 32 Fach von 1560 auch auf den ersten Blick nicht groB
erscheint, so bedeutet das doch, dass von den acht Hofen des Dorfes in diesen
zwolfjahren fiinf vergroBert wurden. Sie sind dabei wahrscheinlich immerkom-
plett neu erbaut wurden, da wir keine verlangerten Gebaude aus dieser Zeitstufe
gefunden haben. Fiir die Annahme einer Neubauwelle gibt es auch andere ge-
wichtige Argumente, die sich aus grundsatzlicher Anderung der bauerlichen
Wirtschaft in diesen Jahrzehnten ergeben.78 Auch die Nebengebaude wurden,
soweit wir es aus dem Bestand wissen, nicht durch Addition vergroBert, sondern
durch Neubauten ersetzt bzw. erstmalig dem Gebaudebestand der Hofe hinzuge-
fiigt. Das erlaubt die Schlussfolgerung, dass der Bauholzverbrauch in den
Geestdorfern Nordwestdeutschlands in der Mitte des 16. Jahrhunderts enorm
hoch gewesen ist. Die Baukonjunktur entsprach einem verbreiteten landlichen
Wohlstand der Zeit, wie er z.B. in einer wirtschafthistorischen Untersuchung fiir
das Stift Verden festgestellt wurde: 79 „Mit Notwendigkeit muss man [. . .] zu der
Uberzeugung gelangen, dass man es hier [in der 2. Halfte des 16. Jahrhunderts] in
diesem kleinen - unter geistlichem Szepter stehenden - Territorium mit einer fiir
die bauerliche Bevolkerung auBerst giinstigen Entwicklung der wirtschaftlichen
Verhaltnisse zu tun hat." Die beriihmte, wenn auch in ihrer Allgemeingultigkeit
kritisierte Tabelle Wilhelm Abels zu den Getreidepreisen zeigt einen Verlauf, der
im hier untersuchten Zeitabschnitt die Baukonjunkturphasen gut abbildet.80
nicht allein durch die Griindung der einen neuen Kleinbauernstelle zu erklaren.
78 Uberlegungen dazu sind am Ende dieser Arbeit zusammengestellt.
79 Hesse, wie Anm. 62, S. 79.
80 WilhelmABEL, Agrarkrisen und Agrarkonjunktur in Mitteleuropa vom 13. bis zum 19.
Jahrhundert, Berlin 1935. Auch der Peak in den Zeiten des DreiBigjahrigen Krieges ent-
Bauholzversorgung auf dem Lande 161
Es lasst sich schatzen, dass in den sechs Jahrzehnten zwischen 1530 und 1590
im Amt Rotenburg jede der tausend Hofstellen 80 Eichen in neue Gebaude ver-
baut hat, mithin 80 000 hundert- bis hundertzwanzigjahrige Baume in GOJahren;
das bedeutet 1300 Baume projahr. Diese hatten bei nachhaltiger Wirtschaftswei-
se eine Flache von 3000 ha Mittelwald allein fiir das Bauholz benotigt. Die 3000
ha aber waren die gesamte Flache, die das Amt an Waldern aufzubieten hatte
und deren Holz auch fiir alle anderen Anspriiche herhalten musste. Es war also
eine verbrauchende Wirtschaftsweise, deren negative Wirkung aber durch die
damalige Baurevolution, die zum Erstellen enorm langlebiger Gebaude fiihrte,
abgemildert wurde. Es hat im 16. und friihen 17. Jahrhunderts in den Geestgebie-
ten Norddeutschlands noch ausreichend Bauholz gegeben. Zusammenfassend
waren es sechs Griinde, die fiir die enorme friihneuzeitliche Neubauwelle auf
dem Lande zusammengekommen waren: eine grundsatzliche Nutzungsande-
rung der Bauernhausdiele, ein wirtschaftlicher Aufschwung der bauerlichen Be-
triebe, eine zuverlassige Erblichkeit der Hofstellen, ausreichende Bauholzvor-
kommen, ein neuer bauerlicher Stolz und der Wille, Wohlstand und Selbstbe-
wusstsein nach auBen zu zeigen.
Die in den Holzordnungen und anderen obrigkeitlichen Dokumenten aber
auch in einer„literarischen Modegattung"81 iiberlieferten Klagen iiberden Man-
gel waren regionale Phanomene in der Umgebung von Wirtschaftsbetrieben und
Stadten, die von den Autoren auf das ganze Land projiziert wurden. Als Beispiel
sei der Forsthistoriker A. Zimmermann genannt, der 1908 resiimierte:82 „Die al-
lernachste Ursache des [heutigen] Ruins [der Walder] liegt wohl in dem bedenk-
lich groBen Holz-Uberflusse, dessen sich unsere Vorfahren zu erfreuen gehabt
haben und den sie unbesorgt fiir die Zukunft nach so gar unhaushalterischen
principiis genutzt und den Fall eines Mangels fiir die Nachkommen vielleicht
nicht als moglich gedacht haben."
In einem Streitfall zwischen den Stiften Bremen und Verden ist iiberliefert,
dass imjahr 1604 in den Waldern von drei Orten im Grenzgebiet, namlich in den
Steinfelder, Nartemer und Horster Holzungen bei die 500 Stdmme umgeweht seien.83 Die
spricht der regional nachzuweisenden Neubaukonjunktur! Die Tabelle ist wiedergegeben bei
Walter Achilles, Landwirtschaft in der friihen Neuzeit, Munchen 1991, S. 4. Dort ist die
grundsatzliche Kritik an der Wertigkeit der von Abel herangezogenen Parameter zusammen-
gefasst.
81 Below/Breit, wie Anm. 2, S. 42.
82 Zimmermann, Nadelholz, wie Anm. 29, S. 374; wenig spater (S. 377) zitiert er als Be-
leg fiir das mangelnde Problembewusstsein der Bauern den Ausspruch der bauerlichen In
teressenten des Holzes Siising im Amt Ebstorf von 1718: Der Siising wollte wohl Siising bleiben,
es ware solange Holz darin gewachsen und wiirde wohl bleiben.
83 Dorfler, Landesgrenze, wie Anm. 23, S. 394. Quelle: StA Stade Rep 5b Fach 83
Nr. 13d, Bl. 29.
162 Wolfgang Dorfler
drei gleichnamigenDorferhattenzu damaligerZeitzusammen 35 „Feuerstellen".
Allein die durch den Sturm niedergelegte Holzmenge hatte ausgereicht, um ein
Drittel der Bauernhauser dieser drei Dorfer neu zu erbauen. Die Walder zumin-
dest dieser Region waren also auch zu Beginn des 17. Jahrhunderts noch ergiebig.
Eine Waldzustandsbeschreibung, die 50Jahre spater verfasst wurde, zeigt fur die
drei eben erwahnten Walder ein anderes Bild: [Das] Steinfelder Holtz, ein gantzjun-
ges Biichen Holtz, und zeiget sich ein guter Zuwachs an unter Busch; [das] Narder Holtz, ist
von den Unterthanen vor langenjahren gantz verhauen warden, so dass auch wenig iiber 30
alte Stiimpell, so nichts wehrt sind, gefunden werden konnen; [im] Hosterwall ist gleich-
falls nichts an Holtzungen verhanden sondern [sind] nur einige alte Stiimpel zu sehen.84
Von den drei Waldern waren also nur Spuren geblieben.
Im benachbarten Amt Zeven waren um 1650 in den acht „koniglichen-" und
weiteren acht „gemeinschaftlichen Holtzungen" nur noch wenige gute Baume
vorhanden. Im koniglichen Zevener Ahn- und der Herrenbrock gab es 400 zu groJS und
klein Bauholzdienliche Stdmme, im Bohnster Hoop ohngefehr 700 Eichen, so nur zu Stan-
der- und Legde-Holtzzu gebrauchen ist. Von den Dorfwaldern waren einmal 100 zum
Bau dienliche Stdmme und dann in zwei Forsten zusammen 380 zu Legden-Holz und
Stdnder dienliche Stdmme, sowie in zwei weiteren Waldern 510 aber nur zur Mastung
und nicht zum Bau dienliche Stdmme. Hier wie im Amt Bremervorde und der Borde
Beverstedtgab es also nach dem DreiBigjahrigenKriege noch einzelne zuBauholz
dienliche Baume und auch einige junge Anpflanzungen, iiber die es hieB, dass sie
mit der Zeit ein gutes Holzwerdenkonnten. Viele Bauernhauser hatte man aber auch
damit nicht errichten konnen. In den Waldern der Amter Ottersberg, Osterholz,
Hagen und der Borde Leesum war iiberhaupt kein Bauholz mehr festgestellt wor-
den; diese Holzungen wurden als ganz verhauenen beschrieben.
Diese Verhaltnisse sind aber regional unterschiedlich. Eine exemplarische Un-
tersuchung zur Baukonjunktur im 17. Jahrhunderts hat Heinrich Stiewe fiir Lip-
pe-Detmold vorgelegt. Erfand einen Einbruch derNeubautatigkeit auf dem Lan-
de in denjahren zwischen 1630 und 1650 und die Befriedigung des Nachholbe-
darfs nach 1650, wofiir also noch entsprechende Holzmengen vorhanden
gewesen seinmiissen. Auch Stiewe konnte aberbereits fiir das Jahr 1631 einen be-
sonders prachtigen Neubau eines Hauses in Lothe (Gemeinde Schieder-Schwa-
lenberg) nachweisen.85 Es verzogerte sich also auch in Lippe nicht alle BaumaB-
nahmen bis in die Zeit nach dem Ende des Krieges.
Von den Holzungen des Dorfes Hemslingen (Ldkr. Rotenburg) etwa hieB es
84 Zahrenhausen, wie Anm. 63, S. 80-90 auch fiir das Folgende. Quelle: StA Stade Rep
5a Fach 237 Nr. 67.
85 Heinrich Stiewe, Baukonjunktur, Kriegszerstorung und Wiederaufbau, in: Rainer
Springhorn (Hrsg.) Lippe 1618-1648. Der lange Krieg - Der ersehnte Frieden, Detmold
1998, S. 109-132, hier S. 111.
Bauholzversorgung auf dem Lande 163
1692 : Mehrenteils were ihre Holtzung, uffm Heinhop genandt, ruiniret und verhauen, wel-
ches geschehen kurzt vorher als die Schweden diese Lander zum ersten mahl occupiret (De-
zember 1630), da ihre gantze Dorffschaft abgebrandt, dass dahero die Hduser und Ge-
bdwde auf solchem Holtze wieder gebauet werden muJSen. Es bleibt anzumerken, dass
dieser Dorfbrand als alleiniger Grand dafiir, dass nach 60 Jahren das Bauholz
noch nicht wieder nachgewachsen war, wenig iiberzeugend ist.
Der Fall eines GroBbrandes ist auch fiir das Dorf Everstorf (heute Heidenau,
Ldkr. Harburg) zu erschlieBen. Dort wurden drei groBe Hauser trotz enorm un-
terschiedlicher Verzimmerung iibereinstimmend dendrochronologisch auf die
Jahre 1638 bis 1641 datiert. Dazu fand sich die archivalische Nachricht, dass 1638
die Kaiserlichen unter den Grafen Toscana 66 Gebdude in Everstorf angeziindet hdtten.
Mit dem Nachweis einer Brandoberflache bei wiederverwendeten Holzern mit
dem Falldatum „um 1613" und eines Brandhorizontes unter einem derHauser, er-
gibt sich, dass hier wahrscheinlich ein groBer Teil des Dorfes im Rahmen der
Kriegshandlugen eingeaschert worden war. Die unterschiedliche Bauart der
Hauser nun erklart sich durch den Einsatz von zur Hilfe geholter Zimmerleute aus
benachbarten Regionen Norddeutschlands, die ihre eigenen Bautraditionen mit-
brachten.86 Auch hier wurde bereits mitten im „GroBen Kriege" kraftig gebaut.
Nicht iiberall konnte noch im oder bald nach dem Krieg der Baubedarf ziigig
befriedigt werden. Im Bauantrag des oben erwahnten Jiirgen Konig aus Leven-
sen (Ldkr. Harburg) von 1663 warberichtet worden: Jiirgen Konig, des Herren Meier,
selbigen ist fur 30 Jahren dasHauf von den Soldaten abgebrannt, hattesich bif hero in der
Scheuren behelffen mussem und selbige nunmehr auch einfallen wollteP Sein Haus war
1633 in den Kriegshandlungen zerstort worden und war hier auch drei Jahrzehn-
te spaternoch nicht wiederaufgebaut. In Gliisingen im gleichen Landkreis dage-
gen wurde das sehr alte Innengefiige einer Kotnerstelle 1649 mit neuen Umfas-
sungswanden versehen, wobei die enorm holzverbrauchende Standerbohlenbau-
weise88 zur Ausfiihrung kam. Und auch weiter siidlich in Wilsede (Ldkr. Soltau-
Fallingbostel) wurde 1647 die Kate Riechmann in dieser aufwendigen Bauweise
errichtet,89 die das Vorhandensein ausreichender Bauholzmengen und guter Fi-
nanzen bei den Bauherren anzeigt.
86 Ulrich Klages, Bauernhausforschung in der Samtgemeinde Tostedt. Dorfbrande
und Wiederaufbau in drei Jahrhunderten, in: Renate Dorsam /Ulrich Klages (Hrsg.), 900
Jahre Tostedt, Heidenau 2004, S. 187-209, hier S. 200-202.
87 Klages, Bauholzzuweisung, wie Anm. 33, S. 86-87.
88 Zur Erlauterung der Bauweise: Fred Kaspar, Stabbau, Standerbohlenbau, Fachwerk.
Zur Fruhgeschichte des Fachwerks in Norddeutschland, in: Beitrage zum stadtischen Bauen
und Wohnen in Nordwestdeutschland, Munster 1988, S. 59-78.
89 Ulrich Klages, Kotnerhauser der nordlichen Liineburger Heide, in: Liineburger
Blatter Heft 29, 1993, S. 33-54, hier S. 35 und S. 43.
164 Wolfgang Dorfler
Die Liste dieser Befunde lasst sich verlangern. Fur das Hochstift Verden und
die siidlich angrenzenden Heideregionen ist von einer regelrechten Baukonjunk-
tur in den Jahren 1630 bis 1650 - also den Zeiten des Krieges selbst und der un-
mittelbaren Nachkriegszeit - zu berichten, die vor allem durch die Prachtentfal-
tung, die bei diesen Neubauten getrieben wurde, imponiert. Als Beispiele seien
hier fiinf Hauser genannt: Koues Hus in Hassendorf (jetzt Heimathaus Sottrum)
mit einer ersten Bauphase 1626/27 (d), einem Baustopp und Fertigstellung 1630/
31 (d),90 Cohrs Hus in Riekenbostel von 1640 (i), derHof KolkNr. 3 in Oberdorf-
mark 1642 (i)91 derBriimmerhof aus Moide von 1644 (i),92 sowie Hinners Hus in
Benkel von 1647 (d).93 Nie zuvor oder danach sind Hauser unter solchem enor-
men Holzverbrauch errichtet worden (Tabelle 3).94 In Ostereistedt (Ldkr. Roten-
burg) wurde ein um 1560 errichtetes groBes Bauernhaus 1650 unter Erhalt des In-
nengefiiges prachtig umgestaltet. Die Giebel wurden unter Verwendung von
breiten Holzern, aufwandigen Kopfbandern und verzierten Knaggen errichtet
und dabei Pferdestalle und Kammerfach neu erbaut. Auch die Sparren des Da-
ches wurden auf moderne Sparrenschwellen gestellt.95 Solche BaumaBnahmen
an einem sicher noch nicht baufalligen Haus zeigen die Abwesenheit von wirt-
schaftlicher Not, ja sogar Formen des bauerlichen Reichtums an.
90 Dietrich Claus u. a., Das Heimathaus in Sottrum, Sottrum 1999.
91 Horst Lobert, Die altesten Bauernhauser der Liineburger Heide, Suderburg 1993,
S. 2.
92 Gerhard Eitzen Bauernhausforschung in Deutschland. Gesammelte Aufsatze 1938-
1980, Hosseringen 2006, Aufsatze 22, 23, 24 und 33 (S. 292-312 und S. 334-335). HorstLo-
bert, Zur Baugeschichte des niederdeutschen Hallenhauses von 1644 auf dem Brummerhof,
in: Berichte zur Denkmalpflege in Niedersachsen 1, 1983, S. 10-15 gibt eine kurzen Uber-
blick, wahrend die Dissertation von Hans-Jurgen Vogtherr, Die Geschichte des Brummer-
hofes, Uelzen 1986, keine Hinweise iiber die Herkunft der ungeheuren Holzmengen verof-
fentlicht hat, die 1640 hier verbaut wurden. Darauf hatte hingewiesen in seiner Besprechung
zu Vogtherrs Arbeit: Ulrich Hagenah in: Niedersachsisches Jahrbuch fur Landesgeschichte
59, 1987, S. 366-368.
93 Wolfgang Dorfler, Wettlauf gegen eine Abrissgenehmigung, in: Der Holznagel,
Heft 3, 1991, S. 40-41; Ders.: Hinners Hus in Benkel wiedererstanden, in: Der Holznagel,
Heft 6, 1998, S. 24-30; Ludwig Fischer u. a., Ein Haus zieht um. Erfahrungen mit der Um-
setzung eines Baudenkmals, Lilienthal 2002.
94 Tabelle modifiziert nach Klages u. a. 1994, wie Anm. 24, S. 35-114, hier S. 108; die
Sichtseiten sind in der Tabelle vorangestellt.
95 Ulrich Klages, „Eckeshus" in Ostereistedt. Zur haus- und heimatkundlichen Bedeu-
tung eines 400 Jahre alten Bauernhauses, in: Der Holznagel Heft 5, 1989, S. 4-11; Ders./
Wolfgang DoRFLER/Hans-Joachim Turner, „Bauernhaus-Genealogie" im Landkreis Ro-
tenburg- Eine vergleichende Analyse der Innengefiige alterer Bauernhauser, 1. Teil, in: Ro-
tenburger Schriften 78/79, 1993, S. 7-74, hier S. 18-31.
Bauholzversorgung auf dem Lande
165
Tabelle 2: Vergleich der Holzdimensionen der Innengefiige von Hdusern der Mitte
des 16. mit denen der Mitte des 17.Jahrhunderts
16.Jahrhundert
17. Jahrhundert
Wehnsen
Ostereistedt
Riekenbostel
Benkel
Datierung
1558 (d)
1560 (d)
1641 (i)
1647 (d)
Dielenstander
42/28
40/27
53/33
50/23
Rahm
28/18
30/15
34/20
28/20
Balken
43/46
36/43
42/55
42/33
Gefachlange
273
275
270
294
Flettlange
490
565
550
680
Dielenbreite
810
840
870
830
Von Gerhard Eitzen, einem der erfolgreichsten Bauernhausforscher des 20. Jahr-
hunderts, stammt die folgende Wiirdigung von Cohrs Hus in Riekenbostel:96 „Es
gibt so leicht kein zweites Haus, das es ihm gleichtun konnte. [. . .] Obwohl das
auBere Fachwerk schon ungewohnliche Holzstarken enthalt, sind sie doch gering
gegen die Machtigkeit und GroBziigigkeit, die sich im inneren Gefiige zur Schau
stellen. [. . .] Die Balken sind bis zu 53 mal 40 Zentimeter dick, der quer iiber das
Flett laufende Balken erreicht am Wurzelende sogar die Stark von 42 mal 63 Zen-
timeter. Dieser Balken wird beiderseits von kraftigen Lucht-Riegeln (77 mal 26
Zentimeter) getragen. Beide Lucht-Riegel sind aus einem Stamm gespalten, der
in einer Hohe von sechs Meter noch einen Durchmesser von einem Meter gehabt
haben muB. [. . .] Wenn man bedenkt, dass zum Haus weiterhin eine Menge an-
derer Holzer [. . .] notwendig sind, dann gewinnt man eine Vorstellung von der
Holzmenge, die hier in einem Haus verzimmert wurden. Am erstaunlichsten ist
jedoch, dass dieser Bau im Ausgang des 30 jahrigen Krieges von den Bauern ei-
nes nicht gerade ertragreichen Geest-Halbhofes ausgefuhrt wurde."
In der Wirtschafts- und Forstgeschichte war dieser „interne" Grund fur die
Waldzerstorung in Norddeutschland bisher gegeniiber denen durch Raub der
Kriegsherren und dem Material fur Schanzarbeiten entstandenen Verlusten
96 Gerhard Eitzen, Aus Eichen wuchs ein Haus. DerHolzreichtum eines Heidebauern-
hauses, in: Der Heidebote 28. Juli 1954 S. 16f; neu abgedruckt in: Eitzen, wie Anm. 92,
S. 341-343.
166 Wolfgang Dorfler
nicht fur wichtig erachtet worden.97 Wo der hohe Holzverbrauch der eigenen Be-
wohner registriert wurde, entschuldigte man die Bauern damit, dass nur iiber die-
sen Zusatzerwerb die hohen Kontributionslasten der Hofe zu erbringen gewesen
seien,98 wie es in Carl Hermann Langerfeldts Beschreibung zu Ausdruck ge-
bracht wurde:99 „Was der Krieg [der „DreiBigja.hrige"] verschonte, nahmen die
eigenen Unterthanen und Besitzerder Waldungen, um aus dem sparlichen Erlose
das nackte Leben zu fristen oder die durch Mordbrennerei der Soldateska ver-
odeten Dorfer wieder aufzubauen." Langerfeldt ging, wie viele Historiker, davon
aus, dass die Schrecken das „Gro6en Krieges" iiberall und umfassend gewesen
seien und die Verwiistung der Walder entweder als direkte Kriegsfolge oder sonst
nur als bauerlicher Uberlebenskampf zu deuten seinen und nicht etwa als Aktion
der sich Wohlstand und voriibergehender Freiheit erfreuender Landbewohner,
die nicht fiir die Abtragung der Kontributionslasten sondern fur den Bau groBdi-
mensionierter Hauser das Holz verbrauchten.
Im Jahr 1648 hatte der Forstmeister Adam von der Thann iiber den Anteil der
eigenen Bauern an der Verwiistung der Walder berichtete: 10° Der Unterthanen
Holzungen im Amte Wolfenbuttel[. . .] sind in dieserZeit durch die Chur-Baierschen [. . .]
fast ganz verwustet worden, sonderlich weil man zu Zeiten sowohl Feind als Freund gewe-
sen, und haben die Leute mit dazu geholfen, weil sie gesehen, dass Fremde ihre Holzungen
vor ihren Augen verderbet und kein Aufhoren geschehen. Das Zitat zeigt, dass die Schul-
digen mancherorts nicht nur die Bauern waren oder sie es zumindest verstanden
haben, die Obrigkeit von ihrem selbsttatigen und sicher ungenehmigten Vorge-
hen abzulenken. Das erzstift-bremische Waldinventar von 1650 spiegelt diese
Zeit bauerlicher Freiheit von der obrigkeitlichen Aufsicht, wenn dort iiber die 01-
dendorfer und Briittendorfer Eiche genannte Waldung im Amt Zeven steht: 1st ein sehr
schlechtes Holtz und nichts zum Bau dienlich, weil solches vor 20Jahren von denen Untert-
hanen verhauen worden.
Die landliche Baukonjunkturim DreiBigjahrigen Kriege beinhaltet eine Reihe
uberraschendermentalitatsgeschichtlicher Aspekte: Wer so baute, wie zumindest
einige Bauern zwischen 1630 und 1650 es taten, baute nicht nur fiir sich, sondern
fiir die Zukunft vieler Generationen, baute auf der Grundlage einer gesicherten
materiellen Existenz und mit dem Stolz dessen, der es sich leisten konnte. Diese
Befunde stehen in einem deutlichen Widerspruch zu den Beschreibungen wie sie
etwa Walter Achilles gegeben hat: 101 „ Als der groB e Krieg vorbei war, lagen viele
97 Hinweise in diesem Sinne bei Speier/Hoppe, wie Anm. 22, S. 60; Karl Hasel,
Forstgeschichte. Ein GrundriB furStudium und Praxis, Hamburg und Berlin 1985, S. 53-54.
98 Kremser, Forstgeschichte, wie Anm. 21, S. 31-33.
99 Langerfeldt, wie Anm. 48, S. 125.
100 Zitiert nach Langerfeldt, wie Anm. 48, S. 127.
101 Achilles, Landwirtschaft, wie Anm. 80, S. 56.
Bauholzversorgung auf dem Lande 167
Acker wiist. [. . .] Viele Hauser waren abgebrannt. Die Bauern besaBen kein Ka-
pital, um sie wieder aufzubauen. Die Agrarpreise waren weit unter den Vor-
kriegsstand gesunken, wahrend der Menschenmangel zu hohen Lohnen gefiihrt
hatte, und dementsprechend waren auch die Baumaterialien teuer. Deshalb er-
folgte der Wiederauf bau nur langsam und bereitet besonders bei den groBen Ho-
fen Schwierigkeiten."
Der Krieg konnte fiir wenig betroffene Menschen, hier die Bauern landlicher
Regionen in den Stifte Bremen und Verden sowie der angrenzenden Heideregi-
on, Vorteile bergen, wenn die Bauholzaufsicht daniederlag und also die Baume
gefallt werden konnten, die von der Obrigkeit zuvor nicht genehmigt worden wa-
ren. Die Nahrungsmittelproduzenten profitierten von den hohen Getreideprei-
sen, wenn die Stadte der Umgebung wie Hamburg und Bremen unzerstort waren,
und wo sonst schon fast nichts gebaut wurde, waren die Handwerker froh, auf
dem Lande noch gegen Nahrung und Entlohnung arbeiten zu konnen - eine
klassische Nach- bzw. in diesem Fall Zwischenkriegskonstellation.102
Das hier beschriebene ist ein regionales Phanomen, denn es gab Gegenden, in
denen wahrend des Krieges und danach nichts als die groBe Depression
herrschte, die Walder vernichtet und die Bewohner gestorben, gefliichtet oder
verarmt waren, in denen an Bauen also nicht zu denken war. Aber es gab nach
dem GroBen Kriege auch noch Gegenden, in denen weder die durchziehenden
Heere noch die eigenen Bewohner die Situation ausgenutzt hatten und also die
Waldungen noch vergleichsweise intakt waren, so dass in der zweiten Halfte des
17. Jahrhunderts noch qualitatsvoll und aufwendig gebaut werden konnte.
Die schwedische Regierung der Herzogtiimer Bremen und Verden hatte nach
Festigung ihrer Verwaltung den Bauern nur noch geringe Mengen an Bauholz zur
102 Die Erkenntnis ist nicht neu, dass Niedersachsen - wie auch viele andere Territorien
- generell kaum, allerdings ortlich manchmal kraftig vom Kriege in Mitleidenschaft gezogen
worden war. Dazu noch immer unentbehrlich: Giinther Franz, Der DreiBigjahrige Krieg
und das deutsche Volk, 3Stuttgart 1961, seit dieser 3. Auflage mit Kartenmaterial versehen.
Zur Kontroverse um die ideologischen Kontaminierungen des Buches : Wolfgang Behringer,
Von Krieg zu Krieg, Hans MEDICK/Benigna von Krusenstjern, Einleitung,Johannes Burk-
hardt, Schlusskommentar und Ausblick, und Bernd Roeck, Einige offene Fragen und Per-
spektiven der Forschung, alle in: Hans MEDICK/Benigna von Krusenstjern (Hrsg.), Zwi-
schen Alltag und Katastrophe. Der DreiBigjahrige Krieg aus der Nahe, Gottingen 1999,
S. 543-591, S. 22- 23, S. 595 und S. 610. In der Stadt Verden allerdings war (entgegen der An-
sicht, dass die Stadte starker verschont worden seien) die Situation prekar, wie die Tabelle der
1630 leer stehenden, verwusteten und nicht zur Kontribution beitragenden Hauser zeigt, die
Christoph Pfannkuche 1834 veroffentlichte (Neuere Geschichte des vormaligen Stiftes und
jetzigen Herzogthumes Verden S. 108 FuBnote 8) . Richtig aber ist wohl, dass in verwusteten
Stadten die dort lebenden „Nachfrager die letzten Ersparnisse hergaben, um das lebensnot-
wendige Brot zu kaufen" (Achilles, Landwirtschaft, wie Anm. 80, S. 3).
168 Wolfgang Dorfler
Verfiigung gestellt. Das Holz wurde vorwiegend fur den Festungsbau und den
Export verwendet. Den Waldern in den beiden Herzogtiimern standen auch
noch die Kriegsereignisse der Reichsexekution gegen Schweden (1675-1680) be-
vor und als Folge davon in den mittleren und siidlichen Landesteilen die Beset-
zung durch den miinsterschen Bischof von Galen, der die Lander nach Kraften
gepliindert hatte.103 Erhatte z. B. massiv auf die Walderdes Klosters Zeven iiber-
gegriffen, die gar nicht zu seiner Besatzungszone gehorten.104 Das „Jordebuch"
der Vogtei ScheeBel weiB iiber diese Zeit zu berichten: Bei diesem Dorfe (Sothel,
Ldkr. Rotenburg) soil ehedefen ein gutes Holtzgewesen seyn, so derKonigl. Cammeral-
lein gehoret, welches aber bey Miinsterscher invasion so sehr verhauen, daft nun fast nichtes
mehr iibrig Und an anderer Stelle: Holzung hatte dieDorfschaft (Bothel, Ldkr. Roten-
burg) nicht anders, als was etwan in einemjeden Hoffe verhanden: Im Hartwedel, so der
Herrschaft zukdme, solches aber were bey Miinsterscher Zeit und vorher so sehr verhauen,
dass nunmehro fast wenig oder nichts mehr verhanden.105
Nach 1680 waren die Walder der Herzogtiimer mehrheitlich in einem trostlo-
sen Zustand, wie die Bestandsaufnahme in den Jordebiichern, der weiter unten
(S. 170) zitierte Fall aus der Nahe Buxtehudes und die langen gewundenen Brief-
wechsel zeigen, in denen vom Krieg betroffenen Bauern um Bauholz nachsuch-
ten, aber nur Einzelbaume bewilligt wurden, wo doch ganze Gebaude zerstort
waren. Selbst fur den Bau von Wohnhausern wurde jeweils nur ein einzelner
Stamm bewilligt und diese Genehmigung von der schwedischen Verwaltung als
etwas zur Hilfe tituliert, was eine massive Einschrankung der alten Berechtigun-
gen bedeutete. Die kostenlose oder im Preis stark unter dem Handelswert ange-
siedelte Bauholzanweisung durch die Landesherren war nach der Riickkehr der
Schweden zu Ende gegangen. Bauholz konnte nur noch gekauft werden. Wir se-
hen den Mangel daran, dass so gut wie gar keine Gebaude aus diesenjahrzehnten
auf uns gekommen sind.
Nach der Schwedenzeit haben sich die Holzbestande nur langsam erholt. So
musste 1732 fur den Bau eines neuen Kiisterhauses und eines Backhauses am
Pfarrhof in Achim alles Holz iiber einen Holzhandler aus der Siidheide beschafft
werden und zwar interessanterweise als fertig abgezimmerte ganze Bausatze.106
103 Tamss, wie Anm. 50, S. 43.
104 Dorfler, Landesgrenze, wie Anm. 23, S. 558; Quelle: StA Stade Rep 30 Tit. 20.
105 Miesner, wie Anm. 64, S. 58 und S. 170.
106 StA Stade Rep 83 Stade Nr. 519. Aus dieser interessanten Quelle ist nicht nur der
Holzbedarf und der Anteil der verschiedenen Handwerker an den Bauabschnitten bei diesem
importierten Haus zu ersehen, sondern es sind wegen eines Streits um die Kosten auch die fer-
tigen Bauten durch materialgenaue Beschreibungen erfasst. Uber den Handel mit Bauholz
iiber groBere Entfernung ist in der Forschung bisher nur wenig bekannt. Solche Beispiele sind
nur durch Archivforschung zu erschlieBen. Hausforscher sind aber wenig im Archiv und Ar-
Bauholzversorgung auf dem Lande 169
Diejahre zwischen 1660 und 1760 sindgenerell eine arme Zeit auf dem Lande107
und eben auch eine bauarme Zeit zwischen Elbe und Weser.
Gab es bduerliches Privateigentum am Bauholz?
Auf vielen Hofen finden sich heute Eichenhaine, die in den heimatkundlichen
Darstellungen als das nachwachsende Bauholz fur das neue Bauernhaus darge-
stellt werden. Es ist aber nicht aus den Quellen zu belegen, wie lange schon sol-
che Baume gepflanzt wurden und ob sie wirklich als „Ersatzbauholz-Waldchen"
gedacht waren.108 Dass heute niedersachsische Bauemhauser unter hohen Ei-
chen gelegen sind, resultiert daraus, dass die Eichen als Bauholz in den letzten
150 Jahren nicht mehr benotigt wurden und also stehen blieben. Die Eicheln die-
ser Baume dienten fruher der „privaten" Schweinemast.109
Die Hofedarstellungen auf den detaillierten Karten, wie sie seit dem spaten 16.
Jahrhundert vorhanden sind, zeigen in der Regel die Dorfer und Einzelhofe mit
Hausern und viel Baumbestand, mittelalterliche Dorf- oder Hofabbildungen zei-
gen eherEinzelbaume. Einzelne Baume in der direkten Umgebung der Gebaude
als Wind-, Blitz- und Feuerschutz sind zu alien Zeiten gut vorstellbar. Anderer-
chivforscher interessieren sich meist nicht fiir Fragen des Bauens. Ein zufallig gefundener
Schriftwechsel desjahres 15971iefert ein weiteres Beispiel: Rippe Wolff aus Verden hatte mit
dem Grafen von Oldenburg einen Kontrakt iiber die Lieferung des Holzes fiir ein GroJ&haus
oder Vorwerk aus dem Furstenthumb Liineburgk abgeschlossen und daraufhin bereits 142 der Ge
samtsumme von 251 V4 Rhtl. erhalten. Die Holzlieferung aber war nicht erfolgte, und so er
suchten die Oldenburger Beamten den Verdener Landesherren um Verfolgung des dortigen
Holzhandlers und Ruckerstattung des Geldes, in: StAStade Rep 8 Nr. 69.
107 Jiirgen Bohmbach, Bremen-Verden in der Schwedenzeit, in: Integration durch
Recht. Das Wismarer Tribunal (1653-1806), Koln 2003, S. 51-63; Ernst Schubert, Nieder-
sachsen um 1700. Die verschiedenen Erscheinungen von Armut, in: Niedersachsische Ge-
schichte, Gottingen 1997, S. 288-291; Walter Achilles, Einkommen der Landbevblkerung
im spaten 18. Jahrhundert, in: Geschichte Niedersachsens, Bd. 3,1 Politik, Wirtschaft und
Gesellschaft von der Reformation bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, HannoveiT998,
S. 723-727.
108 Timm, wie Anm. 17, S. 67 setzt ihre Aufkommen erst in die Jahrzehnt zwischen 1560
und 1610 und bringt sie mit der Sicherung der Futtergrundlage fiir die Schweinehaltung in
Verbindung.
109 Die Schweinemast mit Eicheln ist heute vollig aufgegeben. Eine reiche „Eichelern-
te" ist also langst kein Segen mehr, sondern eine Plage fiir den rasenpflegenden Hofbesitzer.
Das Fallenlassen eines Baumes mit Entsorgung der Aste und des Stubbens war aber lange
teurer als der erzielbare Preis fiir das Holz, was zusammen mit den, mancherorts durch den
2. Weltkrieg bedingten Granatsplittereinschliissen in den Baumen sehr zu ihrem Schutz bei-
getragen hat. Seit wenigen Jahren ist wegen des Anstiegs der Ol und Gaspreise die Nach-
frage nach Feuerholz auf dem Lande stark gestiegen, so dass jetzt vermehrt Hofeichen ge-
fallt werden.
170 Wolfgang Dorfler
seits waren innerhalb der verdichteten Dorfer die Flachen in der Hausnahe fiir
die bauerliche Wirtschaft wichtig, etwa als Jungvieh-, Pferde- und Gefliigelwei-
den und fiir die „Kohlhofe", so dass man diese Flachen nicht generell durch er-
hebliche Baumanpflanzungen eingeschrankt haben wird. Uber die Zahl der Bau-
me in diesen „Hauswaldchen" ist wenig bekannt. In den 1690er Jahren wird bei
den Hofebeschreibungen ausnahmsweise einmal unter der Kategorie „Garten"
auf Eichhofe verwiesen. Diese sind oft winzig - ein kleiner Eichhoffvon 3 Bdumen -
und erreichen als Maximum 20 Eichbdume grofe und klein.110
Die Eichen auf dem Hof spielten in den Holzbewilligungen erstmals nachweis-
bar im 17. Jahrhundert eine Rolle. So unterstiitzte der Amtmann den Antrag auf
Holzbewilligung fiir den Bau eines neuen Hauses vonjiirgen Konig aus Levensen
(Ldkr. Harburg) imjahre 1663 mit den Argumenten: Hatt uffdem Hove 2 Beume.
Efe ist ihm derDienst erlasset, bife er wiederbawete. Es gab also zwei Griinde, die den
Bau erleichterten bzw. es auch fiir das Amt sinnvoll erscheinen lieB, den Antrag
zu unterstiitzen: das Vorhandensein von „eigenem" Holz und das Wiedereintre-
ten in die Steuerpflicht nach erfolgtem Neubau.
Nur wenige Jahre spater, namlich 1678, hat die zuriickgekehrte schwedische
Regierung in Stade mit erstaunlicher Rigiditat die Bauholznutzung der Hofei-
chen verboten. Zwei Bauern aus Ottensen und Altkloster (Ldkr. Stade) wollten
ihre bei der Belagerung Buxtehudes abgebrannten Nebengebaude (Schafstall
und Scheune) mit dem Holz von auf ihrem Hof stehenden Eichen neu errichten.
Der ortliche Untervogt unterstiitzte den Antrag und reichte ihn an das Amt wei-
ter. Er erhielten zur Antwort: Euch sollte bekannt oder aufs wenigste bewusst sein, dafe
kein Gerichtsherr gehalten ist, seinem Meyer zu Scheunen, Stdllen, geschweige zu Schafko-
ven,ja nicht einmal zu einem vollen Wohnhaus das Holz sondern nur etwas zu Hiilfe zu ge-
ben. Ihr aber habet den Suplicanten in der strafbaren Meinung bestdrkt, ob konnen und
mochten sie aus einem Hofe der erste 6 Beume, der andere 4 unterm Vorwand, dafe sie
pollsohr [waren], hawen.111 Hier erhebt das Amt nicht nur den Anspruch auf Ge-
nehmigung jedes einzelnen Baumes, egal wo er steht, sondern bestreitet in unge-
wohnlich scharferForm auchjeden bauerlichen Anspruch auf Bauholzzuteilung
fiir Nebengebaude.
Diese Position scheint sich aber nicht durchgesetzt zu haben, denn im friihen
18. Jahrhundert kommentierte der Hittfelder Vogt den Bauantrag vonjohann Al-
dag aus Buchholz: Das Eichenholz aber mufe er aus seinem Hofe dazu nehmen undweiler
110 „Jordebuch der Vogtei Sottrum Zweiter Teil: Ottersbergisches Ampts Jorde- oder
Lagerbuch". Der Titel stammt von Miesner, wie Anm. 64. Es gibt hier u. a. dorferweise an-
gelegte Befragungslisten aus demjahr 1691, in denen die GroBe dieser Eichkampe quantifi-
ziert ist, hier S. 463 (Hassendorf) und S. 466 (Cliinder).
111 StA Stade Rep 30 Nr. 65, Bl. 3~3R, Stader Regierung vom 12. 12. 1678.
Bauholzversorgung auf dem Lande 171
zwei Baume in seinem Hofe stehen [hat], die keine Frucht mehr tragen auch pollsohrig sei-
en, sollte er dieselben gerne nehmen, weil er auch auf dem Klecker Wald nichts bekommen
konne.112
Harm Prior untersuchte die private Nutzung von Hofbaumen; zunachst schil-
derte er den Fall eines Bauern, der eine Hofeiche ohne Konsens seines Gutsherrn
gefallt hatte, weil sein Haus sich in einem desolaten Zustand befand. Der adelige
Gerichtsherr sprach zwar eine Riige aus, verzichtete jedoch auf eine Strafe, offen-
bar weil er die Beweggriinde akzeptiert hatte. Anders das Gericht auf dem Delm
(Ldkr. Stade), das eine Strafe von 2 Reichstalern aussprach, weil 1726 ein Bauer
aus Ottensen in seinem Hoffe einen Baum ohne Erlaubnis gehauen. 1767 forderte das
Ministerium in Hannover vom Koniglichen Tribunal ein Gutachten in dieser
Rechtsfrage. Das Urteil stellte die widerspriichliche Rechtlage fest, sprach sich
aber letztlich fur eine uneingeschrankte bauerliche Nutzung dieses Holzes aus.
Dem wiederum widersprach die bremische Ritterschaft in einer Stellungnahme
desjahres 1769.113
Die Hofeichen waren in der Friihen Neuzeit wohl doch iiberwiegend freies
Eigentum der Bauern, ihre Nutzung unterlag im 17. und lS.Jahrhundert nur aus-
nahmsweise derherrschaftlichen Beaufsichtigung und damit der Genehmigungs-
pflicht. Dies scheint sich aber mit zunehmender Mangelwirtschaft geandert zu
haben und beruhte wie so vieles in dieser Zeit nicht auf Gesetz, sondern auf Ge-
wohnheit und Herkommen.
Es wird im Holtingsprotokoll von Tostedt vom Jahre 1534 zwar ein individuel-
les Recht an den Friichten der Baume innerhalb des Hofes festgestellt, aber kei-
nes an den Eicheln auf und an den Weideflachen.114 Erneut 1590 ist die gemein-
schaftliche Nutzungsberechtigung an den Friichten der Feldeichen iiberliefert;
eine individuelle gab es nicht,115 und nach dem Bauernrecht der Gemeinde Ma-
gelsen (Ldkr. Verden) von 1704 sollte bestraft werden, wer die Forst [und] Weiden
Stdmme, Hecken, Er oder gespiekte Wege mit Austragung oder Fahren[. . .] bestiehlet,[. . .]
112 Klages, Bauholzzuweisung, wie Anm. 33, S. 91-92.
113 Prior, wie Anm. 4, S. 174-175.
114 Item de Holtingslude finden nemande mehr tho, sonder sinen binnen hofund kolhoffrie, unde
de Borne, de darinne sin, de Maste darvan. Hefft dar averst wol Wische im Tune, de sehal de Wische
apen laten und de Maste tho geliker Dele eten laten, zitiert nach Schettler, wie Anm. 35, S. 11.
Quelle: Grimm, Weisthiimer Band 3, S. 222.
115 Klageschrift der ottersbergischen Beamten, die im Rahmen der Grenzauseinander-
setzungen zwischen Bremen und Verden verfasst wurde: Wie die Rotenburger Meiger, so zu
Reifiem sefihafftigk, ohn allefugk und Recht das Eckern von ihren Feldtbeiimen, andern Holtzgenossen
zu mercklichem Nachtheil, abschlahen, schudden, lesen und in Secken nach Hause tragen, dessen man
ihnen dan keines Wegs gestendigk, und ihnen derowegen solchs zu unterlafien bey TOO ggl. gepotten.
Dorfler, Landesgrenze, wie Anm. 23, S. 807; Quelle: StA Stade Rep 8 Fach 3 Nr. 16,
Bl. 17R.
172 Wolfgang Dorfler
oder Eicheln lieset unter gemeine oder privat Bdumen.116 Die Mastnutzung ausschlieB-
lich in der Gemeinschaft erlaubt den Analogieschluss, dass fur die Nutzung des
Holzes der Baume auch der Konsens der Mitbesitzer gewonnen werden musste.
An Feldeichen gab es bis zur Gemeinheitsteilung keine privaten Nutzungsrechte;
sie wurden als Gemeinschaftseigentum wie die iibrige Allmende behandelt. Die
Jordebiicher aus dem Ende des 17. Jahrhunderts weisen haufig angesichts verwii-
steter Walder auf die Bauholznutzung der Feldeichen hin.
Ungenehmigte Bauholzbeschaffung
In das 16. Jahrhundert fallen die ersten Hinweise auf eine alternative Art der
Holzbeschaffung: die ungenehmigte Bauholzentnahme.117 Sie scheint im spaten
16. und den folgenden Jahrhunderten eine verbreitete Gewohnheit gewesen zu
sein. Ob man sie als systematischen Diebstahl, als Verteidigung alter, inzwischen
aber strittiger Rechte, als bauerlichen Hochmut oder als Teil des Uberlebens-
kampfes bezeichnet, bleibt dem Historiker und seiner Deutung des Einzelfalles
iiberlassen. Besonders poetisch ist die Beschreibung, die Albrecht Timm in die-
sem Zusammenhang geliefert hat: 118 „Der Bauer sah im Holz der Walder um sei-
nen Hof etwas Urspriingliches, ohne wesentliches Zutun des Menschen geschaf-
fenes und deshalb auch von alien nach den jeweiligen Bediirfnissen zu Nutzen-
des." Die Landes- oder andere Holzherren hatten einer solchen Auffassung aber
nicht das gleiche Verstandnis entgegengebracht wie die bauerlichen Genossen
und der Autor. Die herzoglichen Regierungen haben die bauerliche Gemeinde
als Holzrichter entmachtet und besoldete Amtmanner, Vogte und Knechte mit
der Verfolgung ungenehmigter Holzentnahmen betraut. So erfahren wir von
dem bauerlichen Tun aus den daraus folgenden Prozessen, aber mitunter auch
aus den Befunden am Bau selbst.
Ein Beispiel fiir diesen Fall ist Mattens Hus in Otter (Ldkr. Harburg),119 das
von meinem Forscherkollegen und Freund Ulrich Klages viele Jahre lang als of-
fentlich nicht zugangliches, historisch ausgestattetes und besonders altertiimli-
ches Kleinbauernhaus gepflegte wurde. Die Kotnerstelle warum 1560 von der in
Harburg residieren welfischen Nebenlinie gegriindet worden, war aber noch
nicht mit einem Haus bebaut; dieses war aber in Vorbereitung. Die Dendrochro-
nologie ergab fiir das Holz des Hausgeriistes das Falljahr 1571. Ein Dachsparren,
116 Hans Wohltmann, Das Bauernrecht der Dorfschaft Magelsen, in: Stader Archiv,
Neue Folge, Heft 19, 1929, S. 118-124, hier S. 122.
117 Jordens, wie Anm. 31, S. 27-40, S. 111-124 und S. 130-135.
118 Timm, wie Anm. 17, S. 39.
119 Nordheide Wochenblatt vom 19. 9. 1992, S. 14; Klages, Kotnerhauser, wie Anm. 89,
S. 41.
Bauholzversorgung auf dem Lande 173
der aus Reparaturgriinden entfernt werden musste, aber ergab das abweichende
Datum 1563, der Stamm war also acht Jahre friiher gefallt worden. Holzhandel
oder Zweitverwendung schieden aus. Ein Kleinkotner wie Marten Damman war
1560 zur Griindung seiner Hofstelle nicht mehr „nach Bedarf" in den Forsten be-
rechtigt, so dass seinem Bauvorhaben erhebliche Hindernisse im Weg standen.
Er iiberwand sie auf nahe liegende Art: In den Pfandungsregistern der Zeit ist do-
kumentiert, dass Marten Damman sich zwischen 1552 und 1569 viermal beim
„Holzfrevel" hatte erwischen lassen, so auch 1563, als er wohl genau den Sparren
gestohlen hatte, der bei der Untersuchung imjahr 1990 aufgefallen war.120 Holz-
diebstahl, auch wiederholter, war aber eine alltagliche Angelegenheit, deren
Aufdeckung nicht daran hinderte, dass der Kotner 1571 dann - auf allerdings un-
bekanntem Wege - das Holz fiir das Hausgeriist erhalten hat. Dass Marten Dam-
man der Bauherr war, dokumentiert eindrucksvoll auch der Hausnahme „Mat-
tens Hus", der sich nach fast 440 Jahren und bei haufig wechselnden Besitzern
noch immer auf den Ersterbauer bezieht.121
Die relative Akzeptanz oder die strenge Verfolgung des Holzdiebstahls lassen
sich an den dafiir verhangten Strafen identifizieren. Die Strafen waren zu Beginn
des 16. Jahrhunderts so niedrig, dass sie noch nicht einmal einerKaufsumme glie-
chen.122 Hans Verhey zitiert aus einem Holtingsprotokoll von 1538, in dem die
ungenehmigte Holzentnahme nach seiner Analyse als gleichsam gewohnheits-
maBiges Tun hingestellt und mit einer niedrigen Geldsumme gesiihnt wird, die
sich nur erhoht, wenn die Entnahme heimlich (mit zugebundenem Wagen) er-
folgte.123 Holz, das unbemerkt auf den Hofplatz gebracht worden war, konnte
nicht mehr gepfandet werden. 124 Insgesamt ist in der Frage der Holzbeschaffung
ein starker Zusammenhalt der Bauern zu beobachten. In einem Verzeichnis der
Brucheinnahmen des Amtes Rotenburg von 1587 etwa heiBt es: Die Hesedoerfer
haben im Gelinde [einem. Wald) etzliche Buechen, Eichen und Ellern Holzgehauwen und
120 Die Diskrepanz in den Dendrodaten war der Grand gewesen, nach den entspre-
chenden Archivalien zu suchen.
121 Diese an vielen anderen Beispielen zu belegende erstaunlich Konstanz der Hausna-
men ist ein starkes Argument dafiir, dass hier im lG.Jahrhundert auf dem Lande etwas wirk-
lich Neues geschaffen wurden, namlich enorm solide gebaute Hauser, die regelhaft in der
Lage waren, viele Generationen zu iiberdauern. Siehe dazu: Ulrich Klages, „Kours Hus" in
Sprotze, Landkreis Harburg. Bautechnischer Wandel in einem Geestbauernhaus des 16.
Jahrhunderts, in: Landlicher Hausbau, wie Anm. 6, S. 115-132, hier S. 129.
122 Jordens, wie Anm. 31, S. 27-31 und S. 120-121.
123 Verhey, wie Anm. 13, S. 106-108. Der Veroffentlichung haftet generell die zeittypi-
sch-ideologische Uberzeichnung der „alten bauerlichen Freiheiten", der „hohen bauerli-
chen Gesinnung" und der neuzeitlicher Einschrankung bzw. Verderbungen derselben an.
124 Timm, wie Anm. 17, S. 73; Quelle: Grimm, Weisthiimer Band IV, Nr. 694, Pos. 7-9.
174 Wolfgang Dorfler
die Thetter nicht verkundisch machen wolden,125 woraufhin das ganze Dorf zu einer
Bruchstrafe von 33 Mark verurteilt wurde; eine einzelne Eiche hatte seinerzeit
6 Mark und 3 Schillinge „gekostet", eine Buche 4 Mark und 2 Schillinge.
Die Strafen fur Holzdiebstahl erhohten sich im 17. Jahrhundert, so dass sich
die „Briiche" dem Wert des Holzes annaherten, aber noch immer keinen ausge-
pragten Strafcharakter besaBen. In der Schwedenzeit und besonders nach dem
Ende der Besetzung der Herzogtiimer Bremen und Verden durch Minister und
Braunschweig nach 1670 wurden die Strafen empfindlicher. 1704 verfiigte der
schwedische Generalgouverneur in Stade, dass jeder beim Holzdiebstahl Betroffene,
er sei Haufimann, Kdter oder Hdusling, unter hiesige Milice gestecket undzu Krieges-Dien-
sten gebrauchet werden soil.126 Ein hannoverscher Amtmann kam imjahre 1727 zu
folgender resignativen Einschatzung: 127 Es wurden, warm die Leute von Holtzstehlen
krank und ungesund werden sollten, wenige gesunde Leute im Lande sein.
Wiederverwendung von Bauholz
Es bleibt das Thema der Verwendung von Altholz im landlichen Hausbau. Zu-
nachst einmal ist es ein Indiz fur die Ressourcenknappheit. Die ersten Nachrich-
ten dieser Art weisen auf eine Knappheit in der Marsch hin; dort herrschte trotz
landwirtschaftlicher guter Ertragssituation wohl bereits im Spatmittelalter ein
groBer Bauholzmangel.128 Fur die an die Elbmarschen angrenzende Geest be-
schreibt der Klecker Holtingsbrief des Herzog Heinrichs von 1518: Und schullen
de olden gebuwe nicht in de marschlande verkopen, wo wente het undertiden geschen. 129 Es
fanden sich Hauser und Nebengebaude im Alten Land, die neben krummwiich-
sigen Eschen und gefloBten Weichholzern auch aus eichenen Altholzern erbaut
waren, die vermutlich von der Geest bezogen wurden.130 Der Verkauf des „Alt-
125 Dorfler, Landesgrenze, wie Anm. 23, S. 690; Quelle: StA Stade Rep 76 Nr. 1365,
Bl. 105. Siehe dazu auch Jordens, wie Anm. 31, S. 50.
126 Tamss, wie Anm. 103, S. 72.
127 Zitiert nach Jordens, wie Anm. 31, S. 119-120; dazu auch Reinhard Oberschelp,
Niedersachsen 1760-1820 Band 1, Hildesheim 1982, S. 141.
128 Bereits 1502 wird im Vorder Register berichtet: Item de van Volkmerstede myt hulpe der
Erfeexen dringen syck yn dat Kolebrock, houwen dar nicht alleyne uth, to orer behoff, men se houwen
wat se wylt unde vorkopen dat (. . .) yn de Merschlande ut. Wilhelm von Hodenberg, Bremer Ge-
schichtsquellen II, Celle 1856, S. 12; August Seidensticker, Rechts- und Wirthschaftsge-
schichte der norddeutschen Forsten besonders im Lande Hannover Erster Band, Gottingen
1896, S. 152.
129 Zitiert bei Ulrich Klages, Zweitverwendete Holzer in landlichen Gebauden des
westlichen Landkreises Harburg, in: Zur Bauforschung iiber Spatmittelalter und friihe Neu-
zeit - Berichte zur Bauforschung Band 1, 1991, S. 17-46, hier S. 31-32.
130 Klages, Flofiholzer, wie Anm. 46 , S. 187-198; und Ders., Bauholzzuweisung, wie
Bauholzversorgung auf dem Lande 175
holzes" stellte eine Bereicherung der abgebenden Geestbauern aus den Gemein-
schaftsforsten dar, aus denen sie das Holz fiir ihren Neubau bezogen. Vor allem
war damit die Gefahr verbunden, dass ein Neubau sozusagen vorzeitig (namlich
vor dem wirklichen VerschleiB des Altgebaudes) stattfand und die Bauern sich so
einen privaten Vorteil verschafften.
Im spaten 16. Jahrhundert finden sich erste Vorschriften zur Holzersparnis
beim Hausbau auch in den Geestgegenden. Im Konzept zu einer wolfenbiittel-
schen Holzordnung von 1585 ist die folgende ausfiihrlich Passage enthalten: Die-
weil unter den Personen, welchezu bauen bedacht, eine Ungleichheit ist, so wollen wir, dass
diejenigen, welche ihrer Gelegenheit nach einem neuen Gebew aufalte Stette aufrichten
oder einen alten undertziehen und bessern mussen, solche ihre Gelegenheit und Notturft des
Bawholtzs eines jeden Orts verordnetem Landtdrosten, Grojivogt, Ober- und Unterampt-
mann, Waltvogt und Forstmeister zuerkennen geben, daraufsie dann die Gelegenheit be-
sichtigen und bey ihren Pflichten erkennen sollen, ob denjenigen, so umb Bawholtz ange-
sucht, zu bauwen vonnoten, auch wieviell und wasfurHoltz einjederzu seinem furgenom-
menen Baw haben mussen.131 Auch in der Bremische Holzordnung von 1588 wird
mit folgenden Satzen die Besichtigung jedes abzureiBenden Hauses durch den
Amtmann angeordnet: Da einem Holtingesman zu seinen Bauwen Holtz von ndten weh-
re, soil vorerstlich besichtiget werden, was ihnen zu Bauwen von noten ist, und dan uber-
schlagen werden, wir viell derselbe zu dem Alten Holtze, so man noch brauchen kann, nott-
wendigk haben muef. Hier wurde zusatzlich ein Abbruch ohne Genehmigung un-
ter Strafe gestellt.132
1590 erbat der Adelige Buchart zum Campe vom WolfenbiittelerHerzog Bau-
holz fiir sein „Wohnhaus zu Deensen", da dieses fast bawfellig und schwach sei. Ein
gemeinsames Schreiben von Oberamtmann und Oberforster an den Herzog be-
richtet von eigenem Waldbesitz der Adelsfamilie, in dem ziemlich Bawholzvorhan-
den sei. Dieses sollten sie nehmen und des alten Bawholtzes [vom] Wonhause mit ge-
brauchen und also nach ihrer Gelegenheit ihraltes Wohnhaus ernewern und auf bauwen}33
Anm. 33, S. 29-31. Trotz seiner Vielzahl von interessanten Befunden stellt er fest, dass eine
systematische Untersuchung des dortigen alten Baubestandes (nach den Kriterien dergefii-
gekundlichen Bauuntersuchung) noch ausstehe.
131 Zitiert nach Graefe, wie Anm. 60, S. 230; Herzog August Bibliothek Wolfenbiittel
Cod. Guelf. 48.6 Aug. 4° Bl. 200-201.
132 Bremische Holzordnung von 1588 als Intus in der Akte HStA Hannover Celle Br. 60
Nr. 25 Bl. 129R-132; Werner Voss, Die Erzstift-Bremische Holzordnung, in: Heimatspiegel
Beilage zu den Harburger Anzeigen und Nachrichten vom 23. 4. 1983; zitiert bei Klages,
Bauholzzuweisung, wie Anm. 33, S. 84. Berg, wie Anm. 13, S. 213-214, datiert die allgemei-
ne Einfiihrung der (Alt)baubesichtigung erst in die zweite Halfte 17. Jahrhunderts und stellt
sie in einen Zusammenhang mit der generellen regelmaBigen Besichtigung von privaten
und offentlichen Bauten zum schnellen Erkennen von noch leicht behebbaren Schaden.
133 Graefe, wie Anm. 60, S. 103; StA Wolfenbiittel 1 Alt 6100, Bl. 2R-8.
176 Wolfgang Dorfler
Die welfische Holzordnung von 1618 ordnete Besichtigung des Altbaus und Wie-
derverwendung der Altholzer an,134 wie auch eine solche von 1665, in der es
heiBt: Wenn jemand Bauholzforderte, so sollseyn Gebdude mit Fleis von Unseren Beam-
ten und Fdrstern besichtigt, die Notdurft ermessen werden, auch daraufdie Anweisung und
fleifiiges Einsehen geschehen, dafe er das alte darzu noch dienliche Holz mit verbaue, mit
dem neuen sparsam umgehe, und also aller UberfluJS ungebiihrender Vorteil und Unter-
schleif vermeidet und verhindert bleibe.135 20 Jahre spater wurde noch erganzt, dass
die Hbfe nicht grojier gemachet und angeschlagen werden, als jeden Hofes Beschaffenheit
nach nothwendig.136 Die obrigkeitliche Position ist also klar: Besichtigung zurFest-
stellung der Notwendigkeit und Anordnung der Wiederverwendung von Teilen
des alten Bauholzes. Die Bauern scheinen diese Anordnungen eher widerwillig
befolgt zu haben. Manchmal finden wir wiederverwendete Balken nur in Form
von „Alibibalken", also einem oderzwei einzelnen alten Stiicken, die so versteckt
eingebaut waren,137 dass sie dem Auge des Besuchers nach Moglichkeit entzogen
waren, bei Bedarf aber dem Amtmann als Beweis fiir die Befolgung der Vorschrift
demonstriert werden konnten
Die Wiederverwendung relevanter Teile des Altbaus bedeutet, dass der Bau-
willige sein altes Haus - zumindest in Teilen - zerlegen musste, ehe der Neubau
erstellt werden konnte - eine Erschwernis des Bauvorganges, die vergleichbar
dem Neubau nach Brandschaden ist. Wiederverwendung bedeutete also eine
Einschrankung der bauerlichen Wirtschaft; dass man sie akzeptierte, zeigt den
deutlichen Willen zum groBtmoglichen Bauen und zum Vermeiden von Konflik-
ten mit der Obrigkeit. Es ermoglicht diese Beobachtung aber auch die Annahme
der Ortskonstanz der Hauser,138 denn nur so konnte der Neubau am Platz des
alten Hauses entstehen. Wenn wir heute hoffen, unter den Hausern des 16. und
17. Jahrhunderts archaologisch die Reste der Vorgangerbauten finden zu konnen,
134 Im § 31, siehe Jordens, wie Anm. 31, S. 103, FN 669.
135 Holzordnung von 1665 Artikel 49, zitiert nach Jordens, wie Anm. 31, S. 95 und
S. 101. Ahnlich fiir das 18. Jahrhundert: Lutz Volmer, Das „Bau-Reglement fiir das platte
Land" in Minden-Ravensberg von 1769, in: Bauen nach Vorschrift?, wie Anm. 33, S. 157-
177, hierS. 163-164.
136 Allgemeines Ausschreiben vom 29.12.1685 §1, zitiert nach Jordens wie Anm. 31,
S. 101.
137 Rolf-Jiirgen Grote, Der landliche Hausbau in den Vierlanden unter der beiderstad-
tischen Herrschaft Hamburgs und Liibecks bis 1867, Hamburg 1982, S. 64; Klages, zweit-
verwendete Holzer, wie Anm. 129, S. 24; Klages, Bauholzzuweisung, wie Anm. 33, S. 84.
138 Dazu passt auch die eben genannte Notiz in dem Entwurf zur wolfenbiittelschen
Forstordnung, die besagt, dass die Bauern einen neuen Gebew auf alter Stette aufrichten. Der
Nachsatz: oder einen alten [Gebew] undertziehen und bessern, konnte auf die von uns bisher nur
vermutete Praxis verweisen, von alten Gebauden die Balkenlage mit dem Dachstuhl zu er-
halten und neue Stander „unterzuziehen".
Bauholzversorgung auf dem Lande 177
griindet sich das auch auf die Beobachtung der Wiederverwendung wesentlicher
Teile (besonders der Balken) der alten Gefiige.
In den Landkreisen Harburg, Rotenburg und dem Kreis Grafschaft Hoya sind
durch die dort intensiv gefiihrten Untersuchungen in zahlreichen Gebauden wie-
der verwendete Balken nachgewiesen, wobei interessanterweise nur die Balken,
aber nicht die Stander der alten Hauser weiterbenutzt wurden. Neu gegriindete
Kleinbauernstellen und besonders deren Nebengebauden sind sehr haufig mit
Altholzern errichtet worden, weil deren Besitzer am starksten unter einem Man-
gel an Bauholz zu leiden hatten.139
Die akribische Untersuchung der wieder verwendeten Balken und Rahme mit
den Methoden einerhoch entwickelten Gefiigeforschung ermoglichte es, Baufor-
men zu identifizieren, die im rezenten Bestand nicht mehr vorhanden sind. Unter
giinstigen Umstanden gelingt es durch Deutung der „Holznarben" und die Be-
stimmung der Fallzeiten der Holzer die seinerzeitige Verbreitung bestimmter
charakteristischer Konstruktionen zu erkennen, wie die folgenden Beispiele zei-
gen. Eines der altesten weitgehend vollstandig erhaltenen Bauernhausgeriiste
Niedersachsens im Dorf Schwinde der Harburger Elbmarschen von 1494 (d)
zeigt eine von alien spateren stark abweichende Konstruktion: Der Langsver-
band des komplett aus Eichenholz erbauten Hauses ist nur durch einige wenige
lang ausgreifende Streben hergestellt. Alle Verbindungen sind noch angeblattet
und die Kopfbander zwischen Standern und Balken sind aus krummwiichsigen
Holzern herausgearbeitet worden.140 DreiBigJahre spater wurde ein Haus glei-
cher Bauweise noch einmal im Siiden des Elbe-Weser-Dreiecks (in Brockel, Ldkr.
Rotenburg) errichtet, wie wiraus der Analyse wieder verwendeter Teile ermitteln
konnten. Das Brockeler Haus wurde bereits 1610 komplett umgezimmert und in
einen zeitgemaBen Bau verwandelt.141 Das moderne Gefiige ist u. a. durch die
symmetrisch gereihten, eingezapften Kopfbander des Langsverbandes gekenn-
zeichnet. Diese Bauweise hat sich dann bis zum Ende des Innengeriistbaus gehal-
ten. Bereits 1522 konnen wir das erste dieser „modernen" Hauser im Elbe-Weser-
Dreieck nachweisen, das in Wellen bei Beverstedt (Ldkr. Cuxhaven) steht.142
139 Klages, Zweitverwendete Holzer, wie Anm. 129 , S. 28; Klages, Bauholzzuweisung,
wie Anm. 33, S. 91-93.
140 Ulrich Klages, Friihe Varianten des Dielen-Flett-Gefiiges in Bauernhausern der
Nordheide, in: Liineburger Blatter 27/28, 1987, S. 49-76, hier S. 51-53; Wolfgang Dorfler,
Ein Bauernhaus aus dem 15. Jahrhundert, in: Der Holznagel Heft 2, 1992, S. 23-29; Hein-
rich Stiewe, Ein Hallenhaus des ausgehenden 15. Jahrhunderts in der Winsener Elbmarsch
(Niedersachsen), in: AHF-Mitteilungen Heft 39, 1992, S. 3-5; Ders., Fachwerkhauser in
Deutschland, Darmstadt 2007, S. 73.
141 Klages u. a. 1993, wie Anm. 95, S. 48 und S. 51-56.
142 WolfgangDoRFLER, Das sparrentragende Unterrahm und der verkammte Ankerbal-
178 Wolfgang Dorfler
In Ostereistedt und Briittendorf fanden wir in zwei der altesten Hallenhauser
des Landkreises Rotenburg wieder verwendete Balken mit gleichartigen unge-
wohnlichen Gefiigenarben, von denen wir dendrochronologisch einen auf das
Jahr 1499 datieren konnten. Sie waren kiirzer als die in den Bauten von etwa 1560
und konnten deshalb nur an zusatzlich unterstiitzter Stelle, namlich als Herd-
wand- bzw. Vorschauerbalken, eingebaut worden.143 Wir erkennen daran, dass
die Vorgangerbauten dieser Hauser (wie auch das erste Haus in Brockel) nur etwa
70 Jahre alt wurden, wahrend ihre „modernen" Nachfolger dann 450 Jahre stan-
den und z. T. heute noch stehen. Diese kurze Lebensspanne der spatmittelalterli-
chen Bauernhauser lieB sich in benachbarten Regionen bestatigen. Im Landkreis
Harburg und ganz besonders in der Grafschaft Hoya fanden Ulrich Klages und
Heinz Riepshoff bereits 30 Hauser mit wieder verwendeten Balken, die alle nur
zwischen 30 und 120 Jahre alter waren als die friihneuzeitlichen und bis in die
Gegenwart erhaltenen Bauten.144 Sie treten auf neben den eingangs genannten
vielen Neubauten; beide Formen deuten auf einen grundsatzlichen Bauwandel in
dieser Periode hin. Die Wiederverwendung erstreckt sich allerdings iiberra-
schend auch nur auf eine „Hausgeneration", da wieder verwendete Balken aus
der Zeit vor 1480 bisher nicht gefunden wurden. Die Vermutung liegt nahe, dass
die Hauser dieser Zeitstufe eine noch andere Konstruktion gehabt haben miissen.
Schon lange ist bekannt, dass alte Bauernhauser als Pfostenbauten errichtet
waren,145 also Hauser, deren senkrechte Holzer in den Erdboden eingegraben
wurden. Man glaubte allerdings, dass diese Bauweise so lange zuriickliegen wiir-
de, dass dies fiirunseren rezenten Baubestand keine Bedeutung mehrhabe. Haio
Zimmermanns vom Institut fur historische Kiistenforschung in Wilhelmshaven
ken. Befunde zu der postulierten altesten Gefiigevariante des Niederdeutschen Hallenhau-
ses, in: LandlicherHausbau, wie Anm. 6, S. 33-56 hier S. 52; Ders., Die altesten Bauernhaus-
gefiige des Elbe-Weser Dreiecks, in: The rural house, wie Anm. 12, S. 53-57. Es handelt sich
urn zwei verschiedene Bautraditionen, so dass wohl keine organische Entwicklung der einen
aus der anderen angenommen werden kann. Als Vorlaufer der Hauser mit gereihten Kopf-
bandern ist jiingst das Haus der Wehlburg in Badbergen (Ldkr. Osnabriick) von 1480 (d) ge-
funden worden (Glantzer, Hallenhaus, wie Anm. 10). Hier sind in regelmaBiger Folge Ga-
belstander (mit natiirlichen Astgabeln) verwendet worden. Das entspricht funktionell und as-
thetisch den gereihten Kopfbandern. Bei den jiingeren Gebauden des Typs mit den
sparlichen, angeblatteteten Schragstreben hat sich deren Zahl vermehrt, aber keine Regelma-
Bigkeit erreicht. Auch die Hauser dieser Regionen sind schlieBlich mit regelmaBigen ange-
ordneten und eingezapften Kopfbandern verzimmert worden, es hat sich dieser Bautyp also
durchgesetzt.
143 Klages u. a. 1993, wie Anm. 95, S. 23 und S. 34-41.
144 Zusammenfassend veroffentlicht von Heinrich Stiewe, Fundamentaler Wandel?
Landlicher Hausbau des 16. Jahrhunderts in Ostwestfalen und an der mittleren Weser, in:
The rural house, wie Anm. 12, S. 76-89, hier S. 84.
145 Werner Roseler, Bauern im Mittelalter, Munchen 3 1 9 8 7, S. 77.
Bauholzversorgung auf dem Lande 179
hat diese Bauweise umfassend untersucht.146 Er ermittelte, dass die Bestandsdau-
er eines Eichenpfostens bei Einwirkung von Viehexkrementen 10-100 Jahre be-
tragt. Neu an seiner Untersuchung war vor allem der Nachweis der Fortdauer die-
ser Bauweise in Norddeutschland bis in die Friihe Neuzeit hinein. Zimmermann
ist es auch erstmals gelungen, unter den Standern eines Bauernhauses im Dorf
Kohlen (Ldkr. Cuxhaven) Pfosten eines Vorgangerhauses zu finden. Die Pfosten-
reste wurden dendrochronologisch auf 1502 datiert.147 Wir fanden ein Scheu-
nengebaude in Liidingen (Ldkr. Rotenburg), dessen Stander noch im unteren
Bereich ihre alte Pfostenform erkennen lassen. Die Stander wurden spater (wahr-
scheinlich bei einer Umsetzung) abgesagt und stehen jetzt auf Findlingsstei-
nen.148 Das Gebaude wurde dendrochronologisch auf „um 1571" datiert. Auch
archivalische Quellen stiitzen inzwischen die Annahme des langen Fortdauerns
der Pfostenbauweise. Das folgende aussagekraftige Zitat stammt aus dem Jahr
1625 und wurde von Pastor Antonius Nothold in der Pfarrchronik von Lindhorst
niedergeschriebenen: 149 Die Hiitte aber, mit der sich die Vizeplebani und Kaplane in
friiherer Zeit beholfen haben, ist aufgrojien Pfdhlen, welche in die Erde gegraben waren,
gebaut gewesen, wie ich solche Hduser im Anfang meines Predigtamtes (1597) noch vielge-
sehen habe, welche seit der Zeit neu gebaut worden sind. Vor Sachsenhagen sindalle Scheu-
nen nach der Art auf Pfdhle gebaut gewesen, wie das noch an einigen heutigen Pages zu
finden ist.
Es liegt also nahe, die durch die Pfostenbauweise bedingte geringe Bestands-
dauer fur das Verschwinden nahezu aller spatmittelalterlichen Bauernhauser ver-
antwortlich zu machen. Dies reicht aber als alleinige Erklarung fur das Phano-
men der ausschlieBlichen Wiederverwendung der Deckenbalken und Rahme in
den neuen Hausern des 16. Jahrhunderts nicht aus. Einen abgefaulten Stander-
fuB hatte man absagen und durch Unterfangen mit einer Schwelle oder einem
Steinfundament im Verband weiterverwenden konnen (wie es bei dem Scheu-
nengebaude aus Liidingen geschah) . Da dies nicht gemacht wurde, bietet sich die
These an, dass diese alten Hauser eine grundsatzlich andere, namlich geringere
Standerlange und niedrigere Dielenhohe hatten. Die Stander waren nicht wieder
146 Haio Zimmermann, Pfosten, Stander und Schwelle und der Ubergang vom Pfosten-
zum Standerbau - Eine Studie zur Innovation und Beharrung im Hausbau, in: Probleme der
Kiistenforschung 25, 1998, S. 9-242 hier S. 180.
147 Zimmermann, Pfosten, wie Anm. 146 , S. 50-55 bzw. S. 136-137.
148 Ulrich KLAGEs/Tassilo Turner, Eine rezente Scheune in Pfostenbauweise in Liidin-
gen, Ldkr. Rotenburg". Unveroffentlichter Vortrag auf der Tagung „Neue Wege zu alten Bau-
ten" am 1. November 2002 in Wilhelmshaven; Befunddokumentation veroffentlicht bei
Stiewe, Landliches Bauen, wie Anm. 10, S. 21-23.
149 H. Rusch, Antonius Nothold. Historia Lindhorstana, in: Unsere schaumburg-lippi-
sche Heimat Heft 12, Biickeburg 1957; zitiert nach Stiewe, Fundamentaler Wandel?, wie
Anm. 144, S. 82-83.
180 Wolfgang Dorfler
zu verwenden, nachdem eine Nutzungsanderung eingetreten war, die eine hohe-
re Diele erforderte.150
Nach dieser neuen Hypothese hatte sich als ersten Schritt die Dielenhaltung
der Schweine (Stichwort: „Deelzucht") als auch die Aufstallung der Kiihe gean-
dert. Die Kiibbungen der altesten Hauser waren so schmal, dass hier die Kiihe
noch nicht fixiert in Tiefstallen gestanden haben konnen; das war erst in den neu-
en Hausern mit den breiteren Kiibbungen moglich. Das Vieh hatte in den alten
Hausern noch auf der Diele selbst gestanden und auf den Balken hatten - ahnlich
wie spaterin den Schafstallen - nurdas geringe Winterfutter und das Einstreuma-
terial gelagert. Die Hauser waren vergleichsweise schmal, die Deckenbalken also
kiirzer und auch wegen des geringen Gewichts der eingelagerten Giiter auch
schmachtiger gewesen. Die Annahme einer schwachen Bauweise wird unter-
stiitzt durch den aus „Schadenslisten" iiberlieferten erstaunlich geringen Wert
der alten Bauernhauser. lsl Sehr selten nur sind Balken dieser Zeitstufe in Wieder-
verwendung gefunden worden, und dann wurden sie nicht als Dielenbalken son-
dern in anderer Funktion eingesetzt. In einem Haus aus Otter (Ldkr. Harburg)
wurden die Deckenbalken des Vorgangerbaus nur als Sparren weitergenutzt, da
sie fur die neue Diele zu kurz und diinn gewesen waren.152 Auch die alten Balken
in Briittendorf und Ostereistedt waren fur die Dielen der neu erbauten Hauser
nicht geeignet, sie wurden an zusatzlich unterstiitzter Stelle eingebaut.
Im 15.Jahrhunderts lassen sich mehrere gravierende Anderungen derbauerli-
chen Wirtschaftsweise registrieren: Ein bedeutsamer Riickgang des Viehstapels,
sowohl die Schweinehaltung als auch die Hornviehzahlen betreffend. Diese
Riickgange waren Folgen okologischer Veranderung wie Waldverwiistung und
Abnahme der Bodenfruchtbarkeit. Die steigenden Bevolkerungszahlen und da-
mit steigende Getreidepreise fiihrten zur Ausdehnung der Getreideproduktion.
Die Getreidemengen konnten auf den verbesserten und vor allem sicher gewor-
denen StraBen iiber groBere Entfernungen transportiert und verkauft werden.
Der kleiner gewordene Viehstapel konnte von den Bauernhausdielen entfernt
und in den „Zukiibbungen",153 also den Abseiten der Diele, gehalten werden.
Die Diele wurde verbreitert und die Balkenlage verstarkt, um den groBeren
Stapel an ungedroschenem Getreide im Haus selbst zu lagern. Zuvor hatte man
150 Diese und die folgenden Uberlegungen wurden maBgeblich von Ulrich Klages
entwickelt, der sie aber aus gesundheitlichen Grunden nicht mehr publizieren konnte.
151 Klages, Kours Hus, wie Anm. 121, S. 128; J. F. Heinrich Muller, Bremisch-Liine-
burgische Fehden des 15.Jahrhunderts und ihre Auswirkungen auf die bauerliche Bevo Ike-
rung. Veroffentlichungen des Helms-Museums 34, Harburg 1980.
152 Klages, Zweitverwendete Holzer, wie Anm. 129, S. 35-37.
153 Ernst Grohne, Das Bauernhaus im Bremer Gebiet. Ein Beitrag zur Geschichte der
niedersachsischen Bauweise. Jahresschrift des Focke-Museums Bremen 1941, S. 74-87.
Bauholzversorgung auf dem Lande 181
das ungedroschene Getreide in separaten Gebauden gelagert und dort auch ge-
droschen. Mit den nasser werden Sommern der Friihen Neuzeit war immer ofter
unzureichend getrocknetes Getreide eingebracht worden, so dass von der Seite
her der Gedanke derNachtrocknung im beheizten Bauerhaus aufgekommen sein
mag.154 Die Lagerung des ungedroschenen Getreides auf den Dachboden erfor-
derte kraftigere Balken und groBere Dachraume, denen die von uns in Wieder-
verwendung gefundenen Balken aus der Zeit nach 1520 entsprechen. Das Ein-
bringen groBer Getreidemengen wird auch auf der Transportseite zum Ubergang
von einachsigen relativ niedrigen zum zweiachsigen hoheren Wagen gefiihrt ha-
ben. Dazu wiederum passt, dass wir seit der spatmittelalterlichen Zeit eine Ver-
breiterung der Einfahrtstore der Bauernhauser registrieren konnen.155 Die Diele
als zentraler Raum des Hauses wurde nun fur die wichtigste Winterarbeit auf den
Hofen, das Dreschen genutzt. Dazu musste allerdings die Hohe dieses Raumes
gegeniiber den angenommenen mittelalterlichen Verhaltnissen angehoben wer-
den, um auch hier den Dreschflegel benutzen zu konnen.
Wie aber ist zu erklaren, dass die wirklich erhaltenen alten Bauernhauser des
15. Jahrhunderts wie das Haus in Wehlburg bei Badbergen von 1480 (d) bereits
hohe Dielen aufweisen? Es konnte sich um die ersten diesermodernen „hochdie-
ligen" Bauten gehandelt haben, die wegen ihrer bereits vollzogenen Nutzungsan-
passung stehen geblieben sind. Die unpraktisch gewordenen „niederdieligen"
Bauten wurden entweder ganz ersetzt oder ihre Balkenlage angehoben und
durch neue, langere Stander unterfangen.
Zusammenfassung
Der Frage nach der Versorgung der Bauernhofe mit Bauholz wurde vorwiegend
an Hand des erhaltenen und in den letzten Jahrzehnten intensiv untersuchten
Baubestandes nachgegangen. Die durch die Dendrochronologie ermoglichte ge-
naue Festlegung der Baudaten erlaubt es Konjunktur- und Depressionsphasen im
landlichen Hausbau zu beschreiben, welche wiederum den Holzverbrauch bzw.
die Verfiigbarkeit derRessource Bauholz spiegeln. Dabei erweist es sich, dass im
16. Jahrhundert eine enorme Baukonjunktur zu verzeichnen ist, die bis in die er-
sten Jahrzehnte des 17. Jahrhunderts reicht. Im DreiBigjahrigen Kriege wurden
154 Roseler, wie Anm. 146, S. 83.
155 Das Dielentor des oben genannten Hauses aus Otter, von dem die Balken als Spar-
ren weiterverwendet wurden war 2,10 m breit gewesen, das Tor eines Hauses von 1535 aus
Immenbeck bereits 2,35 m (Klages, Zweitverwendete Holzer, wie Anm. 129, S. 36); seit
dem 17. Jahrhundert hatten selbst Kleinbauernhauser und spater auch die Hauslingshauser
eine Torbreite von mindesten 2,65 m.
182 Wolfgang Dorfler
in bestimmten Regionen zahlreiche neue Bauernhauser errichtet, wobei der
Holzverbrauch und die Prachtentfaltung ein bislang unbekanntes AusmaB er-
reichten. Hier scheinen die unsicheren obrigkeidichen Verhaltnisse und die giin-
stige Situation als Nahrungsmittelproduzenten von den Bauern zum eigenen
Vorteil ausgenutzt worden zu sein. In der Schwedenzeit war der landliche Be-
reich von einer Depression betroffen, die sich am weitgehenden Fehlen von Hau-
sern dieser Zeitstufe festmachen lasst.
Die Moglichkeiten der Bauherren sich mit Holz zu versorgen wird diskutiert
und dabei sowohl die Nutzung des Holzes aus der Allmende, die zunachst kosten-
lose, spater kostenpflichtige Zuweisung aus den Waldern, der Handel mit FloB-
holz, die Verfiigbarkeit derHofeichen, derHolzdiebstahl und die Bestechung der
Holzaufseher in ihren Wirkungen verfolgt. Als neu fiir die historische Diskussion
wird die verbreitete Wiederverwendung von Altholz in ihren wirtschaftlichen,
rechtlichen und hauskundlichen Aspekten dargestellt und abschlieBend an Hand
von Bauforschungsbefunden eine These zu spatmittelalterlichen Wandlungen
der bauerlichen Wirtschaftsweise vorgestellt.
6.
Vom Umgang mit einer begrenzten Ressource
Wasser und Abwasser in nordwestdeutschen Stadten
des 17. und 18. Jahrhunderts
Von Olaf Grohmann
Wasserversorgung und Abwasserentsorgung
Wasser ist die entscheidende Lebensgrundlage fiir Pflanzen, Tiere und Men-
schen. Wasser ermoglicht Leben, absolute Trockenheit schlieBt organische Pro-
zesse aus. 1 Neben seiner Bedeutung als Lebensmittel hat Wasser wesentliche wei-
tere Funktionen, von denen einige im Verlauf der historischen Entwicklung ei-
nen Bedeutungswandel erfahren haben. Auch die Technik der Wasserbeschaf-
fung und die damit verbundenen Probleme anderten sich. Die Oberflache der
Erde ist zu zwei Dritteln von Wasser bedecktjedoch nur2,6 Prozent derGesamt-
menge sind SuB wasser. Mit 2,062 Prozent ist der groBte Teil des SiiBwassers im
Polar- und Gletschereis gebunden, 0,58 Prozent entfallen auf Grundwasser und
Bodenfeuchte. Das Wasser in Fliissen und Seen macht nur 0,009 Prozent aus,
dasjenige in Biomasse und Atmosphare 0,001 Prozent.2 Nutzbar fiir den Men-
schen ist nur der Teil des Wassers, der sich langfristig im hydrologischen Kreis-
lauf immer wieder erneuert. Dieser so genannte jahrliche Gesamtabfluss belauft
sich auf 40.000 Kubikkilometer und bildet zusammen mit dem Grundwasser das
zur Verfiigung stehende Volumen.3 Rein rechnerisch wiirde dieser Vorrat fiir ei-
ne globale Gesamtbevolkerung von zehn Milliarden Menschen mit einem jahrli-
chen Pro-Kopf-Verbrauch von 4.000 Kubikmetern ausreichen.4 Problematisch
sind dabei jedoch die Bereitstellung und Verteilung des Wassers sowie die Was-
serqualitat. Wahrend es seit dem Bestehen stadtischer Ansiedlungen stets darum
1 Hartmut Bossel u. a., Wasser, Frankfurt 1982, S. 5 u. Giinther Garbrecht, Wasser.
Vorrat, Bedarf, Nutzung in Geschichte und Gegenwart, Reinbek bei Hamburg 1985, S. 31.
2 Werner Katzmann/ Sebastian Kux/Elfriede Kasperowski, Wasser, o. O. 1988, S. 22.
3 Bruno Fritsch, Mensch-Umwelt-Wissen. Evolutionsgeschichtliche Aspekte des Um-
weltproblems, Zurich / Stuttgart 1990, S. 24.
4 Ebd., S. 24-25.
184 Olaf Grohmann
ging, trinkbares Wasser in ausreichender Menge zu beschaffen, ist es heute in den
Industrielandern problematisch, Trinkwasser von Schadstoffen aller Art zu be-
freien, die durch Privathaushalte, industrielle Produktion und Landwirtschaft
hineingelangen.5 In vielen Entwicklungs- und Schwellenlandern hingegen ist
mangels technischer Moglichkeiten oder fehlender Ressourcen nur schwerlich
sauberes Trinkwasser zu beschaffen, sodass ein groBer Teil der Weltbevolkerung
keinen Zugang dazu hat.
In der Bundesrepublik Deutschland liegt der personliche Wasserverbrauch im
Durchschnitt bei etwa 130 Litem pro Tag und Person. Davon werden nur drei Li-
ter zum Trinken und Kochen genutzt, der groBte Teil hingegen fiir Toilettenspii-
lung, Baden, Duschen, Waschen, Gartenbewasserung und Autopflege. Den groB-
ten Anteil am gesamten Wasserverbrauch haben die Kraftwerke, gefolgt von Ge-
werbe, Industrie, Bergbau und Landwirtschaft, die zusammen auf rund 86
Prozent kommen. Die offentliche Wasserversorgung, worunter auch der Bedarf
der Privathaushalte fallt, schlagt mit knapp 14 Prozent zu Buche.6 Das genutzte
Wasseraufkommen besteht zu 75 Prozent aus Grundwasser, zu 10 Prozent aus
Quellen. Der Rest stammt aus Talsperren, Seen und Fliissen und wird zum Teil
aus Uferfiltrat gewonnen.7
Die Beschaffung von Wasser stellt seit Beginn urbaner Zivilisation einen Pro-
blemfaktor dar, sei es in qualitativer oder quantitativer Hinsicht. Die Beseitigung
von Schmutz und die diesbeziiglichen Probleme sind untrennbar damit verbun-
den. Eine wesentliche Zasur im Kontext stadtischer Wasserversorgung und Ab-
wasserentsorgung bildet das 19. Jahrhundert. Unter dem Eindruck immenser hy-
gienischer Probleme erfolgte die Zentralisierung der Ver- und Entsorgungs-
einrichtungen. Damit verschwand das seit dem Mittelalter nahezu unverandert
bestehende System einer dezentralen Versorgung aus Grundwasserbrunnen und
erganzenden Zuleitungen von Quell- oder Flusswasser.8 In diesem Zusammen-
hang reduzierte sich auch die Funktionalitat von Wasser weitgehend auf Beschaf-
fung und Entsorgung unter hygienischen Aspekten. Abgesehen davon, dass in
der friihen Neuzeit noch keine bakteriologischen Kenntnisse vorhanden waren,
war die Funktion von Wasser als Mittel der Entsorgung nur eine unter vielen. Es
diente als wichtigste Energiequelle, es war Mittel der Gestaltung, Representation,
Unterhaltung und erfiillte erhebliche Aufgaben auf dem Sektor der Verteidigung.
Rommelspacher hat dargelegt, dass in den mitteleuropaischen Stadten vom
5 Norman Smith, Man and Water. A History of Hydro-Technology, o. O. 1975, S. 209 f.
6 Tom Koenigs (Hrsg.), Das Wasserspar-Buch, Niedernhausen Ts. 1998, S. 13-16.
7 Ebd., S. 16-18.
8 Thomas Rommelspacher, Das naturliche Recht auf Wasserverschmutzung, in: Franz-
Josef Bruggemeieru. a. (Hrsg.), Besiegte Natur. Geschichte derUmwelt im 19. und 20. Jahr-
hundert, Miinchen 1987, S. 43.
Vom Umgang mit einer begrenzten Ressource 185
Mittelalter bis in das 19. Jahrhundert hinein eine kombinierte Wasserversorgung
aus innerstadtischen Grundwasserbrunnen und erganzenden Zuleitungen von
Quell- und Flusswasser durch Holzrohrensysteme iiblich war.9 Die Grundwasser-
brunnen reichten zur Deckung des Grundbedarfs aus, zusatzlich bestand die
Moglichkeit des Schopfens aus Wasserlaufen. Diese Form der Wasserbeschaffung
ist stadtgeschichdich die alteste Versorgungsart. Vereinzelt schon seit dem 14.
Jahrhundert, hauptsachlich aberim 16. Jahrhundert kamen Versorgungssysteme
auf der Basis von Quell- oder Flusswasser hinzu. Sie dienten gewohnlich gewerb li-
chen Zwecken, wie dem Brauen, und waren Mittel der Stadtgestaltung, oft in
Form von Laufbrunnen. Das Quellwasser gelangte von auBerhalb durch Gra-
vitationsleitungen in die Stadte, das Flusswasser mithilfe von Pumpwerken, so
genannter Wasserkiinste. Die Art und Weise der Wasserbeschaffung hing wesent-
lich von den geographischen und geologischen Gegebenheiten ab. Im norddeut-
schen Flachland waren Flusswasserpumpwerke meist effektiver als Quellwasser-
leitungen, die nur mit Hilfe groBerer Gefallstrecken hinreichend funktionierten,
wenn eine ausreichende Quellschiittung vorhanden war. Einige Beispiele ver-
deutlichen diesen Sachverhalt.
Die Stadt Braunschweig verfiigte iiber Schopf- und Ziehbrunnen sowie Was-
serentnahmestellen an der Oker bzw. den Okerkanalen. Ferner existierten zehn
so genannte Wassergange. Dabei handelte es sich um Schopfstellen, die baulich
be- festigt waren und als gemeinschaftliches Eigentum von einer groBeren Zahl
von Einwohnern genutzt wurden.10 Bereits seit dem Mittelalter versorgten drei
Quellwasserleitungen, aus Holzrohren bestehend, die Stadt. Zwischen 1525 und
1565 entstanden insgesamt sieben Wasserkiinste, von denen sechs jeweils am Un-
terwasser der Mahlmiihlen angelegt waren. Die siebte, erbaut 1565, erhielt ein ei-
genes Stauwehr. Die Finanzierung und Verwaltung der Wasserkiinste erfolgte
durch private Interessengemeinschaften, „Piepenbruderschaften" genannt.11 Je-
des Mitglied der sieben Piepenbruderschaften zahlte einen genau festgelegten
Anteil fur die Bau- und Betriebskosten des Pumpwerks und erhielt einen entspre-
chenden Anteil an der zur Verfiigung stehenden Wassermenge. Die Piepenbru-
derschaften, die im Wesentlichen dem Kreis derBrauer entstammten, gaben sich
eigene Satzungen, die vom Rat bestatigt werden mussten. Als Gegenleistung fur
ihre Sonderrechte hatten sie in der Stadt 50 Notbrunnen zu unterhalten.12 Dabei
handelte es sich um Entnahmestellen fur den Brandfall.
9 Ebd.
10 Wilhelm Appelt / Theodor Muller, Wasserkiinste und Wasserwerke der Stadt Braun-
schweig, Braunschweig 1964, S. 32.
11 Ebd., S. 7-78.
12 Ebd.
186 Olaf Grohmann
Auch in Hildesheim erfolgte die Versorgung durch Grand-, Quell- und Fluss-
wasser, auch hier bestand eine nachbarschaftliche Organisation. Der Auf-
schwung des Braugewerbes machte Anfang des 15. Jahrhunderts den Bau einer
Holzrohrenleitung notwendig, die von der Wasserkunst am Ostertor gespeist
wurde und die 42 offentliche sowie 38 private Zapfstellen versorgte. Hinzu ka-
men 17 Notbrunnen. Im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts erfolgte der Ausbau
der Hildesheimer Wasserversorgung durch weitere Rohrleitungen. Ahnlich wie
in Hannover, erfolgte die Wasserverteilung iiber einen Brunnen auf dem Markt-
platz, Pfeifenborn genannt.13
Um 1530 entstand in Celle eine erste Flusswasserkunst, die hauptsachlich dem
Zweck des Bierbrauens diente und das Wasser durch eine Holzrohrenleitung ver-
teilte.14 Parallel dazu existierte eine groBere Anzahl von Brunnen, die mit Pum-
pen, sogenannten Zucken, versehen waren. Die Celler Wasserkunst wurde 1668
grundlegend erneuert und blieb bis 1898 in Betrieb.15
Die Stadt Goslar verfiigte aufgrund der geologischen Gegebenheiten kaum
iiber Grundwasserbrunnen. Hier erfolgte die Versorgung durch Quellen und Ge-
birgsbache. Das Wasser wurde anfangs in offenen Rinnen, spaterin Holzrohrlei-
tungen in die Stadt geleitet und verteilt.16 Bedingt durch die geographische Lage,
konnte eine ausreichende Versorgung hier durch Quellwasserleitungen gesichert
werden, ein Pumpwerk war nicht erforderlich.
Die Wasserversorgung der Stadt Hannover basierte ebenfalls auf einer Kombi-
nation verschiedener Versorgungsanlagen, auf die an anderer Stelle noch naher
einzugehen sein wird. Die nur kurz skizzierten Beispiele verdeutlichen, dass die
stadtische Grundversorgung abgesehen von der direkten Entnahme aus Gewas-
sern, mittels Brunnen erfolgte. Der dariiber hinausgehende Bedarf konnte nur, je
nach geographischer Lage, mithilfe von Quellwasserzuleitungen oder Flusswas-
serpumpwerken gedeckt werden. In einigen Fallen gab es auch eine Kombinati-
on von beidem.
Zum Beleg seien einige Beispiele genannt, die nicht dem Bereich des heutigen
Niedersachsen entstammen. Liibeck verfiigte schon ab 1294 iiber eine Wasser-
kunst, die ebenfalls auf Initiative der ortlichen Brauer entstand.17 Im Jahr 1394
lieB eine so genannte Wasserrad-Gesellschaft in Bremen an der Weser eine Was-
13 Annette Flos, Wasserkunst und Wasserwerk. Hildesheimer Wasserversorgung im
Wandel der Zeit, Hildesheim 1992, S. 27-40.
14 Klaus Altmann, Die Celler Wasserversorgung. Von der Wasserkunst zum modernen
Wasserwerk, Celle 1981, S. 27-55.
15 Ebd.
16 Otto Flachsbart, Geschichte der Goslarer Wasserwirtschaft, Goslar 1928, S. 11-20.
17 Torsten Ludecke, Vom Brunnenwasser zum „Kunstwasser" - die Wasserversorgung
im mittelalterlichen und friihneuzeitlichen Liibeck, Liibeck 1980, S. 99.
Vom Umgang mit einer begrenzten Ressource 187
serkunst anlegen.18 Neben vielen Grundwasserbrunnen verfiigte die Stadt iiber
Pumpereien, Handpumpen an der Weser, zur Deckung des Grundbedarfs.19 In
Hamburg gab es zusatzlich zu den Grundwasserbrunnen die Moglichkeit der
Wasserentnahme aus den Fleeten. Seit dem 15. Jahrhundert existierten genossen-
schaftlich betriebene Quellwasserleitungen, die allerdings nicht ausreichten, um
den Bedarf zu decken. Im 16. Jahrhundert entstanden daher drei Wasserkiinste,
die ebenfalls von Interessentengemeinschaften unterhalten wurden.20 Abschlie-
Bend sollen noch zwei Beispiele aus dem siiddeutschen Raum angefiihrt werden.
Stuttgart erhielt das benotigte Wasser, neben der Versorgung aus Schopf- und
Ziehbrunnen, iiber Quellwasserleitungen.21 Zur Versorgung Miinchens wurden
nach 1400 verschiedene Quellen auBerhalb der Stadt erschlossen. Ab 1511 ent-
standen so genannte Brunnenhauser, Pumpwerke, die Grund- und Quellwasser
in die Stadt forderten. Die damit gespeisten Laufbrunnen in den Hofen der ange-
schlossenen Hauser waren standig in Betrieb.22
In den Stadten der vorindustriellen Zeit war die Beschaffung von Wasser weit-
gehend Privatsache, stand aber unter stadtischer Aufsicht. Erst im Verlauf des 19.
Jahrhunderts wurde die Versorgung zur rein kommunalen Aufgabe. In diesem
Kontext erfolgte die Zentralisierung der Versorgungseinrichtungen unter indu-
striellen Gesichtspunkten. Wasser war nun in groBerMenge verfiigbar, es wandel-
te sich zu einem Produkt, das verkauft wurde und dessen Preis umso geringer
wurde, je groBerdie bezogene Menge war.23 Im Verlauf der Entwicklung hat sich
beziiglich der Wassernutzung ein erheblicher Wandel vollzogen. Neben seiner
wichtigsten Funktion als Lebensmittel ist es heute hauptsachlich auf dem Pro-
duktionssektor und als Mittel der Hygiene sowie Entsorgung von Bedeutung. Bis
zum Ende der friihen Neuzeit spielten die letztgenannten Bereiche eine eher
untergeordnete Rolle.
Dennoch stellten Fragen der Entsorgung schon immer einen wesentlichen Pro-
blemfaktor urbaner Umwelt dar. Die Versorgung mit Wasser ist eine Lebensnot-
wendigkeit fur jede Ansiedlung, die Abwasserableitung ist ein notwendiges Ubel.
18 Herbert Schwarzwalder, Das Wasserrad an der Bremer Weserbriicke, in: Alfred
Loehr, Wasser. Zur Geschichte der Trinkwasserversorgung in Bremen, Bremen 1989, S. 16.
19 Ebd., S. 65.
20 Cornelia Moeck-Schlomer, Wasser zu FuB, in: Herbert Hotte, Wasser fur Hamburg.
Zur Geschichte der Hamburger Wasserversorgung und -entsorgung, Hamburg 1992, S. 14-21
u. Alfred Meng, Die Geschichte der Hamburger Wasserversorgung, Hamburg 1993, S. 31.
21 Jiirgen Hagel, Mensch und Wasser in der alten Stadt. Stuttgart als Beispiel und Mo-
dell, in: Die alte Stadt Jg. 14, 1987, S. 127-128.
22 Michael Schattenhofer, Die offentlichen Brunnen Miinchens, in: Otto Josef Bi-
strizki, Brunnen in Miinchen, Miinchen 1980, S. 10-14.
23 Vgl. dazu Olaf Grohmann, Geschichte der Wasser- und Energieversorgung der Stadt
Hannover, Hannover 1991, S. 52-81 u. 173-174.
188 Olaf Grohmann
Beide Bereiche sind seit jeher miteinander verbunden.24 Die Abwasserableitung
ist nur ein Teil des Entsorgungsaufkommens, das aus Regen- und Schmutzwasser,
Fakalien und sonstigen Abfallen aller Art besteht. Grundsatzlich hat sich seit
dem Bestehen stadtischer Ansiedlungen daran nichts geandert, im Lauf der Ent-
wicklung traten aber Veranderungen beziiglich der Menge und Zusammenset-
zung des Entsorgungsaufkommens auf, die Verfahrensweisen wurden geandert.
Ein Wandel vollzog sich seit Ende des 19. Jahrhunderts im Zusammenhang mit
Industrialisierung und Stadtewachstum. Durch die Einfiihrung zentraler Wasser-
versorgungseinrichtungen stand mehr Wasser zur Verfugung, dadurch nahm
zwangslaufig das Schmutzwasseraufkommen zu, die Einrichtung effektiver Kana-
lisationsanlagen wurde notwendig.
Seit Beginn des 20. Jahrhunderts ist die stadtische Entsorgung gepragt durch
unterirdische Ableitung von Schmutz- und Regenwasser sowie Fakalien auf dem
Wege der Misch- oder Trennkanalisation, Reinigung der Abwasser, kommunal
organisierte StraBenreinigung, Miillabfuhr und Deponierung. Vor Beginn der In-
dustrialisierung war das Entsorgungsaufkommen naturgema.6 wesentlich gerin-
ger. Die zur Verfugung stehende Wassermenge war nicht sehr groB, Fakalien
wurden nicht weggeschwemmt, sondern dienten als Diinger und auch das Miill-
aufkommen war nicht erheblich, da viele Materialien wieder verwendet wur-
den.25 Der groBte Problemfaktor der Abwasserableitung war die Tatsache, dass
es bis weit in das 19. Jahrhundert hinein kaum unterirdische Rohrsysteme gab,
sondern die Ableitung oberirdisch durch Abziige in den StraBen erfolgte. Somit
war die Funktionsfahigkeit dieses Verfahrens vom jeweiligen Zustand der Stra-
Ben abhangig.
Die meisten europaischen Stadte des Mittelalters waren landwirtschaftlich ge-
pragt und verfiigten anfangs nicht iiber gepflasterte StraBen.26 Im Gebiet nord-
lich der Alpen begann die StraBenpflasterung im spaten 13. Jahrhundert.27 Ein-
fachste Entsorgungsmoglichkeiten dermittelalterlichen Stadte waren Fliisse oder
Seen. Abtritte wurden oft iiber Wasserlaufen oder Abtrittgruben angelegt.28 Die
Regenwasserableitung erfolgte durch einfache Graben in den StraBen, ab Mitte
des 13. Jahrhunderts dienten dazu auch gemauerte Rinnen, die teilweise iiber-
24 Vgl. dazu Leopold u. Roma Schua, Wasser - Lebenselement und Umwelt. Die Ge
schichte des Gewasserschutzes, Freiburg i. Br. 1981, S. 80-81.
25 Wolfgang Schwarz, Die Bedeutung des Wassers in Mittelalter und Neuzeit, Leer
1996, S. 163 u. Peter Munch, Stadthygiene im 19. u. 20. Jahrhundert, Gottingen 1993, S. 24.
26 Schua, wie Anm. 24, S. 94.
27 Gottfried Hosel, Unser Abfall aller Zeiten. Eine Kulturgeschichte der Stadtereini-
gung, Miinchen 1987, S. 49 u. 53-62.
28 Martin Illi, Wasserentsorgung in spatmittelalterlichen Stadten, in: Die alte Stadt,
Jg. 20, 1993, S. 222.
Vom Umgang mit einer begrenzten Ressource 189
deckt waren. Probleme bereiteten das ungeniigende Gefalle und die geringe Tie-
fe der Rinnen, die bei Frost einfroren.29 Die Entsorgung von Hausabfallen und
Fakalien war Privatsache und erfolgte mittels Abort- und Abfallgruben auf den
Grundstiicken.30 Unrat wurde seit dem 13.Jahrhundert auch auf Deponieplatzen
gesammelt und, soweit moglich, wieder verwendet, aber auch in Fliisse entsorgt.
Letzteres gait ebenfalls fiir Exkremente, soweit sie nicht als Diinger verwendet
wurden, sowie fiir Tierkadaver.31
Durch die raumliche Enge, die wirtschaftlich notwendige Viehhaltung und die
storungsanfalligen Entsorgungseinrichtungen diirften die hygienischen Verhalt-
nisse in den mittelalterlichen Stadten nach heutigen MaBstaben schlecht gewe-
sen sein. Doch wurde versucht, die Verhaltnisse durch entsprechende Verord-
nungen zu verbessern. Im 14. Jahrhundert kam allmahlich eine Art Miillabfuhr in
Gang, verbunden mit MaBnahmen zur StraBenreinigung.32 Das beschriebene
Entsorgungssystem mit oberirdischer Regen- und Schmutzwasserableitung, Ab-
fuhr von Unrat und Sammlung von Fakalien in Gruben bestand auch in den Stad-
ten der friihen Neuzeit fort.
Die Entsorgung von Fakalien, Abfallen und Abwasser war strikt nach dem Ver-
ursacherprinzip geregelt.33 Idealtypisch gait dabei eine Trennung des Entsor-
gungsaufkommens. Schmutzwasser konnte zusammen mit Regen- und Schmelz-
wasser iiber die Gossen der StraBen oberirdisch abgeleitet werden, unterirdische
Kanale waren die Ausnahme. Menschliche und tierische Exkremente mussten in
Gruben respektive Misthaufen gesammelt und von Zeit zu Zeit aus der Stadt ge-
bracht werden. Gleiches gait fiir Abfalle aller Art. Eine wichtige Rolle spielte im
Kontext der Abwasserableitung die StraBenreinigung, da sie fiir die Funktions-
fahigkeit der Entwasserung von groBer Bedeutung war. Mit einer gewissen Va-
riationsbreite war dieses System der Entsorgung in alien mittelalterlichen und
fruhneuzeitlichen Stadten iiblich. In der Praxis bereitete die Einhaltung jedoch
haufig Probleme. Insbesondere Wasserlaufe waren beliebte Deponien fiir Ex-
kremente und Abfalle. Seit dem 17. Jahrhundert existierte im Bereich der Ent-
sorgung eine zunehmende offentliche Kontrolle. Im Lauf des 18. Jahrhunderts
wurden die Bemiihungen um die Sauberkeit der Stadte jedoch intensiviert,
Entsorgung zunehmend als kommunale Aufgabe begriffen.34 Das Prinzip des
Wegschwemmens von Abfall und auch Fakalien fand verstarkt Verwendung, ver-
29 Munch, wie Anm. 25, S. 24.
30 Schwarz, wie Anm. 25, S. 164.
31 Schua, wie Anm. 24, S. 103 u. Schwarz, wie Anm. 25, S. 165-166.
32 Hosel, wie Anm. 27, S. 49 u. 53-62.
33 Ulf Dirlmeier, Zu den Lebensbedingungen in der mittelalterlichen Stadt, in: Bernd
Herrmann (Hrsg.), Mensch und Umwelt im Mittelalter, Stuttgart 1986, S. 154.
34 Schua, wie Anm. 24, S. 186.
190 Olaf Grohmann
bunden allerdings mit steigender Gewasserbelastung.35 Die im Lauf des 19. Jahr-
hunderts erheblich wachsenden Stadte mit ihrer zunehmenden Bevolkerung
machten weitergehende MaBnahmen auf dem Sektor der Entsorgung fliissiger
und fester Abfalle notwendig. Unter dem Eindruck groBer hygienischer Proble-
me, aber auch auf der Basis neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse setzte sich
nach 1870 die Schwemmkanalisation durch, seit Beginn des 20. Jahrhunderts all-
gemein verbunden mit MaBnahmen der Abwasserbehandlung.36
Die Modalitaten der Abwasserentsorgung sind fur die friihneuzeitlichen Stadte
Nordwestdeutschlands nursparlich dokumentiert. Zwarfinden sich Hinweise auf
den Umgang mit Abwasser und Abfall in den stadtischen Verordnungen, auch
die im Fall von VerstoBen gegen die Vorschriften verhangten Strafen sind iiber-
liefert. Hinsichtlich der baulichen Einrichtungen liegen jedoch nur in wenigen
Fallen umfangreiche Auswertungen vor. Es ist davon auszugehen, dass Schmutz-
wasser als so genanntes Oberflachenwasser dem Gefalle der StraBen folgend in
die Stadt- und Verteidigungsgraben sowie in die Fliisse gelangte. Fiir Celle findet
sich der Hinweis, eine geregelte Abwasserableitung und Abfallentsorgung sei
nicht vorhanden gewesen.37 Auch in Goslar scheint es keine systematische Ent-
wasserung gegeben zu haben. Sofern es nicht in den vorhandenen Sickergruben
aufgefangen wurde, lief das Abwasser iiber die StraBen ab und fand so seinen
Weg in die Vorfluter. Eine umfangreichere Uberlieferung existiert fiir die bauli-
chen Einrichtungen der Abwasserentsorgung der Stadt Hannover. Im folgenden
Abschnitt soil darauf sowie auf die Wasserversorgungseinrichtungen anhand ei-
niger Beispiele naher eingegangen werden.
Das Beispiel Hannover
Die Versorgung mit Flusswasser
In erster Linie zur Beschaffung von Brauwasser entstand in der hannoverschen
Altstadt im Jahr 1535 eine relativ leistungsfahige Wasserkunst,38 deren Inbetrieb-
nahme aber nicht den Anfangspunkt der hannoverschen Flusswasserversorgung
darstellt, sondern eher eine quantitative Verbesserung der Versorgungssituation
herbeifiihrte. Schon langere Zeit davor gab es Anlagen zur Flusswasserversor-
gung, iiber die allerdings aus der Uberlieferung keine vollstandige Klarheit zu er-
langen ist.
35 Ebd., S. 186 u. 188.
36 Hosel, wie Anm. 27, S. 111.
37 Altmann, wie Anm. 14, S. 54-55.
38 HStAH (Niedersachsisches Landesarchiv Hauptstaatsarchiv Hannover) Hann. 51
Nr. 247 I.
Vom Umgang mit einer begrenzten Ressource 191
Grupen erwahnt in seinen Aufzeichnungen einen stadtischen Wasserhof mit
Wasserpforte und Wasserzucht,39 wobei es sich um einen umzaunten Platz ge-
handelt haben diirfte, an dem Wasser aus der Leine entnommen, und von dem
aus es in die Stadt geschafft wurde. Noldeke nennt neben der stadtischen „Water-
tucht", die er auf dem Werder zwischen den Leinearmen lokalisiert, noch „den II-
tenschen Wasserhof beim Minoritenkloster" und eine „Watertucht am Himmel-
reiche", nach deren Anlage 1487 die stadtische „Watertucht" eingegangen sei.40
Ebenfalls nach Noldeke entstand im Jahr 1468 hinter dem Iltenschen Wasserhof
in der Verlangerung der DammstraBe ein Schopfrad, das Wasser in einen Behal-
ter forderte, von wo aus es durch eine Holzrohre in den Brunnen auf dem Markt
gelangte. Von dort verteilte es sich durch Nebenrohren in die Stadt und konnte
gegen Zahlung eines Bornzinses genutzt werden.41 Miiller geht von der Existenz
eines Schopfrades bereits seit 1352 aus, wobei das geforderte Wasser in Fasser ab-
gefiillt und mittels Fuhrwerken zu den Abnehmern gebracht worden sein soil.42
Dariiber hinaus erwahnt er eine Winde mit eisernen Ketten zur Wasserforderung
als technische Weiterentwicklung.43 Das im Jahr 1468 errichtete Wasserrad be-
schreibt Mithoff als Straubrad mit SchopfgefaBen an einer Seite der Felgen, die
das Wasser in einen „Kump" neben dem Rad gossen und so ein Leitungsrohren-
system speisten.44 In seiner Darstellung des Finanzwesens der Stadt Hannover im
Mittelalter erwahnt VoB den fur diese Art der Wasserversorgung zu zahlenden
Bornzins.45
Aus dem kurzen geschichtlichen Abriss, der den Wasserkunst-Administra-
tionsregistern der Altstadt aus dem spaten 18. Jahrhundert vorausgeht, ist zu ent-
nehmen, dass noch zu Beginn des 16. Jahrhunderts Wasser in Fassern zu den
Abnehmern gefahren wurde.46 Offensichtlich gab es vor 1535 mehrere Einrich-
tungen zur Flusswasserversorgung in Hannover, die parallel genutzt wurden. Ei-
ne Erklarung dafiir bietet die Vermutung, dass keine der erwahnten Vorrichtun-
gen allein den Wasserbedarf decken konnte. Die GroBe der zum Wassertransport
benutzten Fasser war logischerweise begrenzt, und auch die Forderkapazitat des
39 Christian Ulrich Grupen, Origines et antiquitates Hanoverenses, Gottingen 1740,
S. 394.
40 Arnold Noldeke, Die Kunstdenkmaler der Stadt Hannover, 1. Teil. Denkmaler des
„Alten" Stadtgebietes Hannover, Neudruck Osnabriick 1979, S. 727.
41 Ebd., S. 728-729.
42 Siegfried Muller, Leben im alten Hannover, Hannover 1986, S. 68-69.
43 Ebd., S. 69.
44 H. Mithoff, Ergebnisse aus mittelalterlichen Lohnregistern der Stadt Hannover, in:
Zeitschrift des Historischen Vereins fur Niedersachsen Jg. 1871, S. 161-162.
45 Fritz Voss, Das Finanzwesen der Stadt Hannover im Mittelalter, in: Hannoversche
Geschichtsblatter 24, 1921, S. 190.
46 HStAH Hann. 51 Nr. 247 I-IV.
192 Olaf Grohmann
Schopfrades diirfte nicht erheblich gewesen sein. Abgesehen von Betriebsunsi-
cherheiten durch wechselnde Wasserstande schrieb die maximale GroBe des Ra-
des die Forderhohe und damit auch die Hohe des Wasserbehalters vor. Da so
kein groBer Wasserdruckin den Verteilungsrohren erreicht werden konnte, muss
die verteilte Wassermenge verhaltnismaBig klein gewesen sein. Fur die Existenz
dieser Versorgungsanlage gibt es zwei Belege. Aus dem Jahr 1534 stammt ein
Verbot, Wasser unnotig aus den Brunnen laufen zu lassen,47 es handelte sich also
um Laufbrunnen, die von einer permanent arbeitenden Forderanlage gespeist
werden mussten. 1541 wurde zur Versorgung der SchmiedestraBe mit Flusswas-
ser eine Rohrleitung vom Brunnen auf dem Markt gelegt.48 Zwar existierte zu je-
nem Zeitpunkt schon das bereits erwahnte neue Pumpwerk, der als Piepenborn
bekannte Verteilerbrunnen entstandjedoch erst 1551. 49 Hierliegt derSchluss na-
he, dass ein bereits vorhandenes Leitungsnetz nach dem Bau eines neuen Pump-
werkes weiter genutzt wurde. In Redeckers Chronikfindet sich dazu folgende Be-
merkung: 1535 ist das Bornkunst-Haus in derLeine vor dem Miihlenthor gebauet, ... Die
Wasserkunst an sich aber ist schon einige Jahre zuvor angeleget.50 Das Zitat darf aber
nicht dahingehend missverstanden werden, als sei lediglich ein neues Gebaude
errichtet worden, auch das Pumpwerk war eine leistungsfahigere Neukonstrukti-
on. Anlass fur den Neubau, dessen Grundstein 300 Brau-Interessenten unterFiih-
rung des Rates im Jahr 1527 legten,51 war der steigende Wasserbedarf der hanno-
verschen Brauhauser.52 1535 ging das 80.000 Gulden teuere Pumpwerk in Be-
trieb.53 In mehrfach modifizierter Form bestand es bis zum Jahr 1896 und wurde
dann durch einen Neubau ersetzt.54
Die Quellenlage beziiglich des Flusswasserpumpwerkes der Altstadt ist recht
sparlich. Unterlagen existieren weder fur die Konstruktion aus dem Jahr 1535
noch fur die folgenden rund 200 Jahre, von einigen wenigen Ausnahmen abgese-
hen. Noldeke und Miiller zitieren eine Beschreibung der Anlage aus Merians To-
pographie,55 aus dem Jahre 1696 existiert ein Antwortschreiben des Rates an den
Celler Brunnen- und Wassermeister Benedict de Miinter, in dem dieser einige Er-
47 StAH (Stadtarchiv Hannover) B 8254.
48 StAH B 8266.
49 Noldeke, wie Anm. 40, S. 731.
50 Aus Redeckers Aufzeichnungen, in: Hannoversche Geschichtsblatter 9, S. 175, vgl.
StAH B 8078.
51 HStAH Hann. 51 Nr. 247 I.
52 Vgl. August Lohdefink, Die Entwicklung der Brauergilde der Stadt Hannover zur
heutigen Erwerbsgesellschaft, in: Hannoversche Geschichtsblatter 28, 1925 S. 18-21.
53 HStAH Cal. Br. 8 Nr. 673.
54 Grohmann, wie Anm. 23, S. 22 u. 63 f.
55 Vgl. Muller, wie Anm. 42, S. 69 u. Noldeke, wie Anm. 40, S. 730.
Vom Umgang mit einer begrenzten Ressource 193
lauterungen zum hannoverschen Flusswasserversorgungssystem erhielt.56 Hin-
weise auf den laufenden Betrieb der Anlage bieten auch die Borngiildenregister,
in denen unter anderem die Kosten fur kleinere Reparaturen, Ersatzteile und Be-
triebsmittel verzeichnet sind.57 Eine genaue Beschreibung der Anlage enthalt
erst der Bericht iiber die im Jahr 1794 vorgenommene Hauptreparatur des Pump-
werks, wobei neben einer weiteren Hauptreparatur im Jahr 1751 auch einige Ein-
zelheiten der urspriinglichen Konstruktion von 1535 Erwahnung finden.58
Die vorhandenen Hinweise erlauben nur, ein ungefahres Bild der Ver-
sorgungsanlage zu zeichnen. Die von Noldeke zitierte Beschreibung in Merians
Topographie lautet: Da treibet ein grofees Rad am Leinestrom 1 6 Stampfen wodurch das
Wasser etliche Ellen in die Hohe gezucket und gefiihret wird, darnach durch kupferne Cand-
le herunterfallt und unter derErde bis auf den Markt geleitet wird, . . . 59 Diese Darstel-
lung bedarf sowohl der Erganzung, als auch der Korrektur anhand der wenigen
vorhandenen Quellen. Die Wasserkunst befand sich unmittelbar an der so ge-
nannten Klickmiihle, einem der stadtischen Miihlensysteme, das aus mehreren
einzelnen Miihlen bestand.60 Die Klickmiihle lag in der siidwestlichen Ecke der
Stadt, in unmittelbarerNahe des spater erbauten Schlosses.61 Das Fundament des
Kunsthauses bestand aus dicht an dicht eingerammten Holzpfahlen, teils im
Uferbereich, teils im Fluss selbst.62 Das Kunsthaus war ein quadratischer Ziegel-
turm, auf dessen drittem Boden ein Wasserbehalter untergebracht war.63
Die Anzahl der Pumpen ist von Merian falsch angegeben worden, die
urspriingliche Anlage von 1535 verfiigte iiber sechs Pumpen,64 gegen Ende des
18. Jahrhunderts waren nur noch vier Pumpen in Betrieb, zwei davon mit einem
Durchmesser von zwolf Zoll, zwei mit einem Durchmesser von acht Zoll.6S Im
Zuge der Instandsetzungsarbeiten von 1794 erneuerte man zwar die Pumpen, ih-
re GroBe blieb jedoch unverandert, die Anlage wurde allerdings fur den Betrieb
zweier weiterer Pumpen vorgerichtet, um etwaigen groBeren Wasserbedarf
befriedigen zu konnen, die Pumpen bestanden aus Metall. Fur den Antrieb der
Pumpen sorgte ein Wasserrad mit einem Durchmesser von 21 FuB 10 Zoll und ei-
ner Breite von 4 Va FuB. Die Welle fur Wasserrad und Pumpenantrieb war 32 FuB
56 StAC (Stadtarchiv Celle) 8 A Nr. 46.
57 Vgl. StAH B 6943-B 6947 u. B 2128-B 2137.
58 Vgl. StAH B 8165m.
59 Noldeke, wie Anm. 40, S. 730.
60 Vgl. Wilhelm Kleeberg, Niedersachsische Miihlengeschichte, Hannover 1978, S. 112
u. StAH B 8165 Anlagen 4 u. 6.
61 Vgl. StAH B 8165 Anlage 14.
62 StAH B 8165.
63 Noldeke, wie Anm. 40, S. 730.
64 HStAH Hann. 51 Nr. 247 I.
65 HStAH Cal. Br. 8 Nr. 673.
194 Olaf Grohmann
3 Zoll lang und hatte einen Durchmesser von 25 Zoll. Die Pumpen wurden von
Scheiben angetrieben, die auf der Welle befestigt waren.66 Die Leistungsfahigkeit
der ersten Anlage von 1535 wird in den Quellen mit 8.000 Tonnen Wasser in 24
Stunden angegeben.67 Nach den Instandsetzungsarbeiten von 1794 betrug die
Leistungsfahigkeit 14.322 Tonnen in 24 Stunden bei einer Geschwindigkeit des
Antriebsrades von 3 Va U/min,68 war also fast verdoppelt worden.69 Aus dem Be-
richt iiber die Hauptreparaturen geht hervor, dass vor 1794 die Leistungsfahigkeit
der Anlage iiber derjenigen des ersten Pumpwerks von 1535 lag,70 somit miissen
schon vor 1794 groBere Veranderungen an derMaschine vorgenommen worden
sein, iiber die keine Uberlieferung vorliegt.
Die Angaben iiber die Leistungsfahigkeit des Pumpwerks stellen aus mehreren
Griinden nur einen theoretischen Wert dar. Die Fordermenge hing ab vom Was-
serstand des Flusses, der allerdings durch den Aufstau, der zum Betrieb der Miih-
len und der Wasserkunst eingerichtet worden war, einen gewissen Ausgleich er-
fuhr. Die Menge des tatsachlich zu erhaltenden Wassers bestimmte dagegen ne-
ben der Bohrung der Leitungsrohren wesentlich deren Zustand. Gewohnlich war
die Anlage nur wahrend des Tages in Betrieb, da die Benutzung von offenem
Licht fur die in groBen Teilen aus Holz bestehende Maschine eine groBe Brand-
gefahr darstellte. Im Sommer endete der Betrieb gegen 22.00 Uhr, im Winter hin-
gegen um 20.00 Uhr.71 Nachtlicher Betrieb fand nur in Ausnahmefallen nach
Weisung des Biirgermeisters statt, in jedem Fall dann, wenn ein Feuer ausgebro-
chen war.72 Problematisch gestaltete sich derKunstbetrieb auch im Winter. Zwar
versuchte man, die Hauptrohren vom Pumpwerk zum Marktplatz betriebsfahig
zu halten, um Loschwasser zur Verfiigung zu haben, und auch die anderen Roh-
ren sollten nach Moglichkeit offen gehalten werden,73 was in der Praxis jedoch
nicht immer leicht zu bewerkstelligen war.74 Um das Pumpwerk vor dem Ein-
frieren zu schiitzen, hatte man bis 1794 in dafiir vorgesehenen Maueroffnungen
Feuer entfacht, erst im Zuge der Reparaturen von 1794 wurden Ofen und Schorn-
steine eingebaut, um dem Risiko eines Brandes zu entgehen.75 In den mehreren
Jahrhunderten seines Bestehens war das Pumpwerk dem im normalen Betrieb
66
StAH B 8165.
67
HStAH Hann
. 51 Nr.
274 I u.
StAH B 8165.
68
StAH B 8165.
69
HStAH Hann
. 51 Nr.
2741.
70
StAH B 8165,
vgl. Cal. Br. 8 Nr. 673.
71
Vgl. HStAH Cal. Br.
23b Nr.
475 u. StAC 8 A Nr.
46
72
Ebd.
73
Ebd.
74
Ebd.
75
StAH B 8165.
Vom Umgang mit einer begrenzten Ressource 195
auftretenden VerschleiB ausgesetzt, neben den iiberlieferten groBen Reparaturen
von 1751 und 1794, bei denen die Anlage komplett auBer Betrieb gesetzt und die
Leine abgedammt wurde,76 fanden laufend kleinere Instandsetzungsarbeiten
statt, dariiber geben die Verzeichnisse der Borngiildenregister ebenso Auskunft
wie iiber die laufend benotigten Betrieb smittel wie Fett, Dichtmittel, Holz, Nagel
und Schrauben.77 Wahrend der AuBerbetriebnahme von 1751 mussten Tageloh-
ner mit Hilfe einer Spritze das Wasserbecken im Kunsthaus sowie Fasser auf of-
fentlichen Platzen fiillen, auBerdem hatte jeder Burger in seinem Haus einen
Wasservorrat anzulegen. 1794 dagegen errichtete man ein Interrims-Kunstwerk,
das die Wasserversorgung aufrecht erhielt.78
Die Wasserkunst von 1535 verfiigte iiber einen auf dem dritten Boden des
Kunsthauses angebrachten Behalter von 341 'A KubikfuB Fassungsvermogen.79
Der Behalter bestand aus Holz und war mit Kupferblech ausgekleidet. Nach den
Hauptreparaturen der Anlage bestand die Moglichkeit, das Reservoir mittels ei-
ner Klappe im Schornstein des Kunsthauses zu warmen und gegen Einfrieren zu
schiitzen.80 Aus dem Behalter gelangte das Wasser durch ein Fallrohr in das Ver-
teilersystem.81 Das 44 FuB iiber dem Boden angebrachte Reservoir war als Vor-
ratsbehalter zu klein, somit liegt der Schluss nahe, dass seine Funktion in erster
Linie darin bestand, einen konstanten und gleichmaBigen Wasserdruckzu garan-
tieren. Aus dem Bericht iiber die Hauptreparaturen der Wasserkunst imjahr 1794
geht hervor, dass der Behalter bereits nach 20 Minuten Pumpenbetrieb vollstan-
dig gefiillt war und dass die Maschinen eine groBere Wassermenge forderten, als
in die Stadt geleitet werden konnte. Der Uberschuss floss durch ein Abzugsrohr
zuriick in den Fluss.82
Reprasentationsobjekt des Altstadter Flusswasserversorgungssy stems und zu-
gleich Zierde der Stadt war der als Verteiler fungierende Piepenborn.83 Der 1551
angelegte Brunnen bestand aus einem achtseitigen Steinbecken und ahnelte da-
mit dem auf dem Hildesheimer Marktplatz befindlichen Rolandbrunnen.84 Aus
der Mitte des Beckens erhob sich eine Saule mit vierRohren, die mit ebenso vie-
len Lowenkopfen als Wasserspeier versehen waren. Auf der Saule befand sich ein
76 Ebd.
77 Vgl. StAH B 6943-B 6947.
78 StAH B 8165.
79 HStAH Hariri. 51 Nr. 247 I u. StAH B 8165.
80 StAH B 8165 u. HStAH Cal. Br. 8 Nr. 673.
81 StAH B 8165.
82 Ebd.
83 Ebd.
84 Ulrich Stille, Der Piepenborn von 1551, in: Hannoversche GeschichtsblatterN. F. 10,
1955, S. 129.
196 Olaf Grohmann
zweites Becken, iiberragt von einer steinernen Figur, dem so genannten Hans-
chen auf dem Piepenborn.85 Der Brunnen war mit Steintafeln geschmiickt, die
biblische Szenen zeigten, deren gemeinsames Grundmotiv das Wasser bildete.86
Dabei ging es um die Segen spendende und bindende Kraft des Wassers, um sei-
ne Funktion als lebenserhaltendes und Leben erweckendes Element, um seine
reinigende und heilende Kraft. Die Kantenstiicke des Beckens trugen allegori-
sche Darstellungen der Planeten.87 Nach Stille entsprach die kiinstlerische Ge-
staltung des Brunnens dem Stil des Mittelalters, die abgebildeten Personen tru-
gen, mit Ausnahme des Christus und des Moses, Kleidung, Haar- und Barttracht
des 16. Jahrhunderts.88 Darin sieht Stille den Grund fur den Abbruch und Neu-
bau des im 17. Jahrhundert als nicht mehr zeitgemaB empfundenen Brunnens,
wahrend Noldeke den Neubau als MaBnahme zur Verbesserung der Wasser-
versorgung ansieht, seine Annahme allerdings nicht begriindet.89 Der neue Brun-
nen entstand von 1618 bis 1620, iiber eine Veranderung der Wasserverteilungs-
einrichtungen in diesem Zusammenhang ist nichts bekannt.90 Im Jahr 1719 er-
folgten erneut Veranderungen am Piepenborn, dabei handelte es sich um den
letzten Umbau der Anlage vor ihrem Abbruch Ende des 18. Jahrhunderts.91 Der
mit barocken Verzierungen versehene Brunnen trug den Namen Aktaonbrun-
nen nach der Figur, die seinen oberen Abschluss bildete.92 Die verschiedenen
Umbauten des Piepenborns, der als Reprasentationsmittel stadtische Wohlha-
benheit und Geltung verkorperte, belegen, dass er in dieser Funktion den Wand-
lungen des Zeitgeschmacks unterworfen war.
Wie erlautert, fiihrte der gestiegene Bedarf an Brauwasser im 16. Jahrhundert
in Hannover zur Errichtung eines Pumpwerks auf Initiative der Brauinteressen-
ten. Es ist nicht mit Bestimmtheit zu sagen, ob die Brauer die Kosten fiir die Anla-
ge vollstandig iibernahmen. Eine Aktennotiz in diesem Zusammenhang besagt,
die Kunst sei nach ihrer Fertigstellung Kammereigut geworden.93 Moglicherwei-
se lieBen die Brauer die Anlage nach ihrer Fertigstellung in das Eigentum der
Stadt iibergehen und diese iibernahm die Wartung und Instandhaltung. Die
Brauer als Gemeinschaft trugen dennoch weiterhin zur Erhaltung der Anlage, be-
85 Ebd.
86 Ebd., S. 130.
87 Ebd., S. 132.
88 Ebd., S. 135.
89 Ebd. u. Noldeke, wie Anm. 40, S. 733.
90 Friedrich Tewes, Errichtung eines Brunnens auf dem Markte zu Hannover, in: Han
noversche Geschichtsblatter 2, 1899, S. 278-279.
91 Noldeke, wie Anm. 40, S. 735-736 u. StAH B 8165.
92 Noldeke, wie Anm. 40, S. 735-736.
93 HStAH Cal. Br. 8 Nr. 673.
Vom Umgang mit einer begrenzten Ressource 197
sonders der Hauptrohren zwischen Pumpwerk und Piepenborn, bei, indem sie
den Borngulden entrichteten.94 Innerhalb der Gruppe der Brauhausbesitzer exi-
stierten insgesamt 16 Untergruppen, die als Nachbarschaften Eigentiimer je eines
der 16 vom Piepenborn ausgehenden Verteilerrohre waren. Sie hielten diese in-
stand und regelten die Nutzung intern. Fiir die Brunnenpfosten und die dafiir not-
wendigen Abrohre war jeder Hauseigentumer selbst verantwortlich, diese Teile
der Anlage gehorten dementsprechend nicht zum Eigentum der Nachbar-
schaft.95 Die Nachbarschaften wahlten aus dem Kreis ihrer Mitglieder einen
oder zwei Brunnenherren, die die Rechnung fiihrten, notwendige Reparaturen
an der Rohrleitung veranlassten und den Kunstmeister fiir die betreffenden
Arbeiten bezahlten.96 Genauso wie im Fall der Grundwasserbrunnen, wurden
die Nachbarschaften verwaltungstechnisch den HauptstraBen der Stadt zuge-
rechnet. In der OsterstraBe existierten drei Nachbarschaften, in der MarktstraBe
sechs, in der KobelingerstraBe vierund in derLeinstraBe drei.97 Zu Brunnenher-
ren wurden gewohnlich diejenigen Hausbesitzer gewahlt, die dieses Amt die
langste Zeit nicht ausgeiibt hatten.98 Trat ein neuer Hauseigentumer in die Nach-
barschaft ein, musste er als Einstand einen Geldbetrag entrichten." War ein
Nachbar zahlungsunfahig, hatten die iibrigen Mitglieder der Nachbarschaft fiir
ihn einzustehen.100 Uberden Turnus der Abrechnungen gibt es unterschiedliche
Angaben, die von einerjahrlichenFrequenzbis zu einer variablen Abfolge nach den
Umstdnden alle zwei bis dreijahre reichen. 101
Es ist keine genaue Angabe dariiber moglich, seit wann die auch als Brunnen-
rohrgesellschaftenW2 bezeichneten Nachbarschaften existierten, doch finden in ei-
ner Brunnenordnung von 1567 die BornherrenErwahming, die die Einhaltung der
Vorschriften beziiglich der Wasserversorgung zu kontrollieren hatten.103 Imjahr
1535 erhielten einige Burger der Stadt die Erlaubnis des Rates, ein Rohr vom
Marktbrunnen zur SchmiedestraBe zu verlegen, woraus abzuleiten ist, dass die
nachbarschaftliche Organisation zumindest seit Inbetriebnahme des Pumpwerks
vorhanden war.104
94 Vgl. StAH B 6943-6947, B 2128-2137 (Bornguldenregister).
95 StACSANr. 46.
96 Ebd.
97 Ernst Anton Heiliger, Rathauslicher Schematismus der Residenzstadt Hannover auf
dasjahr 1771, in: Hannoversche Geschichtsblatter 8, 1905, S. 63-64.
98 Ebd.
99 Ebd.
100 HStAH Cal. Br. 23b Nr. 475.
101 Vgl. HStAH Cal. Br. 23b Nr. 475, StAC 8 ANr. 46 u. Heiliger, wie Anm. 97, S. 65.
102 StAH A 4379.
103 StAH B 8117.
104 StAH B 8266.
198 Olaf Grohmann
Neben der Regelung der Instandhaltungs- und Finanzierungsfragen oblag den
Nachbarschaften auch die Uberwachung der korrekten Nutzung der Versor-
gungseinrichtungen und der Verteilung des gelieferten Wassers. Die Flusswasser-
versorgung der hannoverschen Altstadt funktionierte nicht als System der perma-
nenten Versorgung, sondern lieferte Wasser zu bestimmten Zeiten und zu
bestimmten Zwecken. Grundlage fur die Selbstkontrolle der Nachbarschaften
bildeten die jeweils giiltigen stadtischen Brunnenordnungen. Danach sollte jede
unniitze Wasserentnahme vermieden werden, die Anlage von so genannten Un-
terzapfen, die nicht der Schrodung entsprachen, war ebenfalls untersagt.105
Zur Regelung dergemeinschaftlichen Nutzung derRohre und auch als Reakti-
on auf Funktionsstorungen innerhalb der Nachbarschaften, schlossen die Mit-
glieder Vertrage ab. Ein solcher von den Nachbarn der SchmiedestraBe imjahr
1602 geschlossener Vertragliegt in einerBeschreibung von 1809 vor. Der Vertrag
regelte in insgesamt 29 Artikeln die Modalitaten der Instandhaltung der Rohrlei-
tung. Der Grund fur den Abschluss des Vertrages lag darin, dass es Mangel an
dem Borne der Nachbarschaft gab, die Beitrage und Rechnungen nicht rechtzeitig
bezahlt wurden. Fur die Instandhaltung entrichtete jeder Hausbesitzer jahrlich
zwei Gulden und acht Groschen, Inquilinen zahlten die Halfte.106
Welche Probleme bei der gemeinschaftlichen Nutzung der Versorgungsanla-
gen auftreten konnten, zeigt ein Auszug aus dem Rezess der Brunneninteressen-
ten der MarktstraBe von 1690: . . . bleibet es auch bey voriger Verordnung in diesen
Puncten, und dam.it auf den Piepenborn und die Schrodung, umb dieselbe im Richtigen Un-
verriickten Stande jederzeit zu erhalten,fleifeige acht gegeben werde, sollen die vorhin schon
verbotenen Unterzapfen hiermit gantzlich abgeschaffet und nochmals verbothen seyn, und
da inskiinftige sichjemanddes Unterbohrens wieder unterfangen sollte, gegen denselben soil
das alte hergebrachte Nachbahrn Recht zur Hand genommen, und der Slender gleich wie
vorhin verordnet, sambt dem Brunnen Bohrer abgehaven werden}07 Die Verschaffung ei-
nes unerlaubten Vorteils beim Wasserbezug hatte den Verlust der Nutzungsbe-
rechtigung und den Ausschluss aus der Gemeinschaft zur Folge. Die Nachbar-
schaften waren auch der Kontrolle der stadtischen Administration unterworfen.
1794 setzte der Magistrat fiir die Nachbarschaft der SchmiedestraBe einen Rech-
nungsfiihrer ein, weil UnregelmaBigkeiten bei der Abrechnung vorgekommen
waren.108 Ein interessantes Beispiel fiir die Gemeinschaft stiftende Funktion der
nachbarschaftlichen Organisation der Wasserversorgung ist die so genannte
Brunnenzehrung. Es wariiblich, dass bei der turnusmaBigen Abrechnung derje-
105 Vgl. StAH B 8117 u. HStAH Cal. Br. 23b Nr. 475.
106 StAH A 4379.
107 HStAH Harm. 72 Hannover Nr. 116.
108 StAH A 4379.
Vom Umgang mit einer begrenzten Ressource 199
weilige Rechnungsfiihrer ein Festessen veranstaltete.109 Dieses dauerte anfangs
einen, spater zwei Tage und scheint zu Ausschweifungen gefiihrt zu haben.110 Im
Jahr 1718 beklagte sich ein Burger der hannoverschen Altstadt dariiber, dass die
Mitglieder seiner Nachbarschaft versucht hatten, seinen Brunnenstander gewalt-
sam niederzureiBen. In der darauf folgenden Untersuchung durch die landes-
herrliche Behorde wurde vermutet, der betreffende Burger sei dem Brunnen-
rohrregister der Nachbarschaft etwas schuldig geblieben und habe so den Streit
ausgelost. Als eigentliche Ursache sah die Behorde aber die Brunnenzehrung an,
weil durch Schmausen und Zechen grofee Unordnung, Trunkenheit und Exzesse entstiin-
den. AuBerdem iiberfordere die Ausrichtung der Brunnenzehrung manchen Bur-
ger in finanzieller Hinsicht. Weil sie vdllig nutzlos sei, wurde die Brunnenzehrung
auf koniglichen Befehl verboten, fand jedoch kurz darauf erneut statt.111 In der
Brunnenordnung von 1731 wurde das Verbot der Brunnenzehrung bestatigt, es
war jedoch erlaubt, bei der jahrlichen Abrechnung ungendtigt und ohne Zwang drei
geringe Essen und ein Glas Broihan zu geben.112
Im Verlauf des lS.Jahrhunderts diente das Flusswasserversorgungssystem ver-
starkt kommunalen Zwecken, in erster Linie der Reinigung der StraBen. Die
Nachbarschaften mussten die dazu benotigten Notbrunnen auf ihre Kosten ein-
richten und unterhalten. Lediglich einige abgelegene Notbrunnen wurden aus
der gemeinen Biirger-Cassebezahlt.113 Durch den Niedergang des Brauwesens und
die Tatsache, dass viele Brauhauserim Besitz von Personen waren, die nichtbrau-
ten, verlor das System seinen urspriinglichen Charakter. Dennoch blieben die
Nachbarschaften bis zumjahr 1847bestehen, seit 1810 waren jedoch auch die Bo-
denerhauser an den Kosten des Leitungssystems beteiligt.114 Im Zusammenhang
mit dem wachsenden Interesse an Hygienefragen diente die Flusswasserversor-
gung im Laufe des lS.Jahrhunderts zunehmend offentlichen Zwecken, ging 1847
vollstandig in den Besitz der Stadt iiber und war somit fur alle Einwohner der Alt-
stadt, einige Jahre spater auch fur diejenigen der Neustadt, nutzbar.115
Beger und Walter behaupten in ihren aus den 40er und 50er Jahren des 20.
Jahrhunderts stammenden Darstellungen der Geschichte der hannoverschen
Wasserversorgung, Konflikte aufgrund von Wassermangel hatten dazu gefiihrt,
dass nur drei oder vier der 16 vom Piepenborn abgehenden Hauptrohren gleich-
zeitig Wasser liefern konnten, die Ubrigen aber in regelmaBigem Wechsel ver-
109
StAC 8 A Nr. 46.
110
StAH B 8134.
111
StAH B 8134.
112
HStAH Cal. Br. 23b Nr. 475.
113
Ebd. u. Heiliger, wie Anm. 97, S. 64.
114
HStAH Hann. 80 Hannover I Cd. Nr. 620 u. Cal. Br. 8 Nr. 673
115
StAH B 1794.
200 Olaf Grohmann
schlossen wurden. Weiterhin sei an den angeschlossenen Rohrleitungen keine
gleichzeitige Wasserentnahme an mehreren Zapfstellen moglich gewesen.116
Miiller und Hauptmeyer iibernehmen diese Sichtweise,117 die aber durch die
Uberlieferung nicht eindeutig belegt ist. Der Piepenborn war in der Tat mit Venti-
len ausgestattet, die das Absperren der einzelnen Rohre ermoglichten, doch ist
hier zu beachten, dass die Flusswasserversorgung der Altstadt kein System der
permanenten und konstanten Versorgung bildete, sondern dass das Wasser bei
Bedarf und nach vorheriger Anmeldung abgegeben wurde, schon aus Griinden
der Bezahlung. Zwar verfugte jeder Inhaber eines Brunnenpfostens iiber einen
Stellschliissel fur das zugehorige Ventil, doch durfte taglich nur eine geringe Was-
sermenge fur den Haushaltsbedarf unangemeldet entnommen werden.118 Wurde
jedoch aus einem der 16 Rohre Wasser zum Brauen entnommen, mussten alle an-
deren Zapfstellen an dem betreffenden Rohrgeschlossen bleiben.119 Diese Rege-
lung durfte mit dem groBen Wasserbedarf beim Brauen zusammenhangen, ist
aber dennoch nicht unmittelbar als Beleg fiir Wasserknappheit und Ressourcen-
konflikte zu werten. Erst aus dem 19. Jahrhundert datieren Hinweise auf eine un-
zureichende Flusswasserversorgung, die fiir Bediirfnisse der Burger und zu
Loschzwecken nicht ausreichte.120
Wassermangel kann jedoch fiir die Zeit vor 1800 nicht kategorisch ausge-
schlossen werden, selbst wenn man technische Probleme mit dem Pumpwerk
und durch ungiinstige Wasserstande oder Frost bedingte Stillstande der Anlage
auBer Acht lasst, doch ist eine auch nur annahernd realistische Einschatzung der
zur Verfiigung stehenden Wassermenge und des tatsachlichen Verbrauchs nahe-
zu unmoglich. Die Leistungsfahigkeit der Anlage von 1535 belief sich auf 8.000
Tonnen in 24 Stunden, entsprechend 50.000 Liter pro Stunde.121 Rein rechne-
risch entfielen damit mehr als 155 Liter pro Stunde auf jedes der 317 Brauhauser
oder 3.125 Liter auf jedes der 16 Rohre. Da aber in derReihe, also nicht gleichzei-
tig gebraut wurde, stand theoretisch jedem Brauer die erstgenannte Menge zur
Verfiigung. Nach Lohdefink ergab ein Brau zwischen 30 und 50 Tonnen Bier zu
116 Hans Beger, Die Wasserversorgung der Stadt Hannover im Mittelalter, in: Kleine
Mitteilungen fiir die Mitglieder des Vereins fiir Boden-, Wasser- und Lufthygiene Jg. 18,
1942, S. 179-180 u. Theo Walter, Wasserversorgung im alten Hannover, in: Hannoversche
Geschichtsblatter N. F. 10, 1957, S. 159.
117 Muller, wie Anm. 42, S. 69 u. Carl-Hans Hauptmeyer, Die Residenzstadt, in: Klaus
Mlynek u. Waldemar Rohrbein (Hrsg.), Geschichte der Stadt Hannover Bd. 1, Hannover
1992, S. 204.
118 StAC8ANr. 46.
119 HStAH Cal. Br. 23b Nr. 475 u. StAC 8 A Nr. 46.
120 HStAH Hann. 80 Hannover I Cd. Nr. 620.
121 HStAH Hann. 51 Nr. 247 I.
Vom Umgang mit einer begrenzten Ressource 201
166 Litem,122 maximal also 8.300 Liter. Selbst wenn fur einen Brau ein Mehrfa-
ches dieser Menge an Wasser benotigt wurde, war der Bezug in einer relativ kur-
zen Zeitspanne moglich. Nach umfangreichen Reparaturarbeiten lieferte das
Pumpwerkab 1794 pro Stunde 90.700 Liter Wasser.123 Von der Leistungsfahigkeit
des Pumpwerks, die zumindest 1794 durch Messungen festgestellt wurde, kann
allerdings nicht unmittelbar auf die Menge des tatsachlich zur Verfiigung stehen-
den Wassers geschlossen werden, da keinerlei Riickschliisse auf den Zustand des
Rohrleitungsnetzes moglich sind. Erkenntnisse iiberden Grad der Undichtigkeit
sind ebenso wenig vorhanden wie iiber den der Verschlammung oder Verstop-
fung der Rohren durch Moos oder Algen. Die Pumpen der Anlage forderten
mehr Wasser, als durch die Rohrleitungen verteilt werden konnte, wie die Exi-
stenz eines Uberlaufes aus dem Wasserbassin im Kunsthaus belegt, iiber das auch
im normalen Betrieb standig Wasser zuriick in die Leine floss.124
Aufgrund der Nutzung des Piepenborns als Verteiler entstand der Druck in
den Rohrleitungen nicht durch das etwa 13 Meter iiber der Pumpenkammer im
Kunsthaus angebrachte Bassin, sondern nur durch das Gefalle der vom Piepen-
born ausgehenden Rohrleitungen und das in dessen Becken befindliche Wasser.
Daher diirfte der vorhandene Wasserdruck relativ gering gewesen sein. In diesem
Zusammenhang sind die unerlaubterweise angelegten niedrigeren Bohrungen
der Brunnenstander zu sehen, die der Beschaffung einer groBeren Wassermenge
dienten. Auch die Notbrunnen waren als Unterflurzapfstellen angelegt, um die
groBtmogliche Menge an Loschwasser nutzen zu konnen. Somit wird erklarlich,
weshalb trotz der relativ groBen Wassermenge, die mittels der Pumpen beschafft
werden konnte, Versorgungsprobleme in der Altstadt bestanden haben konnen.
Offenbar wurden diese nicht fur derartig wichtig erachtet, dass sie technisch
durchaus mogliche Veranderungen an den Rohrleitungen und dem Verteiler
nach sich gezogen hatten. Der Bericht iiber die Reparaturarbeiten am Pumpwerk
aus demjahr 1794 entha.lt verschiedene Vorschlage zur VergroBerung der in die
Stadt zu leitenden Wassermenge durch Nutzung groBerer Rohren und die direk-
te Zufiihrung des Wassers in die 16 Rohrleitungen.125 Von gravierendem Wasser-
mangel und tatsachlichen Ressourcenkonflikten ist beziiglich der Altstadt also
nicht auszugehen.
122 Lohdefink, wie Anm. 52, S. 61.
123 HStAH Hann. 51 Nr. 247 I.
124 StAH B 8165.
125 Ebd.
202 Olaf Grohmann
Die Versorgung mit Quellwasser
Ein Quellwasservorkommen befand sich in derNahe des wesdich von Hannover
gelegenen Dorfes Linden, am nordostlichen Hang des Lindener Berges. Die
Quelle wird schon friih in der Uberlieferung erwahnt, in einem Privileg aus dem
Jahre 1423 gestanden die Herzoge zu Braunschweig und Liineburg den Biirgern
der Stadt Hannover zu, der Dieckborn zu Linden moge in die Stadt gefuhrt werden. 126
Es gibt keinen sicheren Beleg dafiir, dass bereits im 15. Jahrhundert eine Wasser-
leitung existierte. Walter vertritt die Ansicht, die Leitung sei mittels Graben und
Deichungen geplant gewesen und wegen der zu schwierigen Uberquerung der
Ihme nicht verwirklicht worden.127 Zwar ist dieser Meinung insofern zuzustim-
men, als die Durchquerung der damals sumpfigen Leineniederung und die
Uberbriickung mehrerer Flussarme extrem kompliziert gewesen sein diirfte,
doch erscheint Walters Annahme, die Leitung sei mittels offener Graben konzi-
piert worden, vor diesem Hintergrund geradezu als abwegig. Miiller hingegen be-
schreibt den Dieckborn als einen Bach, der durch eine Hauptrohre in die Stadt
geleitet und dessen Wasser dann iiber ein System von Holzrohren verteilt worden
sei.128 Die Bezeichnung Dieckborn unterstiitzt zwar nicht die Annahme, es habe
sich um einen Bach gehandelt, plausibel erscheint aber die Aussage, die Zulei-
tung sei mittels Rohren erfolgt. Nur auf diese Art konnte das Gelande zwischen
dem Quellgebiet und der Stadt iiberwunden werden. Biittner zitiert einen
Ratsentscheid vom 9. Oktober 1426 wonach 31 Burger der Altstadt die Erlaubnis
erhielten, den Dieckborne to Linden uptofangende, datse den mogen inleyden to Honovere
unde den borne sick maken, als se nutsamighest mogen}29 Somit erhalt die Vermutung,
dass schon im 15. Jahrhundert eine Quellwasserleitung fur Hannover existierte,
eine gewisse Berechtigung, obwohl eine solche Anlage fur spatere Zeiten nicht
mehr nachweisbar ist und die Stadt auf andere Mittel der Wasserversorgung zu-
riickgriff. Moglicherweise war diese Leitung aus den genannten Griinden zu un-
sicher oder die zu erhaltende Wassermenge war zu gering, um die Anlage bei stei-
gendem Bedarf in Betrieb zu erhalten.
Das Wasservorkommen am Lindener Berg wurde seit der zweiten Halfte des
17. Jahrhunderts mittels Rohrleitungen genutzt; es versorgte neben den Teichen
des Platenschen Gartens die Hofe des Dorfes Linden130 und den im Jahre 1652
angelegten herzoglichen Lust- und Kiichengarten. Die erste nachweisbare Quell-
126 StAH B 8051.
127 Walter, wie Anm. 116, S. 157.
128 Muller, wie Anm. 42, S. 69.
129 Ernst Buttner, Kulturbilder aus dem mittelalterlichen Hannover, Hannover 1926,
119.
130 HStAH Cal. Br. 8 Nr. 1117 u. Cal. Br. 8 Nr. 673.
Vom Umgang mit einer begrenzten Ressource 203
wasserleitung entstand, nachdem der Unternehmer Johann Duve sich in einem
vom 16. Mai 1668 datierenden Vertrag mit Herzogjohann Friedrich verpflichtet
hatte, die in Folge der Residenznahme von 1636 entstandene Calenberger Neu-
stadt mit Wasser zu versorgen. Als Gegenleistung dafiir erhielt Duve eine zeitlich
befristete Abgabenfreiheit fur seine Hauser in der Neustadt.131 Die etwa 300 Ca-
lenberger Ruten132 lange Wasserleitung sollte einen Hauptbrunnen auf dem
Marktplatz und sieben Notbrunnen in verschiedenen StraBen versorgen. Die
Notbrunnen waren in erster Linie zur Versorgung mit Loschwasser angelegt,
doch sollte es laut Vertrag jedem Einwohner erlaubt sein, Wasser zu entnehmen.
Hausanschliisse konnten gegen eine Wassersteuer ebenfalls angelegt werden.133
Durch diesen Vertrag, den Duve nur sehr unzureichend erfiillte, entstand eine
Vielzahl von Streitigkeiten und rechtlichen Auseinandersetzungen, die sich bis in
die Mitte des 19. Jahrhunderts hinzogen. Dennoch bestand die Wasserleitung,
freilich mit vielen Modifikationen und im spaten 19. Jahrhundert mit stark ab-
nehmender Bedeutung, bis zum Jahr 1895. 134
Der um das Jahr 1670 entstandene Marktbrunnen der Calenberger Neustadt
wurde auf Veranlassung des Herzogs gebaut und war somit ein landesherrliches
Reprasentationsmittel in der nach 1636 planmaBig ausgebauten Neustadt. Der
Brunnen bildete das Kernstiick der von Johann Duve angelegten Wasserleitung.
Der diesbeziigliche Vertrag mit dem Herzog sah explizit die Errichtung eines
standig laufenden Springbrunnens auf dem Neustadter Markt vor.135 Zwar hatte
das Becken auch die Funktion des Loschwasserspeichers,136 in erster Linie aber
war es Reprasentationsmittel. Es bestand aus einer erhohten Plattform, umgeben
mit Balustraden, auf deren Pfeilern 20 Standbilder die Tugenden und Laster ver-
korperten.137 In der Mitte befand sich ein Brunnenbecken, aus dem der Felsen-
berg des Parnass aufragte. Dieser hatte vierrundbogige Grottennischen, in denen
vier lebensgroBe Allegorien der Erdteile Europa, Afrika, Asien und Amerika
standen. Auf dem Parnass befanden sich Apoll und die neun Musen, den oberen
Abschluss der Anlage bildete ein Pegasus, der das herzogliche Wappen hielt.
Wasser stromte aus dem Berg, aus den Instrumenten der Musen und aus den Oh-
ren des Pferdes.138
131 HStAH Harm. 88 A Nr. 3172.
132 HStAH Cal. Br. 8 Nr. 1117.
133 Ebd.
134 Grohmann, wie Anm. 23, S. 22.
135 HStAH Harm. 88 A Nr. 3172.
136 Eduard Schuster, Kunst und Kiinstler in den Fiirsthentumern Calenberg und Lii-
neburg in der Zeit von 1636 bis 1727, Hannover und Leipzig 1905, S. 24.
137 Noldeke, wie Anm. 40, S. 736.
138 Ebd., S. 738-739.
204 Olaf Grohmann
AuBer der Gestaltung scheint auch das Rohrenwerk des Parnassbrunnens
recht filigran und anfallig gewesen zu sein. Nach Schuster funktionierte die An-
lage niemals richtig. Eine groBere Reparatur erfolgte 1737 und im Jahr 1802 wur-
de der Brunnen abgebrochen.139 Einen Beleg fiir die mangelhafte Funktionsfa-
higkeit des Brunnens bietet eine Aktennotiz aus dem Jahr 1739, wonach die An-
lage schon langere Zeit auBer Betrieb war. Sie fror im Winter oft ein, generell
waren die Bleirohren zu klein.140 Im Jahr 1802 ersetzte man den Parnassbrun-
nen schlieBlich durch eine Brunnensaule und einen Kump aus Sandstein,141 auch
diese Anlage lieferte selten ausreichend Wasser, was aber auf die geringe Ergie-
bigkeit der Lindener Quelle zuruckzufiihren ist.142
Uber die Ergiebigkeit des Wasservorkommens liegen keine gesicherten Er-
kenntnisse vor. Innerhalb des Quellgebietes trat an verschiedenen Stellen Wasser
hervor, aus damaliger Sicht ging man jedoch von mehreren Quellen aus und war
iiberrascht, wenn die an einer Stelle vorgenommenen Veranderungen an anderer
Stelle Auswirkungen zeigten, wie eine Beschwerde von Lindener Einwohnern
aus dem Jahr 1792 verdeutlicht. Anlass dafiir war eine seitens des Brunnenmei-
sters der Neustadt vorgenommene Modifizierung an der fiir die Neustadt genutz-
ten Wasserfassung, die ein Absinken des Wasserspiegels in den Teichen des Kii-
chengartens und des von Platenschen Gartens hervorrief. Die Brunnen auf etli-
chen Hofen fielen ebenfalls trocken.143 Auseinandersetzungen iiber die Nutzung
des Wasservorkommens vollzogen sich in erster Linie zwischen dem Magistrat
der Calenberger Neustadt und dem Hofbauamt als landesherrlicher Behorde.
Die Klagen des Neustadter Magistrats iiber Wassermangel, in erster Linie bezo-
gen auf Losch- und Spiilwasser, zogen sich nahezu iiber das gesamte 18. und das
friihe 19. Jahrhundert hin.144 Die zur Abhilfe oft erwogene Anlage eines Fluss-
wasserpumpwerks fiir die Neustadt kam einerseits aus finanziellen Griinden
nicht zustande, andererseits wurde sie abgelehnt, weil von der Einrichtung eines
weiteren Stauwehres in der Leine Beeintrachtigungen der schon vorhandenen
Wasserkraftanlagen erwartet wurden.145 Auch der langere Zeit diskutierte An-
schluss an das Pumpwerk der Altstadt erfolgte erst Mitte des 19.Jahrhunderts, als
die stadtischen Wasserversorgungsanlagen generell modernisiert wurden.
Zwecks Beschaffung einer groBeren Wassermenge kam es wiederholt zu Ver-
anderungen der Quellfassungen, zur VergroBerung derTeiche und zu Versuchen
139 Schuster, wie Anm. 136, S. 26 u. 140.
140 HStAH Dep. 103 XXIV Nr. 5477.
141 HStAH Dep. 103 XXIV Nr. 4930.
142 Vgl. HStAH Cal. Br. 8 Nr. 673.
143 HStAH Harm. 69 Hannover B Nr. 339.
144 HStAH Cal. Br. 8 Nr. 673.
145 Ebd. u. HStAH Dep. 103 XXIV Nr. 4079.
Vom Umgang mit einer begrenzten Ressource 205
der ErschlieBung weiterer Wasservorkommen, teils durch das Hofbauamt, teils
durch die Neustadt, wobei nahezu jede Veranderung erfolglos blieb und ledig-
lich den Vorwurf der Wasserentziehung derjeweils anderen Seite mit sich brach-
te.146 Alle diese Verbesserungsversuche konnten offensichtlich nicht von Erfolg
sein, weil das im Quellgebiet hervortretende Wasser niederschlags- und somit
jahreszeitabhangig war. Das vergebliche Unterfangen, eine ergiebige Quelle
durch das DurchstoBen der wasserundurchlassigen Kalksteinschicht zu errei-
chen, zeigt aber, dass die genannte Tatsache damals nicht erkannt wurde.147 In-
teressant ist die Tatsache, dass die als Reservoirs genutzten Teiche mit einem zu-
satzlichen Abfluss in einen Bach und letztlich in die Ihme versehen waren, also
nicht das gesamte verfiigbare Wasser in die Neustadt geleitet oder anderweitig ge-
nutzt wurde.148 Damit liegt der Schluss nahe, dass, ahnlich wie fur die Flusswas-
serversorgung der Altstadt gezeigt wurde, die vorhandenen Rohrleitungen nicht
ausreichten, um das vorhandene Wasser in die Stadt zu schaffen. Dennoch erfolg-
te nicht der Versuch, diesem Mangel abzuhelfen, wie es moglicherweise durch
die Anlage einer zweiten Leitung hatte geschehen konnen. Ab 1754 verlief die
vorhandene Leitung in der Allee vom Kiichengarten zur Neustadt, sodass Kon-
flikte durch Grundstiicksquerungen nicht mehr zu befiirchten waren. Im Jahr
1752 erhielt der Neustadter Magistrat finanzielle Hilfen der Landesregierung zur
Anlage der betreffenden Rohrenleitung, sodass hier die Moglichkeit bestanden
hatte, eine leistungsfahigere Leitung anzulegen.149 Durch den oftmals schlechten
Zustand der Holzrohre wird auch der Wasserdruck nicht besonders hoch gewe-
sen sein. Auch derUmstand, dass die Nutzung der vorhandenen Hausanschliisse
auf Kosten der offentlichen Zapfstellen ging und diese nahezu trockenlegte, zog
auBer erneuten Modifikationen der Anlage keine weit reichenden Konsequenzen
nach sich. Hier zeigt sich allenfalls, dass eine relativ kleine Gruppe von Inhabern
derartiger Hausanschliisse privilegiert war, ohne dass sich Protest dagegen reg-
te.150 Somit diirfte das Problem des Wassermangels zumindest fur das All-
tagsleben ohne allzu groBe Bedeutung gewesen sein.
Zu erwahnen ist noch, dass die Lindener Quelle ab 1676 auch die Herrenhau-
ser Garten versorgte. Da die zur Verfiigung stehende Wassermenge fur die Gar-
tenanlagen und die Wasserspiele bei Weitem nicht ausreichte, kam 1694 eine
doppelte Rohrenleitung vom Benther Berg, siidwestlich der Stadt gelegen, hinzu.
Doch erst derBau eines Flusswasserpumpwerks zwischen 1718 und 1720 konnte
146 HStAH Cal. Br. 8 Nr. 673 u. Hann. 88 A Nr. 3172.
147 HStAH Cal. Br. 8 Nr. 673.
148 HStAH Dep. 103 XXIV Nr. 5107.
149 HStAH Cal. Br. 8 Nr. 673.
150 Vgl. HStAH Hann. 88 A Nr. 3233.
206 Olaf Grohmann
die Versorgung sicherstellen; die beiden Rohrenleitungen wurden einige Jahre
spater auBer Betrieb genommen. Eine ausfiihrliche Beschreibung der Wasserver-
sorgungsanlagen der Herrenhauser Garten wiirde den Rahmen dieses Beitrages
sprengen und muss daher unterbleiben.
Die Abwasserentsorgung
Die Abwasserableitung im friihneuzeitiichen Hannover erfolgte weitestgehend
oberirdisch durch Gossen und Rinnen.151 Zwischen der Alt- und Neustadt be-
standen beziiglich der Abwasserableitungseinrichtungen keine grundsatzlichen
Unterschiede, lediglich die Menge des zur Verfiigung stehenden und somit abzu-
fiihrenden Leitungswassers war in der Neustadt geringer. Im Unterschied zu den
mittelalterlichen Zustanden waren die StraBen in Hannover im 17. und 18. Jahr-
hundert weitgehend befestigt und mit Steinpflaster versehen. Generell muss be-
ziiglich des friihneuzeitiichen Abwasseraufkommens beriicksichtigt werden, dass
in den Hausern relativ wenig Wasser zur Verfiigung stand und verbraucht wurde,
abgesehen von der Wassernutzung zu gewerblichen Zwecken. Daher nahm die
Ableitung von Regenwasser neben derjenigen von Brauch- und Spiilwasser den
groBten Raum ein.
In der hannoverschen Altstadt des 18. Jahrhunderts verlief das Gossengefalle
der kleinen StraBen hin zu den groBen StraBen OsterstraBe, MarktstraBe,
LeinstraBe, KobelingerstraBe und SchmiedestraBe, diese wiederum wurden weit-
gehend in den u-formig um die Stadt herumfuhrenden so genannten Kotgraben
entwassert, der am Steintor begann und an der Klickmiihle in die Leine miinde-
te.152 Nur aus wenigen StraBen und Platzen in der Nahe der Leine liefen die Ab-
wasser direkt in den Fluss.153 Aus den StraBen der Calenberger Neustadt wurde
das Wasser in die Leine und in die Stadtgraben abgefiihrt. Das Siedlungsgebiet
Auf dem Brande wurde in die Leine entwassert,154 die nordlichen Bereiche der
Siedlung mittels Abzug durch das Clevertor gleichermaBen.155 Der Abzug in die
Stadtgraben erfolgte in westlicher Richtung.156 Die Funktionsfahigkeit der ober-
irdischen Abwasserableitung hing von verschiedenen Faktoren ab. Nach Bauar-
beiten, wie sie beispielsweise zur Reparatur der Wasserleitungsrohre haufig vor-
kamen, musste darauf geachtet werden, das StraBenpflaster und die Gossen mit
151 Vgl. u.a. HStAH Harm. 72 Hannover Nrr. 225, 227, 230.
152 StAH B 6005.
153 Ebd. u. Hann. 69 Hannover B Nr. 184.
154 HStAH Hann. 88 A Nr. 3165 u. Dep. 103 XXIV Nr. 5543.
155 HStAH Hann. 47 Nr. 207 I u. II.
156 HStAH Hann. 80 Hannover I Cd. Nr. 591.
Vom Umgang mit einer begrenzten Ressource 207
dem richtigen Gefalle wiederherzustellen.157 Die Gossen durften nicht durch ab-
gestellte Gegenstande blockiert sein, sie mussten mehrmals wochentlich gerei-
nigt und im Winter vom Eis befreit werden. Jeder Hausbesitzer war verpflichtet,
die Gosse bei der regularen Reinigung des Pflasters vor seinem Haus zu saubern,
er war auch fur den Zustand des FuBweges und der Gosse verantwortlich und
musste beides notigenfalls instand setzen lassen. Auf offentlichen Platzen erfolgte
dies durch den Magistrat. Vor den Hauseingangen durften die Gossen nur mit be-
sonderer Genehmigung mit Bohlen iiberdeckt werden.158
Idealerweise sollten nur Abwasser ohne feste Bestandteile und Beimengungen
von Exkrementen oder Unrat durch die Gossen abflieBen,159 doch wardiese Vor-
gabe unmoglich zu erfiillen, weil schon die dazu notwendige, absolute Reinhal-
tung der StraBen nicht zu erreichen war. So stand stinkendes und unreines Was-
ser in den Gossen, weil Jauche und Unflatereyen auf die StraBen geschiittet wur-
den.160 Dem Anspruch, nur Wasser durch die Gossen abzuleiten, stand das
Vorhandensein von so genannten Gossensteinen diametral entgegen. Gossen-
steine waren kurze Abzugsrinnen, die an Mauerdurchbriichen der Hauserwande
angebracht waren und durch die Spill- und Waschwasser aus den Hausern in die
Gossen abgleitet wurden.161 Es ist wahrscheinlich, dass durch die Gossensteine
auch feste Abfalle hinausgespiilt wurden. Aus derzweiten Halfte des 17.Jahrhun-
derts sind etliche Auseinandersetzungen zwischen Hauseigentiimern iiber die
Gossensteine uberliefert. Dabei wurde bemangelt, dass das aus der Hohe herab
fallende Wasser verweht wurde, beim Aufprall aufspritzte und dabei die Hauser-
wande verschmutzte und langfristig zu Schaden an der Bausubstanz fiihrte.162
Ein Problempunkt dabei war auch die Ableitung der Abwasser durch fremde
Grundstiicke.163 Eine landesherrliche Verordnung aus demjahr 1731 untersagte
schlieBlich die Neuanlage von Gossensteinen, in jiingster Vergangenheit Ange-
legte mussten abgebrochen werden, nur die seit langerer Zeit Vorhandenen durf-
ten weiter benutzt werden. Allerdings waren diese mit einer kupfernen Trommel, ei-
nem Fallrohr bis zum Boden zu versehen. Die Verordnung zielte darauf ab, die
Beschmutzung derSteinwege und die itesw<Mw?zgderPassantenzu vermeiden.164
Problematisch gestaltete sich auch die Entwasserung der Privatgrundstiicke,
die wichtigsten Begriffe dabei waren Tropfenfall und Wassergang. Mit beiden
157 StAH B 8091 I.
158 Ebd.
159 Ebd. u. HStAH Hann. 72 Hannover Nr. 230.
160 Vgl. Hannoversche Anzeigen, 22. August 1763 u. 14. Juni 1771.
161 StAH B 8091 1.
162 Vgl. HStAH Hann. 72 Hannover Nrr. 68, 202, 225 u. Dep. 103 XXIV Nr. 5207.
163 Vgl. HStAH Dep. 103 XXIV Nr. 5207.
164 StAH B 8091 1.
208 Olaf Grohmann
wurden einerseits konkrete Einrichtungen zur Abwasserableitung bezeichnet,
andererseits belegte man auch das Recht der Abwasserableitung iiber nachbarli-
che Grundstiicke mit diesen Bezeichnungen. Der Tropfenfall bezog sich auf die
Abfiihrung des Regenwassers von den Dachern. Die giebelstandige Ausfiihrung
der meisten Hauser und die geringe GroBe der Grundstiicke fiihrten dazu, dass
Regenwasser von den Dachern auf Nachbargrundstiicke tropfte, die Berechti-
gung, Regenwasser so abzuleiten, beziehungsweise die Ableitung dulden zu miis-
sen, lag auf den jeweiligen Grundstiicken und wirkte sich auf die Bebauung aus.
Eine Vorschrift aus dem Jahr 1523 besagte, dass Aborte, Privete genannt, erst in
einer Entfernung von 5 Va FuB zum Tropfenfall eingerichtet werden durften, war
kein Tropfenfall vorhanden, betrug der Abstand nur 3 FuB.165 1572 bestimmte
der Rat der Stadt, dass der Bereich des Tropfenfalls nur mit Einwilligung des In-
habers bebaut werden durfte. Die recht komplizierte Verordnung besagte, dass
derjenige, der seinen Tropfenfall gegen des Nachbarn Hof gehen lieB, zur Auf-
nahme des Wassers mit seinen Gebauden 1 Va FuB zuriickweichen musste. Hatte
jemand einen Tropfenfall in des Nachbarn Hof und war gleichzeitig Eigentiimer
des Grundstiicks, durfte der Tropfenfall auch von dem Nachbarn nicht bebaut
werden. War das Recht des Tropfenfalls jedoch nicht auf Eigentum, sondern auf
Berechtigung gegriindet, durfte der Eigentiimer sein Grundstiick in diesem Be-
reich nicht meuerlich bebauen. Befanden sich dort bereits Gebaude, durfte er die-
se mit Aufnahme des Tropfenfalls aber erhohen.166 Diese Vorschriften hatten
auch im 18. Jahrhundert noch Giiltigkeit.167 Die Anbringung von Dachrinnen
verlagerte bestehende Probleme in diesem Zusammenhang allenfalls. Abgese-
hen davon, dass es darum auch zu nachbarschaftlichen Auseinandersetzungen
kam,168 verfiigten die meisten Hauser nicht iiber Fallrohre an den aus Holz oder
Blech hergestellten Dachrinnen. Das Wasser floss iiber hervorstehende Ausgiisse
ab und verursachte ahnliche Probleme wie die Gossensteine.169
Aus den Grundstiicken erfolgte die Abwasserableitung durch Rinnen, die
Wassergange hieBen. Ahnlich wie beim Tropfenfall regelte hier das Recht des
Wasserganges die Art der Ableitung und die Instandhaltung der Rinnen. Verlie-
fen diese zwischen den Hausern, war der Inhaber des Tropfenfalls fiir die Rinne
zustandig.170 Schwierigkeiten entstanden, wenn die Wassergange nicht regelma-
Big gereinigt wurden oder durch BaumaBnahmen ein anderes Gefalle erhielten.
165 Ebd.
166 Ebd.
167 Ebd. u. HStAH Hann. 76a Nr. 1641.
168 Vgl. HStAH Hann. 72 Hannover Nr. 183.
169 Vgl. Hannoversches Magazin, 30. Juni 1802.
170 HStAH Hann. 72 Hannover Nr. 52.
Vom Umgang mit einer begrenzten Ressource 209
Auseinandersetzungen iiber beschadigte Fundamente und nasse Keller waren
dann die Folge.171 Das Recht des Wasserganges iiber benachbarte Grundstiicke
bezog sich idealtypisch auch nur auf Abwasser ohne feste Bestandteile oder
Exkremente, in der Realitat lieB sich diese Vorschrift kaum einhalten, wie ver-
schiedene nachbarliche Auseinandersetzungen dariiber belegen.172 Noch pro-
blematischer war diese Art der Abwasserableitung, wenn die Wassergange durch
benachbarte Hauser hindurchfiihrten, was fiir einige Grundstiicke in der hanno-
verschen Alt- und Neustadt belegt ist.173 Die Unterlagen geben keinen Hinweis
auf die bauliche Ausfiihrung dieser Durchleitungen, vermutlich bestanden sie
aus iiberdeckten Rinnen, bei Rohren hatte eher die Gefahr der Verstopfung be-
standen.
Welchen Schwierigkeiten die Bestrebungen des Rates, den StraBen ein ange-
messenes Gefalle zu geben und so eine funktionierende Abwasserableitung zu
garantieren, unterworfen waren, zeigte sich beispielhaft bei der ab 1747 errichte-
ten Aegidienneustadt. Diese wurde mit einem hervorragenden Gossenwerk ausge-
stattet, 1764 traten jedoch Probleme mit dem Gefalle auf, offenbar hervorgerufen
durch bauliche Veranderungen seitens einiger Hauseigentiimer.174
Wie bereits erwahnt, wurden kleinere Bereiche derhannoverschen Altstadt in
die Leine entwassert; aus den StraBen der Calenberger Neustadt liefen die Ab-
wasser entweder in den Stadtgraben oder in die Leine. Fiir die Entwasserung wa-
ren Durchlasse in den Stadtbefestigungen notwendig, in zwei Fallen dienten auch
kurze unterirdische Kanale als Vorfluter. Einer dieser Kanale leitete das Wasser
von den StraBen des Brandes in der Neustadt in die Leine ab. Der Kanal entstand
1684, als der existierende offene Wasserabzug, der von einer Briicke iiberspannt
war, iiberwdlbt und somit in einen unterirdischen Kanal umgewandelt wurde.175
Er verlief unter zwei herrschaftlichen Hausern, dem Wagenhaus am Archivplatz
und miindete in den Miihlenkolk der Briickmiihle.176 Im Jahr 1720 fanden In-
standsetzungsarbeiten statt, 1735 musste die Anlage erneuert werden, ein massi-
ver, gemauerter Kanal entstand.177 1748 erfolgte der Beschluss, den Kanal an der
Miindung mit Klappen zu versehen, um zu verhindern, dass bei hohen Wasser-
standen der Leine Wasser durch den Kanal in die Stadt hinein gedriickt wurde
und die StraBen des Brandes iiberflutete.178 Klagen iiber den Kanal wurden im
171 HStAH Harm. 72 Hannover Nrr. 129, 177, 184 u. StAH A 650.
172 Ebd.
173 HStAH Hann. 72 Hannover Nr. 230, Cal. Br. 8 Nr. 1132 u. Dep. 103 XXIV Nr. 5082.
174 StAH A 2803.
175 HStAH Dep. 103 XXIV Nr. 5543.
176 HStAH Dep. 103 XXIV Nrr. 5102 u. 5499.
177 HStAH Dep. 103 XXIV Nr. 5102.
178 HStAH Dep. 103 XXIV Nr. 5499.
210 Olaf Grohmann
Jahr 1789 laut, als die Anlage verschlammt war und sich zugesetzt hatte. Das Ab-
wasser lief nicht mehr ab, Regen- und Tauwasser setzte die StraBen unter Was-
ser.179 Ein ahnlicher Kanal existierte seit 1714 in der Altstadt. Er entstand im Zuge
der Erbauung des Marstalls und des Reithauses zur Entwasserung des betreffen-
den Areals.180
Der hannoverschen Altstadt diente der so genannte Kotgraben als Vorfluter.
Er zog sich vom Stein tor u-formig um die Stadt herum und miindete oberhalb der
Klickmiihle in die Leine. In einer Aktennotiz aus dem Jahr 1787 findet sich der
Hinweis, derGraben sei schon seitjahrhunderten vorhanden,181 die genauen Ur-
spriinge dieses Grabens gehen aus den Unterlagen jedoch nicht hervor. Seine La-
ge unmittelbar auBerhalb der mittelalterlichen Stadtmauer der Altstadt fiihrt zu
dem Schluss, dass es sich dabei um den ehemaligen Befestigungsgraben der Stadt
handelte. Dafiir spricht auch der Verlauf des Grabens. In einer Darstellung der
mittelalterlichen Befestigung der Stadt findet sich der Hinweis, der Graben sei
nur durch Abwasser aus der Stadt, die durch Durchlasse in der Mauer hineinge-
langten, gefiillt worden und sei zwischen Leine und Steintor standig trocken ge-
wesen. Im 17. Jahrhundert erfolgte dann die Bebauung dieses Abschnittes. Schon
durch die Anlage eines zweiten Grabens im 15. Jahrhundert verlor der innere
Graben an Bedeutung fur die Befestigung, seinen Zweck in dieser Beziehung ver-
lor er jedoch vollig nach Fertigstellung der ab Mitte des 16. Jahrhunderts erstell-
ten Bastionarsbefestigung. So scheint es naheliegend, dass bei Anlage der neuen
Befestigung der auBere Graben den Bastionen weichen musste, der innere aber
als Vorfluter weiter genutzt wurde. Das Gefalle dieses Grabens fiihrte vom Stein-
tor um die Stadt herum zur Leine oberhalb der Klickmiihle 182 und belief sich auf
neun FuB und drei Zoll. Bei einer Gesamtlange des Grabens von 323 lh Calenber-
gischen Ruten ergibt sich daraus ein durchschnittliches Gefalle von 1,7 Promille,
das allerdings nicht gradlinig verlief. Hatte der steilste Abschnitt des Grabens ein
Gefalle von 3,5 Prozent, so wies der flachste Bereich mit 0,2 Promille fast keinen
Fall auf.183 Die Abwasserableitungen aus den StraBen erfolgten im kleinen und
groBen Wolfshorn, nahe des Brauhauses an der OsterstraBe, im Bereich der
Aegidienneustadt, wo auch die Abwasser aus der iibrigen OsterstraBe, Kobe-
linger- und MarktstraBe abliefen. Die Abwasser aus der Knochenhauer- und
SchmiedestraBe sowie der StraBe hinter der Mauer gelangten am Steintor in den
179 HStAH Dep. 103 XXIV Nr. 5543.
180 HStAH Dep. 103 XXIV Nr. 5505.
181 HStAH Hann. 92 XXXI. II. Nr. la.
182 Ebd.
183 Umgerechnet hatte der Graben ein Gefalle von 2,7 m bei einer Lange von etwa
1,5 km.
Vom Umgang mit einer begrenzten Ressource 211
Dort existierte ein kleiner mit Bohlen bedeckter Abzugskanal, der
1742 ausgebaut wurde.185
Zum Gegenstand des offentlichen und behordlichen Interesses wurde der Gra-
ben aufgrund der von ihm ausgehenden Ausdiinstungen.186 Idealtypisch sollte er
nur Abwasser abfiihren, aus den StraBen gelangten jedoch auch Dreck, Unrat
und Exkremente hinein, hemmten den Abfluss und fiihrten zur Faulnis des Was-
sers. Dariiber hinaus verstarkte mangelnde Wasserzufiihrung die Probleme
noch.187 Die Bemiihungen um bauliche und sonstige Verbesserungen des Vorflu-
ters sind fur das 18. Jahrhundert gut dokumentiert. Um groBere Stauungen zu be-
seitigen, wurde der Graben einmal jahrlich griindlich gesaubert und wochentlich
oberflachlich gereinigt.188 Verschlimmert wurde die Situation dadurch, dass etli-
che Hausbesitzer, deren Grundstiicke unmittelbar an die alte Stadtmauer grenz-
ten, iiber dem Graben Aborte angelegt hatten. 189 Zur Verbesserung des Abf lusses
wurde der Graben von einem am Steintor befindlichen Notbrunnen aus regelma-
Big gespiilt, durch das wechselnde Gefalle und die unebene Sohle des Grabens
wirkte sich diese MaBnahme allerdings kaum positiv aus.190 Verbesserungsvor-
schlage sahen die Auskleidung und Bedeckung des Grabens mit Bohlen vor, bei-
des wurde nicht ausgefiihrt. Viel versprechend schien auch der Vorschlag zu sein,
das Gefalle des Grabens etwa nach der halben Strecke zu unterbrechen, um mit-
tels Wasserzufuhr aus dem Schiff graben, der auch die Stadtbefestigung speiste, ei-
nen Abfluss des ersten Grabenabschnitts in die Leine unterhalb der Stadt zu er-
reichen. Dazu ware eine durch den Reitwall gehende unterirdische Verbindung
mit dem erwahnten Kanal am Marstall notwendig gewesen.191 Auch dieser Vor-
schlag gelangte ebenso wenig zur Ausfiihrung wie derjenige, an verschiedenen
Stellen des Grabens Schiitze anzubringen, um so genannte Schwallspulungen
vornehmen zu konnen.192
Im Jahr 1770 kam der Plan auf, die Abwasser durch den Wall der Stadtbefesti-
gung in die Stadtgraben zu leiten, um so den Kotgraben vollig abschaffen zu kon-
nen. Das Vorhaben scheiterte am Widerstand der Anlieger, die von ihren Grund-
stiicken direkte Abwasserabziige in den Graben eingerichtet hatten.193 Angelegt
184 HStAH Harm. 93 Nr. 2095 I u. II.
185 HStAH Harm. 93 Nr. 2099.
186 HStAH Harm. 92 XXXI. II. Nr. la u. Harm. 93 Nr. 2095 I u. II.
187 HStAH Harm. 93 Nr. 2095 I u. II.
188 Ebd.
189 Ebd. u. StAH A 6011.
190 HStAH Harm. 93 Nr. 2095 I u. II
191 Ebd. u. Dep. 103 XXIV Nr. 5505.
192 HStAH Harm. 93 Nr. 2095 I u. II.
193 Ebd. u. StAH A 6005.
212 Olaf Grohmann
wurden zwei Ableitungen in den Stadtgraben, eine beim Steintor, die andere siid-
westlich der Aegidienneustadt in den Nothelfergraben, allerdings mit dem Er-
folg, dass nun der ganze Stadtgraben in Fdulnis versetzt wurde.194 In diesem Zu-
sammenhang erfolgte die Umwandlung des Grabenabschnitts zwischen dem Ae-
gidienanbau und der Leine in eine verdeckte Abzugsrinne, einen so genannten
Plattenkanal, zur Abfiihrung der Abwasser aus den Hofen der Hauser an der
LeinstraBe in die Leine bei der Klickmiihle.195 Bedingt durch die Stadterweite-
rung mit Anlage der Aegidienneustadt war schon ein kurzes Stuck unterirdischen
gemauerten Grabens entstanden.196 Damit war auf einem kleinen Teilstiick er-
folgt, was schon seit 1733 als einzig Erfolg versprechende MaBnahme wiederholt
vorgeschlagen, aber aus Kostengriinden nie ausgefuhrt worden war, die vollstan-
dige Substitution des Grabens durch einen unterirdischen Kanal.197 Die Ge-
legenheit dazu bot sich, als der Landesherr sich 1775 entschloss, den Abbau der
Befestigungen zu beschleunigen und den Altstadter Wall zugunsten des Stadtaus-
baus komplett abtragen zu lassen,198 die Arbeiten begannen 1779. Der anzule-
gende Kanal sollte vom Steintor her dem Verlauf der neuen GeorgstraBe folgen,
die Aegidienneustadt iiber den schon vorhandenen Teil anschlieBen und in der
seit 1781 angelegten FriedrichstraBe entlang bis zur Leine verlaufen, um dann
oberhalb der Klickmiihle in den Fluss zu miinden, sein Verlauf war also mit dem
des Grabens nicht vollstandig identisch.199
Fiir die stadtebaulichen Veranderungen gewahrte der Landesherr der Altstadt
1787 einen Zuschuss von insgesamt 15.000 Reichstalern, die in vier jahrlichen Ra-
ten von 3.500 Reichstalern ausgezahlt wurden.200 Derneue Kanal allein kostete
fast 14.000 Reichstaler;201 er wurde 1788 fertig gestellt und hatte eine Lange von
5.385 FuB, eine Breite von 3Va FuB und war zwischen fiinf und sieben FuB
hoch.202 Im selbenjahr entstanden auch fiinf so genannte Plattenkanale aus Qua-
dern und Rauhsteinen fiir Abwassereinleitung in den Vorfluter. Diese lagen im
kleinen und groBen Wolfshorn, hinter dem Landschaftlichen Haus, dem Brauer-
gildehaus und in der Aegidienneustadt.203 Sie hatten einen Durchmesser von 2
194 StAH A 6006 u. HStAH Harm. 92 XXXI. II. Nr. la.
195 HStAH Harm. 93 Nr. 2095 I, 12 c Hannover 4 22pm, Cal. Br. 8 Nr. 971.
196 HStAH Hann. 92 XXXI. II. Nr. la u. Hann. 76a Nr. 2801.
197 HStAH Hann. 92 XXXI. II. Nr. la.
198 HStAH Hann. 93 Nr. 2095 I u. II.
199 Ebd.
200 StAH A 6006.
201 StAH B 4188.
202 Burckhard Christian von Spilcker, Historisch-topographisch-statistische Beschrei-
bung der koniglichen Residenzstadt Hannover, Hannover 1819, S. 360.
203 HStAH Hann. 93 Nr. 2096 I u. II.
Vom Umgang mit einer begrenzten Ressource 213
bis 2Va FuB und zusammen eine Lange von 1.615 FuB.204 Dazu kamen noch zwolf
weitere Abziige in den Kanal, teils offen, teils bedeckt.205 Auch der noch vorhan-
dene Plattenkanal zur Entwasserung der LeinstraBe miindete nun in den Kanal,
hatte aber nach wie vor eine Verbindung zur Leine.206 Bei Inbetriebnahme des
Vorfluters am 30. August 1788 wurde ein eigens dafiir hergestelltes kleines Boot
am Steintorin den Kanal eingebracht. Es legte die Strecke bis zum Auslass an der
Klickmiihle in 42 Minuten zuriick, woraus man eine FlieBgeschwindigkeit des
Wassers im Kanal von 128 FuB, entsprechend etwa 37 Metern, in der Minute er-
rechnete.207
Der neue Kotkanal sollte nur Gassen-, Regen- und Spiilwasser aufnehmen, nicht
jedoch Jauche und Unrat.208 Diese Vorschrift war praktisch nicht einzuhalten,
was sich in den folgenden Jahren an der Verschlammung des Kanals und der zu-
nehmenden Geruchsentwicklung zeigte. Beides fiihrte man auf mangelndes
Gefalle und fehlende Wasserzufuhr zuriick.209 Im Jahr 1798 wurden die Kanal-
einlasse in der Breite StraBe geandert und zwei neue Notbrunnen zum Spiilen an-
gelegt.210 Die vorhandenen Probleme setzten sich jedoch im 19. Jahrhundert
nicht nur fort, sondern verschlimmerten sich mit dem weiteren Ausbau derKana-
lisation. Im Zusammenhang mit der zunehmenden Ausdehnung der Stadt kam es
ab 1845 zur Durchfiihrung mehrerer Kanalisationsprojekte, in deren Verlauf
auch der Kotkanal umgebaut wurde. Die Inbetriebnahme einer zentralen Was-
serversorgungsanlage imjahr 1878 verschlimmerte durch das wachsende Abwas-
seraufkommen die Entsorgungsprobleme der Stadt erheblich. Erst der vollstan-
dige Neubau einer einheitlichen Kanalisation ab 1890 brachte Abhilfe.211
204 StAH B 4189.
205 StAH B 8168 u. Hannoversches Magazin, 12. September 1800.
206 Ebd.
207 HStAH Harm. 93 Nr. 2096 I u. II.
208 Ebd.
209 Vgl. StAH A 6012, A 6013, A 6014.
210 StAH A 6012.
211 Olaf Grohmann, Stadtentwasserung Hannover - Die Geschichte, Hannover 2005,
S. 107ff.
7.
Knappe Ressourcen als Barriere und Triebkraft
innovativer Entwicklung
Zur Bedeutung von Lumpen, Holz und Wasser in der nieder-
sachsischen Papierindustrie (19./20. Jahrhundert)
Von Johannes Laufer
Die rasante Industrialisierung des Papiergewerbes legte im 19. Jahrhundert die
Grundlagen fiir einen bis heute standig und in immerneuen Dimensionen gestei-
gerten Massenkonsum von Papier und Pappe. Die urspriinglich hohe Wertschat-
zung des Papiers als Schreibstoff oderkostbares Verpackungsmaterial, die bis ins
friihe 20. Jahrhundert nachwirkte und in der Kriegs- und Nachkriegszeit wieder
auflebte, ist der alltaglichen Gewohnheit eines in jiingster Zeit ungeziigelten Ver-
brauchs selbst hochwertiger Papiere gewichen. Hohe Produktivitatsschiibe und
sinkende Papierpreise, Fortschritte derPapiertechnologie und Produktinnovatio-
nen kurbelten insbesondere den Massenkonsum von Verpackungsmaterial sowie
Druck- und Presseerzeugnissen weltweit an. Zurzeit verbraucht jeder deutsche
Einwohner rechnerisch knapp 240 kg Papier im Jahr. Deutschland liegt damit an
sechster Stelle der internationalen Verbrauchsstatistik. Der Papierkonsum bietet
gleichsam einen Indikator des Wohlstandsgefalles zwischen fiihrenden Industrie-
staaten und den neuen industriellen Aufsteigern oder Schwellenlandern. Die
USA verbrauchten 2003 Pro Kopf 305 kg Papier, aber China, Russland oder auch
Brasilien nur gut ein Zehntel dessen.1
Mit dem gigantischen Wachstum der Papierindustrie und des Papierkonsums
ging im Allgemeinen das Bewusstsein verloren, dass Papier primar ein Naturpro-
1 Verbrauch errechnet aus Produktion + Einfuhr - Ausfuhr. Statistische Angaben hier
und im Folgenden nach Verband Deutscher Papierfabriken e.V. Bonn (VDP), Papier 2004.
Ein Leistungsbericht sowie VDP, Papier Kompass 2005 und 2006. 1965 lag der Papierver-
brauch je Kopf derBevolkerungin den USAbei 229 kg, in Schweden (2. Rang) bei 164 kg, in
der BRD (9. Rang) bei 102 kg, in Japan (12. Rang) bei 72 kg und in der DDR (16. Rang) bei
57 kg.
216 Johannes Laufer
dukt aus Wasser und Holz ist.2 Die deutsche Papierindustrie ist gegenwartig der
drittgroBte gewerbliche Wasserverbraucher. Sie verarbeitet jahrlich die kaum
vorstellbare Menge von rund 4 Mio. Raummetern Holz und benotigt dariiber
hinaus zusatzliche Importe von Zellstoff, Holzstoff und Altpapier. Technische In-
novationen und der Zugriff auf Holz als global verfiigbaren Rohstoff schufen die
Voraussetzungen fur diese Entwicklung, die urn die Mitte des 19. Jahrhunderts
mit der Uberwindung der notorischen und akuten Ressourcenknappheit des vo-
rindustriellen Papiergewerbes einsetzte und um 1900 in die Abhangigkeit vom
Holz als Grundstoff der Papierindustrie miindete.
Die historische Entwicklung des Papiergewerbes bietet zur Frage des Umgangs
mit begrenzten Ressourcen fur die niedersachsische Landesgeschichte ein loh-
nendes Beispiel fur regionale Knappheit naturaler Ressourcen und okonomische
Anpassungsprozesse. An einzelnen Standorten Niedersachsens existieren bis
heute Papierunternehmen mit einer langen, teilweise bis ins 17. Jahrhundert rei-
chenden Tradition. Die Standortbindungen erklaren sich wesentlich durch giin-
stige Vorkommen von Wasser und Holz. Um 1830 existierte in den unterschiedli-
chen geographischen Raumen und Territorien Niedersachsens die recht beacht-
liche Zahl von 74 Papiermiihlen.3 Sie konzentrierten sich vor allem an
Standorten im siidlichen Berg- und Hiigelland, die sich durch natiirlichen Reich-
turn an Frischwasser auszeichneten. Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts
iiberlebten freilich nur wenige der zumeist sehr kleinen Handpapiermuhlen den
industriellen Umbruch zur Maschinenproduktion und die anschlieBenden Kon-
zentrationsprozesse in der Papierindustrie.4 1930 wurden auf dem Gebiet des
2 Kurze und pragnante Darstellung des Zusammenhangs von Papierkonsum, Ressour-
cen- und Umweltproblemen bei Mathias Mutz, Die holzerne Revolution. Produktion und
Konsum von Papier im 19. und 20. Jahrhundert, in: Landesmuseum fur Natur und Technik
(Hrsg.), Holz-Kultur. Von der Urzeit bis in die Zukunft, Oldenburg 2007, S. 59-64. Der Verf.
dankt Mathias Mutz, Gottingen, zudem fur wertvolle Hinweise zum Forschungsstand. Ausge-
zeichneter Uberblick iiber die technische und wirtschaftliche Entwicklung des Papiergewer-
bes sowie die Rohstoffsituation von der Friihneuzeit bis zur Gegenwart in: J. Georg Oligmul-
LER/Sabine Schachtner, Papier. Vom Handwerk zur Massenproduktion, Koln 2001.
3 Eberhard Tacke, Standorte der Papiererzeugung in Niedersachsen und angrenzenden
Gebieten, in: Neues Archivfiir Niedersachsen 13 (1964), S. 251-263, hier S. 255, 257 und die
Karte der „Papiermiihlen bis zur Aufstellung der ersten Papiermaschine in Niedersachsen
1834 in Wertheim bei Hameln".
4 Vgl. Die Wirtschaftsstruktur im Bezirk des Landesarbeitsamtes Niedersachsen, Wirt-
schaftswissenschaftliche Gesellschaft zum Studium Niedersachsens e.V, Beitrage, Heft 14,
Hannover 1930, S. 29 und Karte 7 sowie Kurt Bruning, Niedersachsen. Land, Volk, Wirt-
schaft, Bremen-Horn 1956, S. 228. Aktuelle Angaben nach VDP; Giinter Bayerl, Die Pa
piermuhle. Vorindustrielle Papiermacherei auf dem Gebiet des alten deutschen Reiches.
Technologie, Arbeitsverhaltnisse, Umwelt, Frankfurt/ Main 1987, S. 600: Grafik „Papier-
miihlenbestand in Niedersachsen 1450 bis 1900". Danach nahm die Zahl der Papiermiihlen
Knappe Ressourcen als Barriere und Triebkraft 217
heutigen Niedersachsens etwa 20 Unternehmen der Papier- und Zellstoffin-
dustrie gezahlt. Und in jiingster Zeit (1994) gab es noch 18 Unternehmen mit fast
6.000 Beschaftigten, von denen mindestens vier in der Nachfolge friihneuzeitli-
cher Papiermiihlen stehen. Niedersachsen gehort derzeit nach Nordrhein-West-
falen und Bayern, gleichauf mit Baden- Wiirttemberg, zu den wichtigsten Stand-
orten der deutschen Papierindustrie.
Eine umfassende Darstellung zum niedersachsischen Papiergewerbe liegt ab-
gesehen von bedeutenden Vorarbeiten und Untersuchungen iiber die vorindu-
striellen Papiermiihlen, die vor allem Eberhard Tacke und Giinter Bayerl leiste-
ten, bislang nicht vor.5 Recht unterschiedlich ist auch der Informationsstand iiber
die wechselhafte historische Entwicklung einzelner Standorte oder Unterneh-
men. Die folgenden Uberlegungen zur Ressourcenproblematik versuchen den
Bogen von der vor- und fruhindustriellen Zeit bis zur jiingsten Vergangenheit zu
schlagen. Sie konnen lediglich eine Skizze bieten, die zu weiteren Forschungen
und besonders auch unternehmenshistorischen Fallstudien anregen mochte.
Traditionelles Papiergewerbe zwischen Lumpennot und friihindustrieller
Entwicklung (1820 bis 1860)
Lumpen oder sogenannte Hadern aus Leinen und zum Teil auch aus Baumwolle
bildeten die Rohstoffbasis des vor- und fruhindustriellen Papiergewerbes. Pa-
piermiihlen waren gleichsam Recycling-Betriebe. Die Haderlumpen wurden -
stark verkiirzt formuliert - sortiert, gereinigt, in Wasser eingeweicht, gekocht,
zum Teil gebleicht und in Schneide-, Stampf- und Mahlwerken (sogenannten
Hollandern) zerfasert. In der Butte entstand ein fliissiger Brei, aus dem der Pa-
piermacher mithilfe eines Siebs Papierbogen von Hand schopfte, die anschlie-
Bend aufwendig gepresst und getrocknet, fur einige Sorten auch mit Leim be-
schichtet wurden.6 Art und Aufbereitung der Lumpen bestimmten maBgeblich
die Qualitat des Papiers. Farbige Lumpen und vor allem Wolllumpen waren we-
niger begehrt. Sie eigneten sich lediglich zu Losch- und Packpapieren wie etwa
die blauen Zuckerhutverpackungen.
Die erhohte Nachfrage nach Papier offenbarte in der zweiten Halfte des 18.
bis um 1850 noch auf 82 zu und schrumpfte bis um 1900 auf 47.
5 Tacke, Standorte, wie Anm. 3. Verschiedene Aufsatze von Eberhard Tacke befinden
sich in einer Sammelmappe in der Dienstbibliothek des Nieders. Hauptstaatsarchivs in
Hannover. Tackes Nachlass, der im Nieders. Staatsarchiv Wolfenbuttel liegt, wurde fur die-
se Studie nicht berucksichtigt. Zur Analyse der Standortverhaltnisse einer Papiermiihle vgl.
auch Olaf Mussmann, Selbstorganisation und Chaostheorie in der Geschichtswissenschaft.
Das Beispiel des Gewerbe- und Riistungsdorfes Bomlitz 1680-1930, Leipzig 1998.
6 Kurze Darstellung bei Oligmuller/Schachtner, wie Anm. 2, S. 79-82.
218 Johannes Laufer
Jahrhunderts die Grenzen des Wachstums im vorindustriellen Papiergewerbe.
Nahezu zeitgleich mit der allgemeinen Debatte iiber die Holznot kam um 1770 in
Kurhannover, Braunschweig und Hildesheim die Rede von einer Lumpennot
auf. Vielerorts klagten Papiermiiller im friihen 19.Jahrhundert iiber zunehmende
Schwierigkeiten bei der Lumpenbeschaffung.7 Die steigenden Lumpenpreise
nahmen sie zu Recht als Indiz der Verknappung oderdes erhohten Bedarfs wahr.
Zur Sicherung der Lumpenversorgung besaBen die Papiermiihlen zwar seit lan-
gem Privilegien, die ihnen besondere Bezirke zum Sammeln der Lumpen reser-
vierten.8 Doch fremde Sammlerkauften einen zunehmenden Teil der Lumpen zu
hoheren Preisen auf. GemaB derkameralistischen Wirtschaftsdoktrin versuchten
die Landesherren schon im 18. Jahrhundert, durch MaBnahmen wie die Konzes-
sionierung der umherziehenden Lumpensammler und Ausfuhrverbote oder Zol-
le den Zugriff der inlandischen Papiermacher auf den Papierrohstoff zu sichern.9
Lumpensammler mussten sich durch amtliche Passe fur ihre Bezirke legiti-
mieren.10 Die staadichen Interventionen verhinderten aber nicht, dass sich der
Lumpenmangel in der ersten Halfte des 19. Jahrhunderts offenbar dramatisch
verscharfte und bei steigender Nachfrage den Ausbau der Papierproduktion im
Konigreich Hannover zeitweise hemmte. Imjahre 1824 veroffentlichte die Ko-
nigliche Societat der Wissenschaften zu Gottingen im Interesse derHebungder Vater-
landischen Industrie eine okonomische Preisaufgabe zur griindlichen Erorterung der Man-
gel, welche bei der Papierfabrikation in Norddeutschland im Allgemeinen angetroffen wer-
den und der Hindernisse, welche ihre Vervollkommnung bisher zuriickgehalten haben . . .u
Der 1826 zum Preistragergekiirte Papiermacher Keferstein aus Crollwitz bei Hal-
le setzte sich in neun Punkten mit den Griinden fur die Riickstandigkeit des nord-
deutschen Papiergewerbes auseinander.12 Er sprach jedoch nicht explizit von
7 NHStA Hann. 80 Hildesheim, Nr. 5936 und 5937. Vgl. bes. Viktor-L. Siemers, Braun-
schweigische Papiergewerbe und die Obrigkeit. Merkantilistische Wirtschaftspolitik im 18.
Jahrhundert, Braunschweig 2002 und Lore Sporhan-Krempel, Einhundertfunfzigjahre Pa
piermacherei an der Hase zu Osnabriick, Osnabriick 1959, S. 18; Eberhard Tacke, Von den
Papiermachern in Klein Lengden. Ein Beitrag zur Geschichte siidhannoverscher Papier-
miihlen und ihrer Wasserzeichen, in: Gottinger Jahrbuch 1955/56, S. 3-22, hier S. 17 sowie
Mussmann, wie Anm. 5, S. 137.
8 Vgl. Bayerl, wie Anm. 4, S. 370f.
9 Zu den Mitteln insbesondere der vorindustriellen Interventionspolitik und zur Ein-
richtung der Sammelbezirke bes. Siemers, wie Anm. 7.
10 NHStA Hann. 80 Hildesheim, Nr. 5937 sowie Bayerl, wie Anm. 4, S. 374.
11 Vgl. Archiv der Akademie der Wissenschaften zu Gottingen Scient 195/9. Blatt 96 f.
sowie Catherine Herges, Aufklarung durch Preisausschreiben? Die okonomischen Preisfra-
gen der Koniglichen Societat der Wissenschaften zu Gottingen 1752-1852, Bielefeld 2007,
S. 259f.
12 Lebrecht Orlando Keferstein, Gekronte Preisschrift . . . Eine griindliche Erorte-
rung der Mangel, welche bei der Papierfabrikation in Norddeutschland im Allgemeinen an-
Knappe Ressourcen als Barriere und Triebkraft 219
Lumpenmangel, sondern von Schwierigkeiten bei der Beschaffung geeigneter
Lumpen und den Nachteilen derLumpenprivilegien. Vorallem aberkritisierte er
die unvollkommenen Methoden der Papiermiihlen, die der Aufbereitung des
schlechteren Materials zu wenig Beachtung schenkten. Die Qualitatsminderung
des Papierrohstoffs war demnach ein Effekt der Lumpenknappheit.
Lumpenmangel hatte verschiedene Ursachen, die in der ersten Halfte des 19.
Jahrhunderts kumulierten. Er beruhte seit jeher auf Defiziten der Beschaffung
oder Logistik, aber auch einer absolut begrenzten Menge von Lumpen.13 Dabei
muss man sich vergegenwartigen, dass der Verbrauch an Bekleidungs- und Haus-
haltstextilien, insbesondere unter der vorwiegend landlichen Bevolkerung noch
gering und das Sammeln in diinner besiedelten Regionen mit geringer Stadtdich-
te sehr aufwendig war. Zur Versorgung der 52 hannoverschen „Papierfabriken"
waren 1838 etwa 1.200 Lumpensammler tatig.14 Im friihen 19. Jahrhundert kam
vor allem die relative Verknappung der Lumpen als Folge der Papierkonjunktur
und des Wachstums derPapierproduktion im In- und Ausland hinzu. Seit derEr-
findung der Papiermaschine (1799), die erstmals die Produktion „endloser" Pa-
pierbahnen ermoglichte und um 1820 von England aus ihren Siegeszug auf dem
Kontinent antrat, legte die Nachfrage nach Lumpen auch in Hannover und
Braunschweig kraftig zu. Ein wachsender Teil der hannoverschen Lumpen ge-
langte jedoch als begehrter Rohstoff zumeist auch auf dem Wege illegalen
Schleichhandels ins Ausland, nach Hessen und PreuBen, aber vor allem iiber
Hamburg und Bremen nach GroBbritannien und Holland.15 Die Lumpenhand-
ler versuchten durch Lieferungen ins Ausland vom Preisgefalle zu profitieren.
Der traditionelle Lumpenhandel, dessen Organisationsgrad unter den gegebe-
nen Bedingungen m.E. nicht zu unterschatzen ist, stieB dabei an Grenzen.
Die zunftahnlich organisierten Papiermiiller nahmen den Lumpenmangel
gern zum Anlass, staatliche Hilfe gegen neue Konkurrenten einzufordern.16 Bei-
getroffen werden, und der Hindernisse, welche ihre Vervollkommnung bisher zuriickgehal-
ten haben, in: Hannoversches Magazin 1826, S. 505-534.
13 Bayerl, wie Anm. 4, S. 370 ff. Zur Organisation des Lumpenhandels am Beispiel des
Herzogtums Braunschweig Siemers, Braunschweigische Papiergewerbe, wie Anm. 7, hier
bes. S. 35 ff. Siemers vertritt wie andere die Auffassung, dass der Lumpenmangel in erster
Linie ein Defizit der Logistik war.
14 Friedrich v. Reden, Das Konigreich Hannover statistisch beschrieben, zunachst in
Beziehung auf Landwirtschaft, Gewerbe und Handel, Bd. 1, Hannover 1839, S. 394.
15 Vgl. Gustav v. Gulich, Uber den Handel und die ubrigen Zweige der Industrie im
Konigreiche Hannover seit 1826, Hannover 1831, S. 33; TACKE,Standorte, wie Anm. 3,S. 259
sowie Bayerl wie Anm. 4, S. 377f., 380. Bayerl sieht im umfangreichen Lumpenexport nach
England einen hinreichenden Beleg dafiir, dass kein „echter" oder absoluter, sondern ein re-
lativer Lumpenmangel herrschte.
16 Vgl. die verschiedenen Beispiele bei Eberhard Tacke, Beitrage zur Geschichte des
220 Johannes Laufer
spielsweise verweigerte die Landdrostei Hildesheim 1825 die Genehmigung
zur Errichtung einer neuen Papiermiihle in Pohlde im Amt Herzberg, weil der
Betreiber der nahe gelegenen Herzberger Papiermiihle dagegen Beschwerde er-
hob und vortrug, dass ihn der Lumpenmangel schon jetzt daran hindere, mehr
Schreib- und Druckpapier herstellen zu konnen.17 Staatliche Regulierungen des
Lumpenhandels und das Festhalten deralten Papiermacherdynastien an den Pri-
vilegien verstarkten die Probleme zumeist noch und erschwerten nicht nur Neu-
griindungen, sondern verhinderten oder verzogerten auch den Ausbau und die
Modernisierung der Papiermacherei.18
War die Rede vom Lumpenmangel am Ende doch nur ein vorgeschobenes Ar-
gument der Interessensicherung? Diesen Eindruck erwecken zumindest Falle wie
die amdiche Genehmigung zur Einrichtung einer zweiten Butte in der Uslarer Pa-
piermiihle 1828. 19 Der Papierfabrikant der benachbarten Papiermiihle in Rellie-
hausen bei Dassel erhob gegen das Vorhaben seines Konkurrenten Einspruch. Er
fiirchtete einen Verdrangungswettbewerb, weil kaum ein Land so mit Papiermiih-
len iiberhauft sei wie Hannover. Er trug vor, dass die Ausdehnung der Papierpro-
duktion seines Nachbarn den Lumpenmangel und den Preisauftrieb bei Lumpen
weiter anheizen wiirde. Die Landdrostei Hildesheim entschied jedoch diesmal
zugunsten des Uslarer Papierfabrikanten, der sich bereits um zweckmafeige Verbes-
serungen der Papierqualitat und Sortenvielfalt bemiiht und dadurch seinen Absatz
vor allem nach Braunschweig und Berlin gesteigert habe. Die Rede von der Lum-
pennot sei „hochst iibertrieben", denn die Uslarer Papiermiihle verarbeite jetzt
bereits mit 800 bis 900 Zentnern mehr Lumpen im Jahr als andere vergleichbare
Unternehmen (dafiir legte man etwa 600 Zentner je Jahr zugrunde). Tatsachlich
reprasentierte die Uslarer Papiermiihle mit 25 bis 30 Beschaftigten schon einen
relativ groBen Betrieb. Der weitere Ausbau wurde nach den zeitspezifischen
Grundsatzen kameralistischer Gewerbeforderung genehmigt, um zusatzliche
Arbeitsplatze zu schaffen und die Binnenwirtschaft durch Senkung der Papier-
importe zu starken. Aus gleichen Motiven wurde 1845 auch die Aufstellung einer
Papiermaschine zum Ausbau der Lachendorfer Papiermiihle bei Celle zurPapier-
fabrik genehmigt.20 Die Lachendorfer Papiermiihle gait jedoch wegen ihres
Rechts, einen Faktorzum Lumpenaufkauf im Raum Hannover zu engagieren, als
Papiers in Niedersachsen und angrenzenden Gebieten, in: Papier Geschichte 4 (1954), Heft
3, S. 35-44.
17 NHStAHann. 74 Herzberg, Nr. 1145.
18 Vgl. auch die Einwande der Behorden gegen die Anlage einer Papierfabrik in Uelzen
1845, die mit der Besetzung aller Lumpenprivilegien im Landdrosteibezirk Liineburg be-
grundet werden. NHStA Hann. 74 Celle, Nr. 1010.
19 NHStA Hann. 80 Hildesheim, Nr. 6889.
20 NHStA Hann. 74 Celle, Nr. 1010.
Knappe Ressourcen als Barriere und Triebkraft 221
besonders begiinstigt.21 Die wachsende Papiernachfrage und steigende Papier-
preise boten nicht nur fur einzelne Papiermiiller wie in Uslar oder Lachendorf,
sondern auch fur friihindustrielle Unternehmer Anreize zum Ausbau alter oder
zur Griindung neuer maschineller Papierfabriken, die allerdings einen erhohten
Kapitaleinsatz und die Uberwindung diverser Hemmnisse verlangten.
In Wendhausen bei Braunschweig errichtete 1838/39 die renommierte braun-
schweigische Verlegerfamilie Vieweg auf einer staatlichen Domane eine Papier-
fabrik, die sie mit einer Papiermaschine und Satinierkalander ausstatteten.22 Es
war die zweite oder dritte Papiermaschine fiir sogenanntes Endlospapier in Nord-
deutschland.23 Das Ziel war die Produktion feiner Druckpapiere in „gro6erem
MaBstab". Auch hier versuchten die etablierten Papiermiiller unter Verweis auf
den vorherrschenden Lumpenmangel und die Bedrohung ihrer Existenz die ge-
plante Fabrik zu verhindern. Die Vieweg-Briider erklarten dem Staatsministeri-
um gegeniiber, dass die im Konigreich Hannover und Herzogtum Braunschweig
vorhandenen Papiermiihlen die Herstellung der besonders gefragten Druckpa-
piere nicht leisten konnten, die benotigten Lumpen im Steuerverein der beiden
Lander jedoch mehr als ausreichend zur Verfiigung stiinden. Die tagliche Pro-
duktionskapazitat der in Wendhausen aufgestellten Maschine betrug maximal et-
wa 600 kg Papier, wofiir knapp 800 kg Lumpen eingesetzt werden mussten. Es ist
jedoch hochst fraglich, ob diese Leistung annahernd erreicht wurde.24
Welch gravierende Probleme neue Papierfabriken besonders beim Lumpen-
bezug zu bewaltigen hatten, veranschaulicht der Fall des friihen Griinders aus ei-
ner Osnabriicker Kaufmannsfamilie, Gustav von Giilich (1791 - 1847). Giilich,
der vor allem durch seine zahlreichen gewerblichen und wirtschaftsliberalen
Schriften, aber auch sein vielseitiges unternehmerisches Engagement bekannt
wurde, erwarb 1828 eine alte Papiermiihle bei Polle an der Weser, um eine Pa-
pierfabrik nach englischem Muster zu errichten.25 Dem Projekt lag die zutreffen-
de Beobachtung zugrunde, dass das relativ ausgedehnte hannoversche Papierge-
21 NHStA Harm. 80 Hannover, Nr. 2100.
22 Vgl. Victor-L. Siemers, Die Papierfabrik Gebr. Vieweg in Wendhausen bei Braun-
schweig" (1838-1895), in: Braunschweigisches Jahrbuch fiir Landesgeschichte 84 (2003),
S. 133-159, hier S. 136f., 140. Der Kalander diente zur Glattung und Leimbeschichtung des
Papiers. In der Startphase der Fabrik gab der mit den Viewegs befreundete Chemiker Justus
v. Liebig wertvolle Erfahrungen weiter, die er auf Auslandsreisen gewonnen hatte.
23 Vgl. v. Reden, wie Anm. 14, S. 397. Die erste Maschine kam 1834 in Wertheim bei
Hameln, die zweite 1838 in Osnabriick-Gretesch, wohl fast zeitgleich mit der im braun-
schweigischen Wendhausen, zum Einsatz. Alle Maschinen wurden in neuen friihindustriel-
len Fabriken von Unternehmern aufgestellt, die noch aus dem Papiergewerbe stammten.
24 Skeptisch auBert sich auch Siemers, Papierfabrik, wie Anm. 22, S. 14 If.
25 Vgl. Gustav v. Gulich, Uber meine industriellen Unternehmungen im Konigreiche
Hannover, Hameln 1835, S. 32 f. und NHStA Hannover, Hann. 74 Hameln, Nr. 3250.
222 Johannes Laufer
werbe zwar eine groBe Menge Papier produzierte und zum Teil auch exportierte,
aber langst nicht in der Lage war, den Inlandsbedarf an feinerem Druck-,
Schreib- und Zeichenpapier zu decken.26 Diese Sorten wurden aus England, Hol-
land, Frankreich, der Schweiz und Siiddeutschland eingefiihrt. Giilich entschloss
sich nach Schwierigkeiten am Standort Polle, den Neubau seiner Papierfabrik im
giinstiger gelegenen Wertheim bei Hameln auszufiihren, wo er 1833/ 34 die erste
Papiermaschine Norddeutschlands in Betrieb nahm.27
Von Anfang an bereitete die Lumpenversorgung Giilichs Vorhaben ernste
Schwierigkeiten.28 Giilich strebte beharrlich danach, die Rohstoffbasis seines
Unternehmens auszudehnen. Teils erwarb erLumpenprivilegien stillgelegterPa-
piermiihlen, teils verpflichtete er Lumpenhandler von Gottingen iiber Osterode
bis nach Hannover und auch jenseits der hannoverschen Grenzen.29 Damit
brachte er die Papiermiiller der betreffenden Regionen gegen sich auf, die sich
gegen die Konkurrenz der aufkommenden Maschinenproduktion abzuschotten
suchten. Vergeblich bemiihte sich Giilich um zusatzliche Lumpenprivilegien
und 1839 um die amtliche Genehmigung fur eine eigene Lumpenfaktorei in Han-
nover. Eine Gruppe siidniedersachsischer Papiermiiller, die seit 1770 in Hanno-
ver ein Lumpenmagazin unterhielten, setzte alles daran, ihn aus dem wichtigen
hannoverschen Lumpen- oder Rohstoffmarkt herauszudrangen. Mit Hilfe des
hannoverschen Finanzministeriums, dem an einer Verbesserung der Papierver-
sorgung des Landes auBerordentlich viel gelegen war, gelang es Giilich letztlich
doch, sich gegen die Zunftgenossen zu behaupten und alte Prinzipien des Lum-
pensammelns zu durchbrechen.30
Erst relativ spat hob die hannoversche Gewerbeordnung von 1852 die Lum-
penprivilegien der Papiermiihlen auf. Die Liberalisierung des Lumpenhandels
kam zunachst nur schleppend in Gang.31 Unternehmer wie von Giilich, die unter
den Vorzeichen der giinstigen Papierkonjunktur in moderne Technik investier-
ten, hatten jedoch schon vor den politischen Reaktionen Auswege gesucht und
gefunden. Sie pachteten stadtische Lumpenrechte oder engagierten Lumpen-
26 Vgl. v. Gulioh, Uber den Handel, wie Anm. 15, S. 33 f. sowie v. Reden, wie Anm. 14,
S. 397f.
27 Erste Nachrichten iiber die Papierfabriken Giilichs u.a. in: Mitteilungen des Gewer-
be-Vereins fur das Konigreich Hannover, 1835, Sp. 79 f. sowie dies. 1843, Sp. 359 ff.
28 Uber die Probleme seiner Papierfabrikation auBert sich v. Gulich, Unternehmun-
gen, wie Anm. 25.
29 NHStA Hann. 80 Hildesheim, Nr. 5937.
30 NHStA Hann. 80 Hannover, Nr. 2100 sowie Hann. 80 Hildesheim, Nr. 5937.
31 NHStA Hann. 80 Hildesheim, Nr. 5937. Noch bis 1856 verweigerten die Behorden
Giilich wiederholt die Genehmigung zur Einrichtung von Lumpenfaktoreien in verschiede-
nen Regionen Hannovers.
Knappe Ressourcen als Barriere und Triebkraft 223
sammler in Nachbarstaaten. Einige schlossen Liefervertrage mit Berliner und
Magdeburger Lumpenhandlungen ab.32 Der Osnabriicker Papierfabrikant
Quirll hatte um 1850 fiir seine beidenMiihlen in Osnabriickund Oesede 70 Lum-
pensammler unter Vertrag, die insbesondere im preuBisch-westfalischen Gebiet
unterwegs waren.33 Dariiber hinaus setzten sich dynamische Papierunternehmer
fiir innovative Losungen beim Ausbau der Produktionskapazitaten und bei der
Suche nach neuen Rohstoffen ein. Seit den 1830erjahren wurde unter anderem
in Wertheim, Lachendorf bei Celle oder auch in Essen bei Oldenburg die Chlor-
bleiche eingefiihrt, wie sie Keferstein 1828 als wesentlichen Schritt zur Verbesse-
rung der Rohstoffzubereitung und der Papierqualitat anmahnte.34 Dieses Verfah-
ren bot den Schliissel zur leichteren Verwertung von farbigen und geringwerti-
gen Lumpen und zur Nutzung neuer pflanzlicher Faserstoffe.35 Doch langst nicht
alle Versuche zur Erweiterung der Rohstoffbasis waren erfolgreich. Giilich ver-
suchte vermehrt Wolle- und Baumwolllumpen, Hanf und Stroh fiir grobe Papier-
sorten zu verwerten und schaffte dazu eine besondere Aufbereitungsmaschine
aus England an.36 Das Experiment mit Lumpen aus Tierfasern scheiterte und
drohte Giilichs Unternehmen fast zu ruinieren, zumal das schlechte Papier
schwer abzusetzen war. Dagegen entwickelte sich die Herstellung von Strohpa-
pieren oder Strohpappe voriibergehend zum Erfolgsfaktor seiner Unternehmun-
gen.37 Unabhangig von der Frage, ob der Lumpenmangel lediglich ein Vertei-
lungsproblem und kein Indiz echterKnappheit war,38 brachte er den Papierpro-
duzenten ein reales Problem, das sie vordringlich zu bewaltigen hatten.
In der hannoverschen Gewerbestatistik von 1861 findet sowohl die Verdran-
gung der traditionellen Handpapiermiihlen als auch die Anpassung der Maschi-
nenpapierfabriken Niederschlag. Unter den insgesamt 39 Betrieben zur Papier-
32 Vgl. Zur Statistik des Konigreichs Hannover, Bd. 10: Gewerbe-Statistik 1861, Hanno-
ver 1864, S. XV.
33 Vgl. Sporhan-Krempel, wie Anm. 7, S. 20.
34 Keferstein, wie Anm. 12, S. 506, 5 1 5 f f . Friedrich Drewsen, Geschichte der Familie
Drewsen sowie der Papierfabrik und des Ritterguts zu Lachendorf, Celle 1895, S. 23; vgl. au-
Berdem Eberhard Tacke, Uber eine oldenburgische Windpapiermiihle der 1830erjahre bei
Essen, in: Neues Archiv fiir Niedersachsen 16 (1967), S. 178-184, hier S. 184.
35 Vgl. allgemein zur Bleichtechnologie im Papiergewerbe Oligmuller/Schachtner,
wie Anm. 2, S. 83. Bereits 1798 hatten in Lachendorf in Analogie zum Textilgewerbe Versu-
che zur Chlorbleiche von Lumpen stattgefunden, die wie bei anderen Papiermiihlen nicht
zum Ziel fuhrten.
36 NHStA Hannover, Hann. 74 Hameln, Nr. 3250.
37 Vgl. Zusammenstellung der Nachrichten uber die seit 1838 im Konigreiche Hanno-
ver neu entstandenen oder wesentlich vergroBerten Fabriken, in: Mitteilungen des Gewer-
be-Vereins fiir das Konigreich Hannover 32 (1843), Sp. 359-362.
38 Vgl. Bayerl, wie Anm. 4, S. 377, 380.
224 Johannes Laufer
und Pappeerzeugung dominierten rein numerisch noch die kleinen Papiermiih-
len mit durchschnittlich kaum 10 Beschaftigten, die etwa zurHalfte im Siiden des
Konigreichs Hannovers, zwischen Weser, Leine und Harz angesiedelt waren.39
Von ihnen hoben sich jedoch einige mittlere und insbesondere drei groBe indu-
strielle Unternehmen in Lachendorf bei Celle, Wertheim bei Hameln und Altklo-
ster bei Buxtehude mit jeweils 125, 210 und 280 Arbeitern ab, die erfolgreiche
Wege zur Uberwindung der Lumpennot eingeschlagen hatten.40
Holz - der neue Rohstoff der Papierindustrie
Lumpenknappheit oder Stockungen der Lumpenversorgung gaben bereits im
ausgehenden 18. Jahrhundert AnstoBe zur Suche nach Rohstoffsurrogaten.41 Un-
terschiedliche, nahezu synchrone Ansatze und Versuche zur Gewinnung von
pflanzlichen Faserstoffen aus Grasern, Stroh und Holz wiesen den Weg zur Lo-
sung des Papierrohstoffproblems um die Mitte des 19. Jahrhunderts. In diesen
Zusammenhang gehort auch die Entwicklung eines Verfahrens zum Recycling
von bedrucktem Altpapier, das der Gottingerjurist und Professorjustus Claproth
1774 in Zusammenarbeit mit der Papiermiihle Klein Lengden im Gartetal bei
Gottingen entwickelte.42 Das grundsatzlich erfolgreiche Projekt scheiterte sei-
nerzeit an der mangelnden Wirtschaftlichkeit und Organisation des Altpapier-
sammelns. Obwohl derGedanke die Zeitgenossen zu weiteren Experimenten an-
regte, kam die kommerzielle Altpapierverwertung erst Ende des 19. Jahrhunderts
unter den Vorzeichen konjunktureller und handelspolitischer Rohstoffverknap-
pung zum Durchbruch.
Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts setzte sich insbesondere Holz als neuer in-
dustrieller Papiergrundstoff durch. Der entscheidende Impuls kam 1845 von der
Erfindung des Holzschliffs oder Holzstoffs aus Fichtenholz durch den sachsi-
39 Zur Statistik, wie Anm. 30, S. XV und Fabrikentabelle, S. 62.
40 Die Papierfabriken in Osnabriickund Osnabriick-Gretesch, in Winsen und Stade be-
schaftigten jeweils 70 bis 95 Arbeitskrafte. Charakteristisch fur die neuen Papierfabriken
war auch der Produktionsapparat der zum Beispiel in Lachendorf 1856 auBer der Papierma-
schine 10 Hollander, also Mahl- und Schneidwerke, und eine Dampfmaschine sowie 3 Tur-
binen umfasste. Zur Statistik, wie oben.
41 Dazu ausfuhrlich Bayerl, wie Anm. 4, S. 383-397.
42 Claproth hatte als Manufakturrichter vom Lumpenproblem erfahren. Vgl. Bayerl,
wie Anm. 4, S. 391 f. und Gerhard Strohlein, Papierherstellung im 17. und 18. Jahrhundert
am Beispiel der Papiermiihle bei Klein Lengden, in: Birgit Schlegel (Hrsg.), Altes Hand-
werk und Gewerbe in Siidniedersachsen, Duderstadt 1998, S. 59-73 sowie Mathias Mutz,
Klein Lengden, das Papierrecycling und die Nutzung natiirlicher Rohstoffe, in: Gottinger
Graduiertenkolleg Interdisziplinare Umweltgeschichte, Werkstattbericht. Schauplatze der
Umweltgeschichte, S. 188-194.
Knappe Ressourcen als Barriere und Triebkraft 225
schen Weber Friedrich Gottlob Keller (1816-1895) ,43 Keller verfolgte seit 1841 die
Idee, einen Stoff ausfindig zu machen, der wenigstens teilweise die immer mehr mangeln-
den Hadern ersetzen kdnne.44, Und er gewann um 1850 die siidwestdeutschen Tech-
niker und Mechaniker Voelter und Voith dafiir, geeignete Schleifapparate zu
entwickeln. Dank der neuen kostengiinstigen Maschinentechnik breitete sich der
Holzschliff als neuer Papierfaserstoff seit den 1860er Jahren sprunghaft aus.
Wenn insbesondere die verkehrsgunstig, im waldreichen siidlichen Niedersach-
sen gelegenen Unternehmen friihzeitig und konsequent die neue Ressource nutz-
ten, dann bestatigt dies, wie sehr ihnen am Ersatz der knappen, im Preis steigen-
den Lumpen gelegen war.45 Die nachhaltige Verbesserung der Rohstoffbasis gab
vielerorts unmittelbar den AnstoB zur Investition in weitere oder neue, weitaus
leistungsstarkere Papiermaschinen.
Die Eigentiimer der 1706 gegriindeten Alfelder Papiermiihle wechselten 1851
mit dem Erwerb der stillgelegten Alfelder Lohmiihle an einen giinstigeren Stand-
ort nahe zur Leine und errichteten dort eine Papierfabrik mit einer neuartigen
Langsieb-Papiermaschine.46 1859 iibernahmen sie im weiter nordlich gelegenen
Gronau an der Leine eine ehemalige Olmiihle, die sie zunachst zu einer Stroh-
pappenfabrik und bereits 1869 zu einer Holzschleiferei umbauten. Die Technik
der Holzstoffgewinnung hatten sie 1867 auf der Pariser Weltausstellung kennen
gelernt. 1873 wurden die Kapazitaten der Gronauer Holzschleiferei bereits ver-
doppelt. Das inzwischen zur Aktiengesellschaft Hannoversche Papierfabriken
Alfeld-Gronau umgewandelte Unternehmen erweiterte damit die Basis der eige-
nen Grundstoffversorgung fur die Inbetriebnahme einer zweiten Papiermaschine
in Alfeld. Neben Holzschliff wurden (wie in zahlreichen anderen Fabriken) fur
bestimmte Papiersorten noch Hadern und vor allem der preiswerte, leicht zu ver-
arbeitende Strohstoff verwendet.
Als Nachteil des kurzfaserigen Holzschliffs galten von Anfang an die braun-
gelbliche Farbung und die Briichigkeit des Papiers. Fiir hochwertige Papiersorten
eignete er sich kaum. Doch schon in den 1870erjahren gelang es, auf den Grund-
lagen der Zellulosechemie einen hochwertigen Zellstoff aus Holz zu gewinnen
43 Auch zum Folgenden Jiirgen BLECHSCHMIDT/Alf-Mathias Strunz, Der Beginn eines
neuen Zeitalters derPapierfaserstoff-Erzeugung - die Erfindung des Holzschliff- Verfahrens
durch Friedrich Gottlob Keller, in: Frieder Schmidt (Hrsg.), Papiergeschichte(n). Papier
historische Beitrage, Wiesbaden 1996, S. 137-150.
44 Autobiografische Aufzeichnungen Kellers (1885) zitiertnach Blechschmidt/ Strunz,
S. 138.
45 Zur braunschweigischen Papierfabrik von Vieweg vgl. Siemers, Papierfabrik, wie
Anm. 22, S. 145-147.
46 Auch zum Folgenden: Hannoversche Papierfabriken Alfeld-Gronau vormals Gebr.
Woge (Hrsg.), Endlose Bahn. Zum 250 jiihrigen Bestehen, Alfeld 1956, S. 102-120.
226 Johannes Laufer
und industriell herzustellen, der hinsichdich der Maschinengangigkeit und Pa-
pierqualitat erhebliche Vorziige aufwies.47 Im Zuge der schnellen Fortschritte der
Papiertechnologie fiihrte die Alfelder Papierfabrik bereits im Jahre 1875 erste
Versuche mit schwedischem Zellstoff durch. Zur Herstellung feiner, sogenannter
,holzfreier' Papiere (ohne Holzschliff) erwarb die Aktiengesellschaft 1880 als ei-
ne dervierersten deutschen Fabriken die Lizenz zurErzeugung von Sulfitzellstoff
nach dem Mitscherlich-Patent.48 1882 wurde die neue Zellstoff-Kocherei auf
dem Gelande der friiheren Alfelder Papiermiihle fertiggestellt.
Der Chemiker Alexander Mitscherlich (1836-1918) war ein Pionier der Zell-
stoffchemie und unternehmerisch ambitioniert. Erwurde 1868 iiberdie Stationen
Gottingen und Berlin als Professor fur anorganische Chemie an die neu gegriin-
dete Forstakademie in Hannoversch-Miinden berufen.49 In seiner Versuchsanla-
ge entwickelte Mitscherlich ein Verfahren zur Herstellung von Kalziumbisulfit-
saure und damit des Sulfitzellstoffs, der gegeniiber dem soeben eingefiihrten
schwedischen und amerikanischen Natron-Zellstoff sowohl produktionstech-
nisch als auch qualitativ eine Verbesserung brachte. Mitscherlich verwertete sei-
ne Erfindung durch den Verkauf von Lizenzen an deutsche Papierfabriken und
errichtete 1877 eine eigene Zellstofffabrik. Auf Druck seines Dienstherrn verkauf-
te Mitscherlich 1883 sein Unternehmen und verlieB Hannoversch-Miinden.50
1884 wurden ihm die Patente fur die Sulfitzellstoffgewinnung allerdings aber-
kannt.51 Gleichwohl dokumentiert der ,Fall Mitscherlich' die besondere Wechsel-
beziehung zwischen dermodernen, betriebswirtschaftlich orientierten Forstwirt-
schaft und der expandierenden Papierindustrie. Zellstoff etablierte sich rasch als
wichtigster Papierrohstoff und verdrangte seit dem friihen 20. Jahrhundert weit-
gehend Lumpen, andere pflanzliche Faserstoffe und zum Teil auch Holzstoff.52
47 Vgl. Mutz, wie Anm. 2, S. 60.
48 Hannoversche Papierfabriken, Endlose Bahn, wie Anm. 46, S. 125, 134-137 sowie
Sappi Alfeld (Hrsg.), Das Papier- Stammbuch 1706-2006, Alfeld o. J. (2007), S. 67.
49 Vgl. Frank KROPp/Zoltan Rozsnay, Niedersachsische Forstliche Biographie. Ein
Quellenband, Hannover 1998, S. 337f. sowie Walter Kremser, Niedersachsische Forstge-
schichte. Eine integrierte Kulturgeschichte des nordwestdeutschen Forstwesens, Roten-
burg/Wiimme 1990, S. 843 f.
50 Mitscherlich sah sich aufgrund seiner nebenberuflichen Aktivitaten erheblichen An-
feindungen seiner Kollegen ausgesetzt. Insofern bleibt ungewiss, inwieweit der Vorwurf zu-
traf, dass die Emissionen seiner Zellstofffabrik Schaden in den benachbarten Forsten verur-
sacht hatten.
51 1891 erhielt Mitscherlich jedoch das Patent zur Gewinnung von Spiritus aus Sulfit-
ablauge.
52 1891 gab es in Deutschland 42 Sulfitzellstoff- und 7 Natronzellstofffabriken. Hanno-
versche Papierfabriken, Endlose Bahn, wie Anm. 46, S. 133 f., 138 sowie Bayerl, wie
Anm. 4, S. 393.
Knappe Ressourcen als Barriere und Triebkraft 227
Die Hannoverschen Papierfabriken stellten bereits 1896 den Betrieb der Holz-
schleiferein in Gronau voriibergehend ein und gaben 1905 die Strohstoffgewin-
nung endgiiltig auf. Stattdessen verwendete Alfeld seit 1895 auch Altpapier als
Zellstoff-Beimischung.
Die Substitution der Lumpen verlief seit 1860 in mehreren Etappen. DerPro-
zess schloss neben dem Zugriff auf Holz die Verwertung anderer natiirlicher Fa-
serstoffe wie Stroh, Flachs und Juteabfalle ein. Etwa zwei Jahrzehnte vor dem
Holzschliff kamen verschiedene Methoden zur Gewinnung von Strohstoff aus
Getreidestroh auf.53 Friihe Papierfabriken wie Osnabriick, Wertheim/Hameln,
Wendhausen/Braunschweig und vor allem auch Altkloster bei Buxtehude nutz-
ten seit den 1840er Jahren das verbesserte Angebot an Getreidestroh und die
Moglichkeiten, den Strohzellstoff in eigenen Kochereien aufzuschlieBen und
Pappe oder Karton herzustellen.54 Die Winterschen Papierfabriken in Altkloster,
die nach zahlreichen Ubernahmen - darunter auch die Wertheimer Papierfabrik
- bis um 1900 zum groBten Papierunternehmen auf niedersachsischem Gebiet
aufstiegen, verarbeiteten auBer Holz- vorwiegend Strohzellstoff.55 Die spezifi-
sche Ressourcenbindung pragte sich in der regionalen Struktur der niedersachsi-
schen Papierstandorte aus. Im Norden entstanden in den 1870er Jahren, vor
allem in Ostfriesland bei Emden, Leer und Papenburg, groBe Strohpappefabri-
ken, wahrend die Papierfabriken im siidlichen Berg- und Hiigelland zwischen
Harz und Soiling vorwiegend auf der Grundlage von Holzschliff und Zellstoff ex-
pandierten.56 Allerdings kamen um 1850 auch hier und besonders in den mittle-
ren Landesteilen Hannovers kleinere Strohpappenfabriken auf.57 An einzelnen
Standorten besaBen zudem Lumpen bis ins 20. Jahrhundert noch recht groBe Be-
deutung als Grundlage hochwertiger Schreibpapiere wie etwa bei der Drewsen-
schen Feinpapierfabrik in Lachendorf bei Celle und der Papierfabrik Hahne-
miihle bei Relliehausen im Soiling.58
Die rasche Ausdehnung von Strohstoff und Holzstoff korrespondierte mit dem
53 Vgl. Bayerl, wie Anm. 4, S. 377, 393 sowie Oligmuller/Schachtner, wie Anm. 2,
S. 75.
54 Vgl. Zusammenstellung der Nachrichten iiber die seit 1838 im Konigreiche Hanno-
ver neu entstandenen oder wesentlich vergroBerten und verbesserten Fabriken, in: Mittei-
lungen des Gewerbe-Vereins fur das Konigreich Hannover 1843, Sp. 359-362. Die Vieweg-
sche Fabrik in Wendhausen errichtete noch 1892 eine neue Anlage zur Strohstoffgewin-
nung; moglicherweise ein Indiz fur Kapitalmangel, denn 1895 wurde die Fabrik stillgelegt.
Siemers, Papierfabrik, wie Anm. 22, S. 148.
55 Vgl. Paul Hirschfeld, Hannovers GroBindustrie und GroBhandel, Berlin 1891,
S. 268f.
56 Ebd., S. 264 ff., 274.
57 Ebd., S. 267; zu Alfeld vgl. Sappi Alfeld, Papier-Stammbuch, wie Anm. 48, S 67.
58 Ebd., S. 270 sowie Drewsen, Geschichte, wie Anm. 34, S. 36f.
228 Johannes Laufer
Aufschwung des Uberseehandels und den Anfangen des urbanen Massenkon-
sums in den 1870erjahren. Die wachsende Nachfrage nach Packpapieren und
Kartonagen sowie Zeitungen und Presseerzeugnissen oder auch Tapeten eroffne-
te neue Markte und giinstigen Absatz fiir einfache, billige Massenpapiere. Die
rechtzeitige Anpassung an die Papiermarktentwicklung trug unter Beriicksichti-
gung der regional verfiigbaren Ressourcen wesentlich dazu bei, dass einige der
alten kleinen Handpapiermiihlen um 1850 prosperierten und teilweise noch bis
um 1910 iiberlebten.59 Der Ubergang zum hochwertigem, im Preis sinkenden
Holzzellstoff beschleunigte allgemein den kapitalintensiven Ausbau derProduk-
tionskapazitaten. Die Standorte im Norden profitierten dabei zunehmend von
ihrer verkehrsgiinstigen Lage und wechselten zum Einsatz von Holz oder Zell-
stoff, die auf dem Seeweg importiert wurden. Lumpen, Strohzellstoff, Holzstoff
und zunehmend auch Altpapier wurden dem Papierzellstoff je nach Sorte und
Rohstofflage weiterhin beigemischt. Ein Ende der 1950erjahre in Weener an der
Ems unternommener Versuch zur Wiederbelebung der Pappeerzeugung aus hei-
mischem Strohzellstoff erwies sich indes als ,Strohfeuer'.60
Um 1900 war Holz der dominierende Papierrohstoff. Mit fast 560 Holzschlei-
fereien (1910: 610; 1921: 542) stieg Deutschland in dieser Zeit zum weltweit fiih-
renden Produzenten fiir Holzschliff auf. Einer der Produktionsschwerpunkte lag
am oderum den Westharz, wo sich 1883 bereits 46 Holzschleifereien niederge-
lassen hatten.61 Sie belieferten Papierfabriken im Inland und in Frankreich, Hol-
land und Belgien. Diese Exportmarkte gingen aber schon in den 1890erjahren
an skandinavische Produzenten verloren, die massiv auf den deutschen Markt
drangten. Der rasch wachsende Holzbedarf der Papierfabriken und Holzschleife-
reien, die bedeutende Abnehmer vor allem geringwertiger Rundholzer wurden,
hatte erhebliche Riickwirkungen auf die Walder und die staatliche Forstwirt-
schaft in Hannover und Braunschweig, die sich seit den 1860er Jahren verstarkt
auf die gewerbliche Holznachfrage ausrichtete. Im Harz traf diese Entwicklung
mit der Herauslosung der Forsten aus der jahrhundertealten Bindung an das
Berg- und Hiittenwesen und dessen enormen Holzbedarf zusammen.62 Um die
59 Nachrichten iiber die im Konigreiche Hannover bestehenden Fabriken und fabri-
kahnlichen Anlagen, in: Mitteilungen des GewerbeVereins fiir das Konigreich Hannover
(1852), Sp. 320-323. Nach Tacke, Beitrage, wie Anm. 16, S. 42 wurde 1909 bei Verden eine
der letzten Handpapiermiihlen des nordlichen Niedersachsens stillgelegt.
60 Bis heute existiert die Firma durch die Verarbeitung von Altpapier. Vgl. Hans Hein-
rich SEEDORF/Hans-Heinrich Meyer, Niedersachsen als Wirtschafts- und Kulturraum: Be
volkerung, Siedlungen, Wirtschaft, Verkehr und kulturelles Leben, Neumiinster 1996, S. 470.
61 Vgl. Blechschmidt/Strunz, wie Anm. 43, S. 142 f. sowie NHStAHann. 180 Hildes-
heim, Nr. 17028.
62 Vgl. Gerhard Riehl, Die Forstwirtschaft im Oberharzer Bergbaugebiet von der Mit-
te des 17. bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts, Gottingen 1968, S. 94, 96.
Knappe Ressourcen als Barriere und Triebkraft 229
Forstamter in den Moglichkeiten derfreien Holzvermarktung zu starken, wurden
auch die traditionellen Waldweide- und Holzberechtigungen der Harzgemein-
den und ihrer Bewohner sukzessive abgelost. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts
versorgten die Harzer Forsten nicht nur Betriebe des naheren, sondern auch
weiteren Umlands, darunter auch die Hannoverschen Papierfabriken in Alfeld/
Leine.
Dank der hoch entwickelten Nadelholz- und vor allem der Fichtenkulturen ge-
lang es den staatlichen Forstverwaltungen im Harz und in derHeide recht ziigig,
auf die explodierende Nachfrage der Holzschleifereien und Papierfabriken zu
reagieren, indem sie die Monokulturen von Fichten und Kiefern vorantrieben.
Das reiche Holzangebot begiinstigte wiederum die Niederlassung zahlreicher
kleiner Holzschleifereien am Harzrand, unmittelbar an Oker, Oder, Innerste, Sie-
ber, Sose usw., wo sie zudem giinstige Verhaltnisse der Wasserkraftnutzung vor-
fanden. Bei der Genehmigung neuer Holzschleifeien, die das Betriebsgelande
und die Wasserrechte in der Regel von den Berg- oder Forstverwaltungen pachte-
ten, waren betriebswirtschaftliche und fiskalische Interessen an einer langfristi-
gen Abnahme von Fichtenholz ausschlaggebend.63 Zu Beginn des 20. Jahrhun-
derts versuchten die Forstverwaltungen, neue Griinder vertraglich darauf zu ver-
pflichten, ausschlieBlich Holz aus Staatsforsten zu verarbeiten.64
Holzschliff und Zellstoff revolutionierten die Papiererzeugung und erweiter-
ten durch Diversifizierung oder Sortenvielfalt deren Verwendungsmoglichkei-
ten. Innerhalb von fast 25Jahren, 1871 bis 1895, stieg die Tagesproduktion der Al-
felder Papierfabrik von 4 auf 22 Tonnen.65 Zum Vergleich: Gegenwartig (2005)
erreicht die Tagesproduktion in Alfeld (Sappi) mehr als 950 t Papier, das heiBt die
238fache Menge von 1871 (1981 lag der Wert bei 466 t).66 Das exponentielle
Wachstum der Zellstoff- und Papierproduktion kam seit dem spaten 19. Jahrhun-
dert in einem enormen Holz- und Zellstoffhunger zum Ausdruck. 1895 verarbei-
tete die Alfelder Papierfabrik mehr als 18.000 Raummeter Fichten- und Kiefern-
holz.67 DieserBedarf war nicht allein im Umland zu stillen. Die Holzer stammten
iiberwiegend aus dem Harz, zum kleineren Teil aus den nahen Hils- oder Solling-
forsten, aber auch aus der Liineburger Heide. Zusatzlich bezog das Unternehmen
Holzschliff von Schleifereien aus dem Westharz und aus Skandinavien.
63 NHStA Hann. 180 Hildesheim, Nr. 18220 zur Anlage einer Holzstofffabrik im Inner-
stetal 1901.
64 Die Anlage neuer Schleifereien scheiterte auch an erhohten Pachtforderungen fur
Wassergefalle und am aufkommenden Talsperrenbau.
65 Hannoversche Papierfabriken, Endlose Bahn, wie Anm. 46, S. 124, 138.
66 Sappi Alfeld, Papier-Stammbuch, wie Anm. 48, S. 171.
67 NHStA Hann. 180 Hildesheim, Nr. 17028.
230 Johannes Laufer
Auch generell hingen das Wachstum und der Aufstieg der deutschen Papierin-
dustrie zu einer weltweiten Spitzenstellung entscheidend vom erweiterten Zugriff
auf iiberregionale und internationale Holzressourcen ab. Zwischen 1880 und
1901 stiegen die deutschen Holzstoffeinfuhren, vor allem aus Skandinavien und
Russland, um das Vierfache.68 1913 importierte Deutschland bereits 2,6 Mio.
Raummeter oder43 % des Papierholzes aus Nord- und Osteuropa.69 Das wieder-
um setzte die Konvergenz internationaler Rohstoffmarkte voraus, die dank der
Transportrevolution von Eisenbahn und Dampfschiff seit den 1870er Jahren
auch im Uberseehandel verstarkt vernetzt wurden. Der Ausbruch des Ersten
Weltkriegs offenbarte die Grenzen des Wachstums, als die Holzimporte aus
Skandinavien, Russland und teilweise auch aus Amerika ausblieben. Im Interes-
se der Papierindustrie ordnete das Reichswirtschaftsministerium einen erhohten
Holzeinschlag an, der jedoch weniger der regionalen Papierindustrie zugute kam.
Vielmehr mussten die Forstverwaltungen der waldreichen Provinz Hannover im
Zuge der staatlichen Grundstoffbewirtschaftung zu Beginn der 1920erjahre mo-
natlich 90.000 Raummeter Papierholz (Fichte) vor allem fur „notleidende Betrie-
be der Druckpapierindustrie", das hieB fur groBe Papierkonzerne wie die Feld-
miihle AG, deren Werke zum Teil in Kiistennahe lagen und von Holzimporten
abhingen, bereitstellen.70 So versuchten die Hannoverschen Papierfabriken ihre
Rohstoffbasis zu erweitern, indem sie zum Holzschliff zuriickkehrten und noch
im vorletzten Kriegsjahr eine Holzschleiferei im Okertal am Harz erwarben.71
Die HerzbergerPapierfabrik Osthushenrich schloss 1930 mit den Forstbehorden
langerfristige Vertrage iiber die Abnahme groBer Mengen Fichtenholz (bis zu
32.000 m3 im Jahr) aus hannoverschen Staatsforsten, vor allem dem Harz.72 Als
das Unternehmen auf dem Gipfel der Weltwirtschaftskrise in Zahlungsschwierig-
keiten geriet und das PreuBische Finanzministerium eine nachtragliche Erma.-
Bigung des Holzpreises entschieden ablehnte, bezog die Firma einen Teil des
Papierholzes aus Polen. Die Nationalsozialisten nahmen sich bereitwillig des An-
68 NHStA Hann. 180 Hildesheim, Nr. 17028; vgl. auBerdem Druckschrift der Handels-
kammer Goslar zur Lage der deutschen Holzstoffindustrie und Stellungnahme zum neuen
Zolltarif-Entwurf an den preuBischen Handelsminister 1901, in: NHStA Hann. 180 Hildes-
heim, Nr. 18220. Die Schrift betont die Vorteile des Wald- und Holzreichtums von Kanada,
Russland und Skandinavien als den Holzstoffmarkt kiinftig beherrschende Lander und
warnt, dass ein Riickgang der deutschen Holzstoffindustrie auch die Rentabilitat der Forst-
wirtschaft gefahrde.
69 Mutz, wie Anm. 2, S. 62.
70 NHStA Hann. 180 Hildesheim, Nr. 17029.
71 Hannoversche Papierfabriken, Endlose Bahn, wie Anm. 46, S. 139 sowie Hannover-
sche Papierfabriken (Hrsg.), Das Papier-Stammbuch. 275 Jahre Hannover Papier, Koln
1981, S. 81.
72 NHStA Hann. 180 Hildesheim, Nr. 183212.
Knappe Ressourcen als Barriere und Triebkraft
231
Holzplatz der Hannover schen Papierfabriken aufdem Werksgeldnde in Alfeld/Leine 1956.
Aufdem Platz lagert der Holzvorrat der Zellstofffabrik fur vier Wochen - bei einer Monats-
produktion von etwa 1.800 t Sulfitzellstoff. Foto Hannover Papier, Alfeld.
liegens der Herzberger Papierfabrik an und wiesen die Forstverwaltung 1934 an,
dem Rohstoffmangel [der Papierfabrik, J. L.] angemessen entgegen zu wirken.
Unter den Vorzeichen knapper Energie und Rohstoffe setzte in der Zwischen-
kriegszeit und unter den Vorgaben der Autarkie- und Kriegswirtschaft des NS-
Regimes eine neue Phase intensiver Uberlegungen iiber die Papierressourcen
ein. Zur Sicherung der deutschen Papierproduktion wurden drei Wege anvisiert,
die heute auf globalen Rohstoffmarkten gleichsam Realitat sind und die Papier-
rohstofflage beherrschen: zum einen die Ausbeutung groBer Waldgebiete (heute
globaler Zugriff auf tropische Regenwalder) und die Kultivierung schnell wach-
sender Baumarten (gegenwartig der verstarkte Trend zum Plantagenholz in den
Tropen und in Afrika), zum anderen eine erhohte Altpapierverwertung (derzeit
erreicht die deutsche Altpapierquote iiber 65%). 73
Mit der Spezialisierung auf das Marktsegment hochwertiger grafischer Papiere
73 Vgl. Oligmuller/Schachtner, wie Anm. 2, S. 77, 95 und Mutz, Papierrecycling,
wie Anm. 42, S. 191 sowie Bayerl, wie Anm. 4, S. 393-396.
232 Johannes Laufer
und Spezialpapiere verzichtete die Alfelder Papierfabrik seit Mitte der 1960er
Jahre auf den Einsatz von Altpapier, dessen Anteil in der Kriegs- und Nachkriegs-
zeit deutlich erhoht worden war, und verwendete seither ausschlieBlich eigenen
und fremden Zellstoff. Hohere okologische Kosten wurden in Erwartung guter
Marktchancen in Kauf genommen. Denn zur Erzeugung von einem Kilogramm
Zellstoff werden auch gegenwartig noch etwa zwei Kilogramm Holz benotigt.74
Es bleiben also 50% derHolzsubstanz (Rinde und Lignin) als Riickstand. Bis An-
fang der 1970er Jahre wurde davon lediglich ein Bruchteil zur Gewinnung von
Sulfitspiritus und Dampf-Energie verwertet.75 Fur die eigene Zellstoffgewinnung
verbrauchte Alfeld in den 1980erjahren etwa 460.000 Raummeter Fichtenholz
im Jahresdurchschnitt. Zusatzlich bezog die Firma noch 85.000 t schwedischen
Sulfat-Zellstoff. Angeheizt durch technische Fortschritte und explodierende Pro-
duktionsleistungen erreichte der Ressourcenverbrauch verglichen mit dem spa-
ten 19. und friihen 20. Jahrhunderts vollig neue Dimensionen. Der riesige Holz-
bedarf und die Kapitalintensitat der Papier- und Zellstoffproduktion eroffneten
der internationalen Holzwirtschaft schlieBlich auch im Alfelder Unternehmen
den Zugang zur Aktienmehrheit. Sie wechselte zuletzt 1992 vom schwedischen
Zellstoff- und Papierkonzern N.C.B. (Norrlands Skogsagares Cellulosa AB) zum
siidafrikanischen Sappi-Konzern (South African Pulp and Paper Industries).76
Der Aufstieg von Sappi zum neuen Global Player der Papierindustrie basierte wie
schon bei den Skandinaviern wesentlich auf riesigem Waldbesitz und einer eige-
nen Forst- und Holzwirtschaft. Gleichwohl ging das Alfelder Werk Ende der
1990er Jahre aus Qualitats- und Kostengriinden dazu iiber, statt Import- oder
Plantagenholz vorwiegend Durchforstungsholz aus Waldern der Region bei er-
hohtem Buchenholzanteil zu verarbeiten. Das Unternehmen nutzt diese Ent-
wicklung unter Hinweis auf das Nachhaltigkeitsprinzip der Forstwirtschaft im
Rahmen seiner okologischen Marketing-Strategie.
Wasser - elementares Produktionsmittel und Standortfaktor
Die traditionell hohe Verdichtung derPapiermiihlen und Papierfabriken im siid-
niedersachsischen Berg- und Hiigelland verweist bereits auf die standortbilden-
de Bedeutung des Wassers.77 Ohne ausreichendes und vor allem auch reines,
74 Sappi Alfeld, Papier-Stammbuch, wie Anm. 48, S. 180f.
75 Die Gewinnung von Alkohol aus Ablaugen der Zellstoffkocherei, die dem Unterneh-
men 1936 im Rahmen der nationalsozialistischen Rohstoffbewirtschaftung des Vierjahres-
plans auferlegt worden war, erwies sich als lohnende Nebenproduktion. Hannoversche Pa-
pierfabriken, Papier-Stammbuch, wie Anm. 46, S. 92 f.
76 Vgl. Sappi Alfeld, Papier-Stammbuch, wie Anm. 48, S. 116, 155f.
77 Vgl. Tacke, Standorte, wie Anm. 3. Zur Bedeutung des Wassers am Beispiel einer
Knappe Ressourcen als Barriere und Triebkraft 233
moglichst weiches Wasser ist keine Papierproduktion denkbar. Die Wasserquali-
tat entscheidet iiber die Art und Giite des Papiers. Papierfabriken verbrauchen
riesige Mengen an Frischwasser. Wasser ist das tragende Element der Suspension,
also des Faservlieses oder Papierbreis aus Zellulose und Zuschlagen wie Leim
usw. Wasser diente und dient dariiber hinaus zur Aufbereitung der Rohstoffe,
zum Antrieb der Maschinen sowie zur Entsorgung von Riickstanden aus der Zell-
stoff- und Papierproduktion. Wahrend die deutsche Papierindustrie um 1900 fur
ein Kilogramm Papier noch etwa 600 bis 800 Liter Wasser benotigte, waren es um
1950 durchschnittlich 167 Liter Wasser, zur Produktion hochwertiger Papiere
aber auch weitaus mehr.78 Zurzeit liegt der Verbrauch in Alfeld mit etwa 20 Li-
tern je Kilogramm Papier knapp iiber dem Durchschnitt der deutschen Papier-
industrie.79
Das fruhneuzeitliche Papiergewerbe benotigte nicht nur gutes Fabrikations-
wasser, sondern auch kraftiges Antriebswasser als Primarenergie fur die Stampf-,
Schneid- und Mahlwerke. Ein Grundproblem vieler Papiermiihlen (vor allem im
Flachland) bestand darin, dass selten beides in ausreichendem MaBe vor Ort ver-
fiigbar war. Extreme Schwankungen des Wasserhaushalts oder Wassermangel
waren eine der wesentlichen Ursachen fur den Niedergang der Handpapiermiih-
len.80 Um die Wasserkraft der Lachte fur die Papiermiihle Lachendorf zu reser-
vieren, errichtete die Fabrikantenfamilie Drewsen 1830 anstelle einer Getreide-
Wassermiihle eine Hollanderwindmiihle, die bis 1863 zugleich als Energiereser-
ve der Papiermiihle genutzt wurde.81 Fiir die Papiermiihlen bot Windkraft ledig-
lich im Flachland und in Kiistennahe eine echte Alternative wie im Fall der er-
sten Papiermiihle Ostfrieslands, die 1807 nach hollandischem Vorbild bei Aurich
errichtet wurde.82
Da die Wasserleistung kleinerer Fliisse zur Kapazitatserweiterung und Maschi-
nisierung der Papierproduktion nicht ausreichte, hielt die Dampfmaschine in
Papierfabriken schon friihzeitig, spatestens aber mit der Aufstellung der ersten
Papiermaschinen um 1840 Einzug.83 In der hannoverschen Dampfmaschinensta-
sachsischen Papierfabrik bes. instruktiv: Mathias Mutz, Naturale Infrastrukturen im Un-
ternehmen. Die Papierfabrik Kiibler & Niethammer zwischen Umweltabhangigkeit und
Umweltgestaltung, in: Saeculum 58 (2007), S. 59-87.
78 Vgl. Oligmuller/Schachtner, wie Anm. 2, S. 141; Bayerl, wie Anm. 4, S. 475 so-
wie VDP, Leistungsbericht, Grafik ,Wassergebrauch 1950-2001'.
79 Sappi Alfeld, Papier-Stammbuch, wie Anm. 48, S. 184 sowie Oligmuller/Schacht-
ner, wie Anm. 2, S. 142.
80 Vgl. Tacke, Klein Lengden, wie Anm. 7, S. 20 f. am Beispiel der 1847 aufgegebenen
Papiermiihle Klein Lengden bei Gottingen.
81 Vgl. NHStA Hann. 74 Celle, Nr. 194 und Drewsen, Geschichte, wie Anm. 34, S. 23.
82 Vgl. Tacke, Windpapiermiihle, wie Anm. 34, S. 178.
83 Die ersten Dampfmaschinen im niedersachsischen Papiergewerbe wurden 1806 von
234 Johannes Laufer
tistik von 1875 lagen die Papierfabriken an zweiter Stelle hinter den Kornbrenne-
reien und Getreidemiihlen, aber noch vor der Textilindustrie.84 Der Einsatz der
Dampfmaschine setzte jedoch eine verkehrsgiinstige Lage zur Versorgung mit
Steinkohle oder Koks voraus und erforderte vor allem in der Friihzeit ausreichen-
den Zufluss an Kondensationswasser. Deshalb nutzten die fruhindustriellen Pa-
pierfabrikanten beim auBerordentlich hohen Energiebedarf ihrer zunehmend
mechanisierten Betriebe soweit wie moglich die Vorziige der Wasserkraft.85 Weil
sich die Leistung der zumeist kleineren Gewasser, zumal im Flachland, kaum stei-
gern lieB, suchten die Papierfabrikanten entwederneue Standorte auf, erwarben
zusatzliche Wassergefalle oder setzten Kraftmaschinen ein. In Lachendorf wur-
den zusammen mit der Aufstellung der ersten Papiermaschine 1845 drei Turbi-
nen anstelle der Wasserrader installiert; eine zweite Dampfmaschine kam 1848
dazu.86 Seit den 1850erjahren ersetzten vor allem leistungsstarke moderne Tur-
binen die alten Wasserrader.87 Dampfmaschinen mit kleiner oder mittlerer Lei-
stung dienten dagegen zumeist zur Uberbriickung der natiirlichen Schwankun-
gen des Wasserhaushalts und als erganzende Energiereserve.88 Die Technik der
Endlos-Papiermaschinen verlangte einen moglichst ungestorten, kontinuierli-
chen Prozess, sie duldete keinen Stillstand.
Ein friihes Beispiel fiir die Kombination verschiedener Antriebsarten bietet
die friihindustrielle Papierherstellung in Osnabriick. DerKaufmann und Papier-
fabrikant Quirll errichtete 1798 fiir seine neue Papiermiihle in Osnabriick „in der
Wiiste" eine Windmiihle und erweiterte die Anlage bereits ein Jahr spater um ei-
ne zweite Windmiihle, die er von einer alten Papiermiihle in Ankum im Amt Ber-
senbriick dorthin versetzte.89 1806 versuchte Quirll, von der Windkraft unabhan-
gig zu werden und erganzte die Anlage durch eine Dampfmaschine.90 Zusatzlich
Quirll in Osnabriick, um 1837 von v. Giilich in Wertheim und 1840 von Vieweg in Wend-
hausen aufgestellt. Vgl. Sporhan-Krempel, wie Anm. 7, S. 13; Siemers, Papierfabrik, wie
Anm. 22, S. 138 f.
84 Vgl. Michael Mende, Anfange der Industrialisierung in Hannover. Wasserkraft- oder
Dampfmaschine?, in: Giinter Bayerl (Hrsg.), Wind- und Wasserkraft. Die Nutzung regene-
rierbarer Energiequellen in der Geschichte, Diisseldorf 1989, S. 308-329, hier S. 316f.
85 Vgl. Mende, wie oben, S. 317.
86 NHStA Hann. 74 Celle, Nr. 1010.
87 Wasserturbinen setzten sich vor allem auch mit den neuen Holzschleifereien durch.
Vgl. Mende, wie Anm. 84, S. 319 u. Anm. 23.
88 Angaben zu einzelnen Papierfabriken vgl. Nachrichten iiber die im Konigreiche
Hannover bestehenden Fabriken und fabrikahnlichen Anlagen, in: Mitteilungen des Ge-
werbe-Vereins fiir das Konigreich Hannover (1843), Sp. 359f.; (1852), Sp. 320-323; auBer-
dem Mende wie Anm. 84.
89 Vgl. Sporhan-Krempel, wie Anm. 7, S. 11 f. sowie Tacke, Windpapiermiihle, wie
Anm. 34.
90 Vgl. auch zum Folgenden Sporhan-Krempel, wie Anm. 7, S. 13, 17, 21.
Knappe Ressourcen als Barriere und Triebkraft 235
erwarb erimjahre 1808 die ehemalige OsnabriickerLoh- und Walkmiihle an der
Hase, um das Gelande und insbesondere die Wasserrechte fur die Errichtung ei-
ner weiteren Papierfabrik zu nutzen. 1850 erfolgte hier zusammen mit der Auf-
stellung einer Papiermaschine der Einbau einer ersten und 1853/55 einer zweiten
Wasserturbine. Wie in diesem Fall so kennzeichnete auch in Polle/ Wertheim,
Lachendorf/Celle oder Alfeld/Gronau das Ausweichen an einen neuen oder
zweiten Standort die Entwicklung von der Papiermiihle zur Fabrik.91
Im allgemeinen hatten die Papiermacher standig mit Verunreinigungen des
Wassers durchjauche, Schlamm und Sand, besonders bei Hochwasser, zu kamp-
fen. Vor grundsatzlichen Problemen standen jedoch die Papiermiihlen in der
norddeutschen Tiefebene. Gewohnlich mangelte es diesen Standorten weniger
an der Menge als vielmehr an der Reinheit des Wassers. Hartes, unreines oder
auch eisenhaltiges Wasserbeeintrachtigte maBgeblich die Qualitat und den Wert
der Papierproduktion. Sie lieBen lediglich die Herstellung geringwertiger Pack-
papiere oder Pappen zu. Zum Betrieb der 1804/07 mit massiver staatlicher Unter-
stiitzung gegriindeten einzigen ostfriesischen Papiermiihle Stallingslust bei Au-
rich war es daher notwendig, das moorastige und durch Jauche verunreinigte
Wassernach hollandischem Vorbild zu filtrieren und zusatzlich Regenwasserbas-
sins anzulegen.92 Ahnliche Probleme hatte der Osnabriicker Fabrikant Quirll bei
seiner neuen Papierfabrik an der Hase zu bewaltigen. Zum Ausbau der Produkti-
onskapazitaten musste er neue Brauch- oder Frischwasservorrate erschlieBen.
Nach fehlgeschlagener Suche gelang es erst durch aufwendige Zuleitung von ge-
eignetem Quellwasser, in groBerem Umfang auch bessere Papiersorten zu erzeu-
gen.93 In Lachendorf bei Celle schuf die ErschlieBung neuer Wasserreservoire
durch den Bau von Brunnen, Kanalen oder Rohrleitungen die entscheidende
Voraussetzung fur die weitere Existenz und Expansion des Unternehmens in der
zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts. 1885 wurde eine Anlage zur Aufbereitung
des stark eisenhaltigen Wassers errichtet.94
Im Verlauf der Industrialisierung verscharften sich die Konflikte um das Was-
ser. Das betraf vor allem Standorte, an denen Papiermiihlen mit Brauereien, Tex-
tilfabriken oder Kalibergwerken um die Wassernutzung konkurrierten. Papier-
miihlen unterlagen seit jeher allgemeinen Regeln der Stauhohe, Wasserentnah-
91 Zu Lachendorf bes. Elgar Drewsen, 300 Jahre Papiermacher - die Drewsens in
Deutschland und Danemark, in: Frieder Schmidt (Hrsg.), Papiergeschichte(n). Papierhisto-
rische Beitrage, Wiesbaden 1996, S. 17-25.
92 Vgl. Bayerl, wie Anm. 4, S. 423-425.
93 Vgl. Sporhan-Krempel, wie Anm. 7, S. 20f. sowie Bayerl, wie Anm. 4, S. 437f.
94 Drewsen, Geschichte, wie Anm. 34, S. 23 f. Die Anlage von Teichen als Wasserreser-
voir wie 1820 bei der Papiermiihle Bilderlahe bei Hildesheim erwies sich zumindest im
Sommer als ungeeignet; dazu Bayerl, wie Anm. 4, S. 426.
236 Johannes Laufer
me oder Einleitung, die den Interessenausgleich aller Wassernutzer anstrebten.
Konkurrierende Nutzer achteten sehr genau auf Veranderungen des Status quo.
Papiermiihlen waren groBe Wasserverbraucher, aber auch Wasserverschmutzer.
In einer Interessenkoalition mit dem Stadtmagistrat verhinderte der Alfelder Pa-
piermiiller Woge 1833 die Niederlassung eines Konkurrenten an dem Fliisschen
Warne, indem er gegeniiber der Behorde deutlich machte, dass von der geplanten
Pappenfabrik trotz dergegenteiligen Beteuerungen des Antragstellers eine starke
Wasserverunreinigung zu erwarten sei, die den Anrainern und nicht zuletzt sei-
ner eigenen Papierfabrikation erheblichen Schaden zufiigen wiirde.95 Die Stadt
Alfeld befiirchtete vor allem negative Folgen fur die Entnahme von Brauerei- und
Trinkwasser unterhalb des vorgesehenen Miihlengelandes. Paradoxerweise ge-
horte gerade die Papierindustrie, die selbst in hochstem MaBe auf reines Wasser
angewiesen war, zu den schlimmsten Gewasserverschmutzern; konnte also Ver-
ursacher und Geschadigte zugleich sein.
Das AusmaB und die Art der Wasserverunreinigung nahmen mit dem Vor-
dringen von Chemikalien beim Reinigen und Bleichen der Faserstoffe um 1840
und insbesondere seit den 1870er Jahren durch die Zellstoffgewinnung drama-
tisch zu.96 Papier- und Zellstofffabriken entsorgten hochgradig mit Chlor-,
Schwefel-, Natronverbindungen oder auch Kalk belastete Ablaugen, aber auch
organische Riickstande der Zellstoffgewinnung sowie Leim und Farbreste bis um
1900 nahezu ungeklart in natiirliche Gewasser, die in Kloaken verwandelt wur-
den. Die okologischen Folgen und Gefahren fiir Menschen und Tiere waren seit
der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts uniibersehbar. Sie riefen vor allem un-
mittelbar betroffene Anwohner oder Gemeinden, Unternehmen und die Land-
wirtschaft auf den Plan. In Lachendorf beispielsweise entziindete sich gegen En-
de des 19. Jahrhunderts ein Konflikt, weil betroffene Landwirte nicht mehr dul-
deten, dass die Papierfabrik weiterhin die zunehmend chemisch verseuchten
Ablaugen iiberihre angrenzenden Wiesen in die Lachte ableiteten.97 Solange die
kalkhaltigen Abwasser aus der Lumpenreinigung und Kocherei als Diinger will-
kommen waren, verfiigten Papierfabriken wie Lachendorf iiber unkomplizierte,
doch okologisch bedenkliche Entsorgungsmethoden.98 Die Probleme um das
Anschwellen der Abwasserflut und deren chemische Anreicherung hatten die
LachendorferPapierfabrikanten schon 1868 zum Bau mehrerer Klarbassins ver-
anlasst, in denen das Waschwasser der Hollander vorgeklart und anschlieBend
95 Vgl. NHStAHann. 80 Hildesheim, Nr. 1172 sowie Eberhard Tacke, Uber Abwasser-
probleme in der alten Handpapierindustrie, in: Neues Archiv fiir Niedersachsen 16 (1967),
S. 356-361, hierS. 359 f.
96 Vgl. Oligmuller/Schachtner, wie Anm. 2,S. 142 sowie Bayerl, wie Anm. 4,S. 445 f.
97 NHStAHann. 174 Celle, Nr. 58.
98 Vgl. Drewsen, Geschichte, wie Anm. 34, S. 24.
Knappe Ressourcen als Barriere und Triebkraft 237
zur Berieselung von Wiesen und Ackern genutzt wurde. Das Klarverfahren wur-
de um 1890 optimiert und ermoglichte zugleich die Riickfiihrung von gereinig-
tem Wasser in den Produktionskreislauf.
Schon vor dem ersten Wasserschutzgesetz fur PreuBen, das 1913 in Kraft trat,
gab es behordliche Regulierungen der Abwasserentsorgung. Die vorallem in den
Stadten aufkommende offentliche Sensibilisierung fur Hygiene und Gesund-
heitsschutz leistete dabei wesentlichen Antrieb. Das Wasserschutzgesetz, das die
Untemehmen vor allem fur Folgeschaden ihrer Produktion haftbar machte, zielte
wie schon friihere obrigkeitliche oder gewerbepolizeiliche MaBnahmen auf ei-
nen Ausgleich zwischen offentlichen Sicherheitsbediirfnissen und okonomi-
schen Interessen. Papier- und Zellstofffabriken oder auch Holzschleifereien
mussten ihre Abwasser nach Vorgaben und Kontrollen der Gewerbeaufsicht so
ableiten oder vorklaren, dass Gefahren fiir Fische und Vieh, vor allem aber Beein-
trachtigungen anderer gewerblicher Wassernutzer vermieden wurden. In der
Praxis belieBen die Behorden aber nach wie vor viel Freiraum zugunsten der in-
dustriellen Wassernutzer und reagierten in der Regel erst bei Klagen oder Ein-
wanden betroffener oder potentiell gefahrdeter Personen oder Korperschaften."
Als die Herzberger Papierfabrik 1928/29 die Verleihung von Wasserrechten
an der Sieber zur Wasserentnahme und Abwasserentsorgung beantragte, mach-
ten zwei Textilfabriken, die Reichsbahn, die aus dem Fluss Speisewasser fiir Lo-
komotiven entnahm, und die Stadt Herzberg ihre Interessen am Wasser mit
Nachdruck geltend.100 Die Papierfabrik unterlag zwar seit den 1890erjahren der
Verpflichtung, Vorkehrungen gegen Verunreinigungen des Wassers zum Schutz
der anderen Wassernutzer zu treffen und ihre unterschiedlichen Abwasser aus
der Holzschleiferei und der Papierfabrikation in Klar- oder Setzbecken vorzukla.-
ren.101 Infolge derstarken Ausdehnung derPapierproduktion kam esjedoch wie-
derholt zu Verunreinigungen (besonders durch organisches Material und
Schlamm), die Anlass zu Beschwerden gaben. Die Auseinandersetzungen zogen
sich im Ganzen iiber zehnjahre hin.102 Unter Einschaltung des Flusswasser-Un-
tersuchungsamtes Hildesheim machten die Behorden verschiedene Auflagen zur
Verbesserung der Abwasserreinigung, welche die Papierfabrik schrittweise um-
setzte. Bis 1938 wurden die Kapazitaten der Klaranlage deutlich vergroBert und
ein Teil der Abwasser unter Zusatz von Chlor gereinigt. Den wohl wichtigsten
99 Vgl. Jiirgen Buschenfeld, Fliisse und Kloaken. Umweltfragen im Zeitalter der Indu-
strialisierung (1870-1918), Stuttgart 1997.
100 NHStA Harm. 180 Hildesheim, Nr. 20243 und 20246.
101 NHStA Hann. 180 Hildesheim, Nr. 18319.
102 NHStA Hann. 180 Hildesheim, Nr. 20243 und 20246. Ein ahnlicher Fall war die
Verunreinigung der Sose durch eine Papierfabrik bei Osterode 1899. Dazu Hann. 174 Zel-
lerfeld, Nr. 557.
238 Johannes Laufer
Fortschritt bedeutete die Einrichtung einer Stofffang- und Filtrationsanlage, mit
der groBe Mengen von organischem Material zuriickgehalten und eingedampft
wurden. Die gelosten chemischen Schadstoffe im Fabrikationswasser blieben
von den MaBnahmen noch wenig beriihrt.
In den 1970erjahren begann eine neue Phase offentlicher und politischer Aus-
einandersetzungen mit Umwelt- und Ressourcenproblemen. Unter den Vorzei-
chen gesellschaftlicher Kritik wurden die Unternehmen zunehmend fur die Re-
gulierung und Vermeidung von Umweltschaden in die Pflicht genommen. Be-
sonders wegen der Gewasserverschmutzung geriet die Papierindustrie in den
Fokus der Umwelt- und Naturschutzbewegung. Die Kritik richtete sich vor allem
gegen die extremen Belastungen der Chlorbleiche und der Sulfitablaugen aus der
Zellstoffproduktion. Fiir die Alfelder Papierfabrik, die sich auf holzfreie Quali-
tatspapiere aus Zellstoff spezialisiert hatte, beanspruchte die Verringerung der
schadlichen Riickstande und Ablaugen aus der Zellstoffkocherei hochste Priori-
tat. Bis 1974 entsorgte die Fabrik Abwasser in der GroBenordnung einer GroB-
stadt mit 1,6 Mill. Einwohnern in die Leine.103
In Verbindung mit strengeren gesetzlichen Auflagen verhalfen steigende
Energie- und Rohstoffpreise seit Beginn der 1970erjahre derbetriebswirtschaftli-
chen Beriicksichtigung des Umweltschutzes und einer Ressourcen schonenden
Produktionstechnik zum Durchbruch. Ein besonderer Impuls ging 1981 von der
Einfuhrung einer gesetzlichen Abwasserabgabe aus. Sie stellte Industrieunter-
nehmen, die schadliche Abwasser in offentliche Gewasser entsorgten, vor die Al-
ternative, hohe Gebiihren zu zahlen oder sich davon durch Investitionen in effizi-
ente MaBnahmen zum Gewasserschutz zu befreien. Das Alfelder Unternehmen
entwickelte daraufhin in Zusammenarbeit mit den zustandigen Landesbehorden
ein Langzeitprogramm fiir eine okologische Modernisierung seiner Papier- und
Zellstoffproduktion. Mit Hilfe umfangreicher Investitionen gelang es bis 2006 in
mehreren Stufen, den AusstoB von Schadstoffen oderRiickstanden entscheidend
zu reduzieren und zugleich die Effizienz der eingesetzten Roh-, Hilfs- und Be-
triebsstoffe im Wege einer nahezu vollstandigen Riickgewinnung und Verwer-
tung fester und fliissiger Abfalle oder Nebenprodukte aus dem Stoffkreislauf zu
erhohen.104 So konnten jahrlich bis zu 200.000 Tonnen organischen Materials,
die zuvor als Abwasserfracht die Leine verschmutzten, energetisch genutzt wer-
den. Aus der Verbrennung von Baumrinde, Biogas der Klaranlage und geloster
Holzsubstanz der Zellstoffkocherei deckt die Alfelder Papierfabrik seither einen
103 Vgl. zum Folgenden Hannoversche Papierfabriken, Papier-Stammbuch, wie Anm.
48, S. 156f.
104 Sappi Alfeld, Papier-Stammbuch, wie Anm. 48, S. 180 ff.
Knappe Ressourcen als Barriere und Triebkraft 239
wachsenden Anteil ihres Energiebedarfs. Zugleich iibernahm Alfeld eine inter-
nationale Pionierrolle bei der Entwicklung einer chlorfreien Bleichtechnologie.
Durch umfangreiche Investitionen in grundlegende Verbesserungen der Ener-
gie- und Stoffkreislaufe sicherten die Hannoverschen Papierfabriken in Alfeld
letztlich das Uberleben der eigenen Zellstofffabrik als eine von nur noch sechs
Anlagen in Deutschland. Ein wichtiges Resultat derneuen Umwelttechnik ist die
Reduzierung des Wasserverbrauchs. Er sank in Alfeld 1992 auf 20 Liter je Kilo-
gramm Papier, was gegeniiber 1960 eine Ersparnis von fast 90 Prozent je Pa-
piereinheit brachte. Wegen der erheblichen Ausdehnung der Produktion blieb
der absolute Verbrauch an Frischwasser jedoch weiterhin auf hohem Niveau.
Doch Dank hoher finanzieller Einsparungen beim Energie- und Grundstoffver-
brauch setzte sich generell in der deutschen Papierindustrie die Erkenntnis
durch, dass sich Investitionen in den Umwelt- und Ressourcenschutz rechneten.
Resiimee
Knappe Ressourcen und Grenzen des Wachstums sind als historische Phanome-
ne und Erfahrungen aus unterschiedlichen Zusammenhangen, vor allem aber aus
der elementaren Frage der Ernahrung bekannt. Am Beispiel der Papierherstel-
lung lasst sich zeigen, dass der Aufbruch in die industrielle Massenproduktion
mit der Ablosung traditioneller durch neue Papierrohstoffe einherging. Ressour-
cenknappheit forderte die Bemiihungen um Alternativen und fiihrte zu grundle-
genden wissenschaftlich-technischen Fortschritten in der Papiertechnologie.
Doch nicht nur Unternehmergeist und ,Not machten erfinderisch', vielmehr nah-
men auch Staat und Gesellschaft durch Wirtschaftsforderung oder Vorgaben der
wirtschaftlichen Rahmenbedingungen direkten oder indirekten Einfluss auf den
Umgang mit naturalen Ressourcen.
Begiinstigt durch seinen Wasserreichtum wies insbesondere der siidnieder-
sachsische Raum in vorindustrieller Zeit eine recht hohe Konzentration an Pa-
piermiihlen auf. Deren Ausbau zur industriellen Maschinenproduktion stieB vie-
lerorts zu Beginn des 19. Jahrhunderts bei stockender Lumpenversorgung an
Grenzen. Mit Holz, Stroh oder auch Flachs und Hanf bestand jedoch in den ver-
schiedenen Regionen und Landschaften Niedersachsens eine giinstige, breite
Rohstoffgrundlage, um die Anpassung an die Modernisierung derPapierproduk-
tion an mehreren alten Standorten erfolgreich zu bewaltigen. Vor allem in den
kiistennahen, wasserreichen und stark agrarisch gepragten Gebieten entstanden
im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts neue Papier- oder Pappe- und Zellstoff-
fabriken. Hier wie an den iibrigen niedersachsischen Standorten besaB die Nut-
zung von Stroh wahrend der Ubergangsphase zwischen 1830 und 1910 offenbar
eine Schliisselfunktion.
240 Johannes Laufer
Wie schon unter den Vorzeichen der ,Liimpennot' forderten die Verteuerung
knapper Ressourcen, aber auch umweltpolitische Interventionen die Bereitschaft
der Untemehmen zu Ressourcen schonenden, Kosten sparenden Investitionen.
Das in den 1970erjahren gerade auch in Niedersachsen aufkommende Umwelt-
bewusstsein hat wesentlich zu einer erhohten Effizienz derRessourcennutzung in
der Papierindustrie etwa durch die Erhohung des Riicklaufs und Einsatzes von
Altpapier als zweite Saule der Papiergrundstoffe neben Holz beigetragen. Gleich-
wohl hat dies nicht zur Reduzierung des Papierholzverbrauchs gefiihrt, sondern
vielmehr den weiteren Anstieg des Papierkonsums befliigelt. Hand in Hand mit
der globalen Ausdehnung der Ressourcengrenzen, die den Holzhunger der Pa-
pierindustrie noch antrieben, verfestigte sich die Illusion unbegrenzter oder er-
neuerbarer Papierressourcen. Der gegenwartige Stand der Papiererzeugung und
der alltagliche, verschwenderische Papierkonsum lassen vergessen, dass Holz
und Wasser weltweit begrenzte, relativ knappe Ressourcen sind, deren allgemei-
ne lokale oderregionale Verfiigbarkeit auch an den Standorten derniedersachsi-
schen Papierindustrie grundsatzliche Bedeutung hat.
Illuminierte Herrscher
Bildliche Erinnerungen an die friihen Welfen
in ihren suddeutschen Klostern*
Von Nathalie Kruppa
Mit den Welfen beschaftigten sich in den letzten beiden Jahrzehnten zahlreiche
Historiker; eine Konzentration erfolgte um 1995 im Zusammenhang mit der
Braunschweiger Landesausstellung „Heinrich der Lowe und seine Zeit. Herr-
schaft und Reprasentation der Welfen 1 125-1235". 1 Besonders Heinrich der Lowe
und seine unmittelbaren Verwandten, Welf IV. und Welf VI., aber auch Otto IV,2
* Uberarbeitete und mit Anmerkungen versehene Textfassung des Vortrags, gehalten
am 29. November 2007 vor dem Historischen Verein fiir Niedersachsen in Hannover. Ge-
zeigt werden hier nur einige wenige der Abbildungen des Vortrages, auf weitere wird im An-
merkungsapparat verwiesen.
1 Wichtigste jiingere Literatur:Jochen Luckhardt/ Franz Niehoff (Hrsg.), Heinrich der
Lowe und seine Zeit. Herrschaft und Reprasentation der Welfen 1125-1235. Katalog der
Ausstellung Braunschweig 1995, 3 Bde., Miinchen 1995; Bernd Schneidmuller (Hrsg.), Die
Welfen und ihr Braunschweiger Hof im hohen Mittelalter, Wiesbaden 1995; Werner
Hechberger, Staufer und Welfen 1125-1190. Zur Verwendung von Theorien in der Ge
schichtswissenschaft, Koln/Weimar/Wien 1996; Joachim Ehlers, Heinrich der Lowe. Eu-
ropaisches Fiirstentum im Hochmittelalter, Gottingen/Ziirich 1997; Karl-Ludwig Ay/Lo-
renz MAIER/Joachim Jahn, Die Welfen. Landesgeschichtliche Aspekte ihrer Herrschaft,
Konstanz 1998; Joachim EHLERs/Dietrich Kotzsche (Hrsg.), Der Welfenschatz und sein
Umfeld, Mainz 1998; Johannes Fried /Otto Gerhard Oexle (Hrsg.), Heinrich der Lowe.
Herrschaft und Reprasentation, Sigmaringen 2003. Eine Zusammenfassung der bisherigen
Forschung bietet Bernd Schneidmuller, Die Welfen. Herrschaft und Erinnerung (819-
1252), Stuttgart/Berlin/Koln 2000. Siehe auch neuerdings zu den „Welfenquellen": Matthi-
as Becher (Hrsg.), Quellen zur Geschichte der Welfen und die Chronik Burchards von Urs-
berg, Darmstadt 2007, Genealogia Welforum S. 24-27, Anhang IV der Sachsischen Welt-
chronik S. 28-33, Historia Welforum S. 34-87, Continuatio Staingademsis S. 86-91, Annales
Welfici Weingartenses S. 92-97, E Continuatione Chronici Hugonis a S. Victore Weingarten-
si S. 98f.; Buchardi Praepositi Urspergensis Chronicon S. 100-311.
2 Bernd Ulrich Hucker, Kaiser Otto IV., Hannover 1990; Rainer Jehl (Hrsg.), Welf VI.
Wissenschaftliches Kolloquium zum 800. Todesjahr vom 5. bis 8. Oktober 1991, Sigmaringen
1995; Dieter R. Bauer /Matthias Becher (Hrsg.), Welf IV Schlusselfigur einer Wendezeit.
242 Nathalie Kruppa
bilden Schwerpunkte derjiingeren Forschung. Die Memoria der Welfen wird hin-
gegen seit den GOerJahren des 20. Jahrhunderts, beginnend mit den ersten Unter-
suchungen von Karl Schmid und Otto Gerhard Oexle, erforscht.3 Dennoch wur-
den die im Spatmittelalter und der friihen Neuzeit in den siiddeutschen Welfen-
klostern geschaffenen und iiberlieferten Bilder welfischer Herrscher kaum in
Blickpunkt genommen. Der folgende Beitrag will einen ersten Schritt auf diesem
Weg gehen. Zunachst soil ein der Orientierung dienender „Schnelldurchlauf"
durch die genealogischen Zusammenhange der friihen Welfen vom 9. bis ins
12. Jahrhundert gegeben werden, soweit sie fur die weiteren Betrachtungen von
Bedeutung sind. Im AnschluB erfolgt eine kurze Skizze iiber einige der Kloster,
die diese Welfen gegriindet haben. Danach werden die dortigen bildlichen Dar-
stellungen im Mittelpunkt stehen, und abschlieBend wird kurz der Traditions-
bruch der welfischen Geschichte im 12. Jahrhundert angerissen.
Die Familie der „Welfen"4 laBt sich im friihen Mittelalter bis in das 8. Jahrhun-
dert zuriickverfolgen (vgl. Stammtafel). Zu ihren Vorfahren zahlten unter ande-
rem ein Graf Ruthard (f 31. August vor 790), der zur Zeit Konig Pippins (751-768)
an der Einbindung Alemanniens in das Frankenreich beteiligt war,5 auch wenn
dieser nicht mit letzter Klarheit in den genealogischen Verband der karolinger-
Regionale und europaische Perspektiven, Miinchen 2004.
3 Karl Schmid, Welfisches Selbstverstandnis, in: Gebetsgedenken und adliges Selbstver-
standnis im Mittelalter. Ausgewahlte Beitrage. Festgabe zum sechzigsten Geburtstag. Sigma-
ringen 1983, S. 424-453; Otto Gerhard Oexle, Die „sachsische Welfenquelle" als Zeugnis
der welfischen Hausiiberlieferung, in: Deutsches Archiv24, 1968, S. 435-497; Ders., Memo-
ria und Memorialbild, in: Karl Schmid /Joachim Wollasch (Hrsg.), Memoria. Der ge-
schichtliche Zeugniswert des liturgischen Gedenkens im Mittelalter, Miinchen 1984,
S. 384-440; Ders., Adliges Selbstverstandnis und seine Verkniipfung mit dem liturgischen
Gedenken - das Beispiel der Welfen, in: Zeitschrift fur die Geschichte des Oberrheins 134,
1986, S. 47-75; Ders., Die Memoria Heinrichs des Lowen, in: Dieter Geuenich/OUo Ger-
hard Oexle (Hrsg.), Memoria in der Gesellschaft des Mittelalters, Gottingen 1994,
S. 128-177; Ders., Welfische Memoria. Zugleich ein Beitrag" iiber adlige Hausiiberlieferung
und die Kriterien ihrer Erforschung, in: Schneidmuller, Braunschweiger Hof, wie
Anm. 1, S. 61-94; Ders., Fama und Memoria. Legitimationen fiirstlicher Herrschaft im 12.
Jahrhundert, in: Heinrich der Lowe und seine Zeit 2, wie Anm. 1, S. 62-68; Ders., Fama und
Memoria Heinrichs des Lowen: Kunst im Kontext der Sozialgeschichte. Mit einem Ausblick
auf die Gegenwart, in: Der Welfenschatz, wie Anm. 1, S. 1-25.
4 Zum Begriff „Welfen" siehe Hechberger, Stauferund Welfen, wie Anm. 1, S. 105-183,
hier bes. S. 113-115; Thomas Zotz, Art. Welfen, in: Lexikon des Mittelalters 8, 1997,
Sp. 2147ff.; Schneidmuller, Welfen, wie Anm. 1, S. 740; Matthias Becher, Der Name ,Welf
zwischen Akzeptanz und Apologie. Uberlegungen zur friihen welfischen Hausiiberliefe-
rung, in: Bauer/Becher, wie Anm. 2, S. 156-198.
5 Schneidmuller, Welfen, wie Anm. 1, S. 47-50; Michael Borgolte, Die Grafen Ale-
manniens in merowingischer und karolingischer Zeit. Eine Prosopographie, Sigmaringen
1986, S. 229-236.
Illuminierte Herrscher
Stammbaum der jriihen Welfen (Auszug)
Ruthard Gf. in Alemannien t vor 790
Welf Gf. in Alemannien (?) turn 825
(j) Heilwig von Sachsen inach 833 als Abt. von Chelles
243
Judith 1 843 Hemma * um SOS 1 876
co Ks . Lud wig d . Fr. 1 840 CDKg.Ludwigd.Dt.t876
Konrad d. A. Gf. im Schussengau t nach 862
a> Adelheid v. Tours tnach 866
r
Welf I Gf. in Alemannien (?) + 87K
Etieho turn 910
I
Heinrich „mit dem goldenen Wagen" tnach 934
<B Atha v. Hohenwarth
I
Rudolf [.tnach 940
Eticho/Welf
HI. Konrad Bf v. Konstanz +975
Rudolf II. turn 992 a> Ita v, Ohningen tnach 1000
Welf 11. Gf. in Schwaben 1 1030
co Imiza v. Luxemburg tnach 1057
I
Heinrich
Richlind 1 1045
r
Welf III. Hzg. v. Karnten 1 1055
1
Cuniza t vor 1055
d> Albert Azzo II. Mgf. v, Este *um 1000 1 1097
I
Welf IV. Hzg. v. Bayern * 1030/40 f 1101
cd2 Ethelinde v. Northeim co3 Judith v. Klandern 1 1094
Welf V. Hzg. v. Bayern * 1073 1 1 120
cd Mathilde v.Tuszien s 1046 1 1 1 15
Heinrich d. Schwarze Hzg. v. Bayern * 1074 1 1 126
aiWulfhildBillungtll26
Heinrich d. Stolze
Hzg. v. Bayern u. v. Sachsen
*um 1 108t 1139
do Getrud v, Siipplingenburg
MI15 t!143
Heinrich d. Lowe
Hzg. v. Sachsen u. v. Bayern
* 1 129/30 1 1195
or' Mathilde von England
*ca. 1157 i 1189
lith'um 1100 1 1130/31
Welf VI.
co Hzg. Friedrich 11.
Hzg. v. Spoleto
v. Schwaben
* 11 15/16 1 1191
* 1090 t 1147
go Uta v, Calw
1
t nach 1 196
i
1
Ks. Friedrich 1.
1
Welf VII.
(Barbarossa)
1 1167
•wohl 1122
1 10.6.1 190
Stammbaum: nach Schneidmuller, Welfen, wie Anm. 1, S. lOff.
244 Nathalie Kruppa
zeitlichen Generationen der Welfen zu bringen ist. Zu seinen mutmaBlichen
Nachkommen gehorte wohl auch jener Welf, der in den Quellen zu Beginn des 9.
Jahrhunderts auftrat. Von seinen Kindern heiratete Judith (f 843) 819 Ludwig
den Frommen (f 840) ,6 eine weitere Tochter, Hemma (f 876), wurde mit Konig
Ludwig dem Deutschen (f 876) vermahlt. Seine weiteren Kinder und Nachkom-
men sind ebenfalls bekannt. Dagegen liegt die Herkunft der Welfen im Dunkeln,
die Quellen des 9. Jahrhunderts sprechen von Bayern,jiingere deuten eine franki-
sche oder alemannisch-schwabische Abstammung an. Die friihen Welfen sind
nicht nur in Alemannien, sondern auch im westlichen Teil des karolingischen
Reiches belegt und in Paris und in Auxerre nachweisbar. Die genaue Anbindung
dieser friihen Vorfahren an die jiingeren, historisch belegten Welfen, die mit
Welf I. (t 876) und Heinrich „mit dem goldenen Wagen" (f nach 934) ihren An-
fang in Schwaben und Bayern, dem Inntal, dem Vinschgau und Churratien nah-
men, kann nur vermutet werden.7
Zu den Hauptquellen der welfischen Geschichte zwischen Welf I. (f 876) sowie
Welf VI. (t 1191) und Heinrich dem Lowen (f 1195) zahlen neben den Urkunden
die Genealogia Welforum, die sogenannte „sa.chsische Welfenquelle" und die
Historia Welforum.8 In diesen Quellen werden auch die im Folgenden relevanten
Personen genannt.
Welf I. und sein Sohn oder Enkel Heinrich „mit dem goldenen Wagen" - hier
sind sich die Quellen nicht einig9 - sind im Ammergau belegt, wobei Welf ein
freier Fiirst war. Von daher war er enttauscht, als Heinrich ein Lehen des Kaisers
annahm. Er zog sich mit zwolf Getreuen in einen Wald zuriick, wo er ein Kloster
errichtete und vermutlich mit seinem Anhang eintrat, sich zumindest aber dort
6 Thegan, Die Taten Kaiser Ludwigs, in: MGH SS rer. Germ. 64, Hannover 1995,
cap. 26, S. 214; Astronomus, Das Leben Kaiser Ludwigs, in: ebd., cap. 32, S. 392.
7 Vgl. die in Anm. 1 genannte Literatur; siehe auch Josef Fleckenstein, Uber die Her-
kunft der Welfen und ihre Anfange in Siiddeutschland, in: Gerd Tellenbach (Hrsg.), Studi-
en und Vorarbeiten zur Geschichte des groBfrankischen und friihdeutschen Adels, Frei-
burg/Br. 1957, S. 71-136 und Wolfgang Hartung, Die Herkunft der Welfen aus Alamannien,
in: Ay/Maier/Jahn, wie Anm. 1, S. 23-55.
8 Becher, Quellen, wie Anm. 1. Zu Beachten ist, daB alle drei Quellen fur die friihen
Welfen problematisch sind, d.h., daB auch die Autoren dieser Quellen nicht allzuviel uber
die ersten „Welfen" herausbekommen konnten. So kann Welf I. beispielsweise auch Eticho
genannt werden, wobei zudem Verwechslungen mit Eticho-Welf hinzukommen, dem Vater
Judiths und Hemmas, siehe z.B. Genealogia Welforum, wie Anm. 1, S. 24, vgl. auch Anhang
IV, wie Anm. 1, S. 28, Historia Welforum, wie Anm. 1, S. 34 und Burchard von Ursberg, wie
Anm. 1, S. 112 mit Anm. 76.
9 Genealogia Welforum, wie Anm. 1, S. 25, Anhang IV, wie Anm. 1, S. 28, Historia Welfo-
rum, wie Anm. l,cap. 3f.,S. 38; Klaus Nass (Hrsg.), Die Reichschronikdes AnnalistaSaxo,in:
MGH SS 37, Hannover 2006, S. 587. Zu beachten ist allerdings, daB die Generationsfolgen in
den Quellen nicht stimmen und zwei und mehr Generationen nicht genannt werden.
Illuminierte Herrscher 245
niederlieB und bestattet wurde.10 Es ist unklar, wo dieses Kloster, das nach Welfs
Tod von Heinrich weiter ausgebaut wurde, lag; haufig wird es - der Historia Welfo-
rum folgend - mit dem Kloster Altomiinster gleichgesetzt.11
Heinrich „mit dem goldenen Wagen" wiederum wird in den Quellen erstmals
mit dem Raum Ravensburg/Altdorf (Weingarten) in Verbindung gebracht.12 Zu
seinen Sohnen gehorten Rudolf I., der die Welfenlinie fortsetzte, und der HI.
Bischof von Konstanz, Konrad.13 Mit Rudolfs mutmaBlichen Urenkel Welf III. er-
reichten die Welfen erstmalig die reichsfiirstliche Stellung: Welf wurde von Kai-
ser Heinrich III. 1047 zum Herzog von Karnten ernannt.14 Als dieser ohne Nach-
kommen starb, drohte das Haus der Welfen 1055 zu erloschen. Seine Mutter Imi-
za/Irmengard von Luxemburg holte jedoch ihren Enkel, den Sohn ihrer Tochter
Kuniza und des oberitalienischen Adligen Albert Azzo, Welf IV., nach Schwaben
und iibertrug ihm das welfische Erbe.15
Welf IV. hatte zusammen mit seiner Frau Judith von Flandern die Sonne
Welf V. und Heinrich des Schwarzen. Alle drei wurden - unter anderem - Herzo-
ge von Bayern.
Wahrend Welf V. ohne Nachkommen starb, hatte Heinrich der Schwarze zwei
Sonne, Welf VI. und Heinrich den Stolzen, unter denen die Trennung der Wel-
fen-Familie in einen siiddeutschen und einen norddeutschen Zweig einsetzte.
Wahrend Welf VI. in Ravensburg und Memmingen seine herrschaftlichen Zen-
tren besaB und zudem Herzog von Spoleto wurde,16 heiratete Heinrich der Stolze
10 Historia Welforum, wie Anm. 1, cap. 4, S. 38/40; die Geschichte der List Heinrichs,
der mit einem goldenen Pflug in der Tasche ein groBes Gebiet umritt, das er dann vom Kai-
ser zu Lehen bekam, ist am ausfuhrlichsten in der „sachsischen Welfenquelle" iiberliefert,
Anhang IV, wie Anm. 1, S. 28/30.
11 Erich Konig, Die siiddeutschen Welfen als Klostergriinder: Vorgeschichte und An-
fange der Abtei Weingarten, Stuttgart 1934, S. 8ff., halt eher Rottenbuch fur dieses Kloster;
vgl. hierzu auch Otto Gerhard Oexle, Bischof Konrad von Konstanz in der Erinnerung der
Welfen und der welfischen Hausiiberlieferung wahrend des 12. Jahrhunderts, in: Helmut
Maurer/ Wolfgang Mt)LLER/Hugo Ott (Hrsg.), Derheilige Konrad - Bischof von Konstanz.
Studien aus AnlaB der tausendsten Wiederkehr seines Todesjahres = Freiburger Diozesan-
Archiv 95, 1975, S. 7-40, hier S. 19f.; Historia Welforum, wie Anm. 1, S. 40 Anm. 15.
12 Anhang IV, wie Anm. 1, S. 28/30, Annalista Saxo, wie Anm. 9, S. 587f.
13 Zu ihm siehe Oexle, wie Anm. 11, und Helmut Maurer, Germania Sacra NF 42,1:
Konstanzer Bischofe 6. Jahrhundert bis 1206, Berlin/New York 2003, S. 125-145.
14 Beispielsweise nach Historia Welforum, wie Anm. 1, cap. 10, S. 46; Heinz Dopsch,
Welf III. und Karnten, in: Bauer/Becher, wie Anm. 2, S. 84-128.
15 Historia Welforum, wie Anm. 1, cap. 12, S. 46; Katrin Baaken, Welf IV, der „gebore-
ne Italiener" als Erbe des Welfenhauses, in: Bauer/Becher, wie Anm. 2, S. 199-225; Matthi-
as Becher, Erbe von Kaisers Gnaden. Welf IV und das siiddeutsche Erbe der Welfen, in:
Zeitschrift fur Wurttembergische Landesgeschichte 66, 2007, S. 17-35.
16 Katrin Baaken, Herzog Welf VI. und seine Zeit, in:jEHL, wie Anm. 2, S. 9-28 mit wei-
246 Nathalie Kruppa
Gertrud von Siipplingenburg, die Tochter Kaiser Lothars III., folgte seinem Vater
im Herzogtum Bayern und wurde Nachfolger seines Schwiegervaters als Herzog
von Sachsen.17 Beide Herzoge hatten jeweils einen Sohn. Welf VII., Sohn des
Welfs, starb jedoch bereits vor seinem Vater 1167 in Rom, wahrend mit Heinrich
dem Lowen, dem Sohn Heinrichs des Stolzen, die Welfen in Sachsen weiterbliih-
ten. Das siiddeutsche Erbe der Welfen, zu dem auch groBe Besitzungen in Italien
gehorten, sollte nach dem Willen Welfs VI. urspriinglich an seinen Neffen Hein-
rich den Lowen fallen. Da sich beide jedoch nicht iiber die Modalitaten einigen
konnten, iibertrug Welf VI. schlieBlich seine Giiter einem anderen Neffen, dem
Sohn seiner Schwester Judith, Kaiser Friedrich Barbarossa.18
Das wichtigste Kloster fur die siiddeutschen Welfen war das spatestens um
1000 von Rudolf II. und seinen Sohnen Welf II. und Heinrich in Altdorf an der
Scherzach gegriindete Kloster oderKanonikerstift. Den Quellen zufolge, wie z. B.
der Historia Welforum, hatte bereits Heinrich „mit dem goldenen Wagen" hier vor
934 ein Frauenkloster gestiftet, das um 1000 in ein Mannerkloster umgewandelt
wurde. Imiza von Luxemburg, die Witwe Welfs II., siedelte 1036 an diesem Klo-
ster Benediktinerinnen an, denen ihr Sohn Welf III. vor seinem erbenlosen Tod
1055 sein gesamtes Vermogen vermachte. Imiza griff hier abermals in die
Geschicke des Klosters ein, verhinderte diese Ubertragung und setzte ihren Enkel
Welf IV. als Erben ein.19 Um Erbstreitigkeiten zu vermeiden, ersetzte sie 1056 die
Nonnen durch Benediktinermonche aus dem bayerischen Kloster Altomiinster.
Etwa zur gleichen Zeit wechselte der Konvent auch die Raumlichkeiten in Alt-
dorf. Bisher im Tal angesiedelt, zogen die Monche auf den Martinsberg um, das
Klostergelande im Tal wurde in eine dorfliche Pfarrkirche umgewandelt. Nach
dem Bewuchs des Hanges wurden Kloster und Ortschaft nun Weingarten ge-
terfiihrender Literatur.
17 Wolfgang Petke (Hrsg.), Regesta Imperii 4,1,1, Koln/ Weimar /Wien 1994, S. 74 ff.
Nr. 115; Alois Schmid, Heinrich X. der Stolze, in: Lexikon des Mittelalters 4, 1989, Sp.
2065 f. ; Josef Fleckenstein, Uber Lothar von Siipplingenburg, seine Griindung Konigslutter
und ihre Verbindung mit den Welfen, Helmstedt 1980; Schneidmuller, Welfen, wie
Anm. 1, S. 158-179.
18 Erbe Welfs VI. wurde letztendlich Heinrich VI.: Historia Welforum, Continuatio
Staingademsis, wie Anm. 1, S. 88; Franz Josef Schmale (Hrsg.), Die Chronik Ottos von St.
Blasien und die Marbacher Annalen, Darmstadt 1998, S. 62; Burchard von Ursberg, wie
Anm. 1, S. 188/190, S. 198; E Continuatione, wie Anm. 1, S. 98; Karin Feldmann, Herzog
Welf VI. und sein Sohn. Das Ende des siiddeutschen Welfenhauses (mit Regesten), Diss,
phil. Tubingen 1971 (masch.), S. 73-78, S. 86-91, S. 94f.; Hechberger, Staufer und Welfen,
wie Anm. 1, bes. S. 288-293 mit Anm. 101; Ders., Die Erbfolge von 1055 und das welfische
Selbstverstandnis, in: Bauer/Becher, wie Anm. 2, S. 129-155, hier S. 150f.; Baaken,
Welf VI., wie Anm. 16, S. 24; Oexle, Welfische Memoria, wie Anm. 3, S. 76-84.
19 Historia Welforum, wie Anm. 1, cap. 12, S. 46.
Illuminierte Herrscher 247
nannt.20 Da dies zu Beginn der Herrschaftszeit Welfs IV. geschah und er zudem,
zusammen mit seiner Frau Judith von Flandern, das Kloster in der Folgezeit reich
beschenkte - hervorzuheben ist die Schenkung einerHeilig-Blut-Reliquie21 - gel-
ten er und Judith in der Klostertradition als dessen (zweite) Griinder. Weingarten
ist als das wichtigste Kloster der Welfenfamilie zu betrachten, vergleichbar nur
mit dem St.-Blasius-Stift in Braunschweig, das fur die jiingere, sachsische Linie
derFamilie eine ahnliche Bedeutung erlangte. Sicher wurden in Weingarten zehn
bis zwolf Familienmitglieder bestattet, angefangen mit Rudolf II. bis zu Heinrich
dem Schwarzen, das Kloster bildete fortan den memorialen Mittelpunkt dersiid-
deutschen Welfen.22
Um 1000 war Welf II. an der Wiederbesiedlung bzw. dem Neuaufbau des
Klosters Altomiinster beteiligt, das um 740 von dem iro-schottischen Missionar
Alto mit Unterstiitzug von Konig Pippin gegriindet worden sein soil. Das Kloster
wurde mit Benediktinern besetzt, die dann 1056 mit den Nonnen aus Weingarten
ausgetauscht wurden. Zwei „Welfinnen" bzw. welfische Ehefrauen wurden in die-
sem Kloster beigesetzt, Ita von Ohningen und ihre Schwiegertochter Imiza von
Luxemburg.23 Allerdings verlor das Kloster im Verlauf des Mittelalters an Anse-
20 Ebd. cap. 4, S. 40: Zu der Griindung Altdorfs/ Weingarten durch Heinrich „mit dem
goldenen Wagen", cap. 10, S. 44: Fehlerhaft zu der Wandlung des Frauen- in ein Mannerklo-
ster durch Welf II., cap. 12, S. 47f. Anm. 50: Zum „Umzug" innerhalb von Altdorf; Konig,
wie Anm. 11, S. 12-19; Gebhard Spahr, Weingarten, in: Franz Quarthal (Hrsg.), Germania
Benedictina 5: Die Benediktinerkloster in Baden-Wiirttemberg, Augsburg 1975, S. 622-647,
hier S. 622; Thomas Zotz, Art.: Weingarten, in: Lexikon des Mittelalters 8, 1997, Sp. 2132f.;
Sonke Lorenz, Weingarten und die Welfen, in: Bauer/Becher, wie Anm. 2, S. 30-55, hier
S. 35 und bes. S. 40 f.
21 Zu den Schenkungen Judiths an Weingarten siehe Hans Ulrich Rudolf, Die Heilig-
Blut-Verehrung im Uberblick. Von den Anfangen bis zum Ende der Klosterzeit (1094-1803),
in: Norbert KRUSE/Hans Ulrich Rudolf (Hrsg.), 900Jahre Heilig-Blut-Verehrung in Wein-
garten 1094-1994. Festschrift zum Heilig-Blut-Jubilaum am 12. Marz 1994, 2 Bde., Sigmarin-
gen 1994, hier Bd. 1 S. 3-51 und Ders., 1090 oder 1094 - Wann erfolgte die Ubergabe der
Heilig-Blut-Reliquie? Die Frage nach den richtigenjubilaumsdatum, in: ebd. S. 52-56 sowie
ebd. passim.
22 Die verschiedenen Nachweise der in Weingarten bestatteten Welfen sind in einer Ta-
belle im Anhang zusammengestellt.
23 GeorgWAiTZ (Hrsg.), Otloh von St. Emmeram, Vita sancti Altonis, in: MGH SS 15,2,
Hannover 1888, S. 843-846, hier S. 845; Genealogia Welforum, wie Anm. 1, cap. 7, S. 26; Hi-
storia Welforum, wie Anm. 1, cap. 10, S. 44, beide zu Imizas Bestattungsort, wahrend sich fur
Itas Bestattung keine zeitnahen Quellen finden lassen, sondern erst Aventinus' (1477-1534) er-
wahnt in seiner Bayerischen Chronik beide Bestattungen, Matthias Lexer (Hrsg.), Johannes
Turmair's, genannt Aventinus, Bayerische Chronik, Buch 5, Miinchen 1883 (ND Neustadt an
der Aisch 1996) , S. 281 : Und diese Irmdraud, sant Kunigund swester, ligt begraben zu Altensmiinster
bet ir swiger, grdfin Itha; vgl. Michael Huber, Der hi. Alto und seine Klosterstiftung Altomiin-
ster, in: Joseph Schlecht (Hrsg.), Wissenschaftliche Festgabe zum zwblfhundertjahrigenju-
248 Nathalie Kruppa
hen. Ende des 15. Jahrhunderts besiedelte Herzog Georg der Reiche von Wittels-
bach-Landshut (1455-1503) das weitgehend erloschene Benediktinerinnenkloster
mit Brigittinen neu. Damit iiberlagerten die Wittelsbacher sowie der neue Orden
das potentielle Gedachtnis an die urspriinglichen (oderZweit-)Griinder. Das Klo-
ster wurde fur die welfische Memoria bedeutungslos.
1073 stiftete Welf IV. an der Stelle einer Eremitenansiedlung das Augustiner-
chorherrenstift Rottenbuch, das von ihm, seiner Frau Judith sowie spater auch
von Welf VI. mit zahlreichen Schenkungen unterstiitzt wurde. Ebenso wie Wein-
garten iibertrug Welf IV die Anlage dem Papst, so daB beide Kloster aus der di-
ozesanen Herrschaft des Bischofs herausgenommen waren. Beide Kommunita-
ten waren reformatorisch gepragt, in Weingarten kamen zu Beginn der 90erjahre
des 11. Jahrhunderts Hirsauer Reformen zum Zuge, Rottenbuch war von Anfang
an der Kanonikerreform verpflichtet.24 In diesem Stift wurde das Gedachtnis an
Welf IV und an seine Frau Judith von Flandern weiterhin gepflegt.
Welfs IV Sohn Heinrich der Schwarze stand ebenfalls der Regularkanoniker-
reform nahe und iibereignete den Augustinerchorherren das bereits mehr
schlecht als recht bestehende Kanonikerstift in Ranshofen (Oberosterreich) . Eine
Urkunde von 1125 mit Zehntiibertragungen seitens Heinrichs beendete die Ver-
anderungen in dem Stift und gilt als dessen Griindungsdokument. Fur die Welfen
spielte das Stift in der Folgezeit aber keine groBe Rolle, so auch nicht fur ihre
Memoria.25
bilaum des hi. Korbinian, Miinchen 1924, S. 209-244; Josef Hemmerle, Altomiinster, in:
Ders. (Hrsg.), Germania Benedictina 2: Die Benediktinerkloster in Bayern, Augsburg 1970,
S. 27. Bei Ausgrabungen, die 1995 in der Klosterkirche durchgefiihrt wurden, stieBen die Ar-
chaologen auf zahlreiche Bestattungen, mit den beiden „Welfinnen" lassen sich aber keine in
Verbindung bringen, Tilman Mittelstrass, Archaologische Ausgrabungen in St. Alto. Die
Ergebnisse der 1995 durchgefiihrten Sondagen in der Pfarr- und Klosterkirche von Altomiin-
ster, Teil 2: Die barocken Griiber, in: Amperland 33, 1997, S. 149-154, bes. S. 149.
24 Historia Welforum, wie Anm. l,cap. 13, S. 50; Monumenta Raitenbuchensia, in: Mo-
numenta Boica 8, Miinchen 1767, S. 7-11 Nrr. If.; Jakob Mois, Das Stift Rottenbuch in der
Kirchenreform des 11.-12. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Ordens-Geschichte der Augusti-
ner-Chorherren, Miinchen /Freising 1953; Ders., Das Stift Rottenbuch im Mittelalter, in:
Hans Pornbacher (Hrsg.), 900 Jahre Rottenbuch. Beitrage zur Geschichte und Kunst von
Stift und Gemeinde, WeiBenhorn 1974, S. 9-25; Stefan Weinfurter, Art.: Rottenbuch, in:
Lexikon des Mittelalters 7, 1995, Sp. 1055; Hans Pornbacher, Rottenbuch. Das Augustiner-
chorherrenstift im Ammergau. Beitrage zur Geschichte, Kunst und Kultur, WeiBenhorn
1980; Franz Fuchs, Die Anfange Rottenbuchs, in: Bauer/Becher, wie Anm. 2, S. 261-279.
25 Monumenta Ranshofana, in: Monumenta Boica 3, Miinchen 1764, S. 314f. Nr. 5; Ru-
dolf Wolfgang Schmidt, Das Augustiner Chorherrenstift Ranshofen. Seine Vorgeschichte
und seine Geschichte, in: 900 Jahre Stift Reichersberg. Augustiner Chorherren zwischen
Passau und Salzburg. Ausstellung des Landes Oberosterreich 26. April bis 28. Oktober 1984
im Stift Reichersberg am Inn, Linz 1984, S. 139-148; Ders., 4.07 Urkunde Herzog Hein-
Illuminierte Herrscher 249
In Steingaden errichtete Welf VI. 1147 ein Pramonstratenserstift, das er als neues
welfisches Hauskloster vorgesehen hatte.26 Er stattete es reichhaltig aus und lieB
zwanzig Jahre nach der Griindung seinen Sohn hier bestatten. Auch er selbst
wurde hier beerdigt.27 Steingaden gait lange Zeit als Entstehungsort der Historia
Welforum. Sicher ist, daB die Chronik der Welfen hier eine Fortfiihrung erfuhr, in
der die letzten Lebensjahre des Herzogs illustriert wurden und die Darstellung
mit seiner Bestattung abschlieBt.28
Neben Urkunden spielen vor allem die sogenannten „Welfen-Quellen" des
12. Jahrhunderts eine herausragende Rolle fiirdie Kenntnis der Welfengeschich-
te bis in die 70er Jahre des 12. Jahrhunderts. Zu ihnen gehort zuvorderst die be-
reits mehrfach erwahnte Historia Welforum. Sie kann zu der sogenannten „Haus-
iiberlieferung" gerechnet werden.29 Offensichtlich wurde sie im Auftrag der Wel-
fen in einem welfischen Kloster um 1170 niedergeschrieben. Wer genau der
richs IX. von Bayern fur Ranshofen, in: ebd. S. 310f.; Hubert Schopf, Die Geschichte des
Augustiner-Chorherrenstiftes Ranshofen am Inn im Mittelalter (1125-1426), Diss. Innsbruck
1985 [nicht eingesehen]; Ders., Zur inneren Struktur des Augustiner Chorherrenstiftes
Ranshofen im Mittelalter, in: Mitteilungen des Osterreichischen Landesarchivs 16, 1990,
S. 17-45; bes. S. 17-21; Sigrid Kramer, Die Bibliothek von Ranshofen im friihen und hohen
Mittelalter, in: Peter Ganz (Hrsg.), The role of the book in medieval culture, Turnhout 1986,
S. 41-72, hier S. 41-52 zur Geschichte des Stiftes.
26 Monumenta Steingadensia, in: Monumenta Boica 6, Miinchen 1766, S. 492f. Nr. 10;
Feldmann, wie Anm. 18, Reg.-Nr. 273; Continuatio Staingademsis, wie Anm. 1, S. 86: Maxi-
me tamen Staingadmensi ecclesiae, quam fundavcrat, obtulit; E Continuatione, wie Anm. 1, S. 98:
In montanis etiam claustrum Steingadim dictum a primaria fundatione constituit, quod suae providit
sepulturae, quod et consecratione et multa dote ditavit; Hans Pornbacher, Quod divinabat
Norbertus ... - Das Pramonstratenserstift Steinganden zwischen Ideal und Wirklichkeit, in:
Ingrid Haaser/ Gerhard KLEIN/Heide-Marie Krathauf (Hrsg.), Das ehemalige Pramon-
stratenserstift Steingaden. Beitrage zur 850-Jahr-Feier. Schongau = Der Welf. Jahrbuch des
Historischen Vereins Schongau - Stadt und Land 4, 1996/97, St. Ottilien 1997, S. 29-37; Jo-
hanna Lauchs-Liebel, Steingaden und die Griindung des Pramonstratenserstiftes, in: ebd.,
S. 38-51.
27 Historia Welforum, wie Anm. 1, S. 86; Monumenta Steingadensia, wie Anm. 26,
S. 489 Nr. 6f., S. 492 Nr. 10. Im Steingader Necrolog wird zum 14. November Welf VI., sei-
ner Frau Uta und ihren Sohn Welf VII. gedacht: Necrologium Steingadense, in: MGH Ne-
crologia 1, Berlin 1888, S. 37: Gwelfonis ducis Suevie et Bavarie, fundatoris nostri monasterii
Staingadensis, Ute coniungis eius et Gwelfonis iunoris filii eius.
28 Continuatio Staingademsis, wie Anm. 1, S. 86-90. Alois Schmid, Die Geschichts-
schreibung des Pramonstratenserstiftes Steingaden, in: Haaser/ Klein /Krauthauf, wie
Anm. 26, S. 165-181, hier S. 166f.
29 Der Begriff der Hausiiberlieferung ist auch gerade im Zusammenhang mit der Histo-
ria Welforum umstritten, siehe Gerd Althoff, Anlasse zur schriftlichen Fixierung adligen
Selbstverstandnisses, in: Zeitschrift fur die Geschichte des Oberrheins 134, 1986, S. 34-46,
passim, bes. S. 44f. zur Genealogia Welforum; vgl. Oexle, Welfische Memoria, wie Anm. 3,
S. 61-94, mit einer Reaktion auf die Thesen Althoffs auf S. 69-76.
250 Nathalie Kruppa
Auftraggeber war, in derRegel werden Welf VI. oderHeinrich der Lowe genannt,
und in welchem der Kloster sie zuerst verfaBt wurde, ist umstritten. Vermudich
stammt die Handschrift aus den Klostern Weingarten oder Steingaden. Aus
Weingarten hat sich die bekannteste Fassung erhalten, in Steingaden wurde der
Text mit den letzten Lebensjahren Welfs VI. fortgesetzt.30 Die Handschrift der
Historia Welforum aus Weingarten wird auf die Jahre 1185/91 datiert und wurde
mit anderen Handschriften des spaten 12. Jahrhunderts zusammengebunden, zu
denen unter anderem das Necrolog des Klosters gehort. Heute wird diese
Sammelhandschrift in der Hessischen Landesbibliothek in Fulda aufbewahrt.31
Fernergibt es zwei altere Quellen des 12. Jahrhunderts, dieje in einer kiirzeren
Version die Welfengeschichte beinhalten. Dabei handelt es sich um die Genealo-
gia Welforum, die im Auftrag Heinrichs des Schwarzen um 1125/26 niederge-
schrieben wurde, und die „sachsische Welfenquelle", die sich in der Chronik des
Annalista Saxo sowie im Zusammenhang mit der Sachsischen Weltchronik (An-
hang IV) erhalten hat. Sie wird in die Zeit zwischen 1132 bis 1137 datiert und
stammte wohl - im Gegensatz zu den beiden anderen Texten - aus Sachsen,
wahrscheinlich aus dem Michaelis-Kloster in Liineburg.32
Abernicht nurin Weingarten und Steingaden hat sich mindestens jeweils eine
Version der Historia Welforum erhalten, sondern in alien genannten Klostern so-
wie in dem unter welfischen EinfluB stehenden Pramonstratenserstift Marchtal.33
30 Vgl. zu den Quellen die jiingste Zusammenfassung in: Becher, Quellen, wie Anm. 1,
S. 1-22 mit Verweisen auf weitere Literatur.
31 Fulda, Hessische Landesbibliothek, Cod. D 11; vgl. Otto Gerhard Oexle, Welfische
und staufische Hausiiberlieferung in der Handschrift Fulda D 11 aus Weingarten, in: Von
der Klosterbibliothek zur Landesbibliothek, Stuttgart 1978, S. 203-231, hier S. 207-216,
S. 218. Als die wichtigste Handschrift der Historia Welforum gilt eine Handschrift aus Al-
tomunster, die vor 1200 niedergeschrieben und erst 1919 entdeckt wurde: Berlin, Staatsbi-
bliothek Ms. Lat. Quart. 795. Sie ist seit dem Zweiten Weltkrieg verschollen; einzig die Ab-
bildung eines Welfenstammbaums hat sich erhalten, siehe Anm. 33f. Diese Handschrift wur-
de sowohl von Erich Konig als auch in seiner Nachfolge von Matthias Becher fur die Edition
der Historia Welforum genutzt, siehe Becher, Quellen, wie Anm. 1, S. 12; vgl. Erich Konig
(Hrsg.), Historia Welforum, Stuttgart 1938.
32 Vgl. Oexle, „sachsische Welfenquelle", wie Anm. 3; Hubert Herkommer, Art.: Sachsi-
sche Weltchronik, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 8,Sp. 473-500;
Ernst Schubert, Art.: Sachsische Weltchronik, in: Lexikondes Mittelalters 7, 1995, Sp. 1242 f.;
Klaus Nass, Die Reichschronik des Annalista Saxo und die sachsische Geschichtsschreibung
im 12. Jahrhundert, Hannover 1996, bes. S. 139-143; Annalista Saxo, wie Anm. 9.
33 Die altesten Handschriften: aus Weingarten: Fulda, Hessische Landesbibliothek,
Cod. D 11; aus Altomunster: Berlin, Staatsbibliothek, Ms. Lat. Quart. 795; aus Rottenbuch:
Munchen, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 12202a und Clm 12202b; aus Ranshofen: ebd.,
Clm 12631 und Clm 29091; aus Steingaden: Stuttgart, Wurttembergische Landesbibliothek,
Hist. Hs. 2° Nr. 359 und Wien, Osterreichisches Staatsarchiv, Haus-, Hof- und Staatsarchiv,
Ms. W 74; aus Marchtal: Stuttgart, Wurttembergische Landesbibliothek, Cod. hist, quart.
Illuminierte Herrscher 251
Und: Einer jeden Handschrift ist ein Stammbaum der Welfen beigegeben, die mit
Welf und seinem Sohn Heinrich „mit dem goldenen Wagen" beginnt und mit
Heinrich dem Lowen und Judith bzw. ihrem Sohn Friedrich Barbarossa endet.34
Bei diesen Stammbaumen handelt es sich um graphisch illustrierte Texte, in de-
nen die Namen der Protagonisten durch Linien verbunden sind.
Der beriihmteste Bild- Stammbaum der Welfen ist allerdings nicht Teil einer
Handschrift der Historia Welforum, sondern findet sich auf der letzten Seite des
Weingartener Necrologs. Er stellt zudem das alteste erhaltene Welfen-Bild iiber-
haupt dar. Inhaltlich konnte die Darstellung zwar zur Historia Welforum gehoren,
ihr Uberlieferungszusammenhang aber - das Necrolog - verweist in den Bereich
der liturgischen Memoria. Dargestellt wird auf diesem Stammbaum die Familie
der Welfen,35 angefangen mit Welf, seiner Tochter Judith und ihrem Sohn Kaiser
Karl dem Kahlen. In der Mitte des Baumes, auf dem griinen „Stamm", werden die
fur das Haus der Welfen wichtigsten Vertreter der Familie mit ihren jeweiligen
Ehepartnern gezeigt, d. h. diejenigen, die fiir die Erbfolge der welfischen Erbgiiter
sorgten. Dabei sind auf der rechten Seite - vom Betrachter aus gesehen - die Wel-
fen dargestellt, und auf der Linken ihre Partner. Die fiir die Erbfolge unbedeuten-
deren Personen, wie beispielsweise Geschwister, werden als Seitenzweige prasen-
tiert. Einen Bruch gibt es in der sechsten Generation. Da wird rechts Kuniza ge-
zeigt, die Tochter Welfs II. und Imizas von Luxemburg, Mutter Welfs IV. Dies ist
insofern von Bedeutung, als sich iiber sie und nicht iiber ihren Bruder Welf III.,
der neben ihr in einem Seitenzweig abgebildet ist, die Erbfolge der Familie fort-
setzte. Pragnant ist auch das Abknicken des Hauptastes des Stammbaumes mit
261. Dieses zuletzt genannte Stift wurde zwar von den Alaholfingern im 8. Jahrhundert ge-
griindet und von Elisabeth von Bregenz und Pfalzgraf Hugo II. von Tubingen wiederbe-
griindet bzw. reformiert, hat sich aber im 12. Jahrhundert den Welfen als Unterstiitzern zu-
gewandt, vgl. Wilfried Schontag, Vom bregenz-tiibingischen Hausstift zum Eigenstift des
Hochstifts Konstanz. Zur Geschichte des Pramonstratenserstifts Marchtal bis 1300, in:
Sonke LoRENz/Ulrich Schmidt (Hrsg.), Von Schwaben bis Jerusalem. Facetten staufischer
Geschichte. Gerhard Baaken zum 65. Geburtstag, Sigmaringen 1995, S. 261-283, hier
S. 263f., S. 269, siehe auch Ders., Pramonstratenserabtei St. Peter und Paul Obermarchtal,
in: Wolfgang ZiMMERMANN/Nicole Priesching (Hrsg.), Wiirttembergisches Klosterbuch.
Kloster, Stifte und Ordensgemeinschaften von den Anfangen bis zur Gegenwart, Ostfildern
2003, S. 332-335.
34 Vor einigen Jahren hat sich Werner Hechberger mit dieser Problematik befaBt, siehe
Graphische Darstellungen des Welfenstammbaums. Zum „welfischen Selbstverstandnis" im
12. Jahrhundert, in: Archiv fur Kulturgeschichte 79, 1997, S. 269-297, hier S. 272 Abb. 1: Ein-
zelblatt aus Weingarten [siehe auch Heinrich der Lowe und seine Zeit 1, wie Anm. 1, S. 66
B 1] (verschollen); S. 273 Abb. 2: aus Altomunster, Ms. Lat. Quart. 795; S. 275 Abb. 3: aus
Ranshofen, Clm 12631; S. 277 Abb. 4 aus Rottenbuch, Clm 12202a; S. 278 Abb. 5: aus
Marchtal, Cod. hist, quart. 261.
35 Abbildung siehe Heinrich der Lowe und seine Zeit 1, wie Anm. 1, S. 64.
252
Nathalie Kruppa
Abb. 1: Steingaden, St. Johannes Bapt., Vorhalle, Welfengenealogie um 1600
(Foto: Kruppa).
Welf VII. und Heinrich dem Lowen, die beide (!) kinderlos gezeigt werden. Hin-
gegen gehen von den Bildern Heinrichs des Schwarzen und Wulfhilds Bilking
zahlreiche weitere Bilder ab, auf denen die Tochter des Paares gezeigt werden
und deren bildlichen Hohepunkt das Feld fur Friedrich Barbarossa als Sohn der
Judith bildet - bzw. bilden wiirde, wenn es denn ausgefuhrt worden ware.
Die anderen erhaltenen Stammbaume zeigen verkiirzt dasselbe. Auch hier
wird von Welf, Judith und Karl dem Kahlen die Hauptlinie bis zu Heinrich den
Lowen und seiner Tante Judith, der Mutter Friedrich Barbarossas, gezogen. Die
Ehepartner der Welfen werden allerdings nicht angegeben und ebenfalls fehlen
die Abbildungen.
Die Stammbaume der Welfen stehen in einer Uberlieferungsreihe, die sich lan-
ge in den welfischen Klostern erhalten hat. Wahrend die graphischen Zeichnun-
gen auf Handschriften des 12. und 13. Jahrhunderts zuriickgehen, wurden diese
Traditionen in den Klostern vom 16. bis ins 18. Jahrhundert in monumentalen
Auspragungen wieder erweckt. Der alteste dieser jiingeren Welfenstammbaume
oder besser Welfengenealogien ist in der spatgotischen Vorhalle des Pramonstra-
tenserstiftes Steingaden erhalten, die um 1600 gemalt wurde (Abb. 1). In vierBil-
derreihen werden verschiedene Personen dargestellt. Die Beschriftung ist in den
Illuminierte Herrscher 253
leeren Feldern unter den Bildern nur noch zu erahnen. Den Anfang bilden legen-
denhafte friihe Welfen, die Genealogie ist bis zur Griindung des Pramonstraten-
serstiftes durch Welf VI. und die Darstellung seiner Bestattung im letzten Bildfeld
fortgesetzt.36 Dabei wird eine eigene (Steingader) Tradition der Welfengeschichte
sichtbar, wobei in den ersten Bildern weniger bekannte „Welfen" gezeigt werden
samt einer seltenen Legende der Entstehung des Welfennamens.37 In der ober-
sten Reihe, im Zwickel, sind die sagenhaften „Welfen" derFriihzeit zu sehen: Graf
Warin zu Altdorf und Weingarten, Sohn eines frankischen Herzogs aus dem El-
saB, mit seiner Frau Guzonis und einem ihrer Kinder, Isenbart (1,1)- Im zweiten
Bild werden derzweite Graf von Altdorf, Ruthard, und seine Gemahlin Irmenissa
gezeigt (I,2).38 In dernachsten Reihe erscheinen im ersten Bild die Frau Catilina
mit ihrem Mann Welf-Eticho und ihren Kindern Eticho und Judith (11,1). Hier
36 Die Interpretation der Bilder erfolgt nach Hans Pornbacher, Die Welfengenealogie
in Steingaden, in:jEHL, wie Anm. 2, S. 117-120; der sich stiitzt auf Sigfrid Hofmann, Uber die
Welfenfresken von Steingaden, in: Lech- und Ammerain 3, 1952, S. 1-4. Hofmann fiigt den
Text einer Handschrift von 1720 bei, die - neben den 1950 noch teilweise zu lesenden Bild-
unterschriften - die Grundlage fur die Identifizierung bietet. Ferner ist der Ausarbeitung
Hofmanns zu entnehmen, daB sich unter dieser Genealogie altere, gotische Fresken befin-
den, die aber nicht mehr zu einem geschlossenen Bild rekonstruiert werden konnen.
37 Zum Welfennamen siehe weiter unten S. 275 f.
38 Die Grafen Warin (f 20. Mai 774), Isenbart (| 29. Mai 806) und Ruthard (t vor 31.
August 790) lassen sich in Quellen finden und zahlen wohl zu den Welfenvorfahren. Sie ge-
horten zur frankischen Reichsaristokratie und waren nach der Zerschlagung des alemanni-
schen Herzogtums im Aufbau von Grafschaften und der Einbindung Alemanniens an das
frankische Reich tatig. Fur Warin, der mit einer Hadallindis verheiratet war, sind zwei Sonne
belegt, Isenbard (!) und Swabo. Mit Ruthard, der seit Fleckenstein allein zu den Vorfahren
der Welfen gezahlt wird, ist die Klostergrundung in Arnulfsau verbunden, spater fiihrten
auch Scharzach, Gegenbach und Schuttern ihre Griindung auf ihn zuriick; Warin und seine
Frau griindeten Buchau am Federsee. Allerdings ist Warins und Ruthards Rolle in der Ge-
schichte nicht nur positiv, sie werden mit der Verbannung des (HI.) Otmar, Abt von St. Gal-
len, in Verbindung gebracht, was die Welfen als Schuld iibernahmen. Die Vita Otmars,
Ekkehard von St. Gallen und auch Burchard von Ursberg berichten, daB bis zu den Sohnen
Rudolfs II., Welf (hard) II. und Heinrich, die Welfen an St. Gallen einen jahrlichen Zins zahl-
ten, den Heinrich - im Gegensatz zu seinem Bruder - verweigerte. Kurz danach verstarb er
bei einem Jagdunfall und seine Mutter Ita von Ohningen kam mit ihrem Sohn und ihrer
Tochter zu dem Heiligen und entrichtete den schuldigen Zins, Ildephonso ab Arx (Hrsg.),
Vita Sancti Otmari abbatis Sangallenis, in: MGH SS 2, Hannover 1829, S. 40-47, hier
cap. 4-6, S. 43 f. ; Johannes Duft (Hrsg.) , Die Lebensgeschichten der Heiligen Gallus und Ot-
mar, St. Gallen /Sigmaringen 1988, cap. 4-6, S. 6 1 f f . ; Hans F. HAEFELE/Steffen Patzold
(Hrsg.), Ekkehard IV, St. Galler Klostergeschichten, Darmstadt 42002, cap. 21, S. 52/54. Ek-
kehard IV. zahlte auch Konig Konrad I. zu den Nachfahren Warins und Ruthards, der sich
verpflichtete eine jahrliche Siihneleistung an das Kloster zu zahlen. Burchard von Ursberg,
wie Anm. 1, S. 112; Fleckenstein, wie Anm. 7, S. 97f. mit Anm. 152; Borgolte, wie Anm. 5,
S. 150-156, S. 229-236, S. 282-287; SchneidmOller, Welfen, wie Anm. 1, S. 40-72.
254 Nathalie Kruppa
wird auf die Deutung des Namens Welf angespielt, der unter anderem von dem
romischen Senatorengeschlecht der Catilina hergeleitet wird,39 was in diesem
Bild durch das stadtromische SPQRWappen verdeutlicht wird. In der folgenden
Abbildung, in der Isenbart von Altdorf und seine Frau Irmentrud zu sehen sind,40
wird auf eine andere, wesentlich unbekanntere Variante der Sage um die Her-
kunft des Welfennamens eingegangen. Der dazugehorigen Legende nach glaubte
Irmentrud einer um Almosen bittenden Frau nicht, daB sie Drillinge ohne Ehe-
bruch geboren haben konnte und verweigerte ihr eine milde Gabe. Kurze Zeit
spater gebar sie selbst zwolf Sonne. Aus Scham befahl sie einer Magd, elf der Kin-
der zu ertranken. Auf dem Weg zum Wasser traf die Magd auf Isenbart, der sie
fragte, was sie in dem Korb transportiere. Sie antwortete: „Kleine Welpen". Isen-
bart entfernte die Bedeckung des Korbes, entdeckte die Kinder und iibergab sie
einem Miiller zu Erziehung. Sechs Jahre spater stellte er sie der iiberraschten Mut-
ter vor und entschuldigte ihr Verhalten. Von da an nannte er seine Sonne „Wel-
fen" (= Welpen). In der Szene werden die elf kniendenjungen vor Isenbart ge-
zeigt(II,2).
Erst das dritte Bild der zweiten Reihe zeigt Welf, seine Frau Heilwig und seine
Kinder, unter anderem auch seine Tochter Judith, die den Ubergang zum nach-
sten Bild herstellt, in dem diese mit Ludwig dem Frommen und ihrem Sohn Karl
dem Kahlen erscheint (11,3-4). Die nachsten beiden Reihen zeigen die aus den
Quellen bekannten Welfen wie beispielsweise als fiinftes Bild der dritten Reihe
Welf III. mit einer sonst nicht bezeugten Ehefrau und im Hintergrund einer Kir-
che, bei der es sich um die Klosterkirche von Weingarten handelt. Dies spielt auf
das Erbe Welfs III. an oder auch auf die miBverstandene Uberlieferung, nach der
er an der Verlegung des Klosters in Altdorf beteiligt war. Im sechsten und letzten
Bild der Reihe sind Albert Azzo mit seiner Frau Kuniza und ihren Sohn Welf IV.
zu sehen.
Wichtiger ist, daB diese Genealogie - im Vergleich zu den anderen bekannten
Welfenstammbaumen - neben der eigenstandigen Legende am Anfang zwei wei-
tere Sonderheiten aufweist: Im ersten Bild der vierten Reihe wird Welf IV nicht
39 Vgl. Historia Welforum, wie Anm. 1, cap. 2, S. 36.
40 Pornbacher, wie Anm. 36, S. 119. Isenbart soil mit einer Irmentrud, angeblich eine
Schwester der Hildegard, Ehefrau Karls des GroBen, verheiratet gewesen sein, vgl. dagegen
Borgolte, wie Anm. 55, S. 154f., der eine Ehefrau namentlich nicht benennen kann. Sollte
Isenbarts Ehefrau tatsachlich eine Schwester Hildegards gewesen sein, so stammte sie von
den Gerolden ab, die - ahnlich wie die Welfen-Vorfahren - zu den Unterstiitzern der Karo-
linger in Alemannien und Bayern gehorten, vgl. Michael Mitterauer, Karolingische Mark-
grafen im Siidosten. Frankische Reichsaristokratie und bayerischer Stammesadel im oster-
reichischen Raum, in: Archivfiir osterreichische Geschichte 123, 1963, S. 1-273, hier S. 8-25.
Mitterauer kennt allerdings ebenfalls keine Irmentrud, Ehefrau Isenbarts.
Illuminierte Herrscher 255
wie sonst iiblich nur mit seiner dritten Frau Judith von Flandern gezeigt, sondern
zusatzlich mit seiner zweiten, der 1070 verstoBenen Ethelinde von Northeim, die
sonst in keiner bildlichen Darstellung aufgenommen wurde. Diese war die Toch-
ter Ottos von Northeim, des Herzogs von Bayern, der 1070 von Heinrich IV.
abgesetzt wurde. Nach diesem Ereignis verstieB Welf Ethelinde und heiratete Ju-
dith von Flandern; zudem wurde er Nachfolger seines ehemaligen Schwiegerva-
tersim Herzogtum Bayern.41 Ferneristhierein „Familienbild" Heinrichs des Stol-
zen mit seiner Frau Gertrud von Siipplingenburg und ihrem Sohn Heinrich dem
Lowen zu sehen (IV,5) . Auch das ist bei den monumentalen, von alien Kirchenbe-
suchern einzusehenden Genealogien eine Ausnahme.
Das letzte Bild sprengt den iiblichen Rahmen (IV,6). Gezeigt wird die
Griindung des Stiftes Steingaden durch Welf VF im linken Bildfeld, der auf die
Konventsgebaude hinweist. Vor ihm kniet ein Pramonstratenser, wahrscheinlich
der Propst des Griindungskonventes, mit einem Buch in der Hand. Begleitet wird
der sitzende Welf von einigen Rittern. Am rechten Bildrand ist sein Sohn
Welf VIF zu sehen, in der Mitte wird der Leichenzug des alten Welfen gezeigt. Ei-
ne Pramonstratenserprozession zieht Richtung der Kirche, der sich ein Wagen
mit dem Sarg des Verstorbenen anschlieBt.
In Rottenbuch gab es ebenfalls eine Genealogie des 17. Jahrhunderts, gemalt
von dem dortigen Chorherrn Joseph Saal (t 1697). Leider ist sie wenige Jahre
nach ihrer Entstehung vernichtet worden, nur ein Fliigel der Tafel ist erhalten.
41 Oswald HoLDER-EoGER/Adolf ScHMiDT/Wolfgang Dietrich Fritz (Hrsg.), Lampert
von Hersfeld, Annalen, Darmstadt 2 1973, S. 132; Edmund von Oefele (Hrsg.), Annales Al-
tahenses maiores, in: MGH SS rer Germ. 4, Hannover 1891, S. 80; Gerd Althoff, Heinrich
der Lowe und das Stader Erbe. Zum Problem der Beurteilung des „Annalista Saxo", in: Deut-
sches Archiv 41, 1985, S. 66-100, hier S. 93f.; Wilhelm Stormer, Die siiddeutschen Welfen
unter besonderer Beriicksichtigung ihrer Herrschaftspolitik im bayrisch-schwabischen
Grenzraum, in: Ay/Maier/Jahn, wie Anm. 1, S. 57-96, hier S. 79f.; Bernd Schneidmuller,
Welf IV. 1101-2001: Kreationen furstlicher Zukunft, in: Bauer/Becher, wie Anm. 2, S. 1-29,
hier S. 15ff.; Sabine Borchert, Herzog Otto von Northeim (um 1025-1083). Reichspolitik
und personelles Umfeld, Hannover 2005, S. 95, S. 178f., S. 194. Die Historia Welforum ver-
schweigt diese Ehe, siehe Historia Welforum, wie Anm. 1, cap. 13, S. 48, wahrend die Genea-
logie der Welfen im Anhang IV der Sachsischen Weltchronik zwar von der Ehe zwischen
Welf IV und Ethelinde berichtet, sich aber um die Nennung des Grundes der Tren-
nung/Scheidung herumdruckt: De Welp let sider sin wif Ethelinde, warumbe, des ne wet men
nicht, Anhang IV, wie Anm. 1, S. 30. Der Annalista Saxo, wie Anm. 9, S. 588, stellt den Zu-
sammenhang zwischen der Rebellion Ottos von Northeim, seiner Absetzung und der Tren-
nung Welfs IV von Ethelinde schon deutlicher her: Hie [Welf IV] prius duxit uxorem Ethilin-
dam nomine, filiam Ottonis ducis Bauuarie, virigenere Saxonis et amplissime tarn dignitatis quam no-
bilitatis, ita ut Henrico inperatori huius nominis quarto rebellandi fiduciam acciperet. Quern tamen
inperator, licet iniuste oppressum, ducatu privavit eique successorem generem eius, predictum Uuel-
phum, constituit. Qui Uuelphus deinde, nescio qua de causa, eandem Ethilindam dimisit . . .
256 Nathalie Kruppa
Dieser zeigt Welf IV. mit seiner Stiftung, dem Augustinerchorherrenstift Rotten-
buch. Im Hintergrund erscheint die 1514 erbaute Wallfahrtskapelle Hohenpei-
Benberg, deren Betreuung die Augustinerchorherren 1604 iibernahmen.42 Der
romanische Turm der Stiftskirche, zentral im Bild, hat sich bis auf die Spitze, die
heute von einer barocken Turmhaube besetzt ist, erhalten. Die dahinter gezeigte
zweite Kirche, das sogenannte Altenmiinster, war vermutlich die eigentliche
Keimzelle des Stiftes, an der spater ein Konvent von Augustinerchorfrauen ansas-
sig wurde.43 Diese sowie dergroBte Teil dergezeigten Kapellen wurden nach der
Sakularisation 1803 abgerissen; stehen geblieben ist lediglich eine Friedhofska-
pelle, die im Vordergrund zu sehen ist.
In Weingarten schlieBlich, dem wichtigsten Welfenkloster, sind monumentale
Fresken des Malers Cosmas Damian Asam (1686-1739) iiberliefert.44 Sie befinden
sich in den beiden Westtonnen der barocken Klosterkirche und konnen durchaus
als Genealogie bezeichnet werden, denn auch hier sind alle „Haupt"-Welfen zu
sehen. Inschriften nennen ihre Namen und geben kurze personliche Beschrei-
bungen; ferner werden Bestattungsorte genannt, vor allem Weingarten. In sechs
Bildfeldern sind von Heinrich „mit dem goldenen Wagen" und Welf I. bis Wulf-
hild Bilking und ihrer Tochter Sophia wieder die fur Altdorf/ Weingarten wich-
tigsten" Welfen dargestellt.45 Auf dem Bild, das den friihesten Welfen gewidmet
ist, erscheinen Heinrich „mit dem goldenen Wagen", Welf I., sein Vater/GroBva-
ter, sowie Heinrichs Frau Atha von Hohenwarth, die ein Modell einer Kirche in
der Hand halt. Dieses spielt auf die Griindung des Klosters Weingarten an, das
42 Pornbacher, Rottenbuch, wie Anm. 24, Farbtafel 1 nach S. 12.
43 Jakob Mois, Die Kirchen und Kapellen des Augustinerchorherrenstiftes Rottenbuch 2 :
Die ehemaligen Nebenkirchen und Kapellen, Rottenbuch 1992, S. Ill zum Altenmiinster.
44 Gerhard Spahr, Die Basilika Weingarten. Sigmaringen 1974, Frontspiz sowie Abb. 42-
46, siehe dort auch S. 89-92 zu den Fresken. Zu Asam siehe HeleneTROTTMANN, Cosmas Da-
mian Asam 1686-1739. Tradition und Invention im malerischen Werk, Nurnberg 1986, bes.
S. 70-75; Bruno BusHART/Bernhard Rupprecht (Hrsg.), Cosmas Damian Asam 1686-1739.
Leben und Werk, Munchen 31986, bes. S. 210-215.
45 In den anderen Fresken werden gezeigt: Welf II.: GUELPHO II. RUDOLPHI FIL:
UXOREI[US] IRMENTRUD SORORS: CHUNIGUND: IMPERATI: SUB HIS MONA-
CHI EX ALTOMUNSTER HUC IN ALTORFF TRANSLATI CIRCA ANN: MXLVII,
OSSAEI[US] HlC SEPULTA; Rudolf (I. /II.?): RUDOLPHUS FILI[US] HENRICI UXOR
EI[US] ITHA OTTONIS MAGNIS IMPERATORIS NEPTIS. [Ita von Ohningen] OSSA
EIUS HUC ETIAM EX ECCLESIA PAROCHIALI TRANSLATA; Welf VI.: GUEL-
PHO VI. FRAT: HENRICI SUPERBI. MARCHIO TUSCIAE &CC FUNDATORMONA-
STERII STEINGADEN. MORIT: AN: MCXCI; Welf V: GUELPHO. V. DUX NORI-
COR: POSTERIO MARIT[US] MATHILDIS, CELEBERRILLI[US] IN ITAL: FAEMIN:
MORIT: AN: MCXVIII. HlC SEPULTA; Heinrich der Schwarze: HENRICUS GUEL-
PHON: IV FILIUS DICTUS NIGGER, DUX NORICORU[M] AEDIFICAT DE NOVO
HOC MONASTERIUM FACT[US] HIC MONACH[US] MORITURAN: MCXXVII.
Illuminierte Herrscher
257
Abb. 2:
Weingarten,
St. Martin,
Fresko von
Cosmas Damian
Asam,
WelflV. und
Judith von Flandern
(Abb. nach Spahr, wie
Anm. 44,
Frontspiz).
GUtLPHO.IV^UX NO.
RICORU FILIUS AZONIS
MARCHIO^ESTLNSIS IN
ITAL=FUNfMTIONfcANt\IO
RIBjETA.SE FACTA B1NIS
LITTERISAN: MXCCON.
firmat. moritur anno
MCIhic
. ...■—.. SEPULTV
IUDITHA GUFXPHO*
NlsIV UXOR FIL* BAJU
DUINl FLANDR.COMw,
DEDIT HUIC MONASTB
CHRI.I
SANGU1NEM
ET ALIAS S=S:
RELIQUIAS MOR1T-.AK
Mxcim
HKSEPUls
w*K
Iji1 - fm.t
den welfischen Quellen nach durch Heinrich gegriindet worden sein soil. Die In-
schrift unter dem Bild Heinrichs weist ihn als Fundator aus: HENRIC[US] AL-
TORFF: COMES, PRIMpJS] IBID: SANCTIMONAL: MON[AST]RII FUN-
DATOR PATERS. CONARADI EPISCO: CONSTANT: OSSAEIUS EXECC-
LES: PAROCHI: HUC TRANSLATA SUNT. Die weiteren Inschriften dieses
Freskos lauten: GUELPHO I. COMES ALTORFFENSIS DE GENTE FRAN-
CORUM. VIXIT TEMPORE CAROLI MAGNI und HATTA COMITISSA AB
HOCHENWART&c: UXORHENRICI ETMATERS: CONRADI OSSAEIUS
ETIAM HUC EX ECCL: PAROCHIALI SUNT TRANSLATA. Ein weiteres
Kirchenmodell halt auch Welf III. in derHand, der sich damit ebenfalls als Stifter
verrat: GUELFO III. DUX CARINTHIAE, QUI HOC MONASTERIU[M] EX
ALTORFF HUC IN MONTEM TRANSTULI ET WEINGARTEN VOCAVIT
258 Nathalie Kruppa
MORITUR AN: MLV, HIC SEPULTUS. Ihm wird in der Inschrift, wie in der Le-
gende, falschlicherweise die Verlegung des Klosters aus dem Tal auf den Martins-
berg zugeschrieben. Das Modell hatte eigentlich seiner Mutter Imiza von Luxem-
burg, der Frau Welfs II., beigegeben werden miissen, die aber gar nicht dargestellt
ist. Das Bild neben Welf III. zeigt seinen jungverstorbenen Onkel Heinrich:
HENRICUS, RUDOLPHI FILIUS, QUI IN VENATIONE PROPE VILLAM
LENON IN TYROLI INTERIIT. Korrekterweise wird Welf IV. (Abb. 2) nicht
mit einem Kirchenmodell gezeigt, sondern als Ritter mit Herzogshut und (falsch-
licherweise) einer Fahne mit dem sachsischen Wappen in der linken Hand - erst
sein Enkel Heinrich der Stolze wurde Herzog von Sachsen. Die Inschrift sagt
nichts iiber dieses Herzogtum: GUELPHO. IV. DUX NORICORU[M] FILIUS
AZONIS MARCHIO: ESTENSIS IN ITAL: FUNDATIONE[M] A MAIORI-
B[US] ET ASE FACTA[M]BINIS LITTERIS AN: MXC. CONFIRMAT. MORE
TUR ANNO MCI. HIC SEPULT[US]. Seine Frau Judith von Flandern wird mit
der Heilig-Blut-Reliquie in der rechten und einem weiteren Reliquienkastchen in
der linken Hand dargestellt: IUDITHA GUELPHONIS. IV. UXOR FIL: BAL-
DUINI FLANDR: COM&c. DEDIT HUIC MONASTRERIO S:S: SANGUI-
NEM CHRI[STI] ET ALIAS S:S: RELIQUIAS MORIT: AN: MXCIIII HIC SE-
PULTA. Das jiingste' Bild zeigt Wulfhild Billung, die Ehefrau Heinrichs des
Schwarzen, und eine ihrerTochter, Sophia. Die Inschrift vermerkt Wulfhilds Ehe
mit Heinrich und ihre Abstammung von Magnus Billung, Herzog von Sachsen,
herausgestellt durch das Wappen der spateren askanischen Herzoge von Sach-
sen: WILPHILDIS HENRICI UXOR, FILIA MAGINONIS SAXONIAE DU-
CIS. Hier fehlt iiberraschenderweise der Hinweis, daB Wulfhild in Weingarten
bestattet wurde. Platzprobleme konnen dafiirkeine Ursache gewesen sein. Bei Hi-
rer Tochter Sophia werden ihre beiden Ehemanner, Herzog Berthold V von Zah-
ringen und Markgraf Leopold von Steyr sowie ihr Bestattungsort in Weingarten
vermerkt: SOPHIA FILIA HENRICI PRIMO BERCHTOLDO ZARINGENSI
DUCI DEIN LEOPOLDO STYRAE MARCHIO: NUPTA HIC SEPULTA.
Die Fresken Asams gehen auf Handschriften des Klosters zuriick. Grundlage
bilden die drei sogenannten „Stifterbiichlein" aus Weingarten, die heute in Stutt-
gart aufbewahrt werden (Abb. 3 und 4) .46 Es handelt sich hierbei um drei vonein-
46 Stuttgart, Wiirttembergische Landesbibliothek, Cod. hist, quart. 584 („Stifterbiich-
lein 3"); ebd., Hauptstaatsarchiv, B 515 Hs 5a („Stifterbuchlein 2"), B 515 Hs. 5b („Stifter-
biichlein 1"). Das sogenannte „Stifterbiichlein 3" ist eine Sammelhandschrift, die zum letz-
ten Mai 1956 neu zusammengebunden wurde, und die neben den Text und den Bildern der
„Historia Guelfica cum Iconibus. In fine Historia Ss. Sanguinis" beigebunde Notizen iiber
die Altare in Weingarten aus derZeit um 1500 mit barocken Nachtragen enthalt. Das 3. und
das 1. „Stifterbuchlein" sind in einem guten und vollstandigen Zustand iiberliefert, wahrend
das 2. Biichlein nicht vollstandig ausgefiihrt wurde, so daB die Abbildungen einen unferti-
Illuminierte Herrscher
259
Abb. 3:
Stuttgart,
Wiirttembergische
Landesbibliothek,
Cod. hist, quart 584,
fol. 25-0,
WelflV.
(Vorlage: Stuttgart,
Wiirttembergische
Landesbibliothek) .
ander abhangige Texte zur Heilig-Blut-Reliquie mit zahlreichen Abbildungen der
Welfen, ihrer Frauen sowie einigen weiteren Personen. Bei einem der Biichlein,
dem sogenannten „Stifterbiichlein 1", handelt es sich um eine Papier-Han d-
schrift, wahrend die beiden anderen auf Pergament geschrieben sind. Nach einer
ersten Analyse des Papiers, der schreibenden Hande sowie der Abbildungen ist
das „Stifterbiichlein 3" das alteste und kann an den Anfang des 16. Jahrhunderts
gesetzt werden, wahrend das „Stifterbiichlein 1" eherin die Zeit um 1600 zu datie-
gen Charakter aufweisen. Ferner kam es ungliicklicherweise in Kontakt mit Wasser, so daB
auch der Gesamtzustand ziemlich schlecht ist. Hinweise auf die „Stifterbuchlein": Hans Ul-
rich Rudolf, K5-K7, in: Norbert KRUSE/Hans Ulrich Rudolf (Hrsg.), 900Jahre Heilig-Blut-
Verehrung in Weingarten 1094-1994. Katalog zur Jubilaumsausstellung, Sigmaringen 1994,
S. 104 f. Nach Pornbacher, wie Anm. 36, S. 118 Anm. 5 soil das „Stifterbuchlein 3"unter Abt
Gerwig Blarer (1520-1567) entstanden sein.
260
Nathalie Kruppa
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Abb. 4:
Stuttgart,
Hauptstaatsarchiv
Stuttgart,
B 515 Hs 5b,
fol. 22v:
WelflV.
(Vorlage: Stuttgart,
Hauptstaatsarchiv
Stuttgart).
ren ist.47 Dieses stellt nicht nur als einziges eine Papier-Handschrift dar, sondern
weist auch als einziges die Begleittexte in Latein und (nachgetragenem) Deutsch
auf, wahrend in den beiden anderen die Begleittexte ausschlieBlich in deutscher
Sprache abgefaBt sind. Ein (verlorenes?) Vorbild derZeit um 1400 kann anhand
der Abbildungen angenommen werden.
In den Biichlein sind auf jeweils bis zu 45 ganzseitigen Miniaturen 24 Welfen,
ihre Ehefrauen und Kinder sowie die Staufer als Nachkommen der Welfen darge-
stellt. Ferner werden Kaiser Maximilian I. und Markgraf Leopold IV. von Oster-
47 An dieser Stelle mtichte ich meinen Dank an Dr. Erwin Frauenknecht, Stuttgart, fur
die Datierung der Wasserzeichen des Papiers aussprechen, ferner an Prof. Dr. Harald Wol-
ter-von dem Knesebeck, Bonn/Gottingen, fiir eine Einschatzung der zeitlichen Abfolge und
Abhangigkeit der Bilder sowie Dr. Waldemar Konighaus und Daniel Berger, MA, beide Got-
tingen, fiir die Unterstiitzung bei der Schriftdatierung.
Illuminierte Herrscher 261
reich gezeigt.48 Erganzungen zu den Bildern bringen unterschiedlich lange Texte,
die biographische Notizen zu den Dargestellten beinhalten. So erhalt eine In-
schrift bei Maximilian, warum dieserberiicksichtigt wurde: Das Biichlein, das die
Vorlage fiir die beiden anderen war, wurde wohl wahrend seiner Herrschaftszeit
konzipiert, geschrieben und gemalt.49 Das Erscheinen von Leopold ist dagegen
schwieriger zu begriinden. Liber seine Mutter Agnes von Waiblingen war er ein
Neffe Kaiser Heinrichs V. Sein Halbbruder Friedrich von Schwaben heiratete die
Welfin Judith und sein anderer Halbbruder Konig Konrad III. ernannte ihn nach
dem Tod Heinrichs des Stolzen zum Herzog von Bayern. Eine Verbindung nach
Weingarten lieB sich (bisher) nicht nachweisen.
Neben den Welfenbildern und Texten enthalten die Biichlein Texte zur Hei-
lig-Blut-Reliquie, die die Wiederauffindung der Reliquie in Mantua beschreiben
und ihren Weg von Golgotha bis Mantua verfolgen. Sie zeigen die Wunderkraft
der Reliquie, ihre Translation nach Weingarten, einen Aufruf zum Gedachtnis
des Leidens Christi und weiteres mehr.50
Aus den Abbildungen 2 bis 4 ist anhand des Beispiels Welfs IV. die Abhan-
gigkeit der Bilder der Stifterbiichlein und der Fresken Asams voneinander zu er-
kennen. Die Standmotive, die Kleidung und die Frisuren sind bis ins Detail die
gleichen, die sichtbaren Unterschiede, z. B. in der Farbintensivitat, gehen auf die
48 Gezeigt werden nach „Stifterbiichlein 3" auf fol. 8r: Kaiser Maximilian, fol. 9v: Toch-
ter Catilinas, fol. lOr: Welf, fol. 1 lv: Judith, fol. 12 r: Ludwig der Fromme, Judiths Ehemann,
fol. 13r: (Welf-)Eticho, fol. 14v: Heinrich „mit dem goldenen Wagen", fol. 15r: Atha von
Hohenwarth, Heinrichs Ehefrau, fol. 16r: Bischof Konrad von Konstanz, fol. 17r: Eticho,
fol. 18 v: Rudolf II., fol. 19 r: Ita von Ohningen, Rudolfs Ehefrau, fol. 20 r: Heinrich, fol. 21 v:
Welf II., fol. 22r: Imiza vom Luxemburg, Welfs II. Ehefrau, fol. 23r: Welf III., fol. 24r: Kuni-
za, fol. 25 v: Welf IV., fol. 26r: Judith von Flandern, fol. 27r: Welf V., fol. 28v: Heinrich der
Schwarze, fol. 29r: Wulfhild Billung, Heinrichs Ehefrau, fol. 30r: Judith von Schwaben,
fol. 31r: Sophia von Zahringen-Steyr, fol. 32 r: Wulfhild von Bregenz, fol. 33 v: Heinrich der
Stolze, fol. 34 r: Gertrud von Siipplingenburg, Heinrichs Ehefrau, fol. 35 r: Heinrich der Lo-
we, fol. 36r: Pfalzgraf Heinrich, fol. 37r: Uta von Calw, fol. 38r: Welf VI., Utas Ehemann,
fol. 39 v: Beatrix von Schwaben, fol. 40r: Kaiser Otto IV., Beatrix' Ehemann, fol. 41 r:
Welf VII., fol. 42r: Leopold IV. von Osterreich, fol. 43r: Kaiser Friedrich Barbarossa,
fol. 44r: Kaiser Heinrich VI., fol. 45r: Konig Philipp von Schwaben, fol. 46r: Kaiser
Friedrich II., fol. 47r: Konig Heinrich (VII.), fol. 48r: Konig Konrad IV. Die Ehepartner
sind jeweils einander gegemibergestellt.
49 Wenn auch seine Herrschaft keine positive Auswirkung auf Weingarten hatte, da der
Erzherzog und spaterer Konig/Kaiser dem Kloster sogar seine Reichsunmittelbarkeit be-
stritt und es in seine osterreichische Landesherrschaft einbinden wollte, Spahr, wie
Anm. 20, S. 630; Hans Ulrich RuDOLF/Anselm Gunthor, Die Benediktinerabtei Weingar-
ten. Zwischen Grundung und Gegenwart 1056-2006. Ein Uberblick uber 950 Jahre Kloster-
geschichte, Lindenberg 2006, S. 41.
50 Norbert Kruse, Die historischen Heilig-Blut-Schriften der Weingartner Klostertradi-
tion, in: 900 Jahre Heilig-Blut-Verehrung. Festschrift 1, wie Anm. 21, S. 77-123.
262 Nathalie Kruppa
verschiedenen Trager der Bilder - Fresken bzw. Pergament/ Papier und Aquarell
- zuriick.
Wie schon der Welfenstammbaum des Weingartener Necrologs durch den
abknickenden Hauptzweig und die Betonung Friedrich Barbarossas gezeigt hat,
wurden in diesem Kloster die Staufer, namentlich Friedrich Barbarossa und seine
Sonne, als Welfennachkommen und damit letztendlich als Welfen angesehen. So
iiberrascht es nicht, daB nach Heinrich dem Stolzen, Welf VF und Welf VIF eini-
ge Staufer in den Stifterbiichlein gezeigt werden, angefangen mit Friedrich
Barbarossa, dem seine Sonne Heinrich VF und Philipp von Schwaben sowie
Friedrich IF, Heinrich (VIF) und Konrad IV folgen. Ferner werden weiterhin -
entgegen meiner urspriinglichen Erwartung - Welfen im heutigen Verstandnis,
also mannliche Nachkommen Heinrichs des Schwarzen bzw. Heinrichs des Stol-
zen, gezeigt: Heinrich der Fowe sowie seine Sonne Pfalzgraf Heinrich und Kaiser
Otto IV
Die Darstellungen zeigen dennoch insgesamt eine Praferenz fur die Staufer,
von denen einschlieBlich Friedrich Barbarossa vier Generationen dargestellt
wurden, wahrend Heinrich dem Fowen nur noch zwei seiner Sonne folgen. Die
Darstellung Ottos IV. verdeutlicht dies noch mehr. Zwar wird ihm als einzigen
der jiingeren Dargestellten eine Ehefrau zur Seite gestellt.51 Es handelt sich aber
nicht um Maria von Brabant (t 1260), die spatere Kaiserin, sondern um die Foch-
ter Philipps von Schwaben, Beatrix, die bereits drei Wochen nach der Hochzeit
1212 starb. Auch die beigegebenen Fexte sprechen eine deutliche Sprache: Otto
ain hertzog von paier vnd sachsen ist romischer kaiser erwelt warden wider kilnig philip-
pen.52 Schon die einleitende Bemerkung zu Heinrich dem Fowen macht die In-
teressen Weingartens deutlich: Hainrich hertzog [Nachtrag: dictus leo] zu sachsen vnd
paier vnd brunschwig ist von kaiser fridrichen vertriben wordens.53 Die Informationen
bei den Staufern erganzen dieses Bild. So wird zu Konig Philipp berichtet: Hertzog
Philipp hertzog von Swaben ist worden romischer kiinig wider kiinig otten hant langmit ain
ander kriegt und Item Philippus ain Hertzog von Schwaben vnd Ethurie ain Bruder kaiser
Hainrichs Ist Romischer Kiinig erwelt ain gerechter man vnd hat geregiert xijar Wider in
hant etliche fiirsten erwelt Ottonem ainen Hertzogen von Brunschwig vnd Sachsen zu aine
Rdmischen kiinig darumb in tiischem land groji krieg worden sind Der Philipp Ist von dem
pfaltzgraffen von wittelspach als er ain lasser was betriigenlich erschlagen worden.54 Bei
Friedrich IF wird u. a. betont, daB er gegen Otto IV. zum Konig erwahlt wurde:
Ist erwelt worden ain Romischer kiinig wider Ottone.55 Auch die Anwesenheit des mit
51 Vgl. die Aufzahlung in Anm. 48.
52 Stuttgart, Wiirttembergische Landesbibliothek, Cod. hist, quart. 584, fol. 40r.
53 Ebd., fol. 35 r.
54 Ebd., fol. 45 r und 45 v.
55 Ebd., fol. 46 v.
Illuminierte Herrscher
263
Abb. 5:
Stuttgart, Wiirttembergische
Landesbibliothek,
HB V,4a,fol. 168r:
WelflV.
(Vorlage: Stuttgart,
Wiirttembergische
Landesbibliothek) .
den Saliern, Staufern und Welfen verwandten Leopold IV. von Osterreich, der in
Nachfolge Heinrichs des Stolzen von Konig Konrad III. zum Herzog von Bayern
ernannt wurde, kann in dieser Richtung interpretiert werden. In den welfisch-
staufischen Thronwirren um und nach der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert
und ihrer 200 Jahre jiingeren bildlichen Nachwirkungen standen die Weingar-
tener Monche eindeutig auf der Seite der Staufer.
Die Bilder der Stifterbiichlein haben eine Vorbildfunktion fur die bildlichen
Darstellungen der Welfen in den kommenden Jahrhunderten erhalten. Zunachst
hat Gabriel Bucelin (1599-1681), S6 ein Monch des Klosters Weingarten, der sich
56 Zu Bucelin siehe Claudia Maria Neesen, Gabriel Bucelin OSB (1599-1681). Leben
und historiographisches Werk, Ostfildern 2003.
264
Nathalie Kruppa
Abb. 6:
Origines Guelficae, 2,
wie Anm. 58,
TafellzuS. 279:
WelflV.
Gueipno qoartus, filiitf Chu-
misajBuDf. NoticorS . Comftittni«a+
"Weimg arienfem fiiwteiow? Bferis
gennauucefcriptis atuio CbXC.
moritttr anno cl3 C 1 ■
als Historiker der Benediktiner und vor allem seines Klosters betatigte, einige
dieser Bilder in seinen Handschriften in einer einfacheren Ausfiihrung mit zum
Teil nicht realisierten Inschriften in Rankenfeldern iiberliefert (Abb. 5, vgl.
Abb. 2-4). S7
Den Bildern der Stifterbiichlein wurde noch eine weitere Verbreitung zuteil. In
den vier Banden der Origines Guelficae, begonnen von Gottfried Wilhelm Leib-
niz, fortgesetzt von Johannes Georg von Eckhart und Johannes Daniel Gruber,
herausgegeben von Christian Ludwig Scheidt und zwischen 1750-1780 erschie-
nen, kommen einige der Bilder nochmals vor, so beispielsweise Welf IV.
(Abb. 6).58 So wurden diese Bilder der Welfen des Klosters Weingarten des
16. Jahrhunderts im 18. Jahrhundert bis nach Niedersachsen transportiert.59
57 Stuttgart, Wiirttembergische Landesbibliothek, HB V 4, fol. 170r: Heinrich „mit dem
goldenen Wagen" und Atha von Hohenwarth, fol. 232 r: Welf II. und Imiza von Luxemburg
undHB V4a, fol. 72 r: Welf III., fol. 168 r: Welf IV., fol. 170 r: Judith von Flandern.
58 Origines Guelficae 2, Hannover 1751, Tafel 2 zu S. 279: Welf IV., Tafel 3 zu S. 323:
Illuminierte Herrscher 265
Die Stifterbiichlein und die Welfengenealogien beinhalten nicht die einzigen
Bildzeugnisse, die sich in den siiddeutschen Welfenklostern, vor allem in Wein-
garten, Steingaden und Rottenbuch, erhalten haben. In Steingaden spielten
Welf VI. und Welf VII. die Hauptrolle in den bildlichen Darstellungen - als
Griinder des Stiftes und als dessen Sohn. Zwei Stellen in der barockisierten Kir-
che zeigen die beiden Welfen. Zum einen ist hier das Deckenfresko des Johann
Georg Bergmiiller (1688-1762) 60 zu nennen, auf dem die Stiftung und derBau des
Pramonstratenserstiftes dargestellt wird: Welf VI. in Riistung, neben ihm ein Pra-
monstratenser, dererste Propst; vorihnen halt eine Person, wohl derBaumeister,
eine Zeichnung derSteingaderKlosteranlage (Abb. 7). Im Hintergrund sind Bau-
arbeiten zu sehen. Dariiber, aus himmlischen Spharen, wird die Szene von Jesus
und einigen Engeln betrachtet.
An der Westwand derKlosterkirche, rechts und links des Eingangs, werden die
beiden Welfen in zwei iiberlebensgroBen Darstellungen gezeigt (Abb. 8).61
Welf VI. ist als alter Mann, gekennzeichnet durch einen langen weiBen Bart, und
Welf VII. entsprechend jiinger, mit einem blonden Backenbart, abgebildet. Beide
sind als Ritter dargestellt, und neben beiden liegt auf einem Podest ein Herzogs-
hut, was zumindest im Fall desjiingeren Welfen nicht korrekt ist, denn er warzwar
der Sohn eines Herzogs, hatte diese Wiirde selbst aber nicht inne.
Das Motiv der beiden Welfen als spatmittelalterlicher Ritter ist in ahnlicher
Form seit dem 16. Jahrhundert mehrfach im Stift belegt. Eine entsprechende Ge-
staltung Welfs VI. und VII. wurde wohl erstmals auf einem Epitaph von 1527 ge-
zeigt. Dieses hat sich zwar nicht erhalten, ist aber aus einem Kupferstich von
Heinrich der Schwarze, Tafel 9 zu S. 357: Heinrich der Stolze; Origines Guelficae 3, Hanno-
ver 1752, Tafel 15 zu S. 159: Heinrich der Lowe.
59 Leibniz selbst stand im Kontakt zu Gabriel Bucelin, aber auch zum Tiibinger Profes-
sor Johann Ulrich Pregitzer, den er mit Forschungen in Oberschwaben beauftragte, Stefan
Benz, Historiker um Gottfried Wilhelm Leibniz, in: Herbert BREGER/Friedrich Niewohner,
Leibniz und Niedersachsen, Stuttgart 1999, S. 148-172, hier S. 154, S. 164-172 zu Eckhart;
Nessen, wie Anm. 56, S. 2 1 5 f . , S. 310f. und passim; vgl. auch Origines Guelficae 1, Hanno-
ver 1750, praefatio S. 19.
60 Georg Hager, Die Bau- und Kunstdenkmale des Klosters Steingaden, in: Oberbaye-
risches Archiv fur die vaterlandische Geschichte 48, 1893-1894, S. 124-177, hier S. 150f.; Jo-
sef Strasser, Johann Georg Bergmiiller 1688-1762. Die Zeichnungen, Salzburg 2004; Art.
Bergmiiller, Johann Georg, in: Ulrich TmEME/Felix Becker (Hrsg.), Allgemeines Lexikon
der bildenden Kiinstler von der Antike bis zur Gegenwart 3 /4, Studienausgabe Leipzig 1999,
S. 412.
61 Hager, wie Anm. 60, S. 147-150. An dieser Stelle sollen sich bereits davor ahnliche
Bilder der beiden Welfen befunden haben, die sogar mit langen Inschriften in Versform auf
das Leben Vaters und Sohns eingingen. Auch auf den Sockeln der Bergmiiller-Fresken wa-
ren wohl urspriinglich Inschriften angebracht, die allerdings verloren sind.
266
Nathalie Kruppa
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Abb. 7: Steingaden, St. Johannes Bapt., westliches Deckenfresko vonjohann Georg Bergmuller:
Griindung des Stiftes (Foto: Kruppa).
Joseph Anton Zimmermann (1705-1797) 62 bekannt. Die beiden knienden Welfen
werden in einer Stifterdarstellung, d. h. mit der von ihnen gestifteten Klosterkir-
che Steingaden in den Handen, gezeigt. Mit der jeweils freien Hand stiitzen sie
62 Abbildung: Monumenta Steingadensia, wie Anm. 26, nach S. 480, Taf. 15. Zum Grab-
mal und den Epitaphien siehe auch Hager, wie Anm. 60, S. 143-147. Anstelle der urspriingli-
chen Grabstelle im Mittelschiff wurde 1749 eine metallene Platte mit einer Inschrift in den
Boden eingelassen: HOC SUB LAPIDE / LATENT / LAPIDES PRETIOSI / SERENISSIMI
AC POTENTISSIMI / BAVARIjE ET SPOLETI PRINCIPES / GUELPHO VI PATER / ET
jEQUALIS PATRI PIETATE / FILIUS GUELPHO VII / QUORUM MUNIFICENTIAM /
PERPETUO LAPIDES CLAMABUNT / CANONIyE HUJUS STEINGADIAN.E / ANNO
Illuminierte Herrscher
267
Abb. 8:
Steingaden,
St. Johannes Bapt.,
Fresko von
Johann Georg Bergmiiller:
Welf VI.
(Foto: Kruppa).
sich auf ein Lowenwappen, das Wappen der Welfen, wie es in den Welf enklo stern
vorkommt und wie es ab dem 12. Jahrhundert auf welfischen Siegeln und
Miinzen belegt ist. Uber den Stiftern, neben der Kirche, sind zwei Heiligendar-
stellungen zu sehen. Es handelt sich um die beiden heiligen Johannes. Johannes
der Taufer befindet sich iiber Welf VI. Johannes der Evangelist iiber dessen Sohn.
Geschuldet ist die Darstellung der beiden Heiligen dem Patrozinium der Stifts-
kirche, die dem Taufer geweiht war.
Dieses Motiv war in Steingaden beliebt, so daB es auf weiteren Bildtragern zu
MCXLVII / AB IPSIS FUNDATvE / IN CUJUS GREMIO / HIC REQUIESCUNT. Die neu-
en Grabepitaphien des 18. Jahrhunderts befinden sich hingegen auf zwei gegeniiberliegen-
den Pfeilern des Mittelschiffes in der Hohe der Metallplatte. Zu Zimmermann siehe Art.:
Zimmermann, Joseph Anton, in: Ulrich TmEME/Felix Becker (Hrsg.), Allgemeines Lexikon
der bildenden Kiinstler von der Antike bis zur Gegenwart 35/36, Studienausgabe Leipzig
1999, S. 513f.
268 Nathalie Kruppa
finden ist: Als ein Detail eines Passionsbildes aus der Zeit um 1570, in einer ,Ne-
crologium' genannten Handschrift von 1651 und schlieBlich auch auf den neuen
Epitaphien der Welfen vonjohann Baptist Straub (1704-1784). 63 Gerade das Pas-
sionsbild wiederholt das spatmittelalterliche Epitaph fast bis ins Detail; nur daB
in diesem Fall die Welfen die Kirche mit jeweils beiden Handen halten und der
Wappenschild vor ihnen steht.
Das Steingader ,Necrologium', bei dem es sich um ein Rotelbuch handelt, also
eine Aufzeichnung von Verstorbenen, die mit „befreundeten" oder „verbriider-
ten" Klostern ausgetauscht wird,64 stellt auf Folio 2r-9v die Geschichte des Stiftes
Steingaden und damit Welfs VF in Bild und Fext dar.65 Auf fol. 2 wird das Stifter-
bild wiederholt. Auch hier halten die Welfen erneut das Modell der Kirche in der
Hand; im Unterschied zu den anderen Darstellungen stehen die beiden nun.
Welf VIF weist wie sein Vater einen Vollbart auf und der Wappenschild ist nicht
so auffallig unterhalb des Kirchenmodells angebracht, sondern im abgetrennten
begleitenden Textfeld unterhalb des Bildes.
Im Zuge der Barockisierung der Klosterkirche im 18. Jahrhundert bekamen
die beiden Welfen neue Epitaphien vonjohann Baptist Straub.66 Im Gegensatz
zu dem Epitaph des 16.Jahrhunderts wurde ihrer aber nicht mehrgemeinsam ge-
dacht. Beide erhielten jeweils ein eigenes bronzenes Denkmal (Abb. 9), die alte-
ren Motive wurden aber wieder aufgenommen. Welf VI. halt das Modell der
Stiftskirche in seiner linken Hand. Die Kirche entspricht der Darstellung auf dem
Stich von Zimmermann. Welf VII. halt in seiner linken Hand ein Model einer
63 Passionsbild: Jehl, wie Anm. 2, nach S. 104; Ausschnitt: Gerhard Klein, Ein Haus
voll Glorie - Schauet! Alte Ansichten des Steingadener Welfenmiinsters und der Klosteran-
lage, in: Haaser/Klein/Krauthauf, wie Anm. 26, S. 220-263, hier S. 231 Abb. 12; Necrolo-
gium: Hermann Hauke, Das sogenannte Necrologium aus Steingaden, in: ebd., S. 74-104,
Abb. S. 79; Baaken, Welf VI., wie Anm. 16, nach S. 24; Epitaphien: Jehl, wie Anm. 2, nach
S. 112 (Welf VI.); Pornbacher, wie Anm. 26, S. 30 (Welf VII.).
64 Vgl. Jean Dufour, Art.: Totenrotel, in: Lexikon des Mittelalters 8, 1997, Sp. 897f.;
Gabriela Signori, Totenrotel und andere Medien klosterlicher memoria im Austausch zwi-
schen spatmittelalterlichen Frauenklostern und -stiften, in: Eva ScHLOTHEUBER/Helmut
FLACHENECKER/Ingrid Gardill (Hrsg.), Nonnen, Kanonissen und Mystikerinnen. Religiose
Frauengemeinschaften in Siiddeutschland, Gottingen 2008, S. 281-296, bes. S. 281-287.
65 Miinchen, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 1007, fol. 1-3, siehe auch Hauke, wie
Anm. 63, S. 74-104, bes. S. 76-84.
66 Inschriften: Welf VI.: Vuelfo dux / fundavit monasterium / istud an. 1 1 47/ obijt[us]
1 1 91 / in die Luciae; Welf VII.: Vuelfo filius ei[us] / in italia peste interijt / an. 1 1 67sed hie
/ ossa ei[us] translata / et reposita. Sie wurden wortwortlich auf die neuen Epitaphien des
18. Jahrhunderts ubernommen. Zu Straub siehe Art.: Straub, Johann Baptist, in: Ulrich
TmEME/Felix Becker (Hrsg.), Allgemeines Lexikon der bildenden Kiinstler von der Antike
bis zur Gegenwart 31/32, Studienausgabe Leipzig 1999, S. 162-167.
Illuminierte Herrscher
269
Abb. 9:
Steingaden, St. Johannes Bapt.,
Johann Baptist Straub,
Epitaph Welfs VI.
(Foto: Kruppa).
Klosteranlage. Auf diesem Weg werden bei-
de weiterhin als Stifter angesprochen. Als
weitere Reminiszenz an das altere Epitaphi-
um werden beide Welfen erneut von den
beiden heiligen Johannes begleitet, Welf
VI. wiederum von Johannes dem Taufer -
als dem eigentlichen Stifter stand ihm die
Begleitung des Hauptpatrons zu - und sein
Sohn von Johannes dem Evangelisten.
Insgesamt ist eine motivische Verwandt-
schaft zwischen alien vier bildlichen Dar-
stellungen nicht zu bestreiten, da sie sich -
wenn auch unterschiedlich stark - ahneln
und nur einige zeittypische Unterschiede
wie abweichende Details in den Riistungen
aufweisen. Die groBte Differenz im direkten Vergleich weist das ,Necrologium'
auf. Hier werden die beiden Stifter stehend und nicht kniend dargestellt und
Welf VII. zudem mit einen Vollbart.
In Rottenbuch und Weingarten spielen in den Bildern, die neben den Genealogi-
en konzipiert und ausgefiihrt wurden, vor allem Welf IV und seine Frau Judith
von Flandern die Hauptrolle. Dieses ist in beiden Fallen keine Uberraschung,
denn Rottenbuch wurde von Welf IV. gegriindet, waraberim engeren Sinne kein
Hauskloster der Welfen, da der memoriale Mittelpunkt der Welfen stets das Klo-
ster Weingarten blieb.
In Rottenbuch gehort zu den friihesten Welfenbildern die sogenannte Prop-
steitafel, die im geschlossenen Zustand Welf IV als Ritter und Judith in hofischer
Kleidung auf den Seitenfliigen zeigt und in der Mitte eine Ansicht des vorbarok-
270 Nathalie Kruppa
ken Stifts mit den beiden Kirchen fur den Manner- und Frauenkonvent bringt
(Abb. 10). Im geoffneten Zustand werden in der Mitte die Propste Rottenbuchs
bis 1802 gezeigt. Diese Tafel wurde 1585 unter Propst Wolfgang Perkhofer
(t 3. Oktober 1611) angelegt und iiber die Jahre weiter fortgefiihrt, vergleichbar
mit Abtegalerien in anderen Klostern. Die Inschriften unter den Bildern des Ehe-
paares gehen in kurzer Form auf ihr Leben und die Stiftsgriindung ein.67
Eines der wenigen plastischen Objekte stammt wiederum aus Weingarten und
wird heute in der Niedersachsischen Landesgalerie in Hannover aufbewahrt. Es
handelt sich um eine Biiste Judiths von Flandern vom Ende des 15. Jahrhunderts.
Diese wurde wohl vom siiddeutschen Bildhauer Heinrich Yselin (t 1513) 68 oder
zumindest in seiner Werkstatt geschaffen. Sie zeigt Judith mit einer vierzackigen
Krone sowie einem kirchenbauahnlichen Reliquienkastchen in derlinken Hand,
wahrend die Rechte fehlt.69 Wenn man diese Skulptur mit der Darstellung in den
Stifterbiichlein vergleicht, spricht vieles fur eine Rekonstruktion der rechten
Hand mit der Heilig-Blut-Reliquie. Eine motivische Verwandtschaft, gerade was
die Krone, die Frisur und das Reliquienkastchen betrifft, laBt sich zudem zwi-
schen den beiden zeitnahen Abbildungen derjudith erkennen. Anderes aber, wie
z.B. die Kleidung der Herzogin, unterscheidet sich aber stark. Sicher ist, daB
Heinrich Yselin in Weingarten tatig war, wo er das vorbarocke Chorgestiihl von
67 Welf: Guelfo quartus, cognomento Fortis, primo despondit sibi Filiam Othonis, Ducis
Bavarian, et illo per Henricum Regem proscripto, renuntiavit Sponsalibus, et a Rege titulo
Ducatus investitus, expulso Othone factus est Dux Bavarian. Multa strenue in Italia, et Ger-
mania fecit. Monasterium istud venerandum fundavit Anno 1074. Senex iam cum maxima
difficultate adiit terrain sanctam Anno 1101. In reditu moritur in Insula Cypro, ibi sepultus,
ossibus paucis inde ad Weingarten.
Rottenbuch: Monasterium Rottenbuech a rubra Fago nuncupatum, fundatum est Anno
millesimo septuagesimo quarto a Serenissimo Duce Bavarian Guelphone quarto, et eius Co-
niuge Iudintha Regina Anglise, in honorem BeatissimEe Deiarae Virginis Mariae, pro Canoni-
cis Regularibus Ordinis Sancti Augustini, a quibus continua possessione, hactenus inhabita-
tum est. Loci huius Propositus titulo, ac dignitate Archidiaconi Nati insignitus est, nunc
etiam Abbatis Lateranensis. Moderna Monasterij facies intuentibus accurate hac forma pro-
ponitur.
Judith: Iudintha Filia Balduini nobilissimi Comitis Flandriae, nupta primo Regi Angliae,
quo mortuo spreta Othonis Bavarian Ducis Filia hanc duxit Guelfo quartus cum magna dote.
Attulit ilia Sanguinem sacrum ad Weingarten, qui hodie religiose ibi asservatur. Iuvit Mari-
tum, et precibus impetravit fundationem Monasterij nostri in Rottenbuech. Diu infirma, tan-
dem obijt in bona senectute, sepulta per manus Domini Gebhardi Episcopi Constantiensis,
Fratris Berchtoldi Ducis Karingiae in Weingarten.
68 Art.: Yselin, Heinrich, in: Thieme/Becker, wie Anm. 62, S. 362ff.
69 Abbildung: 900 Jahre Heilig-Blut-Verehrung. Festschrift 1, wie Anm. 21 S. II, Abb. 1;
900 Jahre Heilig-Blut-Verehrung. Katalog, wie Anm. 46, S. 13, vgl. Norbert Kruse, K4, in:
ebd., S. 104; siehe auch Gert von der Osten, Katalog der Bildwerke in der Niedersachsi-
schen Landesgalerie Hannover, Miinchen 1957, S. 18 If. Nr. 222.
Illuminierte Herrscher
271
Abb. 10: Rottenbuch, St. Peter und Paul, Propsteitafel mit der Darstellung
Welfs IV. und Judiths von Flandern sowie in der Mitte der Anlage des Stiftes
(Abb. nach Mois, wie Anm. 43, Abb. 4).
1478 erschuf. Es ist von daher moglich, daB er das Stifterbiichlein - oder dessen
unbekannte Vorlage - gesehen hat und sich davon hat inspirieren lassen.
Ferner gab es in Weingarten zwei sogenannte Heilig-Blut-Tafeln, auf denen die
Legende des HI. Blutes von Golgotha bis zur Ankunft der Reliquie in Weingarten
in szenischer Folge gezeigt wurde. Die altere der beiden Tafeln stammt aus dem
Jahr 1489 und zeigt in geschlossenem Zustand auf den beiden Seitenfliigeln er-
neut Welf IV. und seine Frau Judith von Flandern.70 Beide werden in hofischer
Kleidung des spaten 15.Jahrhunderts dargestellt. Welf IV. halt der Stifterein Kir-
chenmodell in der Hand, wahrend Judith in ihrer rechten Hand die Heilig-Blut-
Reliquie tragt.
Wahrend bei den bislang genannten Bildern aus Weingarten die motivische
Abhangigkeit voneinander gut erkennbar war, sind im vorliegenden Fall der Bild-
70 Stuttgart, Wiirttembergisches Landesmuseum, Ulmer Kiinstler (?); Norbert Kruse,
A 6 Die Heilig-Blut-Tafel von 1489 (geoffneter Zustand) und A 7 Die Heilig-Blut-Tafel von
1489 (geschlossener Zustand), in: 900 Jahre Heilig-Blut-Verehrung. Katalog, wie Anm. 46,
S. 17-20, siehe auch Rainer Jensch, Das Heilige Blut in der Bildenden Kunst, in: 900 Jahre
Heilig-BlutA^erehrung. Festschrift 1, wie Anm. 21, S. 209-249, hier S. 212-215 und S. 210f.
Abb. 149; Rudolf/ Gunthor, wie Anm. 49, S. 18 und S. 20f.
272 Nathalie Kruppa
tafeln eigenstandige Bildtraditionen zu erkennen, die nichts mit der bisherigen
Uberlieferung gemein haben. Auch haben diese Darstellungen keine Nachfolge
erfahren und sind als singular anzusehen.
Vor allem in Weingarten haben sich zahlreiche weitere Bilder erhalten, die die
Welfen im Zusammenhang mit der Heilig-Blut-Reliquie zeigen.71 Neben einer
jiAngeren Heilig-Blut-Tafel von 1604 72 zahlen hierzu die beiden Jubilaumstafeln
von 1694 und 1755, 73 das Gemalde mit derUbergabe des heiligen Blutes aus der
Zeit um 1730 sowie der sogenannte Weingartener Heiligenhimmel von 1756.74
Dazu kommt eine Darstellung der Judith - sowie Kaiser Heinrichs III. - aus dem
19. Jahrhundert,75 die sich beide heute in der Welfengruft der Klosterkirche be-
finden. Ferner hat Gabriel Bucelin nicht nur einige Bilder der Stifterbiichlein in
seinen Handschriften wiederholt, sondern auch eigene Aquarelle der Welfen ge-
schaffen.76 SchlieBlich sind noch in zwei mittelalterlichen Evangeliaren Stifterbil-
71 Der Zusammenhang zwischen den Welfen und der Hl.-Blut-Reliquie war im Kloster
nicht nur in der bildenden Kunst gegeben, sondern auch in baulichen Zusammenhangen. In
der romanischen Klosterkirche befand sich die Grablege der Welfen in der Oswald-Kapelle
im Westen der Kirche. Benachbart befand sich in der Zeit zwischen 1276 und etwa 1487 die
Hl.-Blut-Kapelle im Nordturm der Kirche. Beim barocken Neubau der Klosterkirche wurde
sowohl die Grablege als auch der Reliquienort verlegt. Die Grablege befindet sich nun un-
terhalb nordlichen Seitenschiffs und der Hl.-Blut-Altar bzw. der Reliquienort waren zwi-
schen 1724 und 1731 daruberim Seitenschiff. Wegen Pilgerstromen wurde die Reliquie bzw.
ihr Altar nach einigenjahren in die Vierung der Kirche verlegt, vgl. Konrad Hecht, Die mit-
telalterlichen Bauten des Klosters insbesondere die beiden ersten Minister, in: Festschrift
zur 900-Jahr-Feier des Klosters 1056-1956, Weingarten 1956, S. 254-327, hier S. 286ff. mit
Abb. 15 zur mittelalterlichen Altaren und Kapellen der Klosterkirche; Hans Ulrich Rudolf,
Kapellen - Altare - Reliquiare. Die Aufbewahrung des Heiligen Bluts im Uberblick, in: 900
Jahre Heilig-Blut-Verehrung. Festschrift 1, wie Anm. 21, S. 251-280, bes. S. 251-262; Abbil-
dung der Oswald-Kapelle von Gabriel Bucelin ebd. S. 10 Abb. 8.
72 Jensch, wie Anm. 70, S. 215ff. S. 24f. Abb. 30 und S. 215 Abb. 153 (Ausschnitt) .
73 Jubilaumstafel von 1694: ebd., S. 234-238 und S. 235 Abb. 173; Jubilaumstafel von
1755: ebd., S. 239ff. und S. 239 Abb. 175.
74 Ubergabe des HI. Blutes, Gemalde von ca. 1730: ebd., S. 217 und S. 216 Abb. 154;
Weingartener Heiligenhimmel von 1756: ebd., S. 240 Abb. 176.
75 Norbert Kruse, K 2 1 f. , in: 900 Jahre Heilig-Blut-Verehrung. Katalog, wie Anm. 46,
S. 108f.; Abbildung: 900 Jahre Heilig-Blut-Verehrung. Festschrift 1, wie Anm. 21, S. 73
Abb. 88 f.
76 Stuttgart, Wurttembergische Landesbibliothek, (unter anderem) HB V, 4; HB V, 4a;
HB V, 5 und HB V, 7; vgl. Wolfgang IRTENKAUF/Ingeborg Krekler, Die Handschriften der
Wiirttembergischen Landesbibliothek Stuttgart 2: Die Handschriften der ehemaligen Ko-
niglichen Hofbibliothek: 2,2: Codices Historici, Wiesbaden 1975, S. XVI XXII, S. 3-32. Ne-
ben den verschiedenen Welfen-Stammbaumen in den Bucelin-Handschriften sowie auch
Kopien der Zeichnungen der Stifterbiichlein sind beispielsweise in der Handschrift HB V, 7
auf fol. 617r, 618r, 619r, 620r, 621r, 622r, 623r einige der Welfen als Reiterstandbilder ge-
zeichnet. Zu ihnen gehoren die Darstellungen Welfs I., Etichos, Welfs IV., Welfs V, Hein-
Illuminierte Herrscher 273
der der Judith von Flandern iiberliefert.77 Diese wurden aber nicht in Weingarten
hergestellt, sondern dem Kloster durch die Herzogin geschenkt.
Der immer wiederkehrende Zusammenhang der Darstellungen der Welfen
mit dem der Heilig-Blut-Reliquie zeigt, daB die Reliquie und ihre Stifter eine
groBe Rolle fiir das Kloster spielten und sie in einem gemeinsamen Zusammen-
hang gesehen wurden. Zweifellos war die Memoria fiir Welf IV. und Judith im
engeren und fiir die Welfen im weiteren Sinne mit dieser bedeutenden Reliquie
verbunden.
Weitere Welfenbilder befinden sich heute im Audienzsaal der Padagogischen
Hochschule Weingarten, die in den Gebauden der barocken Abtei untergebracht
ist. Diese sind ihren Motiven nach auBergewohnlich und mit keinen derbisherer-
wahnten Bilder in Verbindung zu bringen. Auf sechs bzw. acht Olgemalden des
17. Jahrhunderts werden Welfen in einer iiberraschenden Auswahl prasentiert.
Gezeigt werden Welf II., Welf III., Welf IV. undjudith von Flandern, Welf V. und
sein B ruder Heinrich der Schwarze. Zudem gehoren die Konige Pippin d.J. und
Heinrich von Bohmen78 sowie der Heilige Benedikt und der Heilige Alto sowie
einige Abte des Klosters zu dieser Bildergalerie. Die Anwesenheit Pippins ist zu
erklaren, da er die Griindung des HI. Alto, Altomiinster, unterstiitzte. Dieses wie-
derum war der urspriingliche Ort des Benediktinerkonvents von Weingarten.
Von daher kann Pippin auch als ein Unterstiitzer Weingartens betrachtet werden.
richs des Schwarzen, Judiths von Flandern und Wulfhilds Billung. In der Handschrift HB V,
5 hat Gabriel Bucelin einige der Welfen in hofischer Kleidung seiner Zeit nochmals gezeich-
net. Zu den hier ausgewahlten gehoren: fol. 535r: Isenbart, fol. 538v: Welf I., fol. 541 r: Heil-
wig, fol. 541 v: Ludwig der Fromme, fol. 542 v: Judith, fol. 543 r: Kaiser Ludwig, fol. 543 v: Ju-
dith, Konigin der Angelsachsen, Frau Etichos(-Welfs), fol. 544r: Eticho(-Welf), fol. 545v:
Heinrich („mit dem goldenen Wagen"), fol. 549 r: Welf II. und Abt Rudolf von Altomiinster,
fol. 550r: Welf II., fol. 554r: Welf III., fol. 567r: unterhalb der von zwei Putten gehaltenen
HI. -Blut- Reliquie Welf V. und Heinrich der Schwarze. In der Regel fiigte Bucelin zu den Bil-
dern kurze beschreibende Texte bei, in den Fall der Reiterstandbilder als Inschriften im Sok-
kel, in dem anderen Fall begleitend rechts und links der gezeigten Personen.
77 New York, Pierpont Morgan Library, MS. 709, fol. 1 v (Kreuzigungsszene mitjudith-
Darstellung am FuB des Kreuzes) und Fulda, Landesbibliothek, Aa 21, fol. 2v (Widmungs-
bild der Judith); Abbildung: 900 Jahre Heilig-Blut-Verehrung. Festschrift 1, wie Anm. 21,
S. 4 Abb. 2 und S. 66 Abb. 82; vgl. zu der erstgenannten Handschrift ferner Christine Jakobi-
Mirwald, Kreuzigung und Kreuzabnahme in den Weingartener Handschriften des 12. und
13. Jahrhunderts, in: ebd. S. 185-208, bes. S. 186f.
78 Konig Heinrich, Inschrift HENRICUS REX BOHEMIAE, DVX CARINTHIAE,
COMES TIROLIS ; Heinrich, Herzog von Karnten und Graf von Tirol, der 1307 gegen den
Widerstand der Habsburger zum Konig von Bohmen - wohl aufgrund seiner Ehe mit der
Premyslidin Anna - gewahlt worden war. Seine Eltern waren Meinhard II. von Gorz-Tirol
und die Wittelsbacherin Elisabeth, die Witwe Konrads IV.
274 Nathalie Kruppa
Eine Verbindung Konig Heinrichs von Bohmen (f 1335) zu Weingarten ist hin-
gegen nicht erkennbar.
Die Darstellungder Welfen (Abb. 11: Welf IV.) undihre Auswahl ist ungewohn-
lich. Wenn nicht Welf I. fehlen wiirde, konnte man meinen, daB vor allem diejeni-
gen Mitglieder der Familie zusammengestellt wurden, die „Welf" hieBen. Aber
auch hier gibt es zwei Ausnahmen: Judith von Flandern79 sowie Heinrich der
Schwarze. Judiths Bedeutung fur Weingarten ist bereits dargestellt worden. Auf-
fallig hingegen ist das Fehlen Welfs VI. oder Heinrichs „mit dem goldenen
Wagen", der in den schriftlichen Quellen des Mittelalters als Griinderdes Klosters
gait. Wahrend Judith in den sonst bekannten Darstellungen mit der Heilig-Blut-
Reliquie gezeigt wird und sie dabei stets ein Reliquienkastchen in Handen hat,
wie es seit derZeit AbtBertolds (1200-1232) in Weingarten vorhanden war,80 wur-
de bei diesem Gemalde eine andere Form gewahlt. Judith halt nicht das Reliquiar
in ihren Handen, sondern einen Krug. Im Bildhintergrund ist - in einem zweiten,
eingeschobenen Bild - die Ubergabe der Reliquie an die Herzogin zu sehen.
Welf IV. (Abb. 11), der hier stellvertretend abgebildet wird, ist mit einem hel-
len, weiB-goldenen Untergewand bekleidet, dariibertragt er einen blau-goldenen
Mantel ohne Armel. Eine goldene Kette und ein Giirtel schmiicken den Herzog,
seine linke Hand stiitzt er auf sein Schwert, mit der rechten halt er einen Federkiel,
mit dem er etwas auf einem Blatt notiert. Er erscheint vollbartig und mit kurzen
halbdunklen Haaren sowie mit einem groBen Hut mit einer blauen Feder. Der
Bildhintergrund ist dunkel, links ist ein blauer Vorhang, rechts oben ein kleines
Bild eingeblendet. Auf diesem sind eine Felsenlandschaft und ein Ochsenge-
spann zu erkennen. Ein Zusammenhang mit der Person des Welfen ist nicht zu
finden. Inschrift: GVELPHVS QVARTVS. Wer diese Bildergalerien der Welfen
und Abte wann und zu welchem Zweck malte, ist unbekannt. Sie wurden Mitte
der 50er Jahre des vorigen Jahrhunderts im Fundus des Klosters wiederentdeckt
und im Zuge der Restaurierung der Klostergebaude 1952/56 an ihren heutigen
Aufbewahrungsort, den Audienzsaal, gebracht.
Die Darstellungen der Welfen in den siiddeutschen Klostern Weingarten, Steinga-
den und Rottenbuch, von denen hier ein Teil iiberblicksartig vorgestellt wurde,81
79 Abbildung: siehe 900 Jahre Heilig-Blut-Verehrung. Festschrift 1, wie Anm. 21, S. 269
Abb. 208.
80 Das Reliquiar ist in seiner Form bis heute nahezu unverandert erhalten, wenn auch in
einer zuletzt 1956 erschaffenen Version. Heute wird es im Hauptaltar der Klosterkirche auf-
bewahrt. Rudolf, wie Anm. 71, S. 268-278 mit zahlreichen Abbildungen. Zu der Reliquie
siehe auch Norbert Kruse, Der Weg des Heiligen Blutes von Mantua nach Altdorf- Weingar-
ten, in: ebd. S. 57-76.
81 Eine umfangreiche Ausarbeitung der hier skizzierten Phanomene ist geplant.
Illuminierte Herrscher
275
Abb. 11:
Weingarten,
Pddagogische
Hochschule,
Audienzaal:
WelflV.
(Foto: Kruppa).
zeigt eine bestimmte Auswahl. Je weiter das Leben der Personen zuriicklag, desto
unklarer wurden die Darstellungen und knapper die begleiteten Texte, wie z. B.
die Asam-Fresken oder aber auch die begleitenden Texte in den Stifterbiichlein
zeigen. Deutlich wird dies vor allem auch im Fall der Welfengenealogie in
Steingaden (Abb. 1), die eine eigene Legende des Welfennamens zeigt, nicht nur
die ,iibliche' Catilina-Erklarung, wie sie in der Historia Welforum iiberliefert ist.
Die Geschichte von Isenbart, seiner Frau Irmentrud und ihrer zwolf Sonne, der
„kleinen Welpen", zeigt eine Variante des spielerischen Umgangs mit dem Wel-
fen-Namen. In der Genealogia Welforum sowie in der Historia Welforum gehen die
Autoren im fiinften bzw. zweiten Kapitel auf die Herkunft des Welfennamens ein.
In beiden Texten beruht die Gleichsetzung des Namens ,Welf = Catilina (= catu-
lus) . Zugleich berichten die Autoren von einem Adligen, der seinen Aufenthalt
beim Kaiser abkiirzen wollte, weil seine Frau ein Kind geboren hat. Der Kaiser
bemerkte, daB er ihn fur einen „Welfen" - gleichzusetzen mit Welpen? - verlassen
wollte, worauf dieser meinte, der Kaiser hatte seinem Sohn einen Namen gege-
276 Nathalie Kruppa
ben.82 Diese Berichte fiihrten dazu, daB in der Forschung die Entwicklung des
Welfennamens „Welf" = „Welpe" = leo [(kleiner) Lowe] verfolgt wurde, und
schlieBlich, daB die Bezeichnung leo, wie sie vor allem bei Heinrich dem Lowen
iiberliefert ist, fur die Zugehorigkeit zur Welfenfamilie stehen sollte. Diese Gleich-
setzung hat sich angeblich im 12. Jahrhundert entwickelt, bildlich soil sie in der
Symbolik des welfischen Lowenwappens auf Siegeln und Miinzen sowie schlieB-
lich 1166 im Braunschweiger Burglowen zum Ausdruck gekommen sein.83
In keinem der anderen Kloster ist die vorgenannte Steingader Geschichte so-
weitbekannt odergangig, daB sie bildlich dargestellt wurde.84 Die Illustrationen
der Welfengenealogie in Steingaden weisen aber noch weitere Besonderheiten
auf: Die erwahnte Illustration Ethelindes von Northeim, der ersten Frau
Welfs IV., gehort ebenso dazu wie das Bildnis Heinrichs des Stolzen mit seiner Fa-
milie, die - bis auf die Bilder in den Stifterbiichlein - in keinem der anderen Klo-
ster belegt sind.
Stabil hingegen ist die Abfolge der anderen Darstellungen: Heinrich - Welf -
Rudolf - Welf II. bis Welf VI. und Heinrich den Schwarzen. Diese - durch
Schriftquellen belegte Genealogie - wird in verschiedenen Bildern, die zum Teil
motivisch voneinander abhangen, gezeigt. Eine besondere Rolle spielten vor al-
lem in Weingarten und Rottenbuch Welf IV. und Judith von Flandern, wahrend
Welf VI. und seinem Sohn eine herausragende Rolle in Steingaden zuerkannt
wurde. In alien drei Fallen war die Stifterrolle der Ausloser.
Die Wiederaufnahme der Darstellungen der Welfen in den drei erwahnten
Klostern im Zuge der Renovierungen und Barockisierungen (Rottenbuch und
Steingaden) bzw. dem barocken Neubau (Weingarten) laBt sich problemlos erkla.-
ren. Wenn auch die damaligen norddeutschen Welfen an den Arbeiten nicht be-
82 Genealogia Welforum, wie Anm. 1, cap. S. 24; Historia Welforum, wie Anm. 1,
cap. 2, S. 36/38; vgl. hierzu Becher, wie Anm. 4, S. 172-176.
83 Siehe Peter Seiler, Welfischer oder koniglicher Furor? Zur Interpretation des Braun-
schweiger Burglowen, in: Xenja von Ertzdorff (Hg.), Die Romane von dem Ritter mit dem
Lowen, Amsterdam 1994, S. 135-183, mit Zusammenfassung und Kommentaren zu der bis-
herigen Erforschung des Welfennamens; vgl. hierzu Becher, wie Anm. 4, S. 156-198; siehe
auch Dirk Jackel, Der Herrscher als Lowe. Ursprung und Gebrauch eines politischen Sym-
bols im Friih- und Hochmittelalter, Koln/ Weimar /Wien 2006, S. 48-74 gegen die mittelal-
terliche Gleichsetzung „Welf" = catulus = leo; alle mit weiterfiihrenden Literatur.
84 Allerdings ist diese Sage nicht vollig unbekannt, fand sie doch Eingang in die Sagen-
Sammlung der Briider Grimm, siehe Briider Grimm, Deutsche Sagen 2, hrsg. von Hans-Jorg
Uther, Miinchen 1993, S. 463 f., nach Reiner Reineccius, Chronica des Chur- u[nd] Fiirstli-
chen Hauses der Marggraffen zu Brandenburg etc. Burggraffen zu Nurnberg etc. darinen 6r-
dentlich verfasset, erstlich zwo unterschiedliche kurtze Beschreibunge von der uhralten
Welffen, Hertzogen zu Bayern, Graffen zu Altorff, Herrn zu Ravesburg etc. . . ., Wittenberg
1580, S. 12-23.
Illuminierte Herrscher 277
teiligt waren und diese Kloster ignorierten, wurden die friihen Welfen hier weiter-
hin als Stifter gefeiert. So fallen letztendlich all die Abbildungen in den Bereich
der liturgischen Memoria, denn ein groBer Teil der Bilder befand sich im kirchli-
chen Bereich der Kloster. Die heute erhaltenen Bilder gehen zwar nur ungefahr
bis zum Jahr 1500 zuriick, es ist aber wahrscheinlich, daB es in den Klostern im-
mer Welfenbilder gegeben hat. Im Fall von Steingaden ist dies durch das gemein-
same Epitaph Welfs VI. und des VII. belegt, das im Stich Josef Anton Zimmer-
manns iiberliefert ist. In Weingarten deutet dies eine Zeichnung Bucelins an. Die
Darstellung der St.-Oswald-Kapelle der vorbarocken Klosterkirche zeigt zwolf
Bilder der hier bestatteten Welfen als Epitaphien an der Wand der Kapelle.85 Fer-
ner sind an einem Stuck der erhaltenen Mauer des Siidschiffs der romanischen
Klosterkirche Reste von Fresken mit Welfenbildern in ganzer Figur erhalten.86
In alien Klostern brechen die Darstellungen der Welfen mit Welf VI. oderHein-
rich dem Schwarzen ab. Die „welfischen" Schriftquellen und die Stifterbiichlein
bieten eine Erklarung dafiir. Nicht Heinrich der Stolze und sein Sohn Heinrich
der Lowe galten in den Quellen als Nachfolger Welfs VI., sondern Friedrich Bar-
barossa und dessen Sonne. Die Historia Welforum erklart dies mit den Erbver-
handlungen Welfs VI. mit seinem Neffen Heinrich dem Lowen und dann dem
Kaiser. Im Weingartener Necrolog wurde es sogar mit der Bemerkung verdeut-
lich, Welf VI. sei der letzte Welfe - Welfo dux ob[iit], Welfonium ultimus.87 In der
Handschrift Fulda, Landesbibliothek D 11, die sowohl das Weingartener Necro-
log als auch die alteste dortige Historia- Welforum-Handschrift enthalt, wird dies
besonders deutlich dargestellt. Diese Handschrift, nachtraglich aus mehreren ur-
spriinglich unabhangigen Manuskripten zusammengebunden, zeigt auf fol. 13v
die letzte Seite des Necrologs mit dem oben angesprochenen beriihmten Welfen-
stammbaum und - in der Art eines Widmungsbildes - auf fol. 14 r die erste Seite
85 Stuttgart, Wiirttembergische Landesbibliothek, HB V, 3, fol. 180r; Abbildung: Ru-
dolph/Gunthor, wie Anm. 49, S. 6; vgl. auch die Tabelle im Anhang.
86 Hecht, wie Anm. 71, S. 261f.
87 Necrologium Weingartense, in: MGH Necrologia 1, wie Anm. 27, S. 230: Welfo dux
ob., Welfonium ultimus, filius Heinrici ducis, qui inter alia beneficia dedit nobis duas curias
Berge et Willare. Vgl. auch E Continuatione Chronici Hugonis a S. Victore Weingartensi, wie
Anm. 1, S. 98: Anno MCXCI XVIII Kal. Januarias Welfo nobilis Altorfensis, principum nostrorum
illustrissimus, Heinrici ducis videlicet et Woulfhildis filius, came solutus migravit a saeculo. In quo
nobilitas Altorfensium non mediocriter completa desiit (Sperrungen Kruppa). Eine
andere, allerdings vereinzelte Darstellung aus Sachsen bittet die Chronik des Klosters St.
Michael in Liineburg: Iste predictus Ottonis [Otto das Kind von Braunschweig-Liineburg
(t 1252)] filius Willehelmi, solus superstes illius nobilissime generationis, que de Althorp et Ravens-
burg nominatur . . ., nach Ludwig Weiland (Hrsg.), Chronicon s. Michaelis Luneburgernsis,
in: MGH SS 23, Hannover 1874, S. 397.
278 Nathalie Kruppa
der Historia Welforummit derDarstellungFriedrich Barbarossas und seiner Sohne
Heinrich VI. und Friedrich von Schwaben.88 Neben den vorhin erwahnten Be-
gleittexten der Stifterbiichlein und der dortigen Bilder ist dies ein deutlicher
Hinweis, daB die Weingartner die Staufer als die wahren Welfenerben, ja letztiich
als Welfen angesehen haben.
Nicht nur in Weingarten gab es einen Traditionsbruch. Auch die norddeut-
schen Welfen, Heinrich der Lowe und seine Nachkommen, vollzogen einen sol-
chen. Auf dem beriihmten Kronungsbild aus dem Evangeliar Heinrichs des Lo-
wen werden seine Vorfahren gezeigt: 89 So ist sein Vater Heinrich der Stolze dar-
gestellt, daneben seine Mutter Gertrud von Siipplingenburg - und allein deren
Eltern, Kaiser Lothar III. und Richenza von Northeim. Ebenso betont die Weihe-
notiz des Marienaltars in der Braunschweig Stiftskirche St. Blasius die Herkunft
Heinrichs von Lothar (filio filie Lotharii) .90 In eine ahnliche Richtung lieBe sich
auch das Widmungsgedicht des Evangeliars interpretieren, das erwahnt, daB
Heinrich ein Nachkomme der Karolinger ist und auf seine kaiserlichen Ahnen -
also neben den Karolingern wieder auf Lothar - hinweist,91 denn seine Karolin-
88 Abbildungen: Heinrich der Lowe und seine Zeit 1, wie Anm. 1, S. 64 (Stammbaum)
und S. 69 (Stauferbild); vgl. Oexle, wie Anm. 31, passim.
89 Abbildung des Kronungsbildes: Heinrich der Lowe und seine Zeit 1, wie Anm. 1,
S. 152 D 31.
90 Heinrich der Lowe und seine Zeit 1, wie Anm. 1, S. 193f. D 26: + ANNO . D(omi)NI .
M . C . LXXX . VII . DEDICATV(m) . EST . HOC . ALTARE IN HONORE . BEATE . DEI
. GENITRICIS . MARIE . / + AB . ADELOGO . VENERABILI . EP(iscop)0 . HIL-
DESEM(en)SI . FVNDATE . AC . PROMOVE(n)TE . ILLVSTRI . DUCE . HENRICO . /
+ FILIO . FILIE . LOTHARII . INPERATORIS . ET RELIGIOSISSIMA . EVIS . CON-
SORTE . MATHILDI . / + FILIA . HENRICI . SECVNDI . REGIS . ANGLOR(um) . FILII
. MATHILDIS . I(m)P(er)AT(r)ICIS . ROMANOR(um). Zum Altar siehe ebd. S. 192ff. D
26; Oexle, Adliges Selbstverstandnis, wie Anm. 3, S. 63f. zu der Weihenotiz, zum Her-
kunftsbewuBtsein Heinrichs siehe ebd. S. 71-75.
91 Zum Widmungsgedicht siehe beispielsweise: Elisabeth Klemm, Das Evangeliar Hein-
richs des Lowen, Frankfurt am Main 1988, S. 36f. und Taf. 1; siehe auch Odilo Engels, Fried-
rich Barbarossa und die Welfen, in: Jehl, wie Anm. 2, S. 59-74, hier S. 67-72; und die ver-
schiedenen Arbeiten von Oexle, die sich mit der welfischen Memoria beschaftigen, wie z.B.
Oexle, Memoria Heinrichs des Lowen, wie Anm. 3; Ders., Welfische Memoria, wie Anm. 3,
S. 85-90; Ders., Fama und Memoria, wie Anm. 3. Bernd Schneidmuller, Kronen im gold-
glanzenden Buch: Mittelalterliche Welfenbilder und das Helmarshausener Evangeliar Hein-
richs des Lowen und Mathildes, in: Ingrid Baumgartner (Hrsg.), Helmarshausen. Buchkul-
tur und Goldschmiedekunst im Hochmittelalter, Kassel 2003, S. 123-146, bes. S. 127-131 zum
Widmungsbild und -gedicht, S. 127 zur urspriinglichen Bindung der Handschrift, nach der
das Widmungsgedicht sowie das Stifterbild wahrscheinlich nebeneinander standen,
S. 132 ff. zum Kronungsbild und der Auswahl der Vorfahren des Paares, die - wie im Ge-
dicht - vor allem die koniglichen und kaiserlichen Ahnen betonten.
Illuminierte Herrscher 279
gerherkunft ist iiber Lothars Ehefrau Richenza von Northeim und ihre brunoni-
sche Mutter Gertrud abzuleiten.92
Die Abgrenzung Heinrichs des Lowen von seinen siiddeutschen Vorfahren
wird noch an einem weiteren Punkt deutlich: der Namensgebung seiner Kinder.
Keines trug einen „welfischen" Namen wie WelLJudith, Konrad oder Rudolf. Nur
der Name Heinrich, den zwei seiner Sonne aufwiesen, konnte auf die Welfen ver-
weisen, aber spatestens bei Pfalzgraf Heinrich, dem jiingeren gleichnamigen
Sohn des Herzogs, kann derNamenspate ebensogut dessen englischerGroBvater,
Konig Heinrich II., gewesen sein.93
Die vorgestellten Welfen-Bilder zeigen, daB vor allem in den drei siiddeutschen
92 Schneidmuller, wie Anm. 91, S. 127 weist darauf hin, daB auch iiber die Welfen
selbst - iiber Judith von Flandern - eine Karolingerverwandtschaft Heinrichs des Lowen be-
stand. Judith von Flandern bzw. ihre Familie waren tatsachlich iiber zwei Vorfahrinnen mit
den Karolingern verwandt. Zu einen war da die Ahnin der Grafen von Flandern, Judith
(t nach 870), die Tochter Karls des Kahlen (f 877), die Balduin I. (f 879) entfiihrte und ehe-
lichte, zum anderen die Ehefrau Arnulfs I. von Flandern (t 964), Adela von Vermandois
(t 960), die aus einer Karolingernebenlinie (Nachkommen Karlmanns gen. Pippin, Konig
von Italien [f 810]) abstammte, vgl. Adriaan Verhulst, Art. Flandern, in: Lexikon des Mit-
telalters 4, 1989, Sp. 514-518, hier Sp. 514; Erich Brandenburg, Die Nachkommen Karls des
GroBen. Faksimile-Nachdruck mit Korrekturen und Erganzungen versehen von Manfred
Dreiss und Lupoid von Lehsten, Neustadt an der Aisch 1995, Tafel 1, 2, 5 sowie S. 109
Anm. 1, S. Ill Anm. 33, S. 114 Anm. 3, S. 116 Anm. 20; Karl Ferdinand Werner, Die Nach-
kommen Karls des GroBen bis um das Jahr 1000, in: Wolfgang BRAUNFELs/Percy Ernst
Schramm (Hrsg.), Karl der GroBe. Lebenswerk und Nachleben 4: Das Nachleben, Diissel-
dorf 1967, S. 403-482, passim. Die Karolingerherkunft Richenzas von Northeim (f 1141) ist
iiber die Familie ihrer Mutter, Gertrud d. J. „von Braunschweig" (t 1117) und ihre UrgroB-
mutter, (Kaiserin) Gisela von Schwaben (f 1043), gegeben. Diese stammte miitterlicherseits
aus dem burgundischen Konighaus der Rudolfinger und ihre GroBmutter Mathilde d'Outre
Mer (f 981/82) war eine Karolingerin, Tochter Ludwigs IV. (f 954), der zu den Nachkom-
men Kaiser Karls des Kahlen (t 877) gehorte, vgl. Brandenburg, wie eben, Tafel 1 und 5 so-
wie S. 118 Anm. 33, S. 121f. Anm. 52; Rudolf Schieffer, Die Karolinger, Stuttgart 42006,
Stammtafel 6; Schneidmuller, Welfen, wie Anm. 1, S. 90.
93 Somit bliebe nur Heinrichs des Lowen altester Sohn Heinrich, der in jungen Jahren
verstarb, als Trager eines „welfischen" Namens iibrig. Die Tochter Gertrud (f 1196) aus der
Ehe mit Clementia von Zahringen ist sicher nach ihrer GroBmutter, Gertrud von Supplin-
genburg, benannt. Richenza (f als Kind), die alteste Tochter Mathildes von England, tragt
den Namen Kaiserin Richenzas, der GroBmutter Heinrichs des Lowen; Lothar (f 1190) si-
cher den seines GroBvaters, Kaiser Lothar III. Wilhelm (f 1212/13) weist wiederum in die
Familie Mathildes, auf die Anjou-Planaganet hin, wahrend Mathilde (f vor 1219) - sowie ih-
re Schwester Richenza (f 1208/09), die spaterin Mathilde umbenannt wurde - auf ihre Mut-
ter sowie ihre UrgroBmutter, die Mutter Konig Heinrichs II., verweisen, Jackel, wie
Anm. 83, S. 62-67, der im Ubrigen die Ansicht vertritt, daB Heinrich der Lowe sich vor allem
auf seine sachsischen und nicht auf die welfischen Vorfahren berief.
280 Nathalie Kruppa
Welfenklostem Weingarten, Steingaden und Rottenbuch mit verschiedener Ge-
wichtung ihrer Griinder und Forderer gedacht wurde. Schon das Mittelalter legte
hier die Grundlagen, ausjedem der mit den Welfen verbundenen Klosterist min-
destens eine Abschrift einer Historia Welforum bekannt. Diese sind grundsatzlich
mit einem graphischen Welfen stammbaum verbunden. Ab dem spaten Mittelal-
ter, dem 15. Jahrhundert, sind auch andere bildliche Darstellungen iiberliefert.
Wahrend sich diese in den Stiften Steingaden und Rottenbuch auf ihre Stifter
konzentrierten, im Fall von Steingaden auf Welf VL und seinen Sohn Welf VII.,
in Rottenbuch auf Welf IV und seine Frau Judith von Flandern, waren in Wein-
garten die Darstellungen umfassender. In seiner Funktion als das Grabkloster der
friihen Welfen, von Heinrich „mit dem goldenen Wagen", also ab dem 10. Jahr-
hundert, bis zu Heinrich dem Schwarzen und seiner Frau Wulfhild Billung sowie
einer ihrer Tochter, Sophia, dienten diese Bilder der Erinnerung, der Memoria,
der Familie. Diese endete nicht mit dem Wegzug der Welfen, Heinrichs des Stol-
zen und seiner Nachkommen, nach Sachsen, und auch nicht mit dem Aussterben
der Staufer in der Mitte des 13. Jahrhunderts, sondern wurde in der gesamten frii-
hen Neuzeit, bis zur Aufhebung der Kloster wahrend der Sakularisation weiter
gepflegt.
281
Anhang
Die in Weingarten den verschiedenen Quellen zufolge
bestatteten Welfen
Necrologium
Gabriel Bucelin
Asam-Fresken,
Inschrift
Weingartense,
in: Stuttgart,
nach den
in der heutigen
wie Anm. 87,
Wiirttembergische
Abbildungen in:
Welfengruft,
S. 221-232.
Landesbibliothek,
Spahr,
nach Spahr,
HB V, 3 fol. 180r
wie Anm. 44.
wie Anm. 44, S. 171.
(St.-Oswald-Kapelle),
vgl. Anm. 85
(Abb.-Nachweis) .
H
einncus
HEINRICUS
ALTOFFENSIS
COMES PRIMUS
[mit „dem goldenen
Wagen"] ...
OSSA EIUS ...
HUC TRANSLATA
SUNT
Hatta
HATTA COMITIS-
SA AB HOCHEN-
WART ... OSSA
EIUS ... SUNT
TRANSLATA
08.02.: Heinricus com.
[Bruder Welfs II.],
filius Ruodolfi comitis,
hie sepultus ...
Heinricus
. . . filii eius [Rudolfi]
Henricus ...
05.03.: Judita dux,
regina Anglie, hie
sepulta ...
Judith
IUDITHA ... FI
LIA BALDUINI
FLANDRIAE
COM. ... AN:
MXCIIII. HIC
SEPULTA
Juditha conjux eius
[WelflV.].
10.03.: Rudolfus
com.,fratersancti
Chuonradi . . .
Rudolph
RUDOLPHUS
FILIUS HENRICI
... OSSA EIUS ...
TRANSLATA
Rudolphus .
282
Nathalie Kruppa
Necrologium
Gabriel Bucelin
Asam-Fresken,
Inschrift
Weingartense,
in: Stuttgart,
nach den
in der heutigen
wie Anm. 87,
Wiirttembergische
Abbildungen in:
Welfengruft,
S. 221-232.
Landesbibliothek,
Spahr,
nach Spahr,
HB V, 3 fol. 180r
wie Anm. 44.
wie Anm. 44, S. 171.
(St-Oswald-Kapelle),
vgl. Anm. 85
(Abb.-Nachweis).
10.03.: ... et Welf [II.] Guelpho
filius eius [Ruodol-
fi\, ... hie sepulti ...
11.07.: Suophia com" Sophia
de Stira, hie sepulta . . .
GUELPHO II.
... OSSA EIUS
HIC SEPULTA
SOPHIA FILIA
HENRICI ... HIC
SEPULTA
... filii eius
[Rudolfi] ... WelfoII.
24.09.: WelfPinguis
dux [V.], hie sepultus
09.11.: Welfodux
senior [IV.], hie
Guelpho
Guelpho
sepultus .
GUELPHO V.
DUXNORI
COUM ... AN:
MCXVIII. HIC
SEPULTUS
GUELPHO IV.
DUXNORICO
RUM ... ANNO
MCI. HIC
SEPULTUS
Welfo V, dux
Bavariae.
Welfo IV. dux
Bavar., Sator
posted, familiae.
13.11.: Welfodux
Carinthie [III.], hie
sepultus ...
13.12.: Heinricus dux
[der Schwarze] et
m.n.c, ..., hie sepultus
Guelpho
Heinricus
GUELPHO III.
DUX CARIN
THIAE ... AN:
MLV HIC
SEPULTUS
Welfo III.
Henricus Niger, dux,
29.12.: Wuolhildis
[Billung] ducissa, hie
sepulta
Wulphild
conjux eius [Henric
Niger] Wulphilidis
Organisationsstrukturen der Bergbauverwaltung
als Elemente des fruhneuzeitlichen
Territorialstaates
Das Beispiel Braunschweig-Wolfenbuttel
Von Hans-Joachim Kraschewski
Fur Karl Heinrich Kaufhold, Gottingen,
zum 75. Geburtstag
Die Landesherren in Zentral-Europa, die Inhaber des Bergregals waren, bemiih-
ten sich seit dem 16. Jahrhundert zunehmend, die Kontrolle iiber den finanziell
lukrativen Bergbau auszudehnen, um am Bergsegen in ihren Landern nicht nur
durch fiskalische Abgaben, sondern auch durch eigene unternehmerische Aktivi-
taten und direkte Unternehmergewinne teilzuhaben. Sie sahen sich nicht mehr
nur als Regalherren ihres Montanwesens, sondern auch als verantwortliche tech-
nische und okonomische Leiterdes Bergbaus. Dabeigelang es ihnenjedoch nicht
iiberall in gleicher Weise, die starke Position der alten Montanreviere und Berg-
stadte zu untergraben und die wirtschaftliche und soziale Stellung der patrizi-
schen Bergherren zu brechen.
Ein deutlicher Beschleunigungsfaktor lag dieser langerfristigen Entwicklung
zugrunde: das Zuriickdrangen der stadtisch-okonomischen Vormacht wurde ge-
stiitzt durch den gesellschaftlichen Aufstieg jener friihmodernen, staatlich privi-
legierten Funktionstrager im ausgehenden 16./Anfang des 17. Jahrhunderts, die
ihre montanwirtschaftlichen Vorstellungen mit Erfahrungswissen verbanden.
Diese Fachleute hatten als begleitende Akteure der Entstehungsprozesse des
friihmodernen Territorialstaates nicht nur einen iiberschaubaren Anteil an der
sukzessiv beschleunigten Ubernahme der Bergbauwirtschaft in den Kompetenz-
bereich des Landesherrn, sondern beeinflussten mit ihrer auf wirtschaftliche Effi-
zienz ausgerichteten Haltung dariiber hinaus die innere Entwicklung der alten
mitteleuropaischen Bergbaureviere. Die Marginalisierung des Einflusses der tra-
dierten Bergstadte beinhaltete nicht nur die Verlagerung der wirtschaftlichen
Machtverhaltnisse aus dem Umfeld des stadtischen Biirgertums in die Hand des
284 Hans-Joachim Kraschewski
friihmodernen Territorialstaates, sondern bedeutete einen weiterreichenden Pro-
zess, der alle Bereiche des biirgerlich-stadtischen Lebens umfasste und stark in
die soziale, wirtschaftliche und kulturelle Ordnung der Bergstadte eingriff.
Biindeln lassen sich diese Vorgange in der iibergreifenden Leitfrage nach dem
Verhaltnis von Stadt und Bergbau, die gerade darauf abzielt, die Wechselwirkun-
gen zwischen beiden als jeweils konstituierend und pragend zu untersuchen. Aus
der Perspektive „Zentralitat und Funktionalitat" hat am Beispiel der Bergbauorte
in den Vorderosterreichischen Montanregionen der Friihen Neuzeit Angelika
Westermann die zentralistische Ausrichtung auf „Mehrung des Kammerguts", d.
h. gates Geld und dessen Wertigkeit und Vergleichbarkeit, fur die Bergregalinha-
ber plausibel belegt.1 Denn die Herausbildung eines fruhneuzeitlichen Bergbe-
amtenstandes stellt einen wichtigen Schritt zum eigentlichen Beamtenstaat dar,
vergleichbar mit der geforderten bergmannischen Arbeitsdisziplin als Anpas-
sungsleistung der Hauer und damit Vorstufe zur Schaffung einer neuzeitlichen
Arbeitsordnung.2
Die Uberlegungen und das Engagement von leitenden Montan- und Betriebs-
beamten betrafen vor allem praktisch-technische Bereiche, wenn es zu einer Star-
kung der landesherrschaftlichen Rahmenbedingungen fiir Bergbautatigkeit kom-
men sollte: es ging um die flachendeckende „Durchorganisation"3 derTerritorien
auf dem Weg zum kameralistischen Staat, die jede Form von Selbstverwaltung,
auch die der individuellen Produzenten im Bergbau, abschaffte.
Konkrete Zielvorstellungen waren:
- Mit der Durchsetzung neuer Bergordnungen und Bergfreiheiten durch die
Landesherren sahen die Funktionstrager eine Veranderung der Produktions-
anforderungen (Steigerung der Produktionsleistung) als wesentliche Voraus-
setzung fiir ertragreichen Bergbau an,
- durch die Einfiihrung produktionstechnischer Neuerungen4 und den Uber-
1 Angelika Westermann, Zentralitat und Funktionalitat. Uberlegungen zur Bedeutung
der Bergbauorte in den Vorderosterreichischen Montanregionen der Friihen Neuzeit; in:
Karl Heinrich KAUFHOLD/Wilfried Reinighaus (Hg.), Stadt und Bergbau, Koln, Weimar
2004, S. 73-91.
2 Hans-Joachim Kraschewski, Betriebsablauf und Arbeitsverfassung des Goslarer Berg
baus am Rammelsberg vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, Bochum 2002.
3 Friedrich-Wilhelm Henning, Landliche Sozialstruktur und soziale Mobilitat im Mittel-
alter; in: Hans-Jiirgen Gerhard (Hg.), Strukturund Dimension. Festschrift fiir Karl Heinrich
Kaufhold zum 65. Geburtstag, Bd. 1: Mittelalter und Friihe Neuzeit, Stuttgart 1997, S. 195-
222, Mer S. 221.
4 Die Einfiihrung der SchieBarbeit am Rammelsberg 1671 bedeutete keinen Innovations-
schub, der vergleichbar gewesen ware mit dem im Oberharz nach 1632/33. Das Feuersetzen
blieb infolge des unregelmaBigen Firstenbaus in den Weiten der Gruben als Handhabe
Organisationsstrukturen der Bergbauverwaltung 285
gang zum Abbau von armen Erzen mussten die Forderanlagen und die dafiir
benotigte Antriebsenergie ausgebaut werden (Pumpen und der Einsatz von
Kehrradern sowie Pferdegopel),5
- eng verbunden war damit die Neuordnung der Betriebsablaufe durch die Be-
triebsplanverfahren fur alle Gruben und Zechen mit verbindlichen Betriebs-
planen und ZubuBen und
- einige Finanz- und Montanbeamte entwickelten noch weitergehende Vorstel-
lungen von einer sorgfaltigen Veranderung der Verwaltungs- und Organisa-
tionsstruktur des Bergbaus durch stetigen Einfluss und die Kontrollaufgaben
der Bergamter.
Wenn sich seit derMitte des lG.Jahrhunderts eine erhebliche Zunahme zielge-
richteter landesherrschaftlicher Eingriffe in den Bergbaubetrieb beobachten
lasst, ist als erste Voraussetzung eine Verschiebung der Eigentumsverhaltnisse im
Berg- und Hiittenwesen zugunsten des Landesherrn festzuhalten. Durch die
Reformation und die ihr nachfolgenden kriegerischen Auseinandersetzungen
gingen geistliche und stadtische Besitzanteile durch Einfiigen und Ubertragen in
landesherrlichen Besitz verloren und fielen dem Territorialfursten als Machtzu-
wachs und materielle Basis fur moderne Staatsbildung zu, sei es durch Enteig-
nung klosterlicher Vermogenswerte und deren reformationsspezifische Annexi-
on oder Umwidmung durch weltliche, z. B. adlige Besitzanspriiche.
I. Kameralismus als okonomische Kommunikation
Anders als dieses die Forschung bisherbetont hat, betrafen die wirtschaftstheore-
tischen Diskussionen des Alten Reichs keine spezifisch deutsche Entwicklung,
sondern sie sollten vielmehr als Teil einer europaischen Wirtschaftsordnung ver-
standen und qualifiziert werden, namlich einer Ordnung okonomischer Spra-
chen, die in ihren aufeinanderbezogenen Strukturen allerdings bislang kaum zur
Kenntnis genommen wurden.6 Insofern erhielt die wissenschaftliche Diskussion
ein hochst effektives und kostengiinstiges, wenn auch nicht immer berechenbares Verfahren
zum Losen der Erze. Das Bohren und SchieBen verursachte hohe Kosten und war aufgrund
mangelhafter Qualitat der Bohrer im festen Gestein wenig effizient. Insofern hatte es nur se-
kundare, erganzende Funktion beim Feuersetzen und der Schlagel- und Eisenarbeit.
5 Die Entwicklung der SchieBarbeit hing mit den Lagerstattenverhaltnissen zusammen:
mit dem Ubergang zum Abbau von Bleiglanz mit einem Silbergehalt von 0,03-0,07 v. H. (ar-
me Erze) anstatt der Gewinnung von Fahlerzen mit einem Silbergehalt von bis zu 9 v. H. (rei-
che Erze) musste die Grubenarbeit in immer groBere Teufen vordringen.
6 Wolfgang Zorn, Gesellschafts- und Wirtschaftstrukturen der nichteuropaischen Eura-
sischen Welt. Gemeinsamkeiten und Alternativen; in: Hans-Jiirgen Gerhard (Hg.), Struktur
und Dimension, wie Anm. 3, S. 3-24, verweist darauf, dass „neomerkantilistisches" Denken
286 Hans-Joachim Kraschewski
der Frage, inwieweit derMerkantilismus nichts anderes als Staats- und Volkswirt-
schaftsbildung zugleich gewesen ist7 und der Kameralismus, eine in Deutschland
und Osterreich entwickelte Politikkonzeption dieses Merkantilismus,8 in den
letzten drei Jahrzehnten keine neuen Impulse - weder von der Forschung der
politischen Herrschaftspraxis in der friihen Neuzeit noch der historischen Sozial-
wissenschaft oder der Montangeschichtsschreibung.9 Daher gibt es keine neuen
Erkenntnisse iiber die reale Durchsetzung der kameralistischen Lehre beim terri-
torialen Fiirstentum als dem eigentlichen Trager des fruhneuzeitlichen Flachen-
staates,10 wahrend die historische Friihneuzeitforschung mit europaischer Aus-
richtung eine ganze Reihe neuerer Arbeiten vorgelegt hat.11
Die Entwicklung zum Territorialstaat - bei standiger Vermehrung der landes-
herrlichen Aufgabenbereiche - war ebenso bestimmt durch eine Erweiterung der
bisherigen Verwaltungsorganisation mit entsprechender Arbeitsteilung. Die ei-
gentliche Regierungsform des 16. Jahrhunderts aber war als eine Variante des eu-
ropaischen Merkantilismus die Kameral- oder Kabinettsregierung.12 Hier stand
das Doppelfach Wirtschafts- und Sozialgeschichte in Deutschland nach 1917 teilweise zu ei-
nem „germanistischen" Fach fiihrte (S. 3). - Katrin Keller, Kleinstadte im 18. Jahrhundert
zwischen Stagnation und Dynamik. Pladoyer fur die Revision eines historiographischen To-
pos; in: Geschichte und Gesellschaft 29, 2003, S. 353-392.
7 Gustav von Schmoller, Studien iiber die wirtschaftliche Politik Friedrichs des Gro-
Ben; in: Schmollers Jahrbuch 1884, II, S. 22.
8 Kurt Zielenziger, Die alten deutschen Kameralisten, in: Beitrage zur Geschichte der
Nationalokonomie, 2. Heft,Jena 1914, S. 134, 207. - Ders., Kameralismus, in: Handworter-
buch der Staatswissenschaften, 4Jena 1923. - Ingomar Bog, Der Reichsmerkantilismus. Stu-
dien zur Wirtschaftspolitik des Heiligen Romischen Reiches im 17. und 18. Jahrhundert.
Forschungen zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Bd.l, Stuttgart 1959, S. 6. Unabhangig
von Erfolg oder Misserfolg der zugehorigen Politik halt Bog die Theorie des Kameralismus
fur gerechtfertigt, er spricht ihr Systemcharakter zu, denn sie gewonne Fragestellungen und
Losungen aus der Beobachtung des Marktes. - Fritz Blaich, Die Epoche des Merkantilis-
mus, Wiesbaden 1973, S. 22: auch er lasst den eigentlichen Merkantilismus als bestimmte
Richtung der ,theoretischen' Wirtschaftspolitik und die daran anschlieBende praktische
Wirtschaftspolitik in Deutschland erst nach 1648 beginnen. - Ders., Merkantilismus, Kame-
ralismus, Physiokratie; in: Otmar Issing (Hg.), Geschichte der National-Okonomie, Miin-
chen 1984, S. 35-47.
9 Vgl. dazu Erhard Dittrich, Die deutschen und osterreichischen Kameralisten, Darm-
stadt 1974.
10 Gerhard Oestreich, Verfassungsgeschichte vom Ende des Mittelalters bis zum Ende
des alten Reiches; in: Bruno Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 2, Stutt-
gart 1967, S. 318.
11 Luise Schorn-Schutte, Politische Kommunikation in der Friihen Neuzeit: Obrig-
keitskritik im Alten Reich; in: Geschichte und Gesellschaft 32, 2006, S. 274-314.
12 Gerhard Oestreich, Das personliche Regiment der deutschen Fiirsten am Beginn der
Neuzeit; in: Welt als Geschichte 1, 1935. - Vgl. Ders., Geist und Gestalt des friihmodernen
Staates, Berlin 1969.
Organisationsstrukturen der Bergbauverwaltung 287
neben oder vielmehr iiber alien Hof- und Landesbehorden die Camera, das Fi-
nanz- und Entscheidungszentrum des Fiirsten, von dem alle wichtigen Regie-
rungsgeschafte ausgingen.
Bis in das 16. Jahrhundert hinein war die Wirtschaft nahezu ausschlieBlich an
den Stadten orientiert und von ihnen getragen, so dass fast verborgen blieb, wie
die Fiirsten bzw. der Territorialstaat sie dennoch einrahmten, von ihnen profitier-
ten und sie schlieBlich zuriickdrangten und iiberwanden. Der Schritt von der
Stadtwirtschaft zur ausgebildeten Volkswirtschaft vollzog sich gleichzeitig in un-
geschiedener Einheit von politischer, sozialer und wirtschaftlicher Ordnung als
Ubergang zur fiirstlich gepragten Friihneuzeit. Der geldwirtschaftlich intensive
Kameralismus mit kontrollierter Ubereinkunft iiber Miinzen, MaBe und Gewich-
te verband sich mit der urspriinglich tauschwirtschaftlich orientierten Haushalts-
wirtschaft der Fiirsten und deren Machtbestrebungen. In diesem Zusammen-
hang, wenn es um ausgewiesene Reflexionen, Thesen und Ordnungen des 16. bis
18. Jahrhunderts zu Wahrung, Geld und das Finanzwesen geht, ist Harald Witt-
hoft durchaus bereit, diese „merkantilistisch" zu nennen, „mit verschiedenen Pha-
sen der Entwicklung und unterschiedlichen territorialen Auspragungen".13 Im
Verlauf dieses Prozesses bildete sich als neue Staatsform das furstliche Territori-
um, d.h. ansatzweise der deutsche Territorialstaat mit der fur ihn spezifischen
wirtschaftstheoretischen Grundlage des Kameralismus heraus. Der aber warstets
in den friihneuzeitlichen europaischen Kontext mit seiner okonomischen Kom-
munikation eingebunden.14
Eine genauere inhaltliche Bestimmung des Kameralismus erweist sich als sinn-
voll, um ihn z. B. gegen die zeitgenossische wirtschaftstheoretische Gattung der
Hausvaterliteratur abzugrenzen. Hausvaterliteratur war die Bezeichnung fiir eine
vorwiegend auf deutschem Boden entstandene und verbreitete Gruppe von Wer-
13 Harald Witthoft, Ansatze zu merkantilistischem Denken um die Mitte des 16. Jahr-
hunderts - Georgius Agricola; in: Friedrich Naumann (Hg.), Georgius Agricola - 500Jahre,
Basel, Boston, Berlin 1994, S. 423-429, hier S. 428. - Ders., Die Miinzordnung und das
Grundgewicht im Deutschen Reich vom 16. Jahrhundert bis 1871/72; in: Eckart Schremmer
(Hg.), Geld und Wahrung in der Neuzeit vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart (VSWG
Beihefte 106), Stuttgart 1993, S. 51-68. - Ders., Uberlegungen zu Zahl, MaB und Gewicht im
Bergbau und dem Hiitten- und Hammerwesen. Von Numerik und materieller Kultur in Mit-
telalter und friiher Neuzeit, in: Christoph BARTELs/Markus A. Denzel (Hg.), Konjunkturen
im mitteleuropaischen Bergbau in vorindustrieller Zeit. Festschrift fiir Ekkehard Wester-
mann zum 60. Geburtstag (VSWG Beihefte 155) , Stuttgart 2000, S. 123-150.
14 Ein markantes Beispiel ist Georgius Agricola (1494-1555): auch wenn er Okonomie
und Politik seiner Zeit nicht in einer eigenen Schrift untersuchte, so hat er sie in seine zahl-
reichen Texte eingefiigt, wenn er auf Miinzgehalt, MaBe und Gewichte, Erz und Metall zu
sprechen kommt und sie seinen Zeitgenossen verstandlich zu machen sucht. Politik war Ge-
genstand der geistesgeschichtlichen Entwicklung: des Humanismus als Bildungsbewegung.
288 Hans-Joachim Kraschewski
ken des 16. bis 18. Jahrhunderts, die die Lehre vom Stand der Hausvater mit einer
eingehenden Darstellung der Landwirtschaft und des bodenstandigen Gewerbes
verbanden.15 Da die Gemeinschaft von Hausvater und Ehewirtin (Ehe und Haus-
halt) als Kern der weltlichen Ordnung verstanden wurde, musste in der Beschrei-
bung der hauslichen Verhaltnisse (Eltern, Kinder und Gesinde) zugleich das We-
sen derpolitischen Ordnung erortert werden. Das hatte schon 1529 Justus Meni-
us, Schiiler Melanchthons und Luthers, in seiner Oeconomia Christiana betont.16
Die zunehmende Bedeutung der Landwirtschaft im 16. Jahrhundert brachte
schlieBlich eine Agrarliteratur hervor, die sich mit der Okonomik alter Art zur
Hausvaterliteratur verband.17
Diese Literaturbeschaftigte sich wie die Okonomik mit allem, was der Vorste-
her eines landlichen Gemeinwesens (z. B. eines adligen Gutes) wissen musste,
also mit agrarisch-technischen Problemen in kleinraumlichem Rahmen.18 Der
wesentliche Unterschied des Kameralismus zur Hausvaterliteratur19 lag in der
Ausrichtung auf Wirtschaftsforderung und Sozialdisziplinierung. Der friihneu-
zeitliche Territorialstaat bediente sich bei deren Durchsetzung des entstehenden
Beamtenwesens und gewahrte bereitwillig den Funktionstragern bei ihrer Ge-
staltung und Ausweitung eine tolerierte Regelungsautonomie. Die Bedeutung
der Hausvaterliteratur als gewichtiges Medium der politisch-okonomischen
Kommunikation ist bisher nicht analysiert worden. Ansatze liegen vor, wenn
15 Otto Brunner, Hausvaterliteratur, in: Handworterbuch der Sozialwissenschaften,
Bd. 5, Stuttgart 1956, S. 92.
16 Justus Menius (1499-1558), Oeconomia Christiana. Von Christlicher HauBhaltung
[Mit einer schbnen Vorred, 13 Seiten, von Martin Luther), Wittenberg 1529: Denn daran ist kein
zweiffel, aus der Oeconomia oder haushaltung mus die Politia oder landregirung als einem brunnenquel
entspringen undherkomen. Diese Oeconomia ist ein friihes Beispiel fur Hausvaterliteratur, deren
geistige Ausrichtung auf Martin Luthers „Predigten iiber die Christliche Haushaltung" zu-
riickgeht. - Zujustus Menius vgl. auch Schorn-Schutte, Politische Kommunikation in der
Friihen Neuzeit, wie Anm. 11, S. 296-301.
17 Zum ersten Mai geschah das beijohannes Coler (1566-1639) in seiner Oeconomia ru-
ralis et domestica, Wittenberg 1593-1607. In seiner Nachfolge steht Wolfgang Helmhard von
Hoberg (1612-1688) mit seiner Georgica curiosa oder adliges Land- und Feldleben, Niirnberg
1682, in der er die Erhebung von Zollen und Mauten rechtfertigt: Der Ursprung [. . .] ist aus
dem gemeinen Nutzen und Billigkeit hergeflossen, well man die Strajien, Briicken, Passe und Wdlder,
sowol mit Ausbesserung als auch mit Schermung vor Strafien Rdubern und vor Unsicherheit versorgen
und verwahren mufi und well dadurch mehr Fremde und Auslandische als die Inwohner, mehr die rei-
chen Kauffleute, Wein Handler als die armen Bauern, die Fahrenden als die Gehenden getroffen sind
(S. 124).
18 Otto Brunner, Das „ganze Haus" und die alteuropaische „Okonomik"; in: Ders.,
Neue Wege der Sozialgeschichte, Gottingen 1956, S. 33-61. -Julius Hoffmann, Die „Hausva-
terliteratur" und die „Predigten iiber den christlichen Hausstand", Weinheim 1959.
19 Albion Small, The Cameralists. The Pioneers of German Social Polity, Chicago 1909,
S. 3: „Cameralism was a technique and a theory of administering a peculiar type of state".
Organisationsstrukturen der Bergbauverwaltung 289
Christian Lippelt das Verhaltnis von landesherrlicher Amtsverwaltung und Wirt-
schaftsfiihrung im 16. Jahrhundert am Beispiel territorialer Hoheitstrager auf der
Ebene lokaler Amter und Gerichte im Land Braunschweig- Wolfenbiittel kritisch
betrachtet.20
II. Interdependente Bezugssysteme
In drei groBe Segmente laBt sich das Untersuchungsfeld des fruhneuzeitlichen
Staates gliedern: Verwaltung, Wirtschaft und Kultur, auch wenn eine klare Ab-
grenzung zwischen diesen Sparten nicht immer vorzunehmen ist, da sich die ein-
zelnen Teilbereiche gegenseitig bedingen und beeinflussen. Wechselwirkungen,
die jeweils territorial konstituierend und pragend gewesen sind, lassen sich aber
durchaus starker untersuchen. Denn erst eine systematische Verklammerung
zeigt, dass der eine Bereich in der Tat ohne den anderen nicht praxiswirksam zu
gestalten war. Als Beispiel sei auf den Ausbau Wolfenbiittels zur Residenz- und
Handelsstadt {Heinrichstadt) und die Errichtung offentlicher Bauwerke verwiesen,
die ohne wirtschaftliche Fundierung durch Bergbau und Hiittenwesen nicht
denkbar sind.21 Eine Ausblendung wiirde die produktive Perspektive von Wandel
und struktureller wie sozialer Integration verkiirzen.22 Dass aber besonders in
diesem Kontext ein zentrales Thema der Eriihneuzeitforschung liegt, das zu einer
vertieften okonomischen, technischen und verwaltungsmaBig-kulturellen Durch-
dringung derTerritorien fiihren kann, machten schon die Ausfiihrungen von Ker-
sten Kriiger und Evi Jung deutlich: ihre Beschreibung einer funktionierenden
20 Christian Lippelt, Hoheitstrager und Wirtschaftsbetrieb: Die herzogliche Amtsver-
waltung zur Zeit der Herzoge Heinrich der Jiingere, Julius und Heinrich Julius von Braun-
schweig-Wolfenbiittel (1547-1613), weist darauf hin, dass Herzog Julius die Gedanken des
Justus Menius (s. Anm. 16) in seinem politischen Testament aufnahm, wenn er festlegte, dass
Unser zukiinfftiger regierender Sohn und Erbe, Hertzog Heinrich Julius, gantz und gar kein Geld weder
an kleinen noch an grossen Summen hinter sich borgen noch aufnehmen . . . noch auch einiges unsers
Furstenthumb, Clbster, Herrschafften, Schlosser, Hauser, Stadte, Dorffer, Gerichte, Hiiltzer, Muhlen,
Schaffereien, Kriigen noch andere ansehnliche Stucke und Cammer-Guter von neuen verpfanden, ver-
kauffen oder alieniren solle; in: Christian Lippelt /Gerhard Schildt (Hg.), Braunschweig- Wol-
fenbiittel in derfriihen Neuzeit. Neue historische Forschungen, Braunschweig 2003, S. 11-28,
hier S. 11. - Johann Christian Lunig (Hg.), Teutsches Reichs-Archiv, Hertzog JULII zu
Braunschweig und Liineburg Testament, Anno 1582 auffgerichtet, nebst Kaysers Rudol-
phi II. Confirmation, Bd. 9, Leipzig 1712, S. 286-306 (zu Lunig s. ADB 19, S. 641).
21 Barbara Uppenkamp, Das Pentagon von Wolfenbiittel. Der Ausbau der welfischen Re-
sidenz 1568-1626 zwischen Ideal und Wirklichkeit, Hannover 2005, weist nach, wie Herzog
Julius Wolfenbiittel nach modernsten wirtschaftlichen, militarischen und philosophischen
Gesichtspunkten aus- und umbauen lieB.
22 Christian LiPPELT/Gerhard Schildt (Hg.), Braunschweig-Wolfenbiittel in der friihen
Neuzeit, wie Anm. 20.
290 Hans-Joachim Kraschewski
Amter- und Finanzverwaltung am Beispiel Braunschweig-Wolfenbiittel zeigt die-
se als notwendige Voraussetzung fur den Aufbau eines friihneuzeidichen Territo-
rialstaates.23 Kriiger/Jung konzentrierten ihre historische Forschung zum friih-
neuzeidichen Staatsbildungsprozess auf die Entwicklung der Zentralverwaltung,
die nachgeordnete Amtsverwaltung (lokale Amter und Gerichte) wurde weniger
untersucht.
Zweifelsohne schalt sich das lG.Jahrhundert als eigenstandige Transformation-
sepoche heraus, vor allem wenn diese funktionierende Amterverwaltung geschaf-
fen wurde, gefolgt von der Phase umfassender staatlicher Verwaltung und direk-
torial gefiihrter Regiebetriebe in der Zeit nach dem DreiBigjahrigen Krieg. Diese
Verflechtung wird deutlich, wenn es um den Aufbau einer wirksamen Verwal-
tung durch den „okonomischen" Fiirsten Julius von Braunschweig-Wolfenbiittel
geht, der ein ausgepragtes politisch-okonomisches Interesse an Verwaltungs- und
Wirtschaftsvorgangen in seinem Territorium hatte.24 Entscheidend aber ist, dass
sich diese politisch-okonomischen Vorgange der Herrschaftsentwicklung und
-stabilisierung in verwandten Formen in vielen Teilen Europas wieder finden, sei
es zeitlich synchron, sei es in knapp versetzter Abfolge.25
Gerade die Montanwirtschaft hatte ein hohes Potential an Integration, Kom-
munikation und Austausch vorzuweisen, nicht nur in den Metropolen, sondern
auch in den Flachenstaaten mit Metall-Produktionszentren.26 Zu den wirksam-
sten Transmissionskraften zahlten z. B. Bergbauunternehmerund Handelsgesell-
schaften, die in den zentraleuropaischen Revieren Erfahrungen gesammelt hat-
ten und Beteiligungen an diversen Gruben erwarben bzw. verkauften oder verleg-
ten. Ein signifikantes Beziehungs-Beispiel aus dem Umkreis dieser Verbindung
von Bergbau, Hiittenindustrie und Finanzgeschaft, also Kaufmann-Unterneh-
mertum, soil hier kurz vorgestellt werden.
Mit ausgewiesenen Kenntnissen der Absatzmoglichkeiten und Rohstoffgebiete
gehorte Matthaus Zellmaier aus Augsburg zu diesen Unternehmern. Seine Ver-
23 Kersten KRUGER/EviJuNG, Staatsbildung als Modernisierung. Braunschweig-Wolfen-
biittel im lG.Jahrhundert: Landtag - Zentralverwaltung - Residenzstadt; in: Braunschweigi-
schesjahrbuch 64, 1983, S.41-68.
24 Hans-Joachim Kraschewski, Der ,6konomische' Fiirst. Herzog-Julius als Unterneh-
mer-Verleger des Wirtschaft seines Landes, besonders des Harz-Bergbaus; in: Christa Grae-
fe (Hg.), Staatsklugheit und Frommigkeit. Herzog Julius zu Braunschweig- Liineburg, ein
norddeutscher Landesherr des 16. Jahrhunderts, Wolfenbiittel 1989, S. 41-57.
25 Martin Krieger, „Transnationalitat" in vornationaler Zeit? Ein Pladoyer fur eine er-
weiterte Gesellschaftsgeschichte der Friihen Neuzeit; in: Geschichte und Gesellschaft 30,
2004, S. 125-136. Als koharente friihmoderne transnationale Gesellschaften nennt der Autor
akademische, intellektuelle Kommunikationsnetzwerke.
26 Marina Dmitrieva/ Karen Lambrecht (Hg.), Krakau, Prag und Wien. Funktionen
von Metropolen im fnihmodernen Staat, Stuttgart 2000.
Organisationsstrukturen der Bergbauverwaltung 291
bindungen und sein Einfluss erstreckten sich iiber Schwaben bis nach Osterreich
und Bohmen. Schon 1548 hatte er mit Herzog Heinrich dem Jiingeren von Braun-
schweig-Wolfenbiittel eine Ubereinkunft zur Exploitation neuer Bodenschatze
und Exploration weiterer Bergwerke auBerhalb der bekannten Bergbaureviere
des Fiirstentums getroffen, da dieser sein Regalrecht mit eigenen Einlagen auszu-
weiten suchte.27 Uberdies botZellmaierin einem Vertrags-Entwurf vom 8.Januar
1550 Heinrich dem Jiingeren an, die Halfte der Teile der Fundgrube Aufm Neuge-
bornen Kindlein in Klein- Waltersdorf (bei Freiberg) , die er iiber die Freiberger Bur-
ger (Magister) Valentin Graf und Hans Schacht fur 2300 Taler gekauft hatte, zum
Preis von 1200 Talern (also erheblich iiber der halben Kaufsumme) zu iiberlassen,
die auch s.f.g. ime also bar entrichten und bezalen lassen sollen.28 Das Geld sollte bei
Jorg Hellferich in Leipzig hinterlegt werden, denn dieser hatte fur die Leipziger
Bleihandler Rauscher und Rot bei deren Bleikaufen im Harz bereits Gelder der
Gesellschafter zu verwalten gehabt.29
Die Anteile des Herzogs waren dann beim weiteren Vortrieb der Zechen, ver-
hoffen mit Gottes hilffin der Teiff ein mechtig und bestendig Ertz zuerpauen, von den
Augsburger Kaufleuten Veit Wittich und Urban Sighart ohne Ausbeute verlegt
worden, nunhabenE.F.G. inn obberurter Zechen 21 7/3Kuckhes, machen die beide [Quar-
tale Reminiscere und Crucis 1555] die Zubuji darauf26 Gulden 14 groschen diser landes-
wehrung30 Was die vormals verlaufene ZubuBe betraf, so hatte wiederum der
Bergmeister von Saalfeld, Illgen Wegner,31 fiir Veit Wittich und Urban Sighart sie
erlegen sollen.
Die beiden Vertragspartner von Zellmaier standen mit Wegner in enger ge-
schaftlicher Verbindung, denn sie lieBen ihre Kupfer-Erze in Saalfeld verhiitten,
um von derNeuen Saigerhiitte der Augsburger Gesellschaft desjakob Herbrodt32
Gar-Kupferzu beziehen - das hatten sie bereits fiir die reichen Augsburger Unter-
27 Ekkehard Henschke, Landesherrschaft und Bergbauwirtschaft. Zur Wirtschafts- und
Verwaltungsgeschichte des Oberharzer Bergbaugebietes im 16. und 17. Jahrhundert, Berlin
1974, S. 214.
28 NLA HStA BaCl (fiir: Niedersachsisches Landesarchiv - Hauptstaatsarchiv Hanno-
ver, Bergarchiv Clausthal) , Hann. 84a, la, Nr. 2 (5) , Zellmaiers Handlung ufs Bergkwerck zu
Freiberg (8. Januar 1550).
29 Maximilian Schmid, Der Goslarer Bleikauf. Diss. Phil., Leipzig 1914 (nicht veroffent-
licht, MS im Stadt-Archiv Goslar), S. 219-222.
30 NLA HStA BaCl, Hann. 84a, la, Nr. 2 (28), Zellmaiers Schreiben aus Freiberg an
Herzog Heinrich den Jiingeren betr. die ZubuBe (17. November 1555).
31 Wieland Held, Blei und Holz fiir den Saalfelder Bergbau in der Mitte des 16. Jahr-
hunderts. Versorgungsprobleme eines kleinen Reviers; in: Jahrbuch fiir Wirtschaftsge-
schichte 1991/92, S. 21-39, hier S. 29.
32 Zu Jakob Herbrodt und Gesellschafter in Augsburg vgl. Gerhard Fischer, Aus zwei
Jahrhunderten Leipziger Handelsgeschichte 1470-1650, Leipzig 1929, S. 155, 170, 182, 370.
292 Hans-Joachim Kraschewski
nehmer Hieronymus Paumgartner und Matthias Manlich nach dem Riickzug An-
ton Fuggers im Karpathengebiet getan.33
Bei diesen knapp skizzierten Unternehmungen ging es
- einerseits um eine typische mitteleuropaische Vernetzung von Bergbaurevie-
ren bei durchgehend zu beobachtenden unternehmerischen Strategien zur
Entwicklung neuer Absatzmoglichkeiten durch private Initiativen und
- andererseits um solch wichtige Funktionen wie Ideentransfer und Vermitt-
lung von Kapitalinteressen innerhalb der jeweils eingebundenen Territorien
mit ihren privaten und landesherrlichen Wirtschaftskraften.
Das waren durchaus iibliche europaische Dimensionen im Metallgeschaft, die
hier miteinander verkniipft und in ein weitreichendes montanistisches Bezie-
hungssystem eingebunden wurden.34
III. Der Landesherr: Herzog Julius (1568-1589)
Grundlegende Voraussetzungen zum Aufbau des Landes Braunschweig als Terri-
torialstaat schuf der „planereiche" und „unruhige" Herzog Heinrich der Jiinge-
re,35 der bis zum Ende seines Lebens (Regierungszeit 1514-1568) entschieden am
katholischen Glauben festhielt und mit einer von Staatsraison getragenen landes-
herrlichen Durchdringung des Fiirstentums den Ausbau des friihmodernen Terri-
torialstaates einleitete. Seinem fiirstlichen Selbstverstandnis entsprechend konn-
te er biirgerliche Sondergewalten wie die Stadte Braunschweig oder Goslar nicht
33 Johannes Burkhardt (Hg.), Augsburger Handelshauser im Wandel des historischen
Urteils, Berlin 1996. - Vgl. dazu auch Ekkehard Westermann, Das Eislebener Garkupferund
seine Bedeutung fur den europaischen Kupfermarkt von 1460 bis 1560, Koln 1971, S. 52-53. -
Zur Tatigkeit Matthias Manlichs 1551 in Tirol vgl. Christoph Bartels u. a. (Hg.),Das Schwazer
Bergbuch. Der Bergbau bei Schwaz in Tirol im mittleren 16. Jahrhundert, Bd. III., Bochum,
2006, S. 773-779.
34 NLA HStA BaCl, Hann. 84a, 4a, Nr. 24, Bericht des Zellerfelder Bergamts an Herzog
Heinrich Julius iiber eingegangene Beschwerden von Gewerken iiber die Abfuhr der ober-
harzischen Erze zu den unterharzischen Hiitten an Herzog Heinrich Julius (16. Juli 1589):
Item ist auch Anno [15] 50 von etzlichen Goslarischen und Augspurgischen Gerwercken eine Zeche im
Lauttenthal gebaut warden, welche die Schliche zum theyl nach Sahelde schueren und mit ander ertzen
verschmeltzen lassen, d. h. auch Heinrich derjiingere und Goslarer und Augsburger Gewerken
lieBen Lautenthaler Kupfererz in Saalfeld verhutten - wie es ublichen und gebreuchlich. -
Schlieg/Schlich war das in den Pochwerken angereicherte Erzkonzentrat.
35 Charakterisierung von Karl Brandi, Kaiser Karl V., 7Miinchen 1964, S. 448. - Zu
Heinrich demjiingeren vgl. Manfred von Boetticher, Niedersachen im 16. Jahrhundert;
in: Christine van den HEUVEL/Manfred von Boetticher (Hg.), Geschichte Niedersachsens,
Bd. 3, 1, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft von der Reformation bis zum Beginn des 19.
Jahrhunderts, Hannover 1998, S. 21-116, hier S. 83-92.
Organisationsstrukturen der Bergbauverwaltung 293
dulden.36 Goslar musste 1552 vor der militarischen Gewalt des Landesherrn kapi-
tulieren und im Riechenberger Vertrag den groBten Teil seiner Erzgruben des
Rammelsbergs an den Fiirsten abtreten.37 Dagegen blieb die Belagerung Braun-
schweigs durch Heinrichs Truppen 1550 zunachst erfolglos. Erst 1606/11 gelang
es Herzog Heinrich Julius, die einst machtige Hansestadt aus ihrer ehedem fiih-
renden wirtschaftlichen Stellung in Norddeutschland zu verdrangen. Die Resi-
denz Wolfenbiittel, die bis 1515 gemeinsam mit der Burg lediglich die unbefestig-
te Siedlung „auf dem Damm" umfasste und wahrend der Schmalkaldischen Be-
setzung stark in Mitleidenschaft gezogen worden war, hatte bereits Heinrich der
Jiingere systematisch ausbauen lassen.38
Schon vor Beginn seiner Regentschaft (1567) waren Herzog Julius verschiede-
ne Gutachten zugegangen, die als Bestandsaufnahme wirtschaftlicher Verhaltnis-
se des Landes anzusehen sind, die aber auch wirtschaftspolitische Perspektiven
der Entwicklung darlegten. Intention dieserdem Kanzlerjoachim Mynsinger von
Frundeck zugeschriebenen Bedencken die Enderung der Religion betreffend und wie es
mit stifften und Clostern solle gehalten werden war umfassendes Ausschopfen der vor-
handenen wirtschaftlichen Ressourcen und die Verflechtung einzelner Wirt-
schaftszweige des Landes.39 Diese Zielorientierung hatte Heinrich der Jiingere
durch seine Politik praformiert.40
Mit seiner Regierungsiibernahme 1568 begann Herzogjulius konsequent das
Fiirstentum Braunschweig- Wolfenbiittel zu einem friihmodernen Territorialstaat
umzuformen. Erfiihrte die Reformation durch, richtete Visitationskommissionen
und Konsistorium ein zur Examination von Kirchen- und Schuldienern sowie
kirchlicher Vermogensverwaltung und des Bauwesens. Nach wiirttenbergischem
Vorbild iibernahm er Kirchenordnung und Kirchenrat als Zentralbehorde. Be-
sonders die Rolle der fiirstlichen Amtstrager - Visitatoren - diente der Kontrolle
des Beamtenapparates auf lokaler Ebene: sie zahlten das Vieh nach und maBen
das Korn neu auf auBerhalb der terminierten Zeitvorgaben. Die Amter wurden
36 Analog zum Anspruch Heinrich des Jiingeren auf Braunschweig als Erb- und Land-
stadt (in mediater Stellung) wurde auch Goslar von Herzogjulius als unsere Erbschut&tadt re-
klamiert (NLA HStA BaCl, Hann. 84a, 3a, Nr. 15, Schreiben Herzogs Julius an Christoph
Sander vom 29. Februar 1580).
37 Rammelsberger Bergbaumuseum Goslar (Hg.), Der Riechenberger Vertrag, Goslar
2004.
38 Wolf-Dieter Mohrmann, Wolfenbiittel - ein stadtgeschichtlicher Abriss; in: Hans-
Georg Reuter (Hg.), Zur Stadtgeschichte Wolfenbiittels, Wolfenbiittel 1988, S. 7-34.
39 Zu Mynsinger von Frundeck vgl. Horst-Rudiger Jarck (Hg.) , Braunschweigisches Bio
graphisches Lexikon. 8. bis 18. Jahrhundert, Braunschweig 2006, S. 516-517.
40 Sabine Schumann, Wirtschaftspolitische Gutachten fiir den Erbprinzen Julius von
Braunschweig- Liineburg (Wolfenbiittel) aus demjahre 1567; in: Braunschweigisches Jahr-
buch65, 1984, S. 99-113.
294 Hans-Joachim Kraschewski
doppelt besetzt - durch einen Beamten der Registrator und einen Gegenbeamten
als Kontrollinstanz. Rechnungslegung war an feste Termine gebunden und hatte
jahrlich in der Zentralverwaltung zu Wolfenbiittel zu erfolgen.41
1576 griindete er in Helmstedt eine Landesuniversitat. Die Idee hierzu ging
wiederum vom Kanzler Joachim Mynsinger von Frundeck aus, geleitet von der
Einsicht, eine Ausbildungsstatte fiir Geisdiche und vor allem Beamte der fiirstli-
chen Administration zu schaffen. Mynsinger hatte bereits 1556 bei der Errichtung
des Hofgerichts mitgewirkt, um die Rechtsprechung, die bis dahin in der fiirstli-
chen Kanzlei zentriert gewesen war, einer von derKanzlei unabhangigen Institu-
tion zu iibertragen.42 Als landesherrliches Gegengewicht zur Kanzlei oderRatstu-
be wurde 1573 erstmals ein geheimer Kammerrat bestellt, dessen Aufgabe eine
neue Kanzleiordnung naher bestimmte. Durch die GroBe Kanzleiordnung von
1575 trennte Julius die geheimen Kammersachen des Fiirsten von den Angelegen-
heiten des Landes: Die Ratstube erledigte fortan die offentlichen und richterli-
chen Aufgaben des Landes, wahrend der Kammerrat fiir die geheimen Sachberei-
che zustandig war. Aus dieser Einrichtung ging in der Folgezeit als dauerhafte
Korporation der Geheime Rat hervor. Die verschiedenen Zweige der landsherrli-
chen Verwaltung wurden in ihm zusammengefuhrt und zugleich ein Ausgleich
der Interessen gesucht. In diesen Kontext gehort auch die Reorganisation der
Finanzverwaltung, in der eine Trennung zwischen derHofrentei, die die Landes-
steuern einnahm und iiberpriifte, und der Kammerkasse, der Privatgeldkasse des
Fiirsten, vollzogen wurde. Die Aufsicht der Geldangelegenheiten behielt derHer-
zog in seiner Hand, um die Landesfinanzen zu konsolidieren.
Bereits im Jahr 1547 hatte Heinrich der Jiingere, als er nach dem Ende der
Schmalkaldischen Besetzung wieder die Regierungsgeschafte in seinem Fiirsten-
tum iibernehmen konnte, den Ausbau derLandesverwaltung und des Bergbaus43
41 Thomas Klingebiel, Ein Stand fiir sich? Lokale Amtstrager in der Friihen Neuzeit.
Untersuchungen zur Staatsbildung und Gesellschaftsentwicklung im Hochstift Hildesheim
und im alteren Fiirstentum Wolfenbiittel, Hannover 2002.
42 Vgl. dazu Sabine Schumann, Joachim Mynsinger von Frundeck (1514-1588), Kanzler
in Wolfenbiittel. Biographische Aspekte zu einem humanistischen Rechtsgelehrten und Po-
litiker der friihen Neuzeit; in: Braunschweigischesjahrbuch 64, 1983, S. 25-39.
43 NLA HStA BaCl, Hann. 84a, la, Nr. 1 (12), Quittung des Bergunternehmers Hans
von Wiedersdorf iiber 12 Taler, die Herzog Heinrich der Jiingere ihm habe entrichten lassen
durch Johann Dankwart, Amtmann auf der Staufenburg, da er mil einem Saltzburgischen Berck-
mann unnd Schmeltzer auf die Berckwerck alhir abgefertigt (24. Februar 1548). Johann Dankwart
war von 1534 bis 1539 als Wolfenbiittelscher Bergbeamter Zehntner im Oberharzer Revier
gewesen - ein Hinweis auf die friihe Verkniipfung von Berg- und Landesverwaltung. - Hans
von Wiedersdorf war als Gesellschafter von Matthaus Zellmaier an Herzog Heinrich den
Jiingeren vermittelt worden (vgl. Anm. 28). - NLA HStA BaCl, Hann. 84a, 808, 2, Bergord-
nung Heinrichs des Jiingeren vom 1. Januar 1550 (Octav, 136 Blatter).
Organisationsstrukturen der Bergbauverwaltung 295
voran getrieben und den Aufbau einer geordneten Finanzverwaltung wie auch
der Amtergliederung eingeleitet: er legte die Grundlagen fur eine zentrale Lan-
desverwaltung.44 Die Kammer blieb der wirksame Ort der okonomischen Regu-
lierung, ihr gait auch die ganze Aufmerksamkeit Herzogs Julius. Ein herausragen-
derBestandteil derUnterlagen derVerwaltungs- und Wirtschaftsfiihrung des Ter-
ritorialstaates sind die Kammerrechnungen. Ihre Eintragungen belegen, dass z.
B. im Rechnungsjahr 1586/87 insgesamt 21,7% der Ausgaben des Landes anteilig
auf den Bergbau entfielen. Demgegeniiberlag der Anteil derEinnahmen aus dem
Bergbau 1586/87 bei 35,63% der Kammereinkiinfte. Damit lagen die Einkiinfte
aus diesem Sektor der territorialen Wirtschaft um ca. ein Drittel iiber den Ausga-
ben.45 In den von 1585 an vorliegenden Quartalsrechnungen der Gruben sind fur
jeden Betrieb Einnahmen und Ausgaben ausgewiesen, sachlich in Berg- und Hiit-
tenkosten untergliedert und diese wiederum durch die Person des Bergschreibers
in der Aufstellung und Niederschrift der wochentlichen Anschnitte abgefasst. Die-
se Unterlagen sind von groBer Zuverlassigkeit, alle Angaben dienten den Betrie-
ben zur Festsetzung von Ausbeute und ZubuBe, den Betrieb skosten und den Ab-
gaben an den Landesherrn - zusammengestellt von den dazu bestellten und ver-
eidigten Bergbeamten.
Julius entwickelte durch effiziente Organisation und iibergreifende Struktur
ein erfolgreiches okonomisches System in seiner an gutem Geld armen Wirt-
schaft.46 Weit mehr als Heinrich der Jiingere gestaltete er dank seiner unterneh-
merischen Risikobereitschaft und innovativen Fahigkeiten das Land Braun-
schweig-Wolfenbiittel zu einer relativ klar abgegrenzten Wirtschaftseinheit in
Norddeutschland um, die mit ihrem „ordnungsgemaBen Ablauf des Markt- und
44 Manfred von Boetticher, Niedersachsen im 16. Jahrhundert, wie Anm. 35, S. 95. -
Helmut Samse, Die Zentralverwaltung in den siidwelfischen Landen vom 15. bis zum 17.
Jahrhundert. Ein Beitrag zur Verfassungs- und Sozialgeschichte Niedersachsens, Hildes-
heim, Leipzig 1940.
45 NLA HStA Hannover, Kammerrechnungen Hann. 76 c A, Nr. 22, 23, 24. - NLA StA
Wolfenbiittel, Kammerrechnungen 17 III Alt 59, 62, 62 a. - NLA HStA Hannover, Rechnun-
gen, Cal. Br. 21, Nr. 842, 152, 590. - NLA StA Wolfenbiittel, Kammerrechnungen 17III Alt 35.
- Bereits Ende des 16. Jahrhunderts zogen die Wettiner aus dem erzgebirgischen Silberberg-
bau vergleichbar hohe Gewinne; vgl. Uwe Schirmer, Kursachsische Staatsfinanzen (1456-
1656). Strukturen - Verfassung - Funktionseliten, Stuttgart 2006, S. 92-94. - ManuelaSissAKis,
Territoriale Rechnungslegung in der Friihen Neuzeit. Quellenkritische Anmerkungen anhand
von Kammerrechnungen des 16. Jahrhunderts im Fiirstentum Braunschweig- Wolfenbiittel; in:
Lippelt/Schildt (Hg.), Braunschweig-Wolfenbiittel, wie Anm. 20, S. 93-108.
46 Hans-Jiirgen Gerhard, Ein schoner Garten ohne Zaun. Die wahrungspolitische Si-
tuation des Deutschen Reiches um 1600; in: VSWG 81, 1994, S. 156-177. - Ders., Ursachen
und Folgen der Wandlungen im Wahrungssystem des Deutschen Reiches 1500-1625. Eine
Studie zu den Hintergriinden der so genannten Preisrevolution; in: Eckart Schremmer
(Hg.) , Geld und Wahrung vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Stuttgart 1993, S. 69-84.
296 Hans-Joachim Kraschewski
Handelsverkehrs" sowie der ^offentlichen Finanzierung des Berg- und Hiittenwe-
sens" fiir das 16. Jahrhundert kennzeichnend blieb.47
Theoretisch setzte er sich mit Verwaltungs- und Wirtschaftsfragen auseinan-
der, indem er die staatspolitischen Schriften Niccolo Machiavellis und des mans-
feldischen Kanzlers Lauterbeck las. Und er erwarb nachweislich mehrere Biicher
iiber Hauswirtschaft, die Okonomie und die Verwaltung eines Hauswesens, die
Regelung von Einnahmen und Ausgaben sowie die Rechtsprechung.48 Uber die
Bibliotheka Julia, die den Grundstock der spateren Herzog August Bibliothek in
Wolfenbiittel bildete, hat ausfuhrlich Christa Graefe berichtet.49 Es sei anzuneh-
men, so die Autorin, dass die hohen herzoglichen Beamten diese Werke ebenfalls
zu lesen bekamen.50 Doch worin bestanden die wirtschaftlichen Bedingungen
und technischen Konsequenzen dieser Entwicklung?
Das lasst ein Blick auf zwei technische Bildhandschriften des Herzogs erken-
nen, die Instrumentenbiichervon 1573 mit den Hauptthemen „Flussschifffahrt" und
„Steingewinnung" mit reichlich technischer Illustration. Sie wurden unter per-
sonlicher Beteiligung und Mitarbeit des Landesherrn angefertigt und spiegeln
dessen groBes Interesse an produktiven Geratesystemen wider und die Bereit-
schaft, in die Sphare des konkreten Erfahrungswissens der praktischen Mechanik
einzudringen. Sie zeigen Arbeitsgerate, Werkzeuge, Krane und Eimerbagger in
den Steinbriichen und Fahren sowie FloBe auf und Stauschleusen in den Fliissen
des Landes - vom Herzog selbst erdacht oder von ihm in den Niederlanden gese-
hen und nach Wolfenbiittel iibertragen.51 Der Herzog machte genaue Vorschlage
fiir eine wirtschaftlich verbesserte Verwertung der montanistischen Rohstoffe des
Landes und ihre chemischen und physikalischen Wirkungen. Es waren also klare
okonomische Interessen im Spiel. Von seinen Fachleuten erwartete er die appara-
tive Umsetzung seiner Ideen in rationelle Arbeitsablaufe, um sie dem Land
47 Karl Heinrich Kaufhold, Die Wirtschaft in der friihen Neuzeit: Gewerbe, Handel und
Verkehr: in: van den Heuvel/von Boetticher (Hg.),Geschichte Niedersachsens,Bd. 3, l,wie
Anm. 35, S. 351-574, hier S. 363-365, S. 420.
48 Das Rechenbuch des Herzogs Julius, das er 1567 anlegte und mit eigenen Berechnun-
gen fiillte, zeigt seine intensive Beschaftigung mit dieser Materie. Als Musterrechnungen
iibertrug er die Beispiele, die er im Handelbuch aus der Bibliothek des Michael von Kaden
vorfand, auf Braunschweigische Verhaltnisse (Herzog August Bibliothek [HAB] Wolfenbiit-
tel: Cod. Guelf. 700 Nov.).
49 Christa Graefe (Hg.), Staatsklugheit und Frommigkeit, Die Bibliotheka Julia - Staats-
klugheit und Frommigkeit, wie Anm. 24, S. 59-162, hier S. 59-60
50 Christian Lippelt, Hoheitstrager und Wirtschaftsbetrieb; in: Christian Lippelt/ Ger-
hard Schildt (Hg.), Braunschweig- Wolfenbiittel, wie Anm. 20, S. 25.
51 NLA StA Wolfenbiittel, 2 Alt 5228, Instrumentenbuch I. - LA StA Magdeburg, Rep.
Cop. Nr. 803b, Instrumentenbuch II. - Vgl. dazu auch Gerd Spies, Technik der Steingewin-
nung und der FluBschiffahrt im Harzvorland in der friihen Neuzeit, Braunschweig 1992.
Organisationsstrukturen der Bergbauverwaltung
297
Abb. 1:
„machina tractoria"
Brunnenpumpe von
Leonardo da Vinci (1502).
(Quelle: Hermann Grote,
Leonardo da Vinci,
Berlin 7874)
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dienstbar zu machen. Transferiert wurden diese Ergebnisse, so weit sie anwen-
dungsfahig waren, auf den Sektor Bergbau. In dem Bericht vom Rammelsbergischen
Bergwerk von 1576 wird darauf wiederholt verwiesen, wenn es heiBt, dass durch ihr
f.g. jfurstlich gnaden] eigene erfindungen die berg- und huttewergke sampt denforst- und
Sagemulen des Rammesbergischen und Zellferfeldischen und Wildemennischen bergwerck
verbessert.52 Zu diesen „Erfindungen" gehoren die Munitionskugeln, Schlacken-
kugeln genannt, die Herzogjulius in groBer Zahl aus Blei gieBen und im Stichhan-
del vertreiben lieB.53
52 NLA HStA BaCl, Hann. 84a, 2a, Nr. 11, Bericht vom Rammelsbergischen Berg- und
Huttenwerk, 1576. - NLA StA Wolfenbuttel, Landesverwaltung IV, Nr. 72: Es haben auch ihr
f.g. selbst erfunden, das man aus den bleyen rhoren, grasebancke und taffelbley, aus dem ersten feuer ge-
gossen, konnen werden.
53 NLA HStA BaCl, Hann. 84a, la, Nr. 4, Schreiben Herzogs Julius an Christoph San-
der, Formen zum GieBen von Schlackenkugeln anzufertigen (25. September 1569) und Lie-
298
Hans-Joachim Kraschewski
Abb. 2: „machina tractoria": Aufzugsystem - Zugseil mit Pferdegbpel
von Herzog Julius (1573). (Quelle: Instrumentenbuch I 1573)
Die Kombination von Unternehmertum und Verlagssystem war fiir Herzog
Julius ein konkreter Faktor fiir dessen wirtschaftliche Erfolgsbilanz. Der Verlag er-
moglichte seinen Fernhandelsgeschaften eine elastische Verflechtung diversifi-
zierter Giiterproduktion in der Landwirtschaft mit dem Montansektor bei Erpro-
bung neuer Absatzwege.54 Auch bei der finanziellen Einflussnahme auf Berg-
werks-, Aufbereitungs- und Hiittenbetriebe war die Gewahrung von Vorschiissen
oder Krediten in Form des laufenden Verlags das zentrale Mittel des Landes-
herrn. Kontinuierlichen Vorschuss gewahrte die Zehntkammer bzw. der Kasten-
verlag als investive Summen des Fiirsten fiir Entwasserungsstollen, Wasserreser-
voirs (Teiche, Stauungen) oderForsten (Holz, Holzkohle). Ein groBerTeil der auf
Verlagsbasis produzierten Montanerzeugnisse wurde nicht nur gegen Bargeld,
sondern vor allem auf den Messen in Leipzig, Naumburg und Frankfurt auf
Wechsel-Kredit bis zum nachsten Messetermin oder als Stichhandel, das heiBt im
ferung derselben (15. Oktober 1569).
54 Hans Joachim Kraschewski, Quellen zum Goslarer Bleihandel in der friihen Neuzeit
(1525-1625), Hildesheim 1990. - Ders., Quellen zum Goslarer Vitriolhandel in der friihen
Neuzeit (16. Jahrhundert), St. Katharinen 1995.
Organisationsstrukturen der Bergbauverwaltung
299
Abb. 3:
„machina tractoria":
Hubpumpe mit zwei
Saugrohren von
Georgius Agricola (1556).
(Quelle:
Georgius Agricola,
De re metallica libri XII)
Realtausch umgesetzt.55 Den in diesem Zirkulationssystem erzeugten Gewinn
konnte der fiirstliche Unternehmer-Verleger auch in neue Montan-Untemeh-
mungen investieren, Kredit- und Wechselgeschaft als Anreiz zur wirtschaftlichen
55 Markus A. Denzel, Wechselplatze als territoriale Enklaven an der europaischen Peri-
pherie: Von der Anbindung zur Integration von Finanzmarkten im System des bargeldlosen
Zahlungsverkehrs (Spatmittelalter bis beginnendes 20. Jahrhundert) ; in: Hartmut Zwahr, Uwe
Schirmer, Hennig Steinfuhrer (Hg.), Leipzig, Mitteldeutschland und Europa. Festschrift fur
Manfred Straube und Manfred Ungerzum 70. Geburtstag, Beucha 2000, S. 545-560.
300 Hans-Joachim Kraschewski
Entwicklung seines Landes einsetzen. So war er z. B. bereit, probehalber auf ei-
nen Energietrager zuriickzugreifen, der schon langst bekannt war, aber - im Un-
terschied zur Situation in England oder in Liittich,56 - auf dem Kontinent nur ver-
einzelt Verwendung gefunden hatte: die Mineral- oder Steinkohle.57
Zwei Salinen wurden im Land betrieben: die alte Salzquelle zu Liebenhall bei
Salzgitter, deren Ergiebigkeit schon Heinrich der Jiingere genutzt hatte, und die
Saline JuliushaU bei Biindheim am FuB derHarzburg, 1569 von Herzog Julius an-
gelegt und als fiirstlicher Eigenbetrieb gefiihrt.58 1579 gab es auf dem Salzwerk
Liebenhall 15 Siedehiitten, die jeweils mit einer Pfanne und fiinf Vorwarmpfan-
nen arbeiteten.59 Als 1588 der Brunnenschacht erneuert wurde, erhohte sich die
Zahl derHiitten auf zwanzig. 1579 erlieB Julius eine groBe Salzordnung, die nicht
nur sparsamen Holzverbrauch festlegte, sondern von den Salzsiedern kontinuier-
liche Anwesenheit wahrend des Siedevorgangs verlangte. Im Vergleich zur Zeit
unter Heinrich dem Jiingeren verdreifachte diese Saline ihren Produktionsum-
fang in den achtziger Jahren.60
Wahrend seines dreijahrigen Studienaufenthaltes in Lowen (1550-53) hatte Ju-
lius als junger Prinz gesehen, wie Gewerbe und Schifffahrt erfolgreich eingesetzt
werden konnten, um den Reichtum des Landes zu mehren.61 Er schatzte die
Tiichtigkeit der Niederlander, so dass er sie als Beamte und Techniker nach Wol-
fenbiittel berief. Stellvertretend sei hier Wilhelm de Raet aus s'Hertogenbosch als
Wasserbaumeister und Ingenieur genannt, dessen Ausgangs- und Zielpunkt der
Arbeit die Okonomie war.
Das Hiittenwesen aber, sowohl durch die Gewerken wie die landesherrlichen
Beamten nicht leicht zu steuern, da es hierum Betriebsgeheimnisse und hermeti-
sche Kenntnisse ging, brachte er im Einvernehmen mit seinem Zehntner Chri-
stoph Sander nahezu vollstandig unter seine Kontrolle, um die Produktion von
Blei und Silber fur die fiirstliche Kammer und das Gemeinwohl des Landes zu op-
56 Horst Kranz, Liitticher Steinkohlenbergbau im Mittelalter, 2 Bde., Aachen 2000.
57 Hans-Joachim Kraschewski, Steinkohle als Energietrager. HerzogJulius von Braun-
schweig-Wolfenbiittel und der Kohlenbergbau bei Hohenbiichen am Hils in der zweiten
Halfte des 16. Jahrhunderts; in: Niedersachsischesjahrbuch fiir Landesgeschichte 76, 2004,
S. 181-218.
58 NLA StA Wolfenbiittel, 40 Slg 848.
59 NLA HStA BaCl, Hann. 84a, 2a, Nr. 14, Bericht Christoph Sanders iiber die Befah-
rung des Salzwerks Liebenhall (25. Februar 1579).
60 Hess StA Marburg, Best. 3 PA (Kiich), 4 f Br. W., S. 103-122.
61 An der Universitat Lowen lehrte Leonhard Lessius (1554-1623), Freund des Wirt-
schaftsethikers Ludwig Molina (1535-1600), dessen Geldlehre im 17. Jahrhundert z. B. von
dem Volkswirtschaftler und Statistiker Sir William Petty (1623-1687) sowie dem Staatstheo-
retiker und politischen Okonomen John Locke (1632-1704) aufgenommen und systemati-
siert wurde.
Organisationsstrukturen der Bergbauverwaltung 301
timieren. Als seit 1575 eingeleitete ReformmaBnahmen, deren Umsetzung von
den Hiittenmeistern konsequent gefordert wurde, sind zu nennen:
- korrekte Einhaltung der wochentlichen Abrechnungen,
- Nachmessen der angelieferten Holzmengen auf den Hiittenhofen,
- Verhinderung von Diebstahl (Unterschleife) an Betriebsmaterial,
- exakte Uberpriifung angelieferter Erzquantitaten auf den Hiittenhofen,
- Fixierung eines Minimums an Erzdurchsatz je Schmelzofen und Schicht,
- Effektivitat der Ofengeblase und
- Einfiihrung von Kontrollbiichern durch die Hiittenschreiber.62
Mit der Konzentration der Hiittenbetriebe auf elf Einrichtungen - sieben in
landesherrlichem Besitz, vier vorlaufig noch als Privathiitten - gelang es dem
Herzog in Kooperation mit dem bereits genannten Oberverwalter und Hiitten-
meister Christoph Sander, die in alien Hiittenordnungen monierten Defizite der
Arbeit zu reduzieren und die Hiittenbetriebe wiederin seinen unmittelbaren Be-
sitz zu bringen und Ergebnis bezogen rentabel zu gestalten, denn seine Hauptein-
nahmen erzielte er - wie alle Landesherren mit Bergsegen in ihren Territorien - im
Miinzwesen.
Auch die Forste unterlagen dem Grundsatz rationeller Wirtschaftlichkeit, eine
ausreichende Versorgung der Berg- und Hiittenbetriebe mit Baumaterial und
Energie war auf die umfangreiche Bereitstellung von Holz bzw. Holzkohle ange-
wiesen. Die Belieferung der Gruben und Hiitten hatte deshalb hochste Prioritat
gemessen an alien anderen Verbrauchern des Landes.63
Weitreichende Handelsbeziehungen mit zentraleuropaischen Warenmarkten
dienten dem Absatz der Produkte des Landes, vor allem des Metalls Blei. Denn
die umwalzende, weil folgenreichste Neuerung beim Schmelzverfahren von sil-
berhaltigen Kupfererzen durch das Saigerverfahren - verbunden mit einem er-
hohter Bedarf an Blei - hatte im Verlauf des 16. Jahrhunderts zu einer Expansion
im mitteleuropaischen Bleibergbau gefiihrt.64 Die Kuppel-Produktion von Gar-
62 NLA HStA BaCl., Harm. 84a, 4a, Nr. 4, Bericht des Zehntners Christoph Sander an
Herzog Julius betr. die Frage der Instandhaltung der Hiitten (17. Marz 1569). - Hann. 84a,
2a, Nr. 10, Gutachten des Oberverwalters Christoph Sander iiber den Betrieb der Schmelz-
hiitten (14. Januar 1575).
63 Hans-Joachim Kraschewski, Holzversorgung von Schmelzhutten im Harzrevier der
friihen Neuzeit (16./17. Jahrhundert); in: Braunschweigischesjahrbuch fur Landesgeschich-
te 86, 2005, S. 37-63. - Ders., Schmelzhutten und ihre Energieversorgung in der friihen Neu-
zeit (Das Beispiel Harz); in: Wolfgang INGENHAEFF/Johann Bair (Hg.), Bergbau und Holz (4.
Internationaler Montanhistorischer Kongress Schwaz 2005), Innsbruck 2006, S. 85-110.
64 Saigern meint hier das selektive Ausschmelzen von Silber aus metallischem Kupfer
unter Zusatz des Treibmittels Blei auf dem Saigerherd. Die Saigerhiitten nutzten den niedri-
gen Schmelzpunkt des Bleis, um beim Arbeitsablauf das Silber in dem silberhaltigen Kupfer
302 Hans-Joachim Kraschewski
kupfer und Silber trug ganz erheblich bei zu einer Verflechtung regional unter-
schiedlicher Wirtschaftsraume bei wirtschaftlichen Wechsellagen. Das Silber aus
dem Kupfer zu seigern war, wie Lazarus Ercker betonte, eine besonders schdne Kunst.65
Durch den innereuropaischen Saigerhandel wurden nicht nur das Mansfelder Re-
vier, der Harz und das sachsisch-bohmische Erzgebirge samt Zuliefergewerbe in
das Marktgeschehen eingebunden, sondern auch osteuropaische Kaufleute, die
den Umlauf des Geldes im Westen mit ihren Blei-Handelsgeschaften beforderten
(Heinrich Cramer von Clausbruch).66
Seinem Nachfolger hinterlieB der Landesherr ein schuldenfreies Fiirstentum
durch Wiedereinlosung zahlreicher verpfandeter Amter und einen stattlichen
Landesschatz.67 Julius verstand sich - im Unterschied zu seinem machiavellisti-
schen Vater - als Friedensfiirst, der das Fiirstentum mit der Residenz Wolfenbiit-
tel zu einem kulturellen Mittelpunkt entfaltete. Zeitgenossische Portrats zeigen
einen Herzog, der auf den schonen Schein der bedachten Selbstdarstellung und
den Reichtum einer inszenierten Legitimation verzichtet.68
IV. Furstliche Berater
Im Zentrum der Betrachtung steht das Engagement des Landesherrn, dessen In-
teresse einerseits aus dem Eigentum am Bergbau resultierte (Bergregal), anderer-
seits einem durchaus zeittypisch motivierten Unternehmergedanken mit Zugriff
des Fiirsten auf den Bergbau als profitable Landesressource entsprach. 69 Diese
zu isolieren; vgl. dazu Lothar Suhling, Der SeigerhiittenprozeB. Die Technologie des Kup-
ferseigerns nach dem friihen metallurgischen Schrifttum, Stuttgart 1976.
65 Paul Reinhard Beierlein (Bearb.), Lazarus Ercker, Beschreibung der Allervornehm-
sten mineralischen Erze und Bergwerksarten vomjahre 1580, Berlin/Ost 1960, S. 211. - Die
Einfiihrung der Kupfersaigerung seit dem ausgehenden 15.Jahrhundert war es, die nach Cy-
ril Stanley Smith „deeply affected European economy", in: Charles Singer u. a., A History
of Technology, Bd. 3, 3Oxford 1969, S. 42.
66 Ian Blanchard, International Lead Production and Trade in the „Age of the Saiger-
prozess" 1460-1560, in: Zeitschrift fur Unternehmensgeschichte, Beiheft 85, Stuttgart 1995,
S. 32, 187.
67 Vgl. Michael North (Hg.), Von Aktie bis Zoll. Ein historisches Lexikon des Geldes:
Artikel Juliusturm', Miinchen 1995, S. 181-182.
68 Zu Herzogjulius s. ADB 14, S. 663-670. - NDB 10, S. 654f. - Friedrich Wagnitz, Der
Lebensweg von Herzog Julius von Braunschweig-Wolfenbiittel bis zum Regierungsbeginn
1568, Wolfenbiittel 1999. - Kurt Kronenberg, Die Reformation im Lande Braunschweig, in:
Vierjahrhunderte Lutherische Landeskirche in Braunschweig, Braunschweig 1968, S. 9-32. -
Horst-Riidiger Jarck /Gerhard Schildt (Hg.), Die Braunschweigische Landesgeschichte.
Jahrtausendruckblick einer Region, Braunschweig 2000, S. 470-472, 488-491, 500-505. - Hor-
st-Riidiger Jarck (Hg.), Braunschweigisches Biographisches Lexikon, wie Anm. 39, S. 386.
69 Aktive montan-unternehmerische Tatigkeit in der wirtschaftlichen Entwicklung der
Organisationsstrukturen der Bergbauverwaltung 303
wurde nun nicht primar als Geldquelle des Herzogs gesehen, sondern zuneh-
mend als landeswirtschaftlich relevantes Erwerbsunternehmen. Eine Erlaute-
rung zur Ordnungspolitik sei hier eingefiigt: Innerhalb des landesherrlichen
Wirtschaftsgefiiges wurde nicht zwischen ordnungspolitischen Entscheidungen
und prozesspolitischen Eingriffen unterschieden, denn eine Wirtschaftspolitik
mit Systematik und theoretischer Konzeption gab es zur Zeit der friihen Kamera-
listen noch nicht.70 Der fortgeschrittene Organisationsgrad des Berg- und Hiit-
tenwesens wurde im Direktionssystem zusammengefasst.71 Landesherrlich diri-
gierter Bergbau konnte sich bei Storungen und Erschiitterungen, wie z. B. bei
schwieriger Rohstofflage, bei Uberproduktion oder Absatzflauten als lenkender
Faktor herausstellen, urn innovative Impulse zu geben.
Doch ohne fachlich-kompetente, technisch-funktionale, durch Eid dem Lan-
desherrn verpflichtete und mit hinreichendem und stetigem Zugewinn an Hand-
lungsfahigkeit ausgestattete Berater, bei Zuriickdrangung von subjektiven Ent-
scheidungen und Empirie sowie standigem Wohnsitz im Harz waren solche
Handlungsformen und -ertrage mit entsprechender Verwertung zugunsten des
Regalherrn nicht moglich gewesen.
In diesem Zusammenhang ist aber auch festzuhalten,
- dass dieses Handeln an bestimmte normative (christliche) Setzungen gebun-
den bleiben musste, um dem Anspruch auf Giiltigkeit Anerkennung verschaf-
fen zu konnen,
- dass produktive Arbeitsbereitschaft durch unmittelbare Bevormundung und
adstringierende Vorschriften zunichte gemacht werden konnte (Direktions-
system),
- dass einerseits unter solchen Pramissen ein vergleichsweise geringes MaB an
Regelungsautonomie notig war, die sich denn auch nurin wenigen Beispielen
prazise nachweisen lasst und
Moglichkeiten eines Territoriums durch den regierenden Landesherrn ist in der Wirtschafts-
und Sozialgeschichte der Friihneuzeit keine ungewohnliche Erscheinung: Kurfiirst August
von Sachsen, Herzog Johann Albrecht von Mecklenburg oder Landgraf Wilhelm IV. von
Hessen-Kassel gehorten ebenso zu den deutschen fiirstlichen Unternehmern wie Herzogju-
lius von Braunschweig- Wolfenbiittel, die Herzoge von Bayern, Sachsen und Tirol und die
Grafen von Mansfeld, Henneberg und St. Joachimsthal.
70 Der Kameralismus benotigte zu seiner vollen Entfaltung mit verschiedenen systema-
tischen Ansatzen, stufenweisen Wandlungen und Entwicklungsrichtungen nahezu dreijahr-
hunderte (bis zum 18. Jahrhundert).
71 Roland Ladwig, Beitrage zur Herausbildung eines wissenschaftlichen okonomischen
Denkens durch Georg Agricola; in: Studien zur Geschichte des Montanwesens in Sachsen
vom 16. bis 19. Jahrhundert, Leipzig 1989, S. 15-38. - Vgl. dazu auch Andrea Kramarczyk
(Hg.), Das Feuer der Renaissance. Georgius Agricola Ehrung 2005, Chemnitz 2005.
304 Hans-Joachim Kraschewski
- dass andererseits die Beamten ganz in das soziale Umfeld eingeordnet waren
mit einer Vielzahl von personlichen und gesellschaftlichen Beziehungen zu
anderen Fachleuten, Beratern oder Praktikern.
Ein signifikantes Beispiel dieser gesellschaftlichen, stark anwendungsorientier-
ten Praxis ist Christoph Sander in seiner Funktion als Oberverwalter aller wolfen-
biittelschen Berg- und Hiittenwerke sowie Forsten im Ober- und Unterharz, der
aufgrund seiner Fachkompetenz gelegentlich klar und deutlich Bedencken gegen-
iiber seinem Landesherrn auBerte.72
Der zentrale Punkt der Aktivitaten und Vorstellungen des Herzogs und seiner
Berg- und Finanzbeamten betraf die zweckrationale Effektivitat des Bergbaus,
der in seiner kleinteiligen Struktur mit einer Vielzahl von einzelnen Gruben am
Rammelsberg und im Oberharz charakteristisch war. Diese Aufsplitterung in
kleinere Betriebsstatten, die jeweils durch einen unabhangigen Gewerken als
selbstandige Unternehmen gefiihrt worden waren und zunehmend den techni-
schen Schwierigkeiten nicht Stand hielten (das Problem war die Wasserwalti-
gung bei zunehmender Abbauteufe), hatte ihren Grund in der Bergordnung aus
der Zeit vor 1350. Diese beruhte auf dem Besitz einzelner Bergteile, deren Nut-
zung wiederum an den jeweiligen Teilbesitzer verpachtet war, ein fur die Friih-
neuzeit typischer Fall der Verschachtelung von Eigentums- und Nutzungsver-
haltnissen im produzierenden Bergbau. Mit der Ausweitung des Bergbaus muss-
te eine grundlegende Reorganisation der zersplitterten Besitzverhaltnisse, der
Technologie und der Arbeitsablaufe eingeleitet werden. Insbesondere die Ent-
wicklung des fiirstlichen Direktionssystems fiihrte zu groBraumigen Grubenver-
haltnissen und damit zum kostengiinstigeren Ausbringen der Erze. Das war die
Grundlage fiir den okonomischen Ertrag, den der Oberharzer Bergbau wie der
des Unterharzes am Rammelsberg seit 1552 zu erwirtschaften hatten. Ein weite-
res Moment kam hinzu: Diese groBeren Dimensionen unter einer zentralisierten
Leitung verlangten nach vereinheitlichten und vergleichbaren Setzungen zwecks
Wiederholbarkeit und Abrechnung sowie Kontrolle der erzielten Ergebnisse.
Das waren aus dem unmittelbaren Betriebsablauf abgeleitete, dringliche Forde-
rungen, die die Bearbeitung metrologischer Fragen (Regelung von MaB- und Ge-
wichtssystemen) auslosten.73
72 NLA HStA BaCl, Harm. 84a, la, Nr. 6, Bedenken des Oberverwalters Christoph San-
der an Herzogjulius betr. den Ankauf von Leder, Planen, Grubenseilen etc. (19. April 1571).
73 Vgl. dazu Harald Witthoft, Die Markgewichte von Koln und Troyes im Spiegel der
Regional- und Reichsgeschichte vom 11. bis 19.Jahrhundert; in: Historische Zeitschrift 253,
1991, S. 51-100.
Organisationsstrukturen der Bergbauverwaltung 305
1. Bergbeamte
Dominantes Instrument zur Durchsetzung eines zentral steuernden Prinzips der
Produktionsprozesse waren die dem Landesherrn unterstellten Bergamter. Es
handelte sich indessen um bewahrte, korporative Institutionen, die den Willen
der Grubeneigner - Stadt Goslar und Gewerken, dann (nach 1552) nur noch die
Landesherrschaften - konsequent umzusetzen hatten, um den Bergbau zu si-
chern, langfristig produktiv zu erhalten und damit die Einkiinfte der fiirstlichen/
landesherrlichen Kammerkassen zu gewahrleisten. Denn das Bergamtbildete die
eigentliche Betriebsleitung der Gruben. 1569 unterstellte Herzog Julius die Un-
ter- und Oberharzer Bergbeamten der Bergamter einem Berghauptmann, der als
furstlicher Rat aus Wolfenbiittel berufen wurde.74 Der Berghauptmann war mit
umfassenden Befugnissen ausgestattet. Ihm unterstanden die „Bedienten vom
Leder", die bergverstdndig zu sein hatten, d. h. mit langjahriger Berufserfahrung,
Sachverstand und Umsicht den Bergbau zu leiten in der Lage waren und sich zu
alien Bergsachen williglichen gebrauchen lassen und dem Bergmeister gehorsam seyn.75 So
war der Steiger ein vereidigter Bediensteter des Bergamts, der auf seiner Grube
die Erzhauerzu beaufsichtigen hatte, sie zur Arbeit anwies und kontrollierte. Nur
errechnete die erbrachten Leistungen mit dem Bergamt ab. Lohn- und Gedinge-
festlegungen betrafen nicht seine Befugnis, allerdings sollte er dem Bergamt Vor-
schlage machen, die der Verbesserung der Arbeitsablaufe dienten. Diese hatte er
dann als landesherrliche Direktive in seiner Grube umzusetzen.
2. Funktionstrager: Ein Beispiel
76
Einen exemplarischen Konfliktfall bildete die Amtsfiihrung des Steigers Caspar
Pommerlein, der fur das Eisenbergwerk am Schulenberg im Oberharz zustandig
war. Es handelte sich um einen Bergbau, dessen Stollen von Tage vorgetrieben
wurde und in dessen Fundgruben groBe Anbriiche an Eisenstein vorhanden sein
74 Das Bergamt (Zellerfeld, seit 1570 das Bergamtssigel fiihrend) setzte sich zusammen
aus dem (Ober)Berghauptmann und zwei Vizeberghauptleuten, den Beamten „von der Fe-
der" (Zehntner und Zehntgegenschreiber, dem Bergmeister und dem Bergschreiber, einem
Hiittenreiter und einem Hiittenschreiber) als Betriebs- und Finanzbeamten und den Beam-
ten „vom Leder" (Bergvogt, Vizebergvogt, fiinf Geschwornen und Schicht- oder Bergmei-
ster) als den technischen Fachleuten der Verwaltung.
75 NLA HStA BaCl, Hann. 84a, 808, 2, Grubenhagensche Bergordnung von 1554 (For-
mat Octav, 136 Blatter, nicht gedruckt).
76 NLA HStA BaCl, Hann. 84a, 8a, Nr. 67, Schreiben Herzogs Julius an das Obere Berg-
amt betr. die Amtsfiihrung des Steigers Caspar Pommerlein (14. Oktober 1575). - Protokoll
des Oberen Bergamts (19. Oktober 1575) - Bericht des Oberverwalters Christoph Sander an
Herzog Julius (19. Oktober 1575).
306 Hans-Joachim Kraschewski
sollten. Auf die Klage des Steigers setzte das Obere Bergamt in Zellerfeld am 19.
Oktober 1575 in Anwesenheit des Oberverwalters Christoph Sander einen Ver-
handlungstag an und legte anschlieBend ein umfangreiches Protokoll vor. Vorge-
laden war Oberbergmeister Peter Adner, der als Berichterstatter iiber die Entset-
zung Pommerleins vom Dienst zu referieren hatte.
Pommerlein wurde vorgeworfen, - so die Geschwornen Wolf Tost und Valen-
tin Fleischer, beide ermahnt bey den pflichten und eyden, damit sie dem Landesherrn
verwandt, ohne Neid und Hass auszusagen, - er habe
- seinen Steigerdienst nachlassig, weil unpiinktlich vollzogen,
- die Arbeiter nicht zur Arbeit angehalten,
- sich von einem Haspeler77 unrechtmaBig Holz liefern lassen,
- ihm dafiir seinen Lohn gutgeschrieben und er sei, da er ein bier Krueger gewesen,
in verdacht, weil der Eysenstein etwas abgelegen, das er demselbigen mit sollichem vleis,
wie ihme wol het geburen wollen, nicht obligge.
Hier sei eine Erlauterung eingefiigt: Die Aufgabe der Geschwornen war die
tagliche Kontrolle der Betriebsablaufe in den ihnen zugewiesenen Gruben. Sie
hatten auf die Sicherheit der Baue und der Arbeiter, auf die Einhaltung der For-
dermengen und bergamtlicher Vorschriften zu achten. Mit Sitz und Stimme im
Bergamt bildeten sie die untere Instanz dieser Behorde auf technischem und be-
triebsorganisatorischem Gebiet.
Als weitere VerstoBe Pommerleins kamen hinzu: Gedingearbeit78 wahrend
der regularen Schichtzeit ausfiihren und verrechnen zu lassen, Eisengezeug (Ge-
zahe als Schlagel und Eisen, Keilhacken, Kratzen, Schaufeln) von einer anderen
Zeche (Prophet Samuel) vorbei am Bergmeister zu seiner Zeche bringen zu las-
sen, da es dort standig fehlte, und schlieBlich Unschlitt furs Geleucht falsch ausge-
wogen zu haben.
Die Vorwiirfe wurden durch den Geschwornen Hans Bruckner, in dessen Zu-
standigkeit das Stuffenthal fiel, bestatigt und zugespitzt: Pommerlein habe das
Gezeug auf dessen eigene Zeche auf dem Adler im Spiegelthal schaffen und dort
zur Arbeit einsetzen lassen. Sollte er ergiebigere Eisenstein-Gruben als die beleg-
ten gekannt haben, so ware es bei seinem Diensteid seine Pflicht gewesen, dieses
dem Oberbergamt anzuzeigen. Das sei aber nicht geschehen. Was Pommerleins
eigene Zeche auf dem Adler betreffe, so habe er bisher dort keine Stufe Erz nach-
77 Haspeler. obertagiger Bergarbeiter, der mit einem horizontal liegenden Rundbaum
zum Auf- und Abwickeln von Forderseilen arbeitete.
78 Gedinge: zu einem festen Lohnsatz vereinbarte Abbau- oder Auffahrleistung. Gedinge
wurden fur besondere StoBarbeiten vergeben. Im Unterschied zu den Erzhauern standen
die Gedingehauer in einem fixierten Zeit-Leistungslohn (als Vorstufe des spater entwickel-
ten Akkords).
Organisationsstrukturen der Bergbauverwaltung 307
geschlagen, sondern er habe den - dem Herzog Julius - vorgewiesenen Hand-
stein79 von den Halden gebrochen, dan alda noch zimlicher Vorrat von ertzen, so die
alten Gewercken mit ihren gulden und Gelde erwonnen, d. h. der Steiger Pommerlein
habe bewusst triigerisch gehandelt oder sich mit falschen Aussagen Vorteile zu
verschaffen gesucht.
In seiner Gegenrede bestritt Pommerlein die gegen ihn erhobenen Vorwiirfe.
Es blieb bei den zugewiesenen Beschuldigungen, zumal der Oberverwalter Chri-
stoph Sander in seinem eigenen Bericht an den Herzog bekraftigte, dass Ober-
bergmeister und Hiittenreuter vormuge ihres tragenden ambtes Macht haben, undiichti-
ge Steiger und Schmelzer zuentsetzen, dock mit wissen des [BergJHaubtmanns.
Oberbergmeister Peter Adner hingegen musste sich rechtfertigen, aus welchen
Griinden er ohne Bewilligung und Vorwissen des Berghauptmanns den Steiger
Pommerlein des Dienstes enthoben habe, zumal der Eisenbergbau nicht in sein
Ressort fiele und - so Herzog Julius - das Silberbergwerk mit dem Eisenwerk nicht zu
schaffen noch eins dem andern zu gebieten. Denn wenn er, Adner, etwas pecciret, d. h.
einen Fehler gemacht hat, hatte man ihn in gebuhrliche strafe nehmen konnen, unab-
hangig von dessen redlichem Bemiihen, den Eisenstein zum Erfolg zu fiihren.80
Soweit dieser Vorgang, der zeigt, wie stark die Bergbeamtenschaft unter einem
Druck zur Veranderung stand, der sowohl ihre technischen Kenntnisse, ihre Ein-
stellung zur Arbeit wie ihre gruben-rechtlichen Vorstellungen betraf. Die klare
Abtrennung des Edelmetallbergbaus ist in diesem Kontext als die wichtigste
MaBnahme zu qualifizieren, um sachgerechte und storungsfreie Arbeitsablaufe
zu erreichen.
Das Direktionssystem stellte die Beamtenschaft vor die Forderung des Landes-
herrn, korrekte und effektive Grubenarbeit einzulosen, Arbeitsschritte zu iiber-
wachen, gegen Unterschleife, Dieberei, Nachlassigkeit und Unpiinktlichkeit vor-
zugehen und eventuell ein StrafmaB bei Vergehen festzulegen. Eine fachkundige
Bergbeamtenschaft musste aus sachlogischen Griinden die Notwendigkeit der
eindeutigen Trennung und Regulierung von Montanbetrieben mit unterschiedli-
chen Funktionssystemen anerkennen, sollte derBergbau produktiv weiter gefiihrt
werden. Verglichen mit den iibrigen Verwaltungseinrichtungen des Landes wies
Herzog Julius der Bergbehorde eine herausgehobene Stellung zu: Sie war eine
iiber den Grubenbetreibern stehende entscheidende Instanz - abgesehen vom
79 Handstein oder Erzstufe: Handstiick von Gestein oder Erz.
80 Als Konsequenz aus diesem und vergleichbaren Vorgangen (UnregelmaBigkeiten bei
der Arbeit von Zehntnern oder Zehntgegenschreibern) erlieB der Landesherr 1578 eine
Dienstanweisung fur die Kommission der Visitatoren iiber die Reihenfolge ihrer Rechnungs-
abnahme der Bergwerke, wozu auch die Rechnung der Gittelder Einsenkanzlei und der Ei-
sensteingruben gehorte (NLA HStA BaCl, Hann. 84a, 2a, Nr. 13, 14. Marz 1578).
308 Hans-Joachim Kraschewski
Landesherrn, - die iiber einen groBen Kernbereich an delegierten Befugnissen
auf dem Bergbausektor verfiigte. Zu fragen ist in diesem Zusammenhang:
- Um welche sozialen Gruppen handelte es sich bei den mit der Leitung des
Bergbaus betrauten Beamten?
- Was bedeuteten Territorialstaat und Beamtenschaft im Kontext von Berg-
und Hiittenwesen Mitte/Ende des 16. Jahrhunderts?
Das sind insofern wichtige Fragen, als der friihneuzeitliche Territorialstaat
nicht nur im Bereich des Bergbaus eine historisch neue Erscheinung war, sondern
Beamte sich erst in Umrissen herausbildeten, wenn auch schon einige biirokrati-
sche Strukturen sichtbar wurden (vor allem durch Kontrollfunktionen) . Es waren
Beamte, die ihr Amt vom Landesherrn verliehen bekamen und durch ein regel-
maBiges Einkommen und Deputate (Sommer- und Winter-Kleidung, Brot- und
Futtergetreide, Holz etc.) entlohnt wurden. Es gab keine formalisierte Ausbil-
dung, die eng mit dem Erlernen eines spezifischen Beamtenhabitus verkniipft
war. Es gab auch kein ausgebildetes Sozialmodell des Bergbeamten mit wissen-
schaftlicher Ausbildung an einer Bergakademie. Inhaltlich verfiigten sie iiber
groBes Erfahrungswissen und praktische Unterweisung in den verschiedenen
Bergbaubereichen ohne deren theoretische Durchdringung. Dass sie auch auf ein
empirisch verankertes Verstandnis von kameralistischer Wirtschaftsforderung
zuriickgreifen konnten, ist nicht anzunehmen. Pragmatisch und zweckgebunden
wurden sie in die Vorgaben und Konzeptionen des Landesherrn eingebunden
und hatten dessen Willen umzusetzen.
Ihre besondere Stellung als Bergbeamte innerhalb des fruhmodernen Territo-
rialstaates griindete in der engen Verkniipfung von praktischen Expertenkennt-
nissen, konkreten Erfahrungen mit dem Gedankengut des nachreformatorischen
Konfessionalisierungsprozesses und dem Status der privilegierten Oberschicht
ihrer sozialen Trager.81 Das erst erklart eine gewisse Vorrangstellung der monta-
nistischen Sozialformation der Beamten. Stadtpatriziat und Adlige82 trafen sich
81 Giinther Schulz (Hg.) , Sozialer Aufstieg. Funktionseliten im spaten Mittelalter und in
der Friihen Neuzeit, Miinchen 2002. - Ronald G. Asch, Staatsbildung und adlige Fiihrungs-
schichten in der Friihen Neuzeit: Auf dem Weg zur Auflosung der standischen Identitat des
Adels?; in: Geschichte und Gesellschaft 33, 2007, S. 375-397.
82 Hartmut Harnisch, Grundherrschaft oder Gutsherrschaft. Zu den wirtschaftlichen
Grundlagen des niederen Adels in Norddeutschland zwischen spatmittelalterlicher Agrar-
krise und DreiBigjahrigem Krieg; in: Rudolf Endres (Hg.), Adel in der Friihneuzeit. Ein re-
gionaler Vergleich, Koln, Wien 1991, S. 73-98, verweist auf mehrere Beispiele des niederen
Adels, die als „Adelskapitalisten" (S. 95) ihr Geld im Harzer Montanwesen anlegten: Achaz
von Veltheim erwarb 1572 die Hiitte Rubeland, wahrend Ludolf von Alvensleben 1572 ge-
meinsam mit mehreren Biirgern aus Magdeburg durch einen Gesellschaftsvertrag am Ilsen-
burgischen Draht-, Messing-Kessel-, Eisen- und Blechhandel mit der eingelegten Summe von
Organisationsstrukturen der Bergbauverwaltung 309
in den Bergamtem und der Bergbauverwaltung mit dem Ziel, im landesherrli-
chen Dienst als Bergbeamte den Bergbau zum Gemeinen Bergwerksbestenvmd dem
Gemeinwohl- und damit nicht nur fur das landesherrliche Privatvermogen - tech-
nisch und wirtschaftlich effizient fortzuentwickeln.83 Mit ihren Vorstellungen von
der Entfaltung eines Wirtschaftssektors, in den man eine Reihe von anderen Pro-
duktionszweigen, u. a. produzierendes Handwerk und Gewerbe integrierte, ver-
banden sie Elemente einer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die Teile der
alten standischen Verfassung der tradieren Gesellschaft in Frage stellten. Dazu ge-
horte der Berghauptmann Asmus Helder, der 1556 die Leitung aller Harzer Berg-
und Hiittenwerke in der Zeit vor Christoph Sanders Ernennung inne gehabt hat-
te.84 Infolge einigerUnregelmaBigkeiten beim Kuxhandel und Missgriffen in sei-
ner Verwaltung lebte er zeitweilig zuriickgezogen,85 bis er 1571 als herzoglicher
Landsknechtshauptmann, zustandig auch fur Haus- und Amtersachen, in Wol-
fenbiittel bestallt wurde und zwischen den einzelnen Teilbereichen Verbindun-
gen aufbaute. Das konnte allerdings, bei der Vielzahl der Amter, nur zwischen
wirtschaftlich bedeutsamen Amtern geschehen.
Die Beamten mussten sich mit ihren Vorstellungen und Konzeptionen nicht
gegen andere, namlich konkurrierende Plane oder soziale Gruppen (Stadtbiirger)
durchsetzen, zumal sie innerhalb eines einheitlichen (homogenen) Verwaltungs-
apparates tatig waren. Berg- und Finanzbeamte nahmen auch keine unterschied-
lichen Positionen ein und standen nicht quer zueinander im Wettstreit um die zu
verandernde Ausgestaltung von Segmenten des fruhmodernen Territorialstaates.
Der Landesherr dominierte und forderte zwangslaufig die Vereinheitlichung,
falls unterschiedliche Konzepte vertreten wurden oder setzte seinen eigenen, au-
tonomen Willen durch. Das beeinflusste den intendierten Weg der Entwicklung,
der nicht zuletzt in der beibehaltenen Trennung von verwaltender und manueller
Tatigkeit seinen Ausdruck fand.
40.000 Gulden engagiert war. Damit waren sie allerdings lediglich finanziell, nicht aber
technisch oder betriebswirtschaftlich an der Montanproduktion beteiligt.
83 Herbert Dennert, Bergbau und Huttenwesen im Harz vom 16. bis 19. Jahrhundert
dargestellt in Lebensbildern fuhrender Personlichkeiten, 2Clausthal-Zellerfeld 1986.
84 Zu Asmus Helder vgl. Jarck (Hg.), Braunschweigisches Biographisches Lexikon, wie
Anm. 39, S. 333-334. - NLA HStA BaCl, Hann. 84a, Histor. und Stat. Nachr., Nr. 27, Ver-
tragliche Abgrenzung der Kompetenzen zwischen Asmus Helder, Berghauptmann auf dem
Zellerfeld, und Christoph Sander, Zehntner zu Goslar (3. Februar 1566).
85 Vgl. auch Georg Conrad von Salz, Der Communion-Oberharz. Ein actenmaBiger
Beitrag zur Harzgeschichte, 2. Heft, 1858, S. 22-24 (MS im NLA HStA BaCl, Bibliothek
Achenbach).
310 Hans-Joachim Kraschewski
V. Normative Sachkompetenz
1. Oberverwalter Christoph Sander (1518-1598)
Der wichtigste, weil fachlich kompetenteste Bergbeamte des 16. Jahrhunderts im
Harz war Christoph Sander. Es war sein Verdienst, dass die wolfenbiittelsche
Bergverwaltung unterHerzog Julius kontinuierlich und vorbildlich funktionierte
und derBergbau auf mittlerem (Rammelsberg) bis hohem Niveau (Oberharz) vor-
weisbare Ergebnisse erzielen konnte, denn er sicherte die Uberwachung des
Montanwesens im westlichen Harz und starkte damit den landesherrlichen Ein-
fluss und die Kontrolle iiberdie Blei- und Silber-Produktion. Zugleich sorgte erfiir
die Entwicklung staatlicher Regiebetriebe durch Verhiittung der Fronerze in den
landesherrlichen Schmelzhiitten. Konkurrierende, privatwirtschaftlich betrie-
bene Unternehmungen wurden von ihm in landesherrliche Aufsicht uberfuhrt.
Mit seiner Berufung zum Amtmann in Lichtenberg und 1556 zum Zehntner
(Rechnungs- und Finanzverwalter) und Forstschreiber der Oberharzer Bergwer-
ke durch Herzog Heinrich den Jiingeren begann Sanders eigentliche Karriere.
1563 wurde er nach Goslar versetzt und zum Oberzehntner und Verwalter der
Berg- und Hiittenwerke am Rammelsberg befordert, der energisch fur korrekte
Verwaltung und effiziente Arbeit der Gruben- und Hiittenbetriebe sorgte. Zu-
nachst geriet er in Kompetenzstreit mit Peter Adner, der schon unmittelbar nach
der Wiederaufnahmen des Bergbaus in Wildemann 1536 durch Herzog Heinrich
den Jiingeren zum Steiger und Geschwornen (1554) auf dem Oberharz ernannt
worden war und seit 1556 als Bergmeisterund Berghauptmann seine technischen
und organisatorischen Fahigkeiten und Erfahrungen fur mehr als dreiBig Jahre
einbringen konnte.86 Insofern ist es nicht zufallig, dass Agricola Zellerfeld als ein
zu seiner Zeit wieder aufgenommenes Bergwerk erwahnt. Aus diesem hatten die
Fiirsten von Braunschweig-Wolfenbiittel Werte aufgehauft, weil man dort und an
benachbarten Platzen Silber schiirfe.87 Als der Streit zwischen Adner und Sander
1566 vertraglich beigelegt wurde, bestellte Herzog Julius Christoph Sander auf-
grund seiner erfolgreichen Tatigkeit 1572 zum Oberverwalter aller wolfenbiittel-
schen Berg- und Hiittenwerke sowie Forsten im Ober- und Unterharz, ausgestat-
tet mit der Machtfiille eines Berghauptmanns, ohne dass er diesen Titel besaB. Er
war Zehntner und Statthalter des Fiirsten. Adner und Sander beritten und beauf-
sichtigten gegenseitig ihre Reviere und informierten sich wechselseitig iiber fest-
86 Zum Oberbergmeister Peter Adner vgl. Jarck (Hg.), Braunschweigisches Biographi-
sches Lexikon, wie Anm. 39, S. 28-29.
87 Georgius Agricola, Vermischte Schriften, Bd. I, De veteris et novis metallis libri II.
Erzlagerstatten und Erzbergbau in alter und neuer Zeit, Berlin 1961, S. 96.
Organisationsstrukturen der Bergbauverwaltung 311
gestellte Mangel.88 Wie Georg Conrad von Salz berichtet, hatte Herzog Julius
1569 es fur notig befunden, die Wirksamkeit der Berghauptleute einer speziellen
Aufsicht durch Oberberghauptleute zu unterstellen. Das war gleichsam eine Mittel-
instanz zwischen dem Landesherrn und seiner Regierung bzw. den Bergamtern
des Harzes.89 Sie bewahrte sich jedoch nicht, da dieses Verwaltungspersonal kei-
ne sachverstandigen Techniker des Bergbaus hatte und seinen Wohnsitz auBer-
halb des Harzes beibehielt und folglich im Bedarfsfall nicht rechtzeitig am Ort
des Geschehens eintraf. Schon nach wenigenjahren wurde daher diese Mittelin-
stanz wieder abgeschafft und die Berghauptleute in ihr altes Direktionsrecht ein-
gesetzt, des Bergwercks gedey und wolfart zu befurdern.
Bereits 1564 hatte Sander den Techniker Heinrich Eschenbach aus dem Land
MeiBen zum Rammelsberg berufen lassen, der zur Wasserwaltigung die Stangen-
kunst mit dem Krummen Zapfen, seinerzeit die leistungsfahigste Maschinerie, inner-
halb von zwei Jahren als die Hauptwasserhaltung aufbaute, so dass noch weitere
unter Wasser stehende Gruben gesiimpft und neue, unverritzte Bleierzvorkom-
men erschlossen werden konnten.90 Durch diese Neuerung vergroBerte sich das
Vo lumen der Metallgewinnung. Auch der Miinzwardein Lazarus Ercker91 war
von der technische Qualitat dieser Gestangewasserhaltung mit Wasserradantrieb
tiber einer Kurbelwelle ebenso iiberzeugt92 wie der Berghauptmann Georg En-
gelhardt von LohneiB eine Generation sparer: Die Stangenkiinste mit dem krummen
Zapfen sind unter alien anderen Wasserkiinsten die bestendigsten und niitzlichsten, zudem
sind sie auch ohn grossen Kosten zuerbauen und zuerhalten.93
88 NLA HStA BaCl, Harm. 84a, la, Nr. 5, Resolution Herzogs Julius fur das Obere und
Untere Bergwerk, dass die Beamten wechselseitig in alien Fallen und zu jeder Zeit mit Rat
und Tat einander die Hand reichen sollen (S.Juni 1570).
89 Georg Conrad von Salz, Der Communion-Oberharz. 2. Heft, wie Anm. 85, S. 3.
90 Paul-Reinhard Beierelein, Heinrich Winkelmann (Bearb. und Hg.): Lazarus Ercker,
Das kleine Probierbuch von 1556; Vom Rammelsberg" und dessen Bergwerk, ein kurzer Be
richt von 1565; Das Munzbuch von 1563. Drei Schriften, Bochum 1968. - In „Vom Ram-
melsberg und dessen Bergwerk" heiBt es dazu: Es hat der Rammelsberg viel Wasser und ist kein
tieffer Stollen darein getrieben. [. . .J Da unter stund sich ein Ausldnder aus dem Land zu Meissen mit
Nahmen Matthias [korrekt: Heinrich] Eschenbach, in den Rammelsberg die Wasser-Kunst mit dem
krummen Zapfen zu hdngen (S. 241). - Eschenbach hatte nach 1545 im sachsischen Erzgebirge
(Ehrenfriedersdorf) die wassergetriebene Gestangepumpe „Kunst mit dem Krummen Zap-
fen" oder „Ehrenfriedersdorfer Radpumpe" entwickelt, die in den zentraleuropaischen Re-
vieren eingesetzt wurde. Dieses System zur Wasserwaltigung blieb die folgenden zwei Jahr-
hunderte in Anwendung. - Graham Hollister-Short, Die Anfange der Gestangewasserhal-
tung im mitteleuropaischen Bergbau; in: Der Anschnitt 42, 1990, S. 131-140.
91 Vgl. dazu unten Anm. 106.
92 NLA HStA BaCl, Hann. 84a, 2a, Nr. 11, Bericht vom Rammelsbergischen Bergwerk
1576 (wie Anm. 52).
93 Georg Engelhardt von Lohneiss, Bericht vom Bergkwerck, wie man dieselben bauen
312 Hans-Joachim Kraschewski
Im Oberharz (Wildemanner-Revier) setzte Sander nicht nur Pumpanlagen mit
Wasserradantrieb erfolgreich ein, um das zuflieBende Wasser zu heben, sondern
fiihrte die von Heinrich demjiingeren begonnene Arbeit an Wetter- und Wasser-
losungs-Stollen fort. Er lieB gegen alle Bedenken der zustandigen Bergbeamten,
aber mit Zustimmung Herzogs Julius, einen Stollen in den Stuffenthaler Gangen
in zweieinhalb Jahren auffahren: Denn albereitt 15 Zechen im Staubenthall rege und
fundtlich gemacht sind, zugeschweigen, dass soldier Stoln nunmehr dem tieffen frankschar-
nerStoln die erbgerechtigkeit benimpt.9i Das Bergamt hatte darauf verwiesen, dass auf
den bezeichneten Grubenfeldern bei Wildemann nicht ausreichend Wetter- und
Wasserlosungsstollen vorhanden seien. Doch, - bevehlen derwegen gnediglich, - der
Stollner der bedeutenden Wasserlosungsstollen war definitiv der Landesherr und
dessen Anordnung gait ohne Widerrede. SchlieBlich wurden noch zwei weitere
Stollen aufgenommen, der Getroste Hedwigs- bzw. der Obere Wildemanner-
Stollen, die vierzig Lachter Teufe brachten und in ihrer Bedeutung vom Haus
Braunschweig hoch geschatzt wurden. Allerdings hatte man dort keine Erzanbrii-
che gefunden, sondern tauben Fels. Als aber nach 1570 der Getroste Hedwigs-
Stollen 37 Lachter tiefer eingebracht wurde, konnten dort eingesprengtes Erz
iiberfahren und auf schneidigem Gang fortgefiihrt werden, wenn auch nur mit ge-
ringem Silbergehalt (zwei Lot) . Insofern musste ein weiterer Stollen angelegt bzw.
wieder aufgewaltigt und weiter getrieben werden, den Heinrich der Jiingere be-
reits 1526 hatte auffahren lassen wollen, der Tiefe Wildemanner-Stollen, dessen
Gang bessere Ergebnisse versprach.95 Die fur die zahlreichen Stollen-Auffahrun-
gen vom Landesherrn angelegten Gelder kamen sukzessive durch den Stollen-
Neunten, den jede Grube neben dem Zehnten als weiteres Zehntel an die Zehnt-
kasse zu zahlen hatte, wieder herein.96
und in guten Wohlstandt bringen soil, sampt alien darzu gehorigen Arbeiten, Ordnungen
und rechtlichen ProceB, 1. Aufl. Zellerfeld 1617, 343 S., Vorrede. Doppelseitige Tafeln im
Text (4. Aufl. Frankfurt/M. 1672 - Letzte Auflage 1717 Hamburg).
94 NLA HStA BaCl, Hann. 84a, 2a, Nr. 11, Bericht vom Rammelsbergischen Bergwerk
1576, wie Anm. 52, die Forderung in dem Bericht lautet, dass ein Stollen, der die Erbgerecht-
same erlangen wollte, 7 Lachter und ein Viertel (14 m) von der Erdoberflache bis unter des an-
dern Wasserseige (Ebene zum Ablaufen des Wassers) einbringen musste, dann hat es deme an-
dern seine gerechtigkeit gantz und gar abgeschnitten. Am Rammelsberg hatte der tiefere Stollen
mindestens 10 Lachter (19,20 m) unter dem dariiber liegenden einzubringen.
95 NLA HStA BaCl, Hann. 84a, 2a, Nr. 13, Bericht des Oberen Bergamts an HerzogJuli-
us iiber den Stand des Bergbaus im Oberharz (zwischen Wildemann und Zellerfeld), 10.
April 1578. - Der Tiefe Wildemann Stollen warder spatere 13 Lachter-Stollen, den die Alten
durch den Gallenberg zu treiben begonnen hatten. Dieser Stollen musste auf dem Zellerfel-
der Hauptzug die beachtliche Teufe von 100 Lachter (ca. 200 m) einbringen, ein Projekt, das
mit ungeheuren Schwierigkeiten verbunden war.
96 Der 13 Lachter-Stollen wurde mit 43 Durchschlagen auf einer Lange von 4500 m in
ca. 170 Jahren von Wildemann bis zum Treuer Schacht in Zellerfeld durchgetrieben und er-
Organisationsstrukturen der Bergbauverwaltung 313
Das Beispiel zeigt, welche AnstoBe Sander von Herzog Julius aufhahm und,
weit vorausschauend, in Eigeninitiative umsetzte. 1576 verwaltete er als Oberamt-
mann die sieben Amter im Harz und war damit Vorgesetzter des Amtmanns zur
Harzburg, der iiber die Bergstadte die hohe Gerichtsbarkeit ausiibte. Zwei Jahre
nach dem Tod seiner ersten Frau heiratete er 1573 die Tochter des angesehnen
Goslarer Burgers Heinrich von Uslar, wodurch er in die soziale Oberschicht der
Stadt aufstieg.
Das wesentliche Problem des Bergbaubetriebs war und blieb die Wasserhal-
tung. Mit der Anlage eines neuen Wasserlosungsstollen, der bis 1585 mit groBem
finanziellen Aufwand vollendet wurde, erlangte der „Tiefe Julius Fortunatus Stol-
len" (Lange 2.578 m) zentrale Bedeutung fur die Wasserhaltung des Rammels-
bergs und behielt sie weitere vierhundert Jahre bei.97 Durch Zuheben der Wasser
gelang es nun, selbst in wassernotigen Gruben bis in eine Tiefe von 50 Lachter
(knapp 100 m) unterhalb des tiefsten Stollens die Wasser knapp z.u halten. Mit dem
Durchschlag enterbte dieser Stollen den dariibergelegenen Rathstiefsten Stollen,
d. h. dessen Rechte als bis dahin tiefster Stollen gingen nunmehr auf den Julius
Fortunatus Stollen bzw. auf dessen Stollner, den Landesherrn, iiber hinsichtlich
der Erhebung des Stollen-Neunten und des Rechts auf Stollenhieb (Gewinnung
derjenigen Erze, die beim Auffahren des Stollens durch eine fremde Grube er-
reichbar waren).
Bis zum Betriebsende des Bergwerks Rammelsberg 1988 funktionierte dieser
Stollen als entscheidender Wasserhaltungsstollen.98
reichte im Jahr 1700 auf der Grube Caroline den Burgstadter Zug. - Zu den wasserwirtschaft-
lichen Anlagen im Oberharz vgl. auch Arbeitsgemeinschaft Harzer Montangeschichte
(Hg.), 200 Jahre Tiefer Georg-Stollen, Clausthal-Zellerfeld 1999. - Friedrich Balck, Wolf-
gang Lampe, Vier Teiche auf der Streitkarte. Anlass fur eine Zeitreise durch die Wasserwirt-
schaft des Unteren Burgstadter Reviers, Clausthal-Zellerfeld 2007, bes. S. 32-39 („Augen-
scheinkarte" von 1581 mit der Darstellung der Bergstadte Clausthal und Zellerfeld).
97 NLA HStA Hannover, Hann. 76 c, A,21,pag. 41 r: Den 25 Septembris A" [15]85 nachmit-
tag umb drey Uhr ist der durchschlag im Julius fartunatus Stoll vor dem orth aus der Voigtschen durch
Abraham Brodtauf, einen Hauwer, gemacht worden. - Der Bau des „Tiefen Julius Fortunatusstol-
len" war bereits 1486 begonnen worden, seit 1535 nachhaltig gefordert und mehrfach wegen
der Kostenfrage und infolge Streitigkeiten iiber die Berghoheit liegen geblieben. Als GroBstol-
len brachte er einen Teufengewinn von 45 m, d. h. er lag um diese Distanz unter dem bis dahin
Wasser ableitenden Rathstiefsten Stollen. Erst unter Christoph Sanders Leitung konnte er zum
Durchschlag gebracht werden. Mitte der 1990er Jahre wurde der Tiefe Julius Fortunatusstol-
len verschlossen und leitet somit keine Grubenwasser mehr nach iiber Tage.
98 NLA StA Wolfenbiittel, Kammerrechnung 17 III Alt, 35-62: Die Ausgaben auf die Berg-
werke umfassten neben den Ausgaben fur Personal- und Betriebskosten etc. die Kosten fur
Wasserlosungsstollen. Daher wurde der Durchschlag des Tiefen Julius Fortunatus Stollens
von Kammermeister Albrecht Eberding ausdrucklich vermerkt [1585]. - Desgl. in NLA
HStA Hannover, Kammerrechnungen 76c A, 21-32. - Vgl. auch Wilhelm Stelling, Der Tie-
314 Hans-Joachim Kraschewski
MaBgeblich trug Sander zum Ausbau des Zellerfelder Bergamts bei. Er wirkte
an alien grundlegenden MaBnahmen des Herzogs im Bergbau des Harzes mit
(„Sandersches System"). Auf ihn ging die Einfiihrung von eisernen Ketten in der
Erzforderung zuriick: sie ersetzten die anfalligen Hanfseile.
Auf Sanders Betreiben wurden nahezu alle Schmelz- und Treibhiitten am Un-
terharz in herzogliche Verwaltung iiberfiihrt, um durch umfangreiche betriebs-
technische und organisatorische Reformen die Ausbeute an Blei und Silber zu
verbessern. Die veranderte, namlich metallarmere Rohstofflage in der zweiten
Halfte des 16. Jahrhunderts" erforderte eine neue Technik, hohere Treib- und
Schmelzofen mit groBerer Stichoffnung, die mit starkerem Geblase betrieben
wurden, und eine erhohte Kompetenz der Hiittenleute in alien Arbeitsschritten:
es sollten methodisch geregelte Verfahren des Aus- und Zusammenschmelzens
von Unter- und Oberharzer Erzen anwendungsreif entwickelt werden.100 Ande-
rerseits gab es in Relation zum Bergbau im Hiittenwesen ein verringertes Risiko,
denn aufgrund der relativ regelmaBigen Erzlieferungen aus unterschiedlichen
Gruben warfen die Hiitten zumindest einen stetigen Gewinn ab.
Die im Vergleich zur Grubenarbeit sehr vielfaltigen Anforderungen ausgesetz-
ten Hiittenprozesse waren in horizontale Arbeitsstufen gegliedert - Rosten,
Schmelzen, Treiben und Frischen. Jede Stufe hielt verschiedene Arbeitsauftrage
bereit, die nach MaBgabe derHiittenanlagen und Logik der Arbeitsverfahren von
dem jeweiligen Hiittenteam ausgefiihrt wurden. Dabei bildeten die Schmelzver-
fahren eine besondere Herausforderung, denn ihre Praxis war ein energieaufwen-
diger und somit kostenintensiver Vorgang. Je nach Aufgabe der einzelnen Hiitte
(auf Blei- oder Silberarbeiten) waren von den Hiittenleuten Ablauf-Geschwindig-
keit, Genauigkeit und verfeinerte Methoden des Ausschmelzens zu beachten. Es
sollte die Zielsetzungen realisiert werden, ein Schmelz verfahren zu entwickeln,
dass erhohte Mengenausbringung erreichte, damit der standig beklagte Silber-
Defect beseitigt wiirde. Je genauer Niederschlagsarbeit und Schmelz-Methode
aufeinander abgestimmt waren, desto effektivere Ergebnisse konnten erzielt wer-
den. Wahrend diese Zielvorstellung als theoretische Vorgabe alle Beteiligten wie
Landesherrschaften und Bergbeamte in ein reges Austauschsystem einband und
zu standigen Erorterungen in den Bergamtern fiihrte, probierten die Hiittenleute
in praktischen Versuchsanordnungen wechselnde Verfahrensweisen aus. Es fehl-
te eine bestimmbare, stringente Ziel-Mittel-Relation, die als Systematikzu verste-
fe Julius Fortunatus-Stollen am Rammelsberg. Geschichte und markscheiderische Doku-
mentation; in: Der Anschnitt 45, 1993, S. 132-143.
99 Vgl. dazu oben Anm. 5.
100 NLA HStA BaCl, Hann. 84a, 2a, Nr. 12, Vermerk iiber eine Besprechung zwischen
Herzog Julius und Christoph Sander iiber das Zusammenschmelzen von Rammelsberger
und Oberharzer Erzen (24.Januar 1577).
Organisationsstrukturen der Bergbauverwaltung 315
hen gewesen ware. Ansatze zu einer systematischen Vorgehensweise lagen dage-
gen vor, dan ein gewisse regel in allem Schmeltzuierck, wie Sander es formulierte.101
Einzelne Verfahren der Erprobung wurden kombiniert, in Listen notiert, von
fachlich qualifizierten Schmelzern iiberpriift, gegenkontrolliert und in ihrer Zu-
sammensetzung standig verandert. Sie blieben damit stets im Bereich der mogli-
chen Wiederholung mit variablen Zusatzen im Detail. Sander lieB auch mit der
Beschickungsmenge bei Schmelzofen experimentieren, um ein optimales Ver-
haltnis zwischen eingesetzter Erzmenge und verbrauchter Holzkohle zu erzielen.
Die ermittelte Relation fiihrte allerdings zu einer erhohten Arbeitsbelastung der
Hiittenleute, da sie nun groBere Mengen an Erz in einer Schicht zu verschmelzen
hatten. Wenn pro Schicht und Schmelzgang das Quantum an Erz verdoppelt wur-
de (von 7,5 auf 15 Scherben), konnte zumindest der Holzkohlenverbrauch von 4
auf 3 Fuder gesenkt werden.
Die Probier-Kunde,102 seit der Antike unter dem Namen Dokimasie bekannt,
stellte fur Sander im hiittenmannischen Prozess eine wichtige Entscheidungsstel-
le dar und besaB entsprechende Wertschatzung. Das zeigte sich auf unterschiedli-
chen Ebenen, namlich
- dass Sander als oberster Miinz-Beamter des Landes diese Prozesse der Steue-
rung iiberwachte,
- dass ihm bekannt war, welch groBe Erfahrungen auf der Ebene der Probier-
kunst Lazarus Ercker besaB und
- dass auf sein Betreiben die Probierkunst standig verfeinert werden sollte, um
zu neuen Quantitaten und Qualitaten bei derMetallerzeugung zu gelangen.103
101 NLA HStA BaCl, Hann. 84a, 16, Nr. 3a, Schreiben Christoph Sanders an Herzogju-
lius, wie es mitt dem probeschmelzen geschaffen (24. Marz 1581).
102 Die Probierkunde war das quantitative Ermitteln von Bestandteilen in Erzen und metal-
lischen Legierungen, aber auch in Verbindungen wie Mineralen und Salzen, aus der sich spa-
ter die Analytische Chemie entwickelte. Das Abtrennen von Verunreinigungen bildete die
Voraussetzung fur die anschlieBende Gehaltsbestimmung. Probierwaage, Probiergewichte,
Probiernadeln und Probiernapfchen zahlten zu den sorgfaltig gehiiteten Instrumenten des
Probierers. Beim Probieren waren Durchfuhrung und chemische Reaktionen die gleichen wie
bei der Verhuttung - allerdings kleinmaBstablich angelegt. Dabei bediente sich das quantitati-
ve Ermitteln bestimmter Bestandteile traditionell ,trockner', d. h. pyrotechnischer Scheidever-
fahren, zuweilen auch ,nasser' mit Hilfe von Scheidewasser (vgl. unten Anm. 129, 130). - Lo
thar Suhling, Hiittenwesen der Aricola-Zeit: Probieren und Aufbereiten; in: Bernd Ernsting
(Hg.), Georgius Agricola, Bergwelten 1494-1994, Chemnitz, Bochum 1994, S. 172-174.
103 NLA HStA BaCl, Hann. 84a, la, Nr. 6, Bericht Christoph Sanders iiber seine Be-
sprechung mit Herzog Julius betr. hiittentechnische Fragen und Probleme (28. Juni 1571).
Als Huttenvogte empfiehlt Sander die besten und getreuesten Arbeiter und Schmelzer zu
nehmen, denn Goslarisch Schmeltzen sei eine sonderliche Art. - Schmelzversuche durch Jiirgen
Richter (1. November 1571).
316 Hans-Joachim Kraschewski
Als Oberverwalter hatte Sander einen groBen Harz-Bezirk mit Berg- und Hiit-
tenbetrieben zu inspizieren und Herzog Julius in Wolfenbiittel Bericht zu erstat-
ten, denn die Betriebsplane aller Gruben (Uber- und Ratschldge) wurden in der
Zentralverwaltung durch die Bergrechnungsvisitatoren iiberpruft, ehe sie wirk-
sam wurden. 1594 schrankte der Landesherr Heinrich Julius Sanders Befugnisse
deutlich ein, als er aufgrund von Gewerken-Beschwerden Georg Engelhardt von
LohneiB zum neuen Berghauptmann fur den wolfenbiittelschen Oberharz berief.
Sanders Befugnisse umfassten fortan nur noch das Rammelsberger Revier.
Er war der bedeutendste, weil ein iiberaus befahigter, energischer und fleiBiger
Bergbeamter des 16. Jahrhunderts im gesamten West-Harz, mit groBer fachlicher
Autoritat und Machtfiille ausgestattet. Uneingeschrankte Loyalitat und ein gutes
personliches Verhaltnis verbanden ihn iiber einen langen Zeitraum mit Herzog
Julius. Das dokumentieren seine reichhaltig hinterlassenen, eigenhandig verfass-
ten und an den Landesherrn gerichteten Berichte sowie die Beratungs-Protokolle
in der Wolfenbiitteler Residenz oder in den Bergamtern iiber die Zustande im
Oberharzer Montanwesen und dem Bergbau am Rammelsberg, die bisher nicht
ediert sind.
Christoph Sander schuf mit seiner personenbezogenen Tatigkeit eine regelnde
Organisation. Durch das Medium der Reproduktion seiner Handlungsvorgaben
wurden die hoheren Amtstrager der fachkundigen, kompetenten Bergbeamten-
schaft ausgebildet und etabliert. In seiner Nachfolge mussten Amter institutiona-
lisiert werden (bis hin zurGriindung derBergakademie Clausthal 1775), die unab-
hangig von personalen Variablen auf fachlicher Ebene relativ konstant arbeite-
ten. Er starb im hohen Alter von 80 Jahren und wurde in der St. Jakobi Kirche in
Goslar beigesetzt.104
2. Miinzwardein Lazarus Ercker (1528-1594)
Ein weiteres Beispiel hochst kompetenter Beamtenschaft und fachkundiger Ge-
diegenheit ist Lazarus Ercker, der mit Vannoccio Biringuccio und Georgius Agri-
cola zum „illustren Dreigestirn" am Himmel der Metallurgie und der metallurgi-
schen Technik gehort.105 Er hat ein Arbeits- und Rezeptbuch der Probierkunde
104 Ekkehard Henschke, Sozialer Aufsteiger und erfolgreicher Bergbeamter - Chri-
stoph Sander der Altere 1518-1598, in: Harz-Zeitschrift 31, 1979, S. 57-64. - Wilhelm Kalt-
hammer, Der Oberberghauptmann (Christoph Sander, 1528-1598) als Gevatter, in: Unser
Harz 31, H. 52, 1983, S. 73-74. - Herbert Dennert, Oberverwalter Christof Sander d. A., in:
Ders., Bergbau und Hiittenwesen, wie Anm. 83, S. 94-98.
105 Lothar Suhling, Georgius Agricola und die Hiittentechnik seiner Zeit: Die „De re
metallica libri XII" im Kontext metallurgischer Handschriften (fruhneuzeitlicher Schmelz-
biicher); in: Friedrich Naumann (Hg.), Georgius Agricola, wie Anm. 13, S. 453-464, hier
Organisationsstrukturen der Bergbauverwaltung 317
fiir den Praktiker vorgelegt, das eine bis weit in das 18. Jahrhundert giiltige Ar-
beitsanleitung war.
Als Herzog Heinrich derjiingere Kurfiirst August um Uberlassung eines zuver-
lassigen Miinzwardeins bat,106 schickte ihm dieser im August 1558 Lazarus
Ercker als vertrauenswiirdigen Miinzbeamten nach Goslar, der die Qualitat des
Miinzsilbers zu probieren und zu iiberwachen verstand. Ercker wohnte vor dem
Vitustor in einem ehemaligen Klostergebaude, das als Miinzstatte diente. Hier
wirkte erzunachst als Wardein, ab 1563 auch als Miinzmeister. Sein starkes Inter-
esse an metallurgischen Fragen zeigt auch das umfangreiche Miinzbuch von 1563,
das er als Handschrift dem spateren Herzog Julius iiberreichte. In Goslar verfass-
te er auch seinen 1565 veroffentlichten Bericht iiber den Bergbau am Rammelsberg,
der anschaulich montanhistorische und hiittentechnische Beschreibungen zu-
sammenfuhrt. Neben seiner amtlichen Tatigkeit setzte er seine Forschungsarbeit
auf dem Gebiet des Schmelzens fort, darin von Heinrich dem Jiingeren durchaus
befordert, indem dieser ihm eine Schmelzhiitte bei Goslar fiir seine Versuchsan-
ordnungen zuwies. Ercker bediente sich vorwissenschaftlicher, verfahrenstechni-
scher Methoden, wenn er im LabormaBstab erste Analysen des durch die berg-
mannische Arbeit gewonnenen Erzes vornahm.107
Der Tod seiner Frau, so wird angenommen, veranlasste ihn nach Annaberg zu-
riickzukehren, um ab 1567 erneut in den Dienst des sachsischen Kurfiirsten zu tre-
ten. Das „GroBe Probierbuch" bildet neben den Werken Agricolas das bedeu-
tendste montanistische Werk des 16. Jahrhunderts. Es ist die erste vollstandige
und klare Darstellung derpraktischen Probierkunde. Seine Erstausgabe von 1574
warmit 34 Holzschnitten - deren Verfasser ist unbekannt - von groBer sachlicher
Aussagekraft illustriert. Diese Veroffentlichung iiber die Probierkunst und metall-
urgische wie bergbaukundliche Fragen, bis 1736 in acht Auflagen erschienen,
wurde bereits 1682/86 von James Pettus ins Englische iibersetzt.108
S. 453. - Vanoccio Biringuccio, De la pirotechnia libri X., Venetia 1540. - OUoJohannsen,
Biringuccios Pirotechnia. Em Lehrbuch der chemisch-metallurgischen Technologie und des
Artilleriewesens, Braunschweig 1925. - Vgl. auch Raffaello Vergani, Biringuccio a Venezia
e l'amalgamazione dell'argento; in: I. Tognarini (Hg.), Siderurgia e miniere in Maremma
tra '500 a '900, Firenze 1984, S. 37-42.
106 Wardein (mhd. wardin, von mlat. wardinus, engl. Guardian): der Munzwardein war
ein Beamter, der iiber den Gehalt der ausgebrachten Metalle zu wachen hatte, diese auf ih-
ren Gehalt untersuchte und die Wahrung und den Geldwechsel beaufsichtigte. Da Berg- und
Miinzwesen eng verbunden waren, stand er beiden vor, die Trennung in Berg- und
Munzwardein erfolgte erst im 17. Jahrhundert.
107 Paul-Reinhard Beierlein, Lazarus Ercker. Bergmann, Hiittenmann und Miinzmei-
ster im 16. Jahrhundert, Berlin/ Ost 1955
108 Paul-Reinhard Beierlein, Heinrich Winkelmann (Bearb. und Hg.): Lazarus Ercker,
Das kleine Probierbuch von 1556; Vom Rammelsberg und dessen Bergwerk, ein kurzer Be-
318 Hans-Joachim Kraschewski
3. Berghauptmann Georg Engelhardt von LohneiB (1552-1623)
Ein anderer einflussreicher Bergbeamter war Georg Engelhardt von LohneyB.
Als 1583 eine Tochter des Kurfiirsten August mit Herzog Heinrich Julius von
Braunschweig- Wolfenbiittel vermahlt wurde, iibernahm LohneiB die angesehene
Stellung eines braunschweigischen Stallmeisters. Auf Gut Remlingen lieB er sich
nach italienischem Vorbild ein sehenswertes Schloss bauen. Nach dem Tod Her-
zogs Julius ernannte ihn Heinrich Julius 1594 zum Berghauptmann, so dass ab
1596, als das Fiirstentum Braunschweig-Grubenhagen mit den Bergwerken bei
Clausthal und St. Andreasberg an Herzog Heinrichjulius fiel, das gesamte Berg-,
Hiitten- und Forstwesen des Oberharzes in dessen Hand vereinigt war. Er erhielt
die Inspektion iiber alle Oberharzer Bergstadte und wurde ausdriicklich zur mitt-
leren Instanz in Rechts- und Bergsachen ernannt. Christoph Sanders Amts-Be-
fugnisse wurden auf das Rammelsberger Revier beschrankt. Den Ober-Harz be-
treute LohneiB weiterhin von Remlingen aus. Haufig trafen Gewerken aus Niirn-
berg oder aus Prag im Oberharz ein, um sich iiber den modernen Stand der
Montantechnik zu informieren. Auch von Zellerfeld aus verfolgte LohneiB sein
ausgepragtes Interesse an Fragen des Bergbaus. 1617 legte er seinen Bericht vom
Bergwerkvor, im 17. Jahrhundert eines derbekanntesten montanistischen Werke,
weil ein aufschlussreiches Kompendium iiber Arbeitsprozesse und Maschinen,
mit groBformatigen Holzschnitten von Moses Thym anschaulich-realistisch wie-
dergegeben. Der Vorwurf des Plagiats gegeniiber LohneiB, der zweifellos zu er-
heblichen Teilen aus den Werken von Lazarus Ercker iibernommen hatte, redu-
ziert sich im Kontext der zeitgenossischen Literatur auf probate Praxis. Es ist
nicht bedeutsam, dass Autoren des 16. Jahrhunderts Vorformen lieferten, bedeut-
sam ist der Transfer zu eigenstandiger Leistung. Ein gleichfalls von LohneiB ver-
fasstes Buch iiber Staats- und Regierungskunst wurde von seinen Sohnen postum
herausgegeben. Beim Brand des Schlosses Remlingen 1625 verbrannte der groB-
te Teil der dort gedruckten Biicher. 1619 fiel der Berghauptmann beim Landes-
herrn in Ungnade, als er mit dem Goslarer Oberverwalter einen Rechtsstreit und
eine Auseinanderssetzung mit dem Herzog um die Anwesenheit bei Musterun-
richt von 1565; Das Miinzbuch von 1563 (wie Anm. 90) - Aula subterranea (GroBes Probier-
buch) 336 S., Folio, 1. Frankfurter Ausgabe 1672/73. - Paul-Reinhard Beierelein (Bearb.),
Lazarus Ercker, Beschreibung der Allervornehmsten Mineralischen Erze und Bergwerksar-
ten vom Jahre 1580, Berlin/Ost 1960. - Herbert Dennert, Oberbergmeister und Miinzmei-
ster Lazarus Ercker, in: Ders., Bergbau und Hiittenwesen, wie Anm. 83, S. 122-123. - Chri-
stoph Bartels, Lazarus Ercker, Aula subterranea (GroBes Probierbuch), in: Rainer Slotta,
Christoph Bartels (Hg.) , Meisterwerke bergbaulicher Kunst vom 13. bis 19. Jahrhundert, Bo-
chum 1990, S. 157-159. - Thomas Kirnbauer, Eine neue Handschrift von Lazarus Erckers
„Bericht vom Rammelsberg" aus dem Jahre 1565; in: Der Anschnitt 45, 1993, S. 37-38.
Organisationsstrukturen der Bergbauverwaltung 319
gen hatte. Er musste sein Amt niederlegen. Enttauscht zog er sich unter Mitnah-
me seiner Druckerei auf sein Gut zuriick.109
4. Zehntner Christoph Andreas Schluter (1668-1743)
Wiewohl Christoph Andreas Schliiter schon in das 17. Jahrhundert gehort, soil er
dennoch hier einbezogen werden, da sein Wirken im Hiittenwesen des Harzes ei-
ne herausragende Rolle spielte. Er war es, der, mit einem breiten Handlungsspiel-
raum ausgestattet, ein grundlegendes, empirisch-theoretisches Werk zur Hiitten-
kunde vorgelegt hat. Zugleich fand mit diesem Autor die erste bedeutende Epo-
che der bergbau- und hiittenkundlichen Literatur des Harzes ihren Abschluss.
Schluter wurde bereits im Alter von 14 Jahren seinem Vater zur praktischen
Ausbildung beigeordnet. Nach dessen Tod 1702 wurde er selbst zum Hiittenreiter
ernannt. Zwischen 1709 und 1717 fungierte er als Bergschreiber und war anschlie-
Bend bis 1724 Zehntgegenschreiber und kontrollierte die Rechnungsfiihrung des
Bergamts Goslar. Als 1724 der Zehnter Johann Heinrich von Uslar starb, wurde
Schluter zum Zehntner und Leiter des Bergamts in Goslar befordert. Diese Stelle
hat erbis zu seinem Tod innegehabt. Er hatte in seinenjungen Jahren die Hiitten-
arbeit im Unter- und Oberharz griindlich elernet und alle Hiitten-Arbeit selber verrich-
tet [Griindlicher Unterricht von Hiitte-Werken, Vorrede S. 2). AnschlieBend bereiste
er Sachsen und Bohmen, um die dortigen Hiitten-Werke kennen zu lernen. 1698
kehrte er nach Goslar zuriick. Uber die Arbeit der Hiittenwerke in Ungarn/Sie-
benbiirgen unterrichtete ihn sein Neffe Christoph Franz Seidensticker, gleichfalls
Hiittenreiter, der diese renommierten Produktionszentren 1722/23 besuchte.
Als Kdniglich Grofi-Britannischer, auch Chur- und Fiirstlicher Braunschweig-Liine-
burgischer Zehndner am Unter-Harzist Schluter in die Metallurgiegeschichte einge-
gangen. Er hat sich mit seiner Veroffentlichung Griindlicher Unterricht von Hiitte-
Werken (1738) mit Recht als kompetenter Fachmann einen groBen Namen ge-
macht, der demjenigen Georgius Agricolas oder Lazarus Erckers nicht nachstand.
In der Vorrede zu seinem Werk (S. 3) betont er selbstbewusst die Bedeutung seiner
109 Georg Engelhardt von Lohneiss, Bericht vom Bergkwerck, wie Anm. 93. - Zu Lohn-
eiB s. ADB 19, S. 133-135. - Manfred Koch, Geschichte und Entwicklung des bergmanni-
schen Schrifttums, Goslar 1963. - Ekkehard Henschke, Landesherrschaft und Bergbauwirt-
schaft. Zur Wirtschafts- und Verwaltungsgeschichte des Oberharzer Bergbaugebietes im 16.
und 17. Jahrhundert, Berlin 1974, S. 65-67, 69-72. - Christoph Bartels, Georg Engelhardt
von LohneiB, Bericht vom Bergkwerck, in: Rainer Slotta/ Christoph Bartels (Hg.), Mei-
sterwerke bergbaulicher Kunst, wie Anm. 107, S. 161-163. - Anne Noltze-Winkelmann, Das
Titelkupfer in Lazarus Erckers Aula subterranea, 1673, in: Der Anschnitt 27, 1975, S. 1-13. -
Vgl. auch Christoph Bartels u. a., Kupfer, Blei und Silber aus dem Rammelsberg von den
Anfangen bis 1620, Bochum 2007, S. 163, 197, 248, 287, 322, 342, 345.
320 Hans-Joachim Kraschewski
Ausfiihrungen, wenn er sagt, sonderlich ist von der Arbeit am Ober- und Unterharz, wie
solches gefuhret werden miisse, nichts darin enthalten, das nicht von mir untersuchet und
durch meine Hand gegangen ist. Schliiter gibt nicht nur eine vollstandige und genaue
Beschreibung der damals iiblichen Kupferhiittenarbeiten (mit Ausnahme der
Messingfabrikation) sowie sorgfaltigen Ausfiihrungen iiber die Gold-, Silber- und
Bleigewinnungsprozesse, sondern er macht auch Vorschlage fur technische Ver-
besserungen. Erberichtet iiber Erfahrungen mit Neuerungen und bietet eine aus-
fiihrliche, sachadaquat illustrierte Anleitung, in die er zudem historische Riick-
blenden einfiigt, die den praktisch-sukzessiven Gang der metallurgischen Arbeit
erkennen lassen. So baute er 1734 im Unterharz in der Frau-Marien-Saigerhiitte
den ersten iiberwolbten Windofen mit getrenntem Feuerungsraum, in dem
gleichzeitig zwolf Saigerstiicke im Holzfeuer gesaigert werden konnten. Seine Ar-
beit ist ein Standardwerk friihneuzeitlicher Hiittenkunde.110
VI. Fazit
Das 16. Jahrhundert zeigt eine Haufung grundlegender technischer Innovatio-
nen, geradezu einen technischen Innovationsschub, der mit der ersten Phase der
Industriellen Revolution des 18. Jahrhunderts zu vergleichen ist. Trager dieser
Entwicklung auf hohem Niveau war der europaische Bergbau und das Hiittenwe-
sen.111 Im Bereich der Metallurgie, speziell der Nichteisenmetallurgie, vollzog
sich mit der Technologie des Kupfersaigerns die folgenreichste montanwirt-
schaftliche Neuerung der Friihneuzeit. Hinzu kamen der Stollenbau mit dem Ein-
satz der Gestangepumpen und die durch das Direktionssystem klar und einheit-
lich regulierten Berg- und Hiittenbetriebe. Nicht unerheblich beteiligt an dieser
110 Christoph Andreas Schluter, Griindlicher Unterricht von Hiitte-Werken, nebst ei-
nem vollstandigem Probier-Buch, Braunschweig 1738 (gedruckt bei Friedrich Wilhelm Mey-
er). Ins Franzosische iibertragen von Jean Hellot unter dem Titel De la fonts des mines, 2
Bde., Paris 1750/53 (2. Aufl. Paris 1764). - Kurze Lebensbeschreibung Christoph Andreas
Schliiters (autobiographisch), vom 27. Juni 1729 (MS NLA HStA BaCl, Bibliothek Achen-
bach). - Franz Rosenhainer, Die Geschichte des Unterharzer Hiittenwesens von seinen An-
fangen bis zur Griindung der Kommunionverwaltung im Jahre 1635, Goslar 1968, S. 127-
128. - Suhling, Der SeigerhiittenprozeB, wie Anm. 64, S. 157-160. - Kraschewski, Be
triebsablauf und Arbeitsverfassung, wie Anm. 2, S. 36-38.
111 Karl-Heinz Ludwig, Bergmannisches Berufsbewusstsein als Protestpotential im Mit-
telalter sowie im Ubergang zur Neuzeit; in: Angelika WESTERMANN/Ekkehard Westermann
(Hg.) unter Mitwirkung von Josef Pahl, Streik im Revier. Unruhe, Protest und Ausstand vom
8. bis 20. Jahrhundert, St. Katharinen 2007, S. 11-63. Ludwig" gelingt vor allem derNachweis,
dass bergmannisches Standesbewusstsein und adaquates Konfliktverhalten bereits im Mit-
telalter ausgepragt vorhanden gewesen sind und bis in die Jahre nach 1525/26 erhalten blie-
ben. Es schwachte sich erst im Zusammenhang mit den bauerlichen Bewegungen im ersten
Drittel des 16. Jahrhunderts in Deutschland und ungiinstigen Erzabbaubedingungen ab.
Organisationsstrukturen der Bergbauverwaltung 321
Entwicklung waren die Braunschweiger Welfenherzoge mit ihrem Silber-Blei-
bergbau im Harz,112 denen der florierende Bergbau als betrachtliche und gesi-
cherte Einnahmequelle gelten konnte - vom Bergzehnten, dem Vorkaufsrecht
und anderen Regalabgaben iiber das Salzmonopol bis hin zum Miinzgewinn -
und nachhaltige Riickwirkungen in der Kammerkasse in Wolfenbiittel hinterlieB.
Doch ohne sachkundige Funktionstrager wie Christoph Sander, Peter Adner
oder Georg Engelhard von LohneiB, diejeweils iiber mehrerejahrzehnte als fach-
kompetente und loyale Bergbeamte ihren Dienst versahen, ware die Ubernahme
der technischen Entwicklung in die Praxis und damit der Aufschwung des Berg-
und Hiittenwesens nicht moglich gewesen. Sie waren noch keine Beamten-Ge-
werken, wie es sie im Oberharz nach 1680 gegeben hat, sie verfugten iiber keinen
Kuxbesitz, sie hatten auch kein Zugriffsrecht auf diese Ressourcen. Folglich lei-
steten sie auch kein ZubuBzahlungen, wenn die Ertrage des Bergbaus zuriickgin-
gen. Bergteilbesitz von Beamten wurde im lG.Jahrhundert am Rammelsberg und
im Oberharz zumindest bis 1620 relativ strikt unterbunden: Die Bergordnung
Heinrichs desjiingeren von 1550 verbot den obersten Bergbeamten wahrend ih-
rer Amtszeit Bergteile zu besitzen - es sei denn, mit ausdriicklicher Genehmigung
des Landesherrn.113 Zur Erorterung von Nutzen und Nachteil von Kuxbesitz
durch Bergbeamte als Frage nach einerlnteressenkollision mit dem Landesherrn
kam es erst zu Beginn des 17. Jahrhunderts.114
Diese Personlichkeiten, gepragt durch umfangreiches Erfahrungswissen, prak-
tische Kenntnisse und groBen FleiB, leisteten ihren Beitrag nicht nur zum Bergbau
112 Bereits Georgius Agricola, De natura fossilium libri X, Berlin 1958, S. 236 und
S. 257, beschreibt die Lagerstatte des Rammelsbergs zu Recht als das allerergiebigste Bleiwerk
Innerdeutschlands. Man finde dort sehr viel Bleiglanz, ein guterTeil des Rammelsbergs schei-
ne aus nichts anderem als diesem Bleistoff, der auch Silber enthalte, zu bestehen.
113 NLAHStABaCl, Hann. 84a, 808, Nr. 2, Bergordnung Heinrich desjiingeren (l.Ja-
nuar 1550): Diese artickell seind betreffen beide - Haubtmann und Bergmeister: Allerley vordacht und
argwon abzuleinen, sollen unser Haubtmann und Bergmeister zu zeit Ihres Ampts auf unseren Bergk-
wercken in ihre Vorwaltung gehorig hinfurtt on sondere bewilligung keine Bergtheill bawen noch in ei-
nigem weg nutzes davon gewarten. - Eine friihe Abweichung von dieser Regel stellte der urn-
fangreiche Kuxbesitz des Beamten und Oberbergmeisters Peter Adner dar, der 1585 nach-
weislich mit 188 Kuxen an 35 verschiedenen Gruben beteiligt war. Vgl. dazu Heinrich
Denker (Hg.), Die Bergchronik des Hardanus Hake, Pastors zu Wildemann (Forschungen
zur Geschichte des Harzgebietes 2), Wernigerode 1911, S. 61-76. - Vgl. auch NLA HStA
BaCl, Hann. 84a, 4a, Nr. 22, Ausfuhrlicher Bericht Christoph Sanders an Herzog Julius iiber
den Haus- und Kuxbesitz des Berghauptmanns Asmus Helder (12. Marz 1587).
114 NLA HStA BaCl, Hann. 84a, Histor. und Stat. Nachr., Nr. 10, Bergamtsprotokoll
vom 13.-15. Juni 1617 (Nachrichten iiber die Unterharzer Berg- und Hiittenwerke) . - Hans-
Joachim Kraschewski, Das Direktionsprinzip im Harzrevier des 17. Jahrhunderts und seine
wirtschaftspolitische Bedeutung; in: Ekkehard Westermann (Hg.), Vom Bergbau- zum Indu-
strierevier (VSWG Beihefte 115), Stuttgart 1995, S. 125-150.
322 Hans-Joachim Kraschewski
selbst, sondern zur Verfugung von Berg- und Landesverwaltung durch ihren Sta-
tus als Beamtenschaft, so dass die Zentralverwaltung und die Zentralisierung im
Direktionssystem kurzfristig und effektiv durchgesetzt werden konnten. Langfri-
stig ging es um die Absicherung bestehender und die ErschlieBung neuer Einnah-
mequellen, die vor allem an die Entwicklung wirtschaftlich vorweisbarer Ergeb-
nisse im hiittenmannischen Arbeitsprozess gebunden waren: der Silberdefect soll-
te nachhaltig behoben werden. Sie erfiillten im entwickelten Direktionssystem in-
nerhalb der Arbeitsablaufe konsequent einen eigenen TeiljenerForderungen, wo-
nach es von groBer Bedeutung war, dem Bergbau in funktionaler Abhangigkeit
differenziert und eintraglich zur Verfugung zu stehen. Durch ihre Funktion als
Amtstrager schufen sie die Grundlagen fur ein selbstreferentiell geregeltes System
von Beamten, die den von ihnen gesetzten normativen HandlungsmaBstaben zu
entsprechen hatten.
Als sinnvoll eingesetzte Instrumente ihrer Arbeit dienten diesen Bergbeamten
die vorurteilslose Wahrnehmung von Betriebsablaufen oder Naturzustanden
(Wald) mit den eigenen Augen, die genaue Beschreibung und vorsichtige Analyse
des Wahrgenommen und das Vergleichen mit zweckmaBigen Aquivalenten.
Experimentiert wurde tendenziell nur beim Probieren im Hiittenprozess, um
die Verfahren zu optimieren und mit vorwissenschaftlichen Methoden zu neuen
Qualitaten und Ertragsmengen zu gelangen. Das gemeinsame Probeschmelzen
von Ober- und Unterharzer Erzen (zwischen 1582 und 1589) 115 gehorte ebenso
dazu wie Bilanzierung derKosten und Ertrage beim Schmelzprozess durch Probe
und Gegenprobe mit verbesserten Priifverfahren. Diese Arbeitsgange verlangten
eine hohe technische Disziplin, denn noch kannten die Hiittenleute die Methode
nicht, die Metalle mit einem Trennungsergebnis von 90-95% zu erzielen.116
Grundsatzlich waren es Beamte, die diesen Bergbau leiteten, ohne ihn zu besit-
zen, eine Struktur, die im westlichen Europa keine Parallele hatte. Doch die ur-
spriingliche Trennung von Besitz und Aufsichtsfiihrung wurde im Verlauf des 17.
Jahrhunderts durch prazise Zuschreibungen abgelost. Da die Landesherren nun-
mehr vom Nutzen einer Beteiligung von Bergbeamten am Bergbau iiberzeugt wa-
ren, wurde in derZellefelderBergresolution von 1680/81 administrativ festgelegt,
dass die 128 Kuxe einer Grube nach einem bestimmten Schliissel auf die Landes-
herren, Gewerken, Kammerrate, Berghauptleute und hohere Bergbedienstete zu
verteilen waren.117 Die Bergordnung selbst wurde weder revidiert noch formal
115 NLA HStA BaCl, Hann. 84a, 2a, Nr. 12, Vermerk einer Besprechung zwischen Her-
zog Julius und Christoph Sander iiber das Zusammenschmelzen Rammelsbergischer und
Oberharzer Erze (in Ilustrm. Gemach, 24.Januar 1577, 14. Marz 1577), d. h. Uberlegungen da-
zu wurden schon recht friih angestellt.
116 Vgl. dazu Lazarus Erckers „GroBes Probierbuch", wie Anm. 90.
117 NLA HStA BaCl, Hann. 84a, Histor. und Stat. Nachr., 829, Nr. 2, Zellerfelder Bergre-
Organisationsstrukturen der Bergbauverwaltung 323
aufgehoben. Festzuhalten ist: Der landesherrliche Beamtenapparat hatte im Un-
ter- und Oberharz ein eigenstandiges Sozialmodell entwickelt.
Die Durchsetzung der Zentralisierung im fiirstlichen Flachenstaat hatte die al-
ten Hofrate des 15. Jahrhunderts abgelost und die Notwendigkeit einer neuen Be-
amtenorganisation mit sich gebracht. Die durch immer groBere und weiterrei-
chende Aufgaben geforderte Bergverwaltung bildete ein Zentrum neben der
Hofverwaltung und der fiirstlichen Kammer innerhalb der landesherrlichen Be-
hordenorganisation. Diese reichten aber ebenfalls als politische und finanzielle
Zentren bald nicht mehr aus. Es mussten auch die iibrigen Behorden der Verwal-
tung durch regelhafte Ausdifferenzierung ungeregelter Teilsysteme einen Beitrag
zur Systematisierung wirtschaftlicher und verwaltungsmaBiger Zusammenhange
leisten. In dieser Schaffung eines funktionierenden Beamtentums lag der groBe
okonomische Gewinn des Landesherrn. Das war zugleich die Aktivbilanz der ter-
ritorial-staatlichen Entwicklung.
ANHANG
I. Zellerfeld, 1579 Juli 18
Bericht des Oberharzischen Bergamts an Herzfig Julius, an welchen Orten noch Ze-
chen aufgenommen und verliehen werden konnen
NLA HStA BaCl, Hann. 84a, 2a, Nr. 14
Durchleuchtiger Hochgeborner Fiirst, E.F.G. seindt unsere pflichtschuldige und gehor same
Dienste mit hochsten getreuen Vleiji in aller Underthenigkeit zuvorn bereit.
Gnediger Fiirst und Hen, mit was grofSer Landtvetterlicher Vorsorge und schweren Geldt
Kostungen E.F.G. als ein loblicher Christlicher Fiirst von Anfangs E.F.G. Regierung hero
sich dem gemeinen nutz nicht allein in Geistlichen, sondern auch in Weltlichen sachen, als
mit Stiftung der wahren und reinen Christlichen Religion vermoge der ausgegangenen Cor-
solution 1680/81, Resol. II: Weiln billig, dass wen einige bergleuthe nach Ertzen schiirffen und, umei-
ne Grube rege zu machen, einige Zeit unkosten anwenden, dieselben ah dann bey Eintheilung der Ge-
werckschaften nicht zuriick gesetzet werden mogen, als sollbey solchen fallen ihnen 60 Kuchse gelassen, die
iibrigen von 128 aber also vertheilet werden, dass 4 davon uns und unsers Herrn Vettern lobl, 35 unsern
und denfurstl. Wolfenbuttelschen Geheimbten Cammer Rdthen, Berghauptleuthen und Cameralen, und
zwar 20 denen Calenbergischen und 15 denen Wolfenbuttelschen, ingleichen 15 unsern Communion Berg
Officiren und 14 denen auswertigen Vornehmen Gewerken zugeschrieben werden sollen.
324 Hans-Joachim Kraschewski
poris Doctrinae und Kirchenordnung, auch Fundation der Julius Universitet und anderer
Christlichen Particular Schulen E.f.g. landen und leuten, audi der liebejugendt zu guette,
zum hdchsten angelegen sein lassen,
darneben audi was fur schwere und grojie geldausgaben E.f.g. uff die furstliche Stoln zur
erhebung derselben angeerbten Braunschweigischen Ober: und Unter: auch neu Hannen-
kleischen Bergwerken den gemeinen nutz, auch in: und auflendischen Gewerken zu mergk-
licherer befurderung aufgewendet,
das alles ist Gott lob nunmehr voraugen, auch uns und menniglichen unverborgen. Dafur
denn E.f.g. wir unsertheils zum Underthenigsten dancken und zweifeln nicht, es werden an-
dere E.f.g. Underthanen, auch die in: und auslendischen Gewergken gegen E.f.g. gleichfals
in Underthenigkeit zu bedancken wifien.
Und nach dem wir auch, Gnediger Fiirst und Hen, aus E.f.g. uns under dato den 23ten
May zugeschickten offenen schreiben ferner vernahmen, das e.f.g. aus hochbegabten Fiirstli-
chen Gemiithe bey sich in Gottes nahmen endschlojien, alle Erzgenge undgebeude, so uffdie-
sem E.f.g. Obern Bergkwerke auf&erhalb der Vierung der albereit verlehnten Zechen uberfah-
ren und uffgenommen werden miigen, Gott dem almechtigen zu Ehren und schuldiger
Danckbarkeit, Ad pias Causaszu mehren wachstumb und Fortsetzung der Loblichen Julius
Universitet, das Consistory Hofgerichts und anderer Particular schulen auszuthun und zu
vergewercken, auch jederm E.f.g. Diener und Verwandten iiber seinen von E.f.g. habenden
Unterhalt dermassen mit Bergtheilen berurter Zechen zu bedencken, das ersich darvon ehrli-
chen und genugsam erhalten miige, in deme spiiren und vermercken wir abermals E.f.g. ve-
terliche Zuneigung und gnedigen willen, seind dessen auch vor unser Person zum hochsten
erfreuet und ungezweifelter Hoffnunge, der giitige Fromme Gott werde darzu gliick, segen
und gedeyen veterlich geben und mittheilen.
Uber das haben wir auch aus obbemelten E.f.g. schreiben weiter verstanden, welcherley
gestalt etzliche Adeliche Gewercken eine ansehnliche summa Gulden zu erbauung eines neu-
en Bergkwerkes zusammen getragen. Derowegen E.f.g. von Uns semptlichen ingnaden erfor-
dern, das wir hochstes unsers Vermugens alle Zechen dieses E.f.g. Obern Bergkwerkes befah-
ren, auch eigendliche Uffachtunge haben und nach besichtigung ausfuhrlichen bericht thun
sollten, wes orts und wievil neuer Zechen auf&erhalb der Vierung der andern hiebevorn ver-
liehenen Gebeude 118 konnen eingebracht und aufgenommen werden und wir dann Uns der
Verwantnus nach E.f.g. zu gehorsamen schuldig erkennen.
Als haben wir semptlichen diese Befahrung mit Vleis under die Handt genommen und be-
finden, das nach Anweisung des Alten Mannes119 an hernach verzeichneten Ortern diese
neue Gebeude und Zechen konnen eingebracht werden,
118 Als Vierung wurde die Langserstreckung und Breite eines Grubenfeldes bezeichnet,
die es im Hangenden und Liegenden begrenzten. Dabei ging es um erhebliche Schwierigkei-
ten bei der Abgrenzung von alteren und neu aufgenommenen Grubenfeldern gegeneinander.
119 VorstoBen in Alten Mann: vom alteren Bergbau geschaffene und teilweise wieder ver-
Organisationsstrukturen der Bergbauverwaltung 325
1. Erstlichen am Hanenklee ufm Hauptgange UberE.f.g. eigene Fundgrube undzwo negste
Majien noch seeks Zechen, jede mit zweyen vollen Majien}20
2. Dejigleichen im Lautenthal ufHaupt Zoge UberE.f.g. eigene Zeche Sanctjacobs Fund-
grube, beide negst und uber ander Majien, noch zwanzigk Majien, thunzehen Zechen,
welche alle nacheinander durch die Stolnorter, so E.f.g. des Orts itziger Zeitt treiben,
auch Querschlege kilnftiglichen von Tage zu Tage konnen erhoben und erbauet werden.
3. Mehrkann man auch aufdem neu angetroffenen gange ufm Pleyfelde noch sechs Mafen,
thun drey Zechen, uffnehmen und einbringen, welche noch unverliehen und E.f.g. al-
lein zustehen.
Diese jetztgenandte neunzehn Zechen konnen E.f.g. anschlagk nach uff dismal, bis
sich was weiteres ereugen mdchte, uffgenommen, verliehen und vergewercket werden. Dis
wir aber zu E.f.g gnedigen gefallen wollen gestellt haben und seindt der ungezweyfelten
Hoffnung, es werden die Unkosten, so zur Erhebung so Icher Zechen ufgewendet, nach aus-
weisung deralten vestigia nicht vergeblich sein und allerhand Anzeigungen nach wohlErtz
brechen.
Es konnen aber itziger Zeit solche Zechen zugleich nicht belegt werden aus Ursachen, das
solches Feldt oder Majien durch die Stollnorter noch nicht verschroten oder erlanget, 121 auch
kein Arbeitsvolck vorhanden und deren itzo fast uff alien Zechen grojier Mangel befun-
den.122 Derowegen werden E.f.g. mit Belegung derselben, bis es die gelegenheit geben und
Stollnorter eingetrieben auch hinwieder Arbeiter anlangen werden, in gnaden geruhen.
Ferner wijien wir uff dismahl keine Zechen oder Gebeude vorzuschlagen. Da sich aber
fiillte Hohlraume, wobei die Gefahr bestand, dass der Alte Mann in Bewegung geraten konn-
te, was wiederum schwerwiegende Folgen fur einen Grubenbau bedeutete.
120 Es geht hier um die raumliche Ausdehnung der Zechen: eine Zeche umfasste eine
Fundgrube oder eine Fundgrube mit einer oder mehreren folgenden MaBen. Es gab auch
Zechen mit nur einer MaB oder mehreren MaBen nach einer Fundgrube. Eine MaB war
28 Lachterlang (ca. 54m) und konnte 7Lachterbreit sein (ca. 13,50m), wurde jedoch primar
von der Gestalt des Ganges bestimmt. Da groBere Grubenfeldergemutet und verliehen wur-
den - es konnten auch benachbarte Zechen zusammengelegt werden, - waren die Gruben-
felder in der Regel wesentlich weiter ausgedehnt.
121 Verschroten (mhd. schroten: schneiden, abschneiden): durch einen Markscheider be-
triebstechnisches Vermessen von Gruben; da es zur Zeit Herzogs Julius noch keine ausge-
wiesene Markscheiderei gab, wurde diese Aufgabe vom Oberbergmeister und dem Hiitten-
reiter wahrgenommen, die auf langjahrige Erfahrungswerte zuriickgreifen konnten.
122 Im Jahr 1577 wurden nahezu alle Bergorte stark von Seuchenwellen heimgesucht.
Mit Ausnahme von Grund und Lautenthal waren sie von der Pest betroffen, die Zahl der Ar-
beitskrafte wurde stark dezimiert. In diesem Zusammenhang ist die von Herzog Julius wie-
derholt beklagte Abwanderung von Bergleuten in andere Reviere zu sehen und der Versuch,
fur die Oberharzer Bergwerke Arbeiter (Erzhauer, Karrenlaufer, Knechte, Jungen, Holz-
hauer) aus Sachsen zu gewinnen (NLA HStA BaCl, Hann. 84a, 2a, Nr. 13, Vermerk einer
Besprechung zwischen Herzog Julius und Christoph Sander, 29. Juni/ 10. Juli 1578).
326 Hans-Joachim Kraschewski
kiinfftiglichen was writers durch die Stolln an Taggeben wiirde, das wollen wirE.f.g keines
weges vorhalten noch verschweigen, underthenigst bittende, E.f.g wollen Uns derselben gne-
digen erbieten nach als gehorsame treue Diener der Orter vor Mitgewercken in gnaden auch
bedenken, seindt wir erbdtlich uffHoffnungm.it zu bauen unddes Glilcks auch zu erwarten.
Und was wir dan als Bergkleut E.f.g. und gemeiner Gewerkschaft in diesem zu ersprieji-
lichen Nutz und gedeyen schaffen und raten kdnnen, daran wollen wir unsern menschlichen
und muglichen Fleif nichts erwinden lassen.
Wollen auch solche erzeigte Wohltaten und landtvetterliche Wohlmeinunge mit unserm
Gebetgegen Gott dem Almechtigen vor E.f.g. umb VerleyhunglangwierigerLeibesgesundheit
und gliickseliger Regierung stets eingedenk sein, welches E.f.g. uff derselben gnediges begeh-
ren wir zum Bericht in Underthenigkeit nicht vorhalten sollen.
Denn E.f.g. gehorsame treue Dienste zu leisten erkennen wir Uns schuldigk, seindt es
auch jeder Zeit geflifen, und thun Uns derselben hiermit undertheniglichen bevehlen.
Geben under des Ampts Insigel. Sonnabents nach Margaretha
A0 [15] 79
E.F.G.
Underthenge Gehorsame
Ober Bergkmeister, Zehentner
Geschworne und gantzes Bergampt
der Obern Zellerfeldischen und
Wildemennischen Berkwerke
II. Goslar, 1579 August 25
Oberverwalter Christoph Sander an Herzog Julius betr. Bergbau im Oberharz, die
Tatigkeit des Pulvermachers Kurt Bernecke sowie Salpeterkauf in Sehnde und
Aschersleben
NLA HStA BaCl, Harm. 84a, 2a, Nr. 14
DurchleuchtigerhochgebornerFurst. E.f.g. seine meine gehorsame und gantzwillige dienst in
getreuem, hogesten Vleif zuvor bereit.
Gnediger first und Hen, bei e.f.g. Zehntner uberschick e.f.g. ich die Ausziige und Handstein
und dem Cammerer die Rechnunge E.f.g. Berchwerck und Huttenwerck bedreffende. 1st
gottlob in gutem wolstande und weif dieser Ortter keine Mengel, allein etwas an Arbeitern
dieses Orts, weil die Ertze vorhanden, dohin sie die Zeit vorlaufen. So mengeln aufden obern
Berchwerck auch Arbeiter, laufen doch ab und zu, das geleichwol die Notturft vorhanden.
Organisationsstrukturen der Bergbauverwaltung 327
E.F.G. soil ich auch ungemeldt nicht lassen, das ich den beiden Marscheidern123 wegen
e.f.g auferlecht, die Ortunge des Fortunatus Juliusstollen aufdem Hauptstollnort auch im
Rammelsberg herausser zu bringen, domit e.f.g. mit gnaden zu ersehende, was bei e.f.g. Re-
gierunge Zeiten gelenget, gesencket und aufgefahren, wie tief die Schechte und Stollen in-
bringen muchten und was noch zusencken undlengen, in was Zeit das alles geendiget werden
kunte, alles ungeferlich aujfes papir zu bringen.124
Was nun die beiden Marscheider befunden, das haben e.f.g. beigewart mit gnaden zu ver-
lesen. Die Zeit aber berufen sie sich aufvorigen ubergegeben Bericht.
E.F.G. soil ich auch ungemeldt nicht lassen, das mit dem Salpetermacher125 Curt
Bernecken ein Contract berambt, aber noch nicht gefertiget, doch des willens, den zu halten.
So weit und ferner e.f.g. darin consentiren dieses Inhalts, er will e.f.g. aufMontag 12 ctngudt
purs oder handt rohr Kraut, damit man nach Scheiben schiej&t oder wie man will, liebern,
den ctn umb 18Vz daler. Dagegen will erplei nehmen, soviel ime geliebet, den ctn 4Vzfl und
den Swefel 1 ctn 10 grMiinze, und noch aufMichaelis 8 ctn, desselben Krantzzu leben sich
vorpflichten alle in dem Kaufe.
So will ersich auch anderst nicht horen lassen, dan den ctn umb 5fl an Blei angenhomen
haben, will sulchs auch wol in den Contract setzen lassen, allein das ime ein Beweis hiruber
muchte gegeben werden, das das Blei ime umb 4' ' /,fl sollte jeder Zeit gerechnet werden.
Desselben geleithen wollte er sich in dem Contract vorpflichten, von Michaeli anzu rech-
nen bis wider auf Michaeli einjahr, hundert ctn desselben Krauts, duchtiges Gut, zu lifern
und wie es nach seinem willen zugenge, itzliche und an die 50 ctn.
Daruber, wie wol er die gewisse nicht zusagen kunte und wollte, allemal den meisten Teil,
wie nicht alle, sich mit Blei bezahlen lassen}26 Die fesser aber zum Pulver kunte er nicht
gestehen.127 Nun ist sulchs geringe efg, do kumpt eine Tonne, darinnen 4 oder 5 ctn gehen,
1 0 Mariengroschen zustehende.
Was nun in diesem e.f.g. mit gnaden wollen gehabt haben, stehet zu e.f.g. gnedigem und
123 Markscheider, vgl. Anm. 120.
124 Die Markscheider sollten ihre Berechnungen vorlegen, damit der Stand der Aufwal-
tigungsarbeiten am Julius Fortunatus Stollen erkennbar wird. Der Durchschlag erfolgte am
25. September 1585.
125 Salpeter und Schwefel: der fur die Anfertigung von Brandsatzen und die SchieBpul-
verbereitung unentbehrliche Salpeter (chemisch Kaliumnitrat) wurde in Salpeterhiitten aus
Salpetererde gewonnen. Herzogjulius und Christoph Sander zeigten ein hohes Interesse an
praktischen Vorgangen dieser Gewinnungsverfahren. Schwefel wurde gleichfalls zur Her-
stellung von gewohnlichem SchieBpulver benutzt. Agricola (De re metallica, Buch XII)
stellt bei der Beschreibung der Salpetergewinnung die praktische Durchfuhrung in den Mit-
telpunkt, ohne auf die zahlreichen, widerspruchsvollen Theorien seiner Zeit einzugehen.
126 Stichhandel: Herzogjulius drang darauf, die fefier auch mit bleien zu zahlen.
127 Keine Ubernahme der Gestehungskosten fur die Transportfasser durch den Hand-
ler, diese hatte der Herzog zu tragen.
328 Hans-Joachim Kraschewski
furstlichen Bedencken. Mit dem andern ist noch nicht gehandelt, ist nicht einheimisch gewe-
sen, erachte, das der auch zu sulcher Summa kommen kunte.
Gnediger Furst undHerr, soviel belangende, was e.f.g mit gnaden an den Oberambtman
und mich geschrieben, mit den Zellerveldischen zu handeln,12S so soil solcher Handel, ge-
liebts Gott, wie ich dem Oberambtman zugeschrieben, vor sich gehen. Will e.f.g. mich aber
mit gnaden in funf oder sechs tagen erlaubt zu vorreiten nach Sehende.129 So habe ich mich
nechst bei den Richtern und Scheffen gemacht und angezeigt, wes sich e.f.g. jungest mit gna-
den erclert, darauf auch auf nehesten Dinstag der Handel vollzogen werden solle, und inen
alle gelegenheit zugemuete gefuret, das sie irer Nachkommen Notturft wol erwegen und be-
trachten wollten und itzo nicht bei den Tassen sitzen und vorslafen die Malzeit und sich mit
guter Antwort auf die zeit gefaft machen.
Dessen sie sich erboten und werden sich meines Erachtens ercleren, was ihnen mogelich
sein wird. Und habe derwegen den Zehtner Tilmann Kiel und Claussen Wolf neben dem
Oberambtmann dieses zum besten zuvorhandlen in meiner stat volmechtig gemacht, unter-
tenigst bitten, e.f.g. wollen mit gnaden fridelich sein.
So will ich auch gewertich vortziehen, werde mit dem Burgermeister zu Aschersleben umb
den Salpeter ein Handel ingehent und Swebel dreffen.12,0
Daran ich keinen vleif zu uben mich will vorfallen lassen.
Das sollte schuldig ich gedacht e.f.g, der ich gehorsame undgantz willige Dienste in getreu-
em und hogestem vleifie zuerzeigen williger dann willig, nicht vorhalten.
Datum auffurstlicherfreienMuntze, den 25. August Anno [15]79
EFG williger diener Christoph Sander, Oberzehntner
mpp131
128 Es ging bei den Verhandlungen mit den Zellerfeldischen um den Verkauf eines Her-
renhofes mit Wohngebauden. Herzogjulius war daran interessiert.
129 Sehnde (Amtsvogtei Ilten - zum Haus Liineburg gehorig) wies das Salzmineral Kali-
um auf, das bergmannisch gewonnen wurde (heute: Hannoversches Kalirevier; vgl. dazu
Hans Peter Riesche (Hg.), Die Kaliindustrie in der Region Hannover, Bielefeld 2004). -
Auch hier ging es um das begehrte Kaliumnitrat (KNO,), das fur die Edelmetallurgie (Me-
tallscheidung) ebenso dringend gebraucht wurde wie fur die SchieBpulverbereitung.
130 Bei Aschersleben (ostlich von Quedlinburg) lagen Kohlenfloze, deren Braunkohle
Salpeterminerale aufwies, die durch Auslaugen (Aschelaugen) gewonnen wurden und zur
Herstellung von Scheidewasser (Salpetersaure) diente. Der Kaufmann Balthasar Miiller (Bal-
zer Moller) aus Aschersleben, der auf den Leipziger Messen und in Nurnberg mit Salpeter
handelte, hatte im April 1574 Christoph Sander mitgeteilt, er hoffe, im Sommer des Jahres
150 ctn Salpeter, den Zentnerzum Preis von 17V2 Taler, nach Wolfenbiittel liefern zu konnen.
Zunachst aber sollten 60 ctn, wo das Wetter gut, alle 100 ctn, nach Halberstadt auf die Waage
gelangen, im Gegenzug wolle er Blei und Glatte iibernehmen (NLA HStA BaCl, Hann. 84a,
Nr. 934, Schreiben Balzer Mollers an Christoph Sander, 30. Marz/ 13. April 1574).
131 manu propria: mit eigener Hand.
Dafi auch der Ort wegen darin befindlicher Gespenst
sehr beschryen ist
Die »Hohlwelten« des Harzes im Spiegel chronikalischer
Berichte des 16. und 17. Jahrhunderts
Von Ralf Kirstan
Fiir Hanna und Liping
Und dieweil per rerum naturam in diesen locum subterraneum [= unterirdischen Ort; R.
K.] kein Tagesliecht hinein fallen kann, daneben sothane Hohlen sampt undsonders mitste-
tigen dicken Diinsten und Nebeln angefiillet und dazu stets Wasser von oben herab darein
trbpffelt, ohn dafe auch der Ort wegen darin befindlicher Gespenst sehr beschryen ist, als ver-
samlen sich gemeiniglich der jenigen, so den Ort zu besehen willens, eine zimliche Gesell-
schafft und versehen sich mit einer menge Fackeln oder Liechter sampt einem oder anderm
Fewerzeuge, auffdaf, wann etwa durch die dicke Diinste oder Gespenst die Liechter aufige-
loschet wurden, dieselben wieder angezundet werden konten [. . J.1 So heiBt es in dem
aus dem Jahre 1651 stammenden und fiir Matthaus Merians Topographie der
Herzogtiimer Braunschweig und Liineburg verfaBten Bericht des Amtmanns zu
Elbingeorde iiber die im Harz gelegene Baumannshohle.2 Entscheidend bei die-
1 Matthaeus Merian, Topographia vnd Eigentliche Beschreibung Der Vornembsten Sta-
te, Schlosser auch anderer Platze vnd Orter in denen Hertzogthiimern Braunschweig vnd
Liineburg, vnd denen dazu gehorenden Grafschafften, Herrschafften vnd Landen, Neue
Ausgabe, hrsg. von Lucas Heinrich Wuthrich (Nachdruck der Ausgabe Franckfurt 1654),
Kassel/ Basel 1961, S. 32. - Der Amtmann von Elbingerode, der den Beitrag iiber die Bau-
mannshohle fiir Merians »Topographia« verfaflt hat (siehe hierzu unten Anm. 2), scheint
sich an Heinrich Eckstorms „Epistola de specu Bumanni vulgo Bumannsholl" in dessen
Schrift „Historia terrae motuum complurium" aus dem Jahre 1620 anzulehnen. So auch
schon Stephan Kempe, Fritz Reinboth, Die beiden Merian-Texte von 1650 und 1654 zur Bau-
mannshohle und die dazugehorigen Abbildungen, in: Die Hohle - Zeitschrift fiir Karst- und
Hohlenkunde 52/2, 2001, S. 33-45, hier S. 36f.
2 Dem Amtmann von Elbingerode war am 11. Juni 1651 die Bearbeitung der Baumanns-
hohle fiir den als AbschluB von Merians beriihmter »Topographia Germaniae« gedachten
Band iiber die braunschweig-liineburgischen Herzogtiimer iibertragen worden. Vgl. Paul
Zimmermann, Matthaeus Merians Topographie der Herzogtuemer Braunschweig und Luene-
330 Ralf Kirstan
sen Ausfiihrungen ist, daB der Amtmann ganz offensichtlich davon iiberzeugt ist,
die Hohle werde bewohnt von Gespenstern. In diesen Wesen erblickt er, neben
natiirlichen Ursachen wie »dicken Diinsten«, eine Hauptursache fur das Verlo-
schen von Lichtern und Fackeln in der »Hohlwelt« der Baumannshohle. Wie
ernsthaft und wahrhaftig des Amtmanns Glauben an jene Gespenster ist, zeigt
sein Bemiihen um Authentifizierung eines Berichts iiber eine angebliche Begeg-
nung zwischen Mensch und Gespenstern. So hebt er die Glaubhaftigkeit seiner
Gewahrsleute besonders hervor und versucht das »unheimliche« Treffen mog-
lichst genau zu datieren: Es sei gewifi und mit glaubhafften Leuten zu bezeugen, dafi un-
gefehr fiir 65 Jahren ein junger starcker Viehehirte aufe dem Hartze3 sich allein in die
Hohle gewagt, darin verirrt und erst nach achttagigerMiBhandlung durch die Ge-
spenster den Ausgang wiedergefunden habe. Dabei scheinen fiir den Amtmann
derartige Gespenster nicht nur als korperlose Geistwesen existieren zu konnen,
welche die Fackeln ihrer Opfer unbemerkt und einem Dunst oder Hauch gleich
zum Erloschen bringen; er sieht sie ebenso mit der Fahigkeit ausgestattet, sich zu
manifestieren und in leiblicher Gestalt mit hochst irdischen Gegenstanden zu
hantieren: Teilt er seinen Lesern doch ferner mit, der besagte Viehhirte sei von den
Gespensten iiber alle maji gedngstiget worden, zumahl er von etlichen ergriffen, als ein Dieb
angeklaget und zum Galgen verdammet, gefuhret und ihm der Strick umb den Halfe gethan
worden; wann er von selbigen kaum erlediget, ist er einer andern Parthey in die Hdnde ge-
rahten, von denen er als ein Mdrder zum Tode verdammet, und also fort von vielen andern
auffviel andere Manier uffs eusserste geplaget und gedngstiget worden.4, Diese Ausfiihrun-
gen verdeutlichen iiberdies, wie sehr der Amtmann die Welt der Hohlengeister
auf die Verhaltnisse der Menschen iibertragt: Nicht nur, daB er die Gespenster
iiber ein Gerichtswesen verfiigen sieht, welches zwischen unterschiedlichen De-
likten differenziert und fiir Diebstahl dasselbe StrafmaB vorsieht wie zeitgenossi-
sche »menschliche« Gerichte, auch eine Differenzierung der Gespenster-Gesell-
schaft in unterschiedliche Gruppen bzw. »Parteien« erscheint ihm plausibel und
glaubhaft. Mit diesem Geisterglauben ist der Amtmann durchaus kein Einzelfall
im 17. Jahrhundert: Auch der 1656 die Baumannshohle besichtigende hallische
Superintendent Olearius glaubt prinzipiell an die Existenz von Geistern
(»spectra«) in dieser Hohle, auch wenn sich eine numinose Erscheinung durch ei-
nen Fackelwurf schlieBlich doch als Steinfelsen identifizieren lieB: In solcher Zeit
prdsentirte sich an einem Ortefur unser Gesicht die Gestalt eines spectri in Form einer wei-
jien Frauen, als aber mit einer brennenden Fackel darnach geworfen ward, befand sichs, daji
burg, in: Jahrbuch des Geschichtsvereins fiir das Herzogtum Braunschweig 1, 1902, S. 38-66,
hierS. 47 f.
3 Merian, wie Anm. 1, S. 32.
4 Ebd.
Die »Hohlwelten« des Harzes 331
es ein langer weifeer Steinfels war [. . ,]. Aber noch ein weiterer Vorfall zeigt, daB
Olearius ganz selbstverstandlich mit der Existenz iibernatiirlicher Geschopfe in
der Baumannshohle rechnete: ingleichen schien es auch an einem Orte, ah ob jemand
aus einem Loch herausguckte, welches aber ebenmdjiig falsch befunden ward [. . .].6 Mag
sich fur den Superintendenten auch im Nachhinein herausgestellt haben, daB er
lediglich einer Sinnestauschung zum Opfer gefallen war, so weist doch seine
Reaktion, bei zunachst unerklarlichen optischen Phanomenen sofort an das Auf-
tauchen von numinosen Geschopfen zu denken, auf einen tief sitzenden Gei-
sterglauben hin. Wie sehr nicht nur er, sondern auch seine Begleiter von diesem
Glauben erfiillt waren, zeigt eine Beschreibung des Besuchs der Baumannshohle
von der Hand des Studiosus von Alvensleben. Eingefiigt in diese Beschreibung
findet sich eine Karte, auf der von Alvensleben drei Stellen besonders bezeichnet
hat: Hier hatte es diefalsche Gestalt eines spectri, hier schien es, als wenn jemand herauJS-
kuckte, hier fiel die Fackel ein? Warum nur erachtete von Alvensleben ausgerechnet
jene beiden aus heutiger Sicht belanglos anmutenden „Geistererscheinungen" in
seiner Hohlenkarte fiir festhaltenswert? Den Aufzeichnungsgrund bot offensicht-
lich der Schreck, den er dariiber empfunden hat. Beide „Erscheinungen" schei-
nen ihn so nachhaltig bewegt zu haben, daB er sie als berichtenswerte Ereignisse
festhielt: untriiglicher Beweis seines tiefen Geisterglaubens.8
Trotz des in alien drei Aufzeichnungen sich deutlich offenbarenden Gespen-
sterglaubens ihrer Verfasser scheinen gebildete Zeitgenossen jedoch nicht unbe-
dingt kritiklos an jede Geschichte geglaubt zu haben, die Gewahrsleute ihnen un-
terbreiteten. Das zeigt sich an folgender Stelle, wo der Elbingeroder Amtmann
ebenfalls zur Baumannshohle mitteilt: Viel wollen auch zwart fiirgeben, als ob sie
durch unterschiedliche Gespenst lange darinnen umbgetrieben und endlich starcke, eiserne,
verschlossene Kisten unglaublicher grdsse darin angetroffen, welche von greulichen Hunden
verwahret wiirden, welches alles man aber auf fseinen Wiirden und Unwiirden, weil es illu-
siones defi bdsen Feindes seyn kdnnen, beruhen lasset.9 Diese Mitteilung ist im Gegen-
satz zum Bericht iiber die Erlebnisse des geplagten und geangstigten Viehhirten
5 Vgl. Karl Burger, Des hallischen Superintendenten Olearius Besuch der Baumanns-
hohle, in: Zeitschrift des Harz-Vereins fiir Geschichte und Altertumskunde 62, 1929, S.
172-180, hier S. 176.
6 Ebd.
7 Ebd., S. 179.
8 Vgl. zu solcherart emotional dominierten sachlichen Mitteilungen bzw. zur Nieder-
schrift von Begebenheiten, die durch Emotionen veranlaBt worden sind: Benigna von Kru-
senstjern, Die Tranen desjungen iiber ein vertrunkenes Pferd. Ausdrucksformen von Emotio-
nalitat in Selbstzeugnissen des spaten 16. und 17. Jahrhunderts, in: Kaspar vonGREYERZ, Hans
Medick, Patrice Veit (Hgg.), Von der dargestellten Person zum erinnerten Ich: Europaische
Selbstzeugnisse als historische Quellen (1500-1850), Koln 2001, S. 157-168.
9 Merian, wie Anm. 1, S. 32.
332 Ralf Kirstan
in skeptisch-distanziertem Unterton gehalten. Zwar unterstellt der Amtmann sei-
nen Gewahrsleuten nicht, die Geschichte wider besseres Wissen nur erfunden zu
haben. Dennoch aber halt er es fur wahrscheinlich, daB jene Leute durch illusio-
nes defi bdsen Feindes nur getauscht worden seien, will heiBen: durch Trugbilder
bzw. Halluzinationen des Teufels dazu gebracht worden seien, Dinge zu sehen,
die eigendich gar nicht existent sind. In dieser Argumentation scheint der Amt-
mann nicht unwesentlich durch Martin Luther beeinfluBt zu sein, der in den
»Tischgesprachen« sagte: Im Bergwerk vexiret und betreuget der Teufel die Leute, macht
ihnen ein Gespenst und Gepldrrfur denAugen, daji sie nicht anders wahnen, als sdhen sie
ein grofeen Haufen Erz.es und gediegen Silber, da es doch nichts ist.10 Mag fur den Amt-
mann die Grenze zwischen »Wahrheit« und Aberglauben also auch anders und
vor allem: weit weniger eng gezogen sein als fur das „aufgeklarte" BewuBtsein der
Moderne, so ist es dennoch wichtig festzustellen, daB es eine solche Grenze
durchaus auch fur einen gebildeten Mann des friihen 17. Jahrhunderts geben
konnte: Akzeptiert und mit dem »gemeinen Mann« geteilt wird der Glaube an
die Existenz von Geistern in Hohlen, abgelehnt jedoch die im Volke genauso
verbreitete Vorstellung von groBen eisernen Kisten darin, welche von greulichen
Hunden bewacht wiirden.
Der Glaube an Hohlengeister war selbst auf seiten friihneuzeitlicher Gelehrter
so unumstoBlich, daB eine eigene Wissenschaft daraus gemacht wurde und Georg
Agricola (1494-1555), dergroBe humanistische Gelehrte des Bergbaus, sich in ei-
ner zoologischen Abhandlung anschickte, verschiedene Arten dieser numinosen
Wesen zu unterscheiden. In seiner 1549 entstandenen Schrift »De animantibus
subterraneis« (Von den Lebewesen unterTage) teilt er die unterirdische Fauna in
Anlehnung an das Schema des antiken griechischen Philosophen Aristoteles in
laufende, fliegende, schwimmende und kriechende Tiere ein und schlieBt als ei-
gene systematische Gruppe der»Lebewesen unterTage« die »daemones« an. Die-
se rechnet er zu den realen Gegebenheiten im Bergbau, mit einer Einschrankung:
er weist darauf hin, daB sie von den Theologen in die „geistigen Wesenheiten"
10 Martin Luther, Tischreden 1531-46, Band 4: Tischreden aus den Jahren 1538-1540,
Weimar 1916, S. 404, Nr. 4617. Auch Heinrich Eckstorm erwahnt diese Geschichten von gro-
Ben eisernen Kisten in der Baumannshohle: Saepe aliqui fascinati somnio ingentium thesauror-
um in specu hoc reconditorum, in interiores eius cauernas perrepserunt, qui nescio quas thesaurorum ci-
stas ferreas obseratas, nescio quos nigros canes cistis incubantes se vidisse referunt. (Ubersetzung R.
K.: Oft krochen irgendwelche Manner, verhext vom Traum von gewaltigen, in dieser Hohle
verborgenen Schatzen, in deren innere Grotten; diese Manner berichten, daB sie irgendwel-
che verriegelten eisernen Schatzkisten und irgendwelche schwarzen Hunde, die auf diesen
Kisten lagen und sie bewachten, gesehen haben.) Henricus Eckstorm, Epistola de specu Bu
manni, vulgo Bumansholl, gerichtet an Zacharias Brendelius, datierend vom 28. April 1591,
in: Ders., Historiae Terrae motuum complurium, Helmaestadi 1620, S. 210-227, hier S. 223.
Die »Hohlwelten« des Harzes 333
(Substanzen) eingeordnet werden.11 Zwei Gattungen dieser »daemones« halt er
fiir existent: erstens die der »daemones subterranei truculenti« (unfreundliche un-
terirdische Geister) und zweitens die der »daemones subterranei mites« (friedli-
che unterirdische Geister).12 Die Geister der ersten Gattung, so fiihrt Agricola aus,
bieten einen wilden und schreckenerregenden Anblick und sind meist den Bergleuten un-
freundlich und feindlich gesinnt. Zwei Beispiele fiir diese Gattung fiihrt er an: einen
Geist in der Annaberger Grube »Rosenkranz«, der mehr als 12 Arbeiter [. . .] durch
seinen Hauch totete. DerHauch entquoll seinem Rachen. Er soil einen langgestreckten Hals
wie ein Pferd und wilde Augen besessen haben. Als zweites Beispiel erwahnt er einen
Geist zu Schneeberg, dermit einer schwarzen Kutte bekleidet gewesen sei und in
der Grube St. Georg das Handwerkzeug vom Boden aufhob und nicht ohne korperliche An-
strengung in eine hdher gelegene Strecke dieser[. . .] Grube hinaufschaffte.13 Geister dieser
Art seien schddlich und von Natur boshaft. u Daneben gibt es nach Agricola als wei-
tere Gattung die der guten Geister, die in Deutschland Kobolde oder Bergmann-
chen genannt wiirden. Sie kichern in lauter Frohlichkeit und tun so, als ob sie viele
Dinge verrichteten, wdhrend sie tatsdchlich nichts ausfiihren. Agricola zufolge besitzen
sie die Gestalt eines Zwerges und sind nur drei Spannen lang Sie sehen greisenalt aus und
sind bekleidet wie die Bergleute, d. h. mit einem zusammengebundenen Kittel und mit ei-
nem um die Schenkel herabhangenden Bergleder. Siepflegen den Bergleuten keinen Schaden
zuzufugen, sondern treiben sich in Schachten undStollen herum. [. . .] Manchmal necken sie
die Arbeiter mit Goldkdrnern, tun ihnen aber nur ganz selten etwas zuleide. Sie verletzen
auch niemanden, wenn man sie nicht vorher ausgelacht oder durch Schimpfworte gereizt
hat}5 Agricola wahnt diese der Uberlieferung nach nicht nur in Bergwerken, son-
dern auch in Hohlen hausenden Bergmannchen16 einer anderen Kategorie guter
Geister ahnlich, namlich den aufgrund ihres freundlichen, hilfsbereiten Verhal-
tens gegeniiber den Menschen als »Guttel« bezeichneten Hausgeistern.17 Agrico-
la klassifiziert in seiner zoologischen Schrift also zwei Grundtypen von Berggei-
stern: den des einzeln auftretenden »truculentus« und den der gruppenweise vor-
11 Vgl. Gerhard Heilfurth, Bergbau und Bergmann in der deutschsprachigen Sagen-
iiberlieferung Mitteleuropas, Bd. 1 (Quellen), Marburg 1967, S. 104.
12 Vgl. Georg Agricola, Zwolf Biicher vom Berg- und Hiittenwesen sowie sein Buch von
den Lebewesen unterTage, in neuer deutscherUbersetzungbearb. von Carl Schiffner, 2. Auf-
lage, Diisseldorf 1953, Buch von den Lebewesen unter Tage, S. 540 und S. 540 Anm. 122.
13 Ebd., S. 540. - Zur Identifizierung dieses Kuttentragers mit einer Monchsgestalt und
dessen Zuordnung zur Gestaltengruppe der »Bergmonche« vgl. Heilfurth, Bergbau, wie
Anm. 11, S. 105 f.
14 Agricola, Zwolf Biicher, wie Anm. 12, S. 540.
15 Ebd., S. 541.
16 Richard Hunnerkopf, Art. »H6hle«, in: Handwbrterbuch des deutschen Aberglau-
bens, Bd. 4, Berlin /Leipzig 1931/1932, Sp. 175-183, hier Sp. 179.
17 Agricola, Zwolf Biicher, wie Anm. 12, S. 541.
334 Ralf Kirstan
kommenden »mites«. Diese klare Klassifikation verwischt er selbst jedoch bereits
in seinem Hauptwerk der »Zwolf Biicher vom Berg- und Hiittenwesen«, insofern
er dort am Ende des sechsten Buches die Gattung der Bergmannchen doch als ge-
fahrlich, ja fiir die Steiger lebensbedrohlich einstuft und als fiinfte von sieben
Ursachen fiir die Aufgabe von Schachten anfiihrt: Diefiinffte vrsach ist das greuwlich
bergkmenlin/ das die lent vmmbringet/ dan so Uses nicht mag aujigetriben werden/so blei-
bet kein hauwer in der gruben [. . .].18 Schon bei Agricola selbst finden sich also, wie
bei der Masse der Uberlieferung,19 Mischformen, die von den beiden idealtypi-
schen Gespenster-Grundtypen abweichen. Dieser Widerspriichlichkeit zum Trot-
ze zeigen Agricolas Ausfiihrungen dennoch erneut, daB das Phanomen derBerg-
und Hohlengeister in der friihen Neuzeit selbst von seiten humanistischer Fachge-
lehrter so ernst genommen wurde, daB sie es durchaus unter die Griinde fiir die
Aufgabe von Schachten rechneten.20 Von den bei Agricola erwahnten ideal-
typischen Geistergattungen ist es nun die erste der »daemones subterranei trucu-
lent^, welcher die Geister zuzuordnen sind, von denen der Elbingeroder Amt-
mann in seinen Ausfiihrungen zur Baumannshohle berichtet. DaB der Amtmann
diese »truculenti« jedoch in pluraler Form auftreten sieht, macht deutlich, daB es
auch in seiner Uberlieferung zu einer Vermischung beider Gespenstertypen ge-
kommen ist. Dieser Mischtypus begegnet ebenfalls in den Schriften des Theo-
phrastus Bombastus von Hohenheim, genannt Paracelsus (1493-1541), 21 und,
theologisch diabolisiert, in den Predigten des Bergmannsgeistlichen und Luther-
Vertrauten Johannes Mathesius (1504-1565). 22
Was jedoch konnte den Elbingeroder Amtmann zu seiner erwahnten individu-
ellen Grenzziehung zwischen »Realitat« und »Aberglauben« bewogen haben, die
fiir uns heutige Menschen gerade deshalb so irritierend ist, weil wir eben nicht nur
jene sagenhaften Eisenkisten, sondern ebenso die numinosen Hohlengeister in
das Reich des Aberglaubens verweisen wiirden? Wie kann ein Mensch des frii-
hen Barockzeitalters, der mit seiner kritischen Haltung gegeniiber jener volkskul-
turellen Uberlieferung eine scheinbar »proto-rationalistische« Einstellung an den
18 Georg Agricola, Vom Bergkwerck xij Biicher darin alle Empter/ Instrument/ Ge-
zeuge/ vnnd alles zu disem handel gehorig/ mitt schonen figuren vorbildet/ vnd klarlich
beschriben seindt, Basel 1557 (Reprint nach dem Original, Hannover 1985), S. clxxxi.
19 Vgl. hierzu Heilfurth, Bergbau, wie Anm. 11, S. 113 f.
20 Die Berggeistberichte Agricolas sind bald von einem breiteren Publikum rezipiert
worden. Auch Sebastian Munster ubernimmt in seiner Cosmographie, die noch zu Lebzei-
ten Agricolas imjahre 1550 erschienen ist, dessen Berichte und differenziert die Berggeister
in die klein teiifelin oder bergmenlin und diejenigen, die schedlich sind. Vgl. Heilfurth, Berg-
bau, wie Anm. 11, S. 115f.
21 Vgl. ebd., S. 118ff.
22 Vgl. ebd., S. 12 Iff.
Die »Hohlwelten« des Harzes 335
Tag legt, auf einmal doch durchdrungen sein vom Glauben an numinose Hohlen-
gespenster? Zur Beantwortung dieser Frage reicht es nicht, auf Gerhard Heilfurth
zu verweisen, den groBen vergleichenden Volkskundler des Bergbaues, der in be-
zug auf abgeschiedene Schauplatze unter Tage feststellt, „die Unberechenbarkeit
der Naturkrafte, die Dunkelheit mit ihren unheimlichen Gerauschen von tropfen-
dem Wasser, pfeifendem Luftzug, knisterndem Gestein, in dem Gefahren drohen,
die geheimnisumwitterte Montansphare iiberhaupt lassen ein Fluidum des Unge-
wohnlichen und Erregenden entstehen, aus dem Vorahnungen, Tabus, aberglau-
bische Vorstellungen erwuchsen. Sie konnten sich zu Phantasiegebilden ver-
schiedenster Art verdichten, in denen die Angst Gestalt annahm und schauervol-
le Geschichten in Vorzeichen feste Form gewannen".23 Auch reicht nicht der
Verweis auf einen Erklarungsansatz von Thomas Sokoll, demzufolge gewisse ani-
mistische Vorstellungen die Herausbildung eines Gespensterglaubens in der frii-
hen Neuzeit befordert haben.24 Heilfurth und Sokoll bieten zwar grundsatzliche
Erklarungsansatze dafiir, warum sich um unterirdische »Hohlwelten« iiberhaupt
Gespenstergeschichten zu ranken beginnen und numinose Wesen selbst von
Fachgelehrten als reale Gegebenheiten angesehen werden konnten. Sie erklaren
damitjedoch nicht, warum ein Gelehrter bereits Mitte des 17. Jahrhunderts be-
stimmte Erzahliiberlieferungen der culture populaire (Muchembled) als Dichtung
und Wahrheit vermengende »Sagen«25 zu identifizieren und dennoch an Hohlen-
geister zu glauben vermochte.
Zum Versuch einer Beantwortung dieser Frage sei auf den zwei bis drei Genera-
tionen alteren lutherischen Pfarrer Johannes Letzner (1531-1613) aus Hardegsen
verwiesen. Letzner, der sich neben seinem geistlichen Amt besonders intensiv der
Historiographie zuwidmete und als einer der beriihmtesten niedersachsischen
23 Gerhard Heilfurth, Der Bergbau und seine Kultur: Eine Welt zwischen Dunkel und
Licht, Zurich/Freiburg im Breisgau 1981, S. 208.
24 Sokoll konstatiert, daB „ganz allgemein fur die Menschen friiherer Epochen die fur
das ,aufgeklarte' BewuBtsein der Moderne gelaufige scharfe und eindeutige Trennung zwi-
schen belebter und unbelebter Natur nicht gait. Nicht nur Mensch und Tier - auch die Blu
me am Wegesrand, der Weiher hinter der Kirche oder der groBe Berg auf der anderen Seite
des Tals mochten mit Geist und Leben erfiillt sein. Den Hintergrund solcher ,animistischen'
Vorstellungen bildet der Glaube an die Einheit der gesamten Natur, das Bild von der Natur
als der einen Mutter, durch deren SchoB die Menschen wie alle iibrigen Wesen in einem un-
endlichen Kreislauf kommen und gehen und aus dem sich alles speist und nahrt". Thomas
Sokoll, Bergbau im Ubergang zur Neuzeit, Idstein 1994, S. 25.
25 Zur »Sage« als einem Erlebnis- und Geschehnisbericht, der den Anspruch auf Wahr-
heit erhebt und dabei in besonderer Weise das Menschliche mit dem Mythischen verbin-
det bzw. „die Beziehung zur Transzendenz des menschlichen Daseins evident" macht sowie
sein spezifisches Gewicht durch einen Wahrheitskern erhalt, vgl. Heilfurth, Bergbau, wie
Anm. 11, S. 24.
336 Ralf Kirstan
Chronisten des 16. Jahrhunderts anzusprechen ist,26 berichtet in seinen Werken
ebenfalls iiber die Hohlen des Harzes.27 Zwar macht er in seinen Ausfiihrungen
zur Baumannshohle ausschlieBlich natiirliche Ursachen fiir das Verloschen von
Fackeln innerhalb dieser Hohle namhaft und weiB von dort existierenden Ge-
spenstern im Gegensatz zum Elbingeroder Amtmann nichts zu berichten;28 al-
lein, es glaubt auch Letzner an die Existenz von Gespenstern und iibernatiirlichen
Erscheinungen an dunklen Orten dieser Art. Das wird zum Beispiel daran deut-
lich, daB erden Bericht alter Leute, es solle im Turm derBurg Scharzfeld desnachts
viel gerumpels droben sein, keineswegs fiir abwegig gehalten, sondern dadurch iiber-
priift hat, daB er dieses Orts- wenn auch, wie erzugibt, ergebnislos - manniche Nacht
verharret.29 Dabei scheint Letzners Geisterglaube maBgeblich beeinfluBt zu sein
durch das Neue Testament, genauer gesagt: durch Epheser 6, 12. Denn in einem
seiner Manuskripte teilt er seinen Lesern mit: Es sindt zwar die bosen geister undhelli-
schen teuffel nicht alle, noch stets hin in der helle [...], sondern wie s. Paulus schreibt, sindt
auch die bosen geister alhie bei uns auff erden undalhie in dieser welt unter dem himel, die
auch in der fins terniss dieser welt herschen, welchs dan auff zweierlei meinung kan verstan-
den werden. Dann die bosen geister durch die finsternis des unglaubens in den gottlosen und
unbusfertigen menschen hertzen also wohnen [...]. Darnach, das auch gleichwol die bosen
geister alhie in dieser welt an sonderbaren, ihnenzu ihren anschlegen wolgelegenen unddien-
lichen ortern, speluncken, hoelen, gruben, grundlosen tieffen sumpffen undpfulen ihre wo-
nung haben.30 Auch diesen AuBerungen ist zu entnehmen, daB Letzner von der
26 Zu Johannes Letzner besonders unter mentalitatsgeschichtlichem Aspekt vgl. Ralf
Kirstan, Die Welt des Johannes Letzner: ein lutherischer Landpfarrer und Geschichts-
schreiber des 16. Jahrhunderts, Diss. phil. (masch.) Gottingen 2005. Vgl. auch folgende alte-
re Arbeiten: Hans Klinge, Johannes Letzner: ein niedersachsischer Chronist des 16. Jahr-
hunderts, Diss. phil. (masch.) Gottingen 1951, Bde. 1 und 2; Ders., Johannes Letzner - ein
niedersachsischer Chronist des 16. Jahrhunderts, in: Niedersachsisches Jahrbuch fiir Lan-
desgeschichte 24, 1952, S. 36-96.
27 Zur heute so bezeichneten Einhornhohle vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek
(GWLB) Hannover, Ms. XXIII, 611a (Manuskript des Johannes Letzner: Entwurfsfassung
der Chronik des Stifts Walkenried, entstanden 1594/1595), /o/. 35v-36v - zur Baumannshoh-
le vgl. Staatsarchiv Munster, Msc. VII, 13 (Manuskript desjohannes Letzner: Sammelhand-
schrift, enthaltend verschiedene Fragmente seiner Braunschweigisch-Liineburgischen und
Gottingischen Chronik; Entstehungszeitraum: 1593-1606), fol. 78v-79r.
28 Offtmals treibet auch das einverschlossene wetter, windt und innerliche schwebende dunst die
lichter aus; wan man dan kein fewr gezeug hette, kondt man auch kein licht haben, noch sich wider her-
ausfinden. StA Munster, Msc. VII, 13, wie Anm. 27, fol. 79r.
29 Zu dieser Stelle vgl. Johannes Letzner, Dasselische vnd Einbeckische Chronica,
Erffurdt 1596, 6. Buch, 1. Teil, S. 60r.
30 Herzog-August-Bibliothek Wolfenbuttel, Cod. Guelf. 46.1 Extrav. (Manuskript des
Johannes Letzner, Hildesheimer Chronik III. Braunschweigisch-Liineburgische und Got-
tingische Chronik II. Fragment, Ende 16./Anfang 17.Jh.),/o/. 113v-114r.
Die »Hohlwelten« des Harzes 337
Existenz „boser Geister" iiberzeugt ist. Diese sieht er, wenn sie denn nicht in der
Holle, sondern auf Erden sich aufhalten,je nach metaphorischem oder aberlitte-
ralem Verstandnis des in Epheser 6, 12 sich findenden Wortes »Finsternis«31 so-
wohl in der moralischen „Finsternis" gottloser Menschenherzen als auch in der
realen Finsternis von speluncken, hoelen, gruben, grundlosen tieffen silmpffen undpfiilen
ihren Wohnsitz haben: Wie schon bei besagtem Amtmann begegnet auch hier die
Vorstellung, bose Geister konnten sowohl in Geistes- als auch in leiblicher Gestalt
existieren und wiirden insbesondere Hohlen aufgrund der darin herrschenden
Finsternis zu bevorzugten Aufenthaltsorten erwahlen. Diese Geister werden von
Letzner jedoch theologisch diabolisiert - seine Parallelisierung von »bosen Gei-
stern« und »hollischen Teufeln« deutet es an - und in einer auf den Bergmanns-
geistlichen Johannes Mathesius zuruckfiihrbaren und biblisch abgesicherten lu-
therischen Tradition als Ausgeburten der Holle betrachtet.32 Vor diesem Hinter-
grund laBt sich moglicherweise auch die aus heutiger Sicht eigentiimlich
anmutende Grenzziehung des Elbingeroder Amtmanns zwischen Wahrheit und
Aberglauben erklaren: Die Existenz von Geistern in unterirdischen Hohlen kann
fur einen gebildeten und dem Schriftprinzip verpflichteten Lutheraner wie den
Amtmann33 nicht zuletzt aus dem neutestamentlichen Brief des Paulus an die
Epheser als sichererwiesengelten; nicht so jedoch gewisse Vorstellungen des »ge-
meinen Mannes« iiber unermeBlich groBe und von greulichen Hunden bewachte
Eisenkisten in unterirdischen »Hohlwelten«: Vorstellungen dieser Art werden we-
derdurch Paulus noch durch andere Stellen derBibel gedeckt, von Luther zudem
31 Vgl. Epheser 6,12: „Denn wir haben nicht mit Fleisch und Blut zu kampfen, sondern
mit Machtigen und Gewaltigen, namlich mit den Herren der Welt, die in dieser Finsternis
herrschen, mit den bosen Geistern unter dem Himmel."
32 Seine diabolisierten Geister sieht Letzner allerdings in der Regel als singular auftre-
tende »truculenti« agieren. Beispiele hierzu siehe bei: Kirstan, wie Anm. 26, S. 142-149.
Letzners Schriften scheinen keine Anhaltspunkte dafiir zu bieten, daB er »htillische« Geister
auf Erden in pluraler Form bzw. in Gruppen auftreten sieht.
33 Seit 1343 gehorte Elbingerode als braunschweigisches Afterlehen den Grafen von
Wernigerode bzw. deren Erben, den Grafen von Stolberg. Erst im Jahre 1653 nahmen die
braunschweigischen Herzoge das Amt wieder in eigenen Besitz, nachdem sie den Grafen de-
ren Rechte in Elbingerode nach und nach immer mehr entzogen hatten. Vgl. Berent Schwi-
nekoper, Art. »Elbingerode«, in: Handbuch der historischen Statten Deutschlands, Bd. 11:
Provinz Sachsen-Anhalt, Stuttgart 1975, S. llOf. Da nun die Grafen von Stolberg- Wernigero-
de ihr Territorium bereits 1538 der lutherischen Reformation zugefiihrt hatten (vgl. Monika
Lucke, Jorg Bruckner, Das Kirchenregiment der Grafen zu Stolberg und die Anfange der
Konsistorien in den stolbergischen Harzgrafschaften im 16.Jahrhundert, in: Christof Romer
[Hg.], Evangelische Landeskirchen der Harzterritorien in der friihen Neuzeit, Wernigerode/
Berlin 2003, S. 39-58, hier S. 42, 44), ist davon auszugehen, daB auch jener Elbingeroder
Amtmann, der im Jahre 1651 fur die »Topographia Germaniae« einen Bericht iiber die Bau-
mannshohle verfaBt hat, von lutherischer Konfession war.
338 Ralf Kirstan
als »Illusionen« des Teufels verworfen und sind daher aus Sicht gebildeter Zeitge-
nossen als unglaubwiirdig abzulehnen.
Ahnliche Differenzen bestehen auch hinsichdich der Vorstellung, daB die Bau-
mannshohle und die heute so bezeichnete34 Einhornhohle einstmals Aufenthalts-
orte des my thischen Einhorns gewesen und daher Fundstatten fur Skelett-Uberre-
ste dieses Tieres seien. Allerdings sorgt diese Frage im 16. und 17. Jahrhundert
nicht allein nur zwischen dem „gemeinen Mann" und humanistisch gebildeten
Akademikern fur Dissens, sondern auch bei den Akademikern untereinander. In
beiden Hohlen finden sich alte Knochen in groBer Zahl, welche jiingeren Gra-
bungsberichten zufolge von kleinen Wirbeltieren, prahistorischen Hohlenbaren,
Bisons und Wolfen, aber auch von Menschen aus dem Neolithikum sowie der
Bronze- und Eisenzeit stammen.3SJedoch wurde teilweise noch bis zu Beginn des
19. Jahrhunderts an der Vorstellung festgehalten, es handele sich bei diesen Kno-
chen um Uberreste sagenumwobener Einhorner. Dabei war es nicht nur der »ge-
meine Mann«, oder- wie Letzner es formuliert - die albern bewrinnen auffden dorf-
fern,36 die eine solche Deutung anboten: Auch der bereits von uns erwahnte Stu-
diosus von Alvensleben glaubt im Jahre 1656 in der Baumannshohle Reste des
legendaren Einhorn erblickt zu haben,37 und noch 1702 berichtet der Historiker
und Orientalist Hermann von der Hardt in den Acta eruditorum, er habe an den
34 Erst Mitte des 18. Jhs. erscheint erstmals der Name „Einhornloch". Friiher hieB sie
Scharzfelder Hohle (und ahnlich) oder „Die Zwerglocher" - Bezeichnungen, die nach 1800
ungebrauchlich wurden. Vgl. Friedrich Reinboth, Die Darstelhmgen der Einhornhohle bei
Scharzfeld von der friihwissenschaftlichen Zeit bis zur Gegenwart, in: Harz-Zeitschrift, 30.
Jg., 1978, S. 45-63, hier S. 47, 61.
35 Zur Einhornhohle vgl. folgende Veroffentlichungen: Ralf Nielbock, Die Tierkno-
chenfunde der Ausgrabungen 1987/1988 in der Einhornhohle bei Scharzfeld, in: Archao-
logisches Korrespondenzblatt 19, 1989, S. 217-230, hier S. 226ff.; Stephan Veil, Die Archao-
logisch-Geowissenschaftlichen Ausgrabungen 1987/1988 in der Einhornhohle bei Scharz-
feld, Ldkr. Osterode am Harz, in: Archaologisches Korrespondenzblatt 19, 1989, S. 203-
215, hier S. 212. - Zur Baumannshohle vgl. Ralf Nielbock, Die Suche nach dem diluvialen
Menschen - oder: Die Erforschungsgeschichte der Einhornhohle, in: Die Kunde N.F. 53,
2002, S. 57-65, hier S. 61, wonach bei einer in den Jahren 1881/82 durch den hannoverschen
Amtsrat Carl Struckmann durchgefiihrten Grabung vor allem in der sog. Blauen Grotte der
Einhornhohle neben Artefakten und Geratschaften auch menschliche Knochen des Neo-
lithikums sowie der Bronze- und Eisenzeit gefunden worden seien. - Zu Knochenfunden
von Hohlenbaren in Baumannshohle und Einhornhohle vgl. Stephan Kempe, Wilfried Ro-
sendahl, Doris Doppes, The Making of the Cave Bear - Die wissenschaftliche Entdeckung
des „Ursus spelaeus",in: Mitteilungen derKommission fur Quartarforschung der Osterreichi-
schen Akademie der Wissenschaften 14, 2005, S. 89-106.
36 GWLB Hannover, Ms. XXIII, 611a, wie Anm. 27, fol. 36r.
37 Was sonsten von dem Einhorn, welches allhier gefunden worden, ausgesprenget wird, hat unser
Fiihrer uns dessen uberflussig hin und wieder in Felsen steckend gezeiget [...]. Burger, Des halli-
schen Superintendenten, wie Anm. 5, S. 178.
Die »Hohlwelten« des Harzes 339
Wanden und in den Felsen jener Hohle Stiicke des gegrabenen Einhorns gese-
hen.38 Erst mit Anbruch der Eriihaufklarung begann man, naturphilosophische
Erklarungsansatze den alten Deutungen entgegenzustellen: Der in welfischen
Diensten stehende Naturforscher und Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leib-
niz (1646-1716) gibt sich in seiner 1691 als Manuskript fertiggestellten und 1749
posthum erschienenen Schrift „Protogaea" iiberzeugt, dafl die Horner des Einhorns,
die einst verschiedentlich in den Museen fremdartiger Dinge prangten und die auch heute
noch die Augen des Volkes verblilffen, von Fischen des siidlichen Oz.ea.ns stammen. Daher
miisse man wohl annehmen, daB das fossile Einhorn, das auch in unserer Gegend
vorkommt, gleichen Ursprungs gewesen ist.39 Auf diesem Hintergrund iiberrascht es
38 Stephan Kempe, Boris Dunsch et al., Die Baumannshohle bei Riibeland/Harz im
Spiegel der wissenschaftlichen Literatur vom 16. bis zum 18.Jahrhundert: Lateinische Quel-
lentexte, in: Braunschweiger Naturkundliche Schriften 7 (2004), S. 171-215, hier S. 206. -
Beim „gegrabenen Einhorn" {unicornu fossile) handelt es sich nach friihneuzeitlicher Vorstel-
lung um sehr alte Knocheniiberreste von Einhornern, die im Erdreich zu finden sind und ge-
rade in Tropfsteinhohlen oftmals in versinterter, d. h. in mit Kalkablagerungen uberzogener
und somit „versteinerter" Form vorkommen. Davon zu unterscheiden ist das unicornu verum.
Hierbei handelt es sich nach friihneuzeitlicher Auffassung um rezentes, aus der Gegenwart
stammendes Knochen- oder Hornmaterial vom Einhorn. Zu dieser Kategorie wurde von
den Zeitgenossen beispielsweise auch der StoBzahn des Narwals gerechnet, bevor in der
Friihaufklarung Naturforscher wie Leibniz darauf aufmerksam zu machen begannen, daB
als Lieferanten und Trager solcher Horner durchaus nicht Einhorner, sondern Meerestiere
in Frage kommen.
39 Gottfried Wilhelm Leibniz, Protogaea, iibersetzt von Wolf von Engelhardt, Stuttgart
1949, S. 127. - Leibniz vertrat im Rahmen seiner geogonischen Spekulationen die Ansicht,
daB es in Niedersachsen - u. a. im Rahmen der Sintflut - mehrfach zu Uberflutungen durch
das Meer gekommen sei; diese hatten nicht nur oberflachenformend gewirkt, sondern auch
walroBahnliche, zum aktiven Schwimmen fahige Tiere bis ins spatere Niedersachsen gespiilt.
Vgl. hierzu v. a. einen Brief von Leibniz an Wilhelm Ernst Tentzel aus demjahre 1696: Caeter-
um cum spolia hujusmodi [d. h. Funde groBer fossiler Knochen; R. K.] saepius in Europa sint depre-
hensa, deliberandum erit, verisimiliusne sit esse ab animali incola, an per diluvium advecto ex longin-
quo: [. . .] sin ab advecto, an ideo statim talia omnia ad Noachicum diluvium sint referenda. Magnam
partem harum regionum aliquando fuisse mersam, multa sunt indicia [...]. Et ipsa scriptura sacra fa-
vente multo majores haud dubie mutationes globus terrae passus est[. . .]. (Ubersetzung R. K. : Weil
im iibrigen Uberreste dieser Art haufiger in Europa entdeckt worden sind, wird zu iiberlegen
sein, ob es wahrscheinlicher ist, daB sie von einem einheimischen Tier stammen oder von ei-
nem durch Uberflutung aus weiter Feme herbeigeschwemmten: [. . .] wofern aber von einem
herbeigeschwemmten, ist zu iiberlegen, ob deswegen sofort alle solcherart beschaffenen
Uberreste auf die Flut Noahs zu beziehen sind. DaB ein groBer Teil dieser Regionen dereinst
iiberflutet gewesen ist, darauf gibt es viele Hinweise [...]. Und ohne Zweifel hat die Erdkugel
um vieles groBere Umformungen erfahren, was mit der Heiligen Schrift durchaus in Uberein-
klang steht.) Gottfried Wilhelm Leibniz: Samtliche Schriften und Briefe, Reihe I, Bd. 12, be-
arb. von Wolfgang Bungies, Berlin 1990, Brief Nr. 413, S. 638ff., hier S. 639, Z. 11-17. Vgl.
ebenso Hans-Joachim Waschkies, Leibniz' geologische Forschungen im Harz, in: Herbert
340 Ralf Kirstan
freilich, daB schon der Theologe Johannes Letzner, ein Mann des 16. Jahrhun-
derts, den Berichten iiber Einhornfunde in den Harzhohlen mit Skepsis begeg-
net: Berichtet er doch bereits an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert, man
finde in der Baumannshohle auch sonst am bodem, wan man [?] einschlecht, grewliche
grosse zflhne, audi ander gebein in grosser mennige [. . .], die von den landtstreichern und
leutbetriegern (die sich dan in dieser hoele vielmals finden lassen) den eintfaltigen und al-
bern bawren weibern auffdem lande voreinhorn angeschlagen und verkaufft werden. Was
[?] es aber vor zahn oder gebein sein, kan niemandt eigentlich und genau [?] berichten. Der
eine sagt davon dieses, der ander ein anderst. Gotte allein ist bewust, von was creatur diese
zahn und gebein sein mugen.i0 Dieses Zitat aus einem von Letzners Manuskripten
beweist deutlich seine Skepsis gegeniiber der Einhorn-Theorie. Leutbetrieger seien
diejenigen, die die Knochen als Einhorn feilboten, und „einfaltig und albern" die
Bauersfrauen von den Dorfern, die dies glaubten. Er selbst getraut sich ein Urteil
iiber den Ursprung dieser zahn und gebein nicht zu, scheint sich jedoch - wie seine
Kritik an den Bauerinnen nahelegt - sicher zu sein, daB sie auf jeden Fall nicht
von Einhornern stammten. Auch mit Blick auf die zweite beriihmte »Hohlwelt«
des Harzes, die sog. Einhornhohle, lehnt er die Vorstellung ab, in ihr sich finden-
de Knochen stammten von Einhornern; allerdings wagt erin ihrem Falle eine Zu-
ordnung: um allerhandt kleiner und grosser menschen gebein handele es sich dabei.41
In gleicher Weise lehnen auch der Walkenrieder Pfarrherr und Rektor Heinrich
Eckstorm sowie der Elbingeroder Amtmann den Gedanken ab, es konne sich bei
den in der Baumannshohle auffindbaren Knochen um Einhorngebein handeln.
Der sich offensichtlich auf einen lateinischen Brief Heinrich Eckstorms stiitzende
Amtmann beschreibt die Skeletteile als Knochen und Beinlein, so theils vermodert, von
unbekanten Thieren, welche dem gemeinen Mann fur Einhorn obtrudiretwiirden.4,2 Da-
bei weisen die Worte fur Einhorn obtrudiret [= aufgedrangt, »angedreht«; R.K.] dar-
Breger, Friedrich Niewohner (Hgg.), Leibniz und Niedersachsen: Tagung anlaBlich des 350.
Geburtstages von G. W. Leibniz, Wolfenbiittel 1996, Stuttgart 1999, S. 187-210, hier S. 207 f.;
Paolo Rossi, Die Geburt der modernen Wissenschaft in Europa, Miinchen 1997, S. 264 f.
40 StA Minister, Msc. VII, 13, wie Anm. 27, fol. 78v.
41 GWLB Hannover, Ms. XXIII, 611a, wie Anm. 27, fol. 36r.
42 Diese Stelle stimmt in wesentlichen Punkten mit folgender Formulierung aus einem
lateinischen Brief Heinrich Eckstorms iiberein: Reperiuntur prceterea passim per omnes antri cu-
niculos & cauernas omnis generis animalium ossicula, carie & putredine squalentia & propemodum
consumpta [. . .] : Ilia enim, cujuscunque sint animalis, vel quascunque sceleti partes referant, indiscre-
tim pro Unicornis cornu imperitis hominibus [. . .] obtrudunt [. . .]." (Ubers. R. K.: Man findet
auBerdem ringsumher in alien Gangen und Grotten der Hohle Tierknochen jeder Art, die
von Moder und Morschheit ganz bruchig und beinahe schon zerfallen sind: Jene Knochen,
von welchem Tier auch immer sie sein mogen oder um welche Skeletteile es sich bei ihnen
auch immer handeln mag, drehen sie [d. h. die Handler] den ahnungslosen Leuten ohne Un-
terschied als Einhorn an.) Eckstorm, wie Anm. 10, S. 222.
Die »Hohlwelten« des Harzes 341
auf hin, daB auch der Amtmann die Knochen keineswegs fur Relikte von Einhor-
nern halt.
Sollten also etwa der noch zur Zeit der lutherischen Orthodoxie amtierende
Pfarrer Letzner, der nur eine Generation jiingere Walkenrieder Theologe Hein-
rich Eckstorm sowie der zur Zeit des 30jahrigen Krieges wirkende Elbingeroder
Amtmann zumindest hinsichtlich des Einhornglaubens schon iiber ein ahnlich
„aufgeklartes" Weltbild verfiigt haben wie der »Wegbereiter« der deutschen Auf-
klarung Gottfried Wilhelm Leibniz? Diese Frage scheint mir zumindest im Falle
Letzners und Eckstorms verneint werden zu miissen. Denn immerhin wird das
Einhorn auch in der Bibel erwahnt, und zwar an insgesamt acht Stellen des Alten
Testaments.43 Als lutherische Geistliche jedoch diirften sowohl Letzner als auch
Eckstorm Anhanger des reformatorischen Schriftprinzips sola scriptura gewesen
sein, wonach die Bibel - als verbal inspiriert iiber jegliche kirchliche Lehrautori-
tat erhaben - wortwortlich bzw. litteral zu verstehen ist und die in ihr geschilder-
ten Handlungen als wahrhaftig geschehene Geschichte anzusehen sind.44 Diese
Geschichte ist in ihrem Wahrheitsanspruch absolut und darf selbst dann nicht be-
zweifelt werden, wenn sie der Erfahrung oder dem menschlichen Verstande wi-
derspricht.45 Angesichts der von Letzner solchermaBen eingeforderten Schrift-
glaubigkeit ist nicht davon auszugehen, daB erund Eckstorm die biblisch verbiirg-
te Existenz von Einhornern grundsatzlich in Zweifel gezogen hatten - zumal auch
Martin Luther dies nicht getan hat.46 Vielmehr scheint die Skepsis gegeniiber der
Vorstellung, bei den Fossilienfunden in den Harzhohlen handele es sich um Ein-
horngebein, anderen Ursprungs zu sein: So konnte es beispielsweise die bei anti-
ken Autoren wie Aristoteles, Aelian und auch Plinius dem Alteren sich findende
Nennung von Indien47 oder die bei Strabon begegnende Erwahnung des Kauka-
43 4. Mose 23, 22; 4. Mose 24, 8; 5. Mose 33, 17; Hiob 39, 942; Psalm 22, 22; Psalm
29, 6; Psalm 92, 11; Jesaja 34, 7.
44 Vgl. in diesem Zusammenhang Letzner, wie Anm. 29, 1. Buch, S. ()r: Aus dem Grossen
heiligen Historien Buch der Bibel [...].
45 Letzner erklart die Vernunft [ratio) in Glaubensdingen zu einer nerrin, die es aus Ach-
tung vor Gott und seinem Heiligen Worte zu meistern gelte. StA Munster, Msc. VII, 13, wie
Anm. 27, fol. 418r. Dabei beruft er sich auf Luther, welcher mit guter gelegenheit und grunde der
schrifft [. . .] erkleret habe, alle vernunfft und spitzfiindigkeit in Gottes sachen und glaubens articuln
salt und must [man] gefangen nehmen. Stadtarchiv Gottingen, AB III 4,1 (Manuskript des Johan-
nes Letzner, Braunschweig-Liineburgische und Gottingische Chronica, [= „Das Ander
Buch"; = „ Appendix libri tertii"; = „Das Dritte Buch"], Fertigstellung nach 1603), fol. 164v.
46 Vgl. Martin Luther, Predigt auf dem Schlosse zu Wittenberg" vom 23. August 1532
iiber Kap. 15 des Lukasevangeliums, in: D. Martin Luthers Werke (Weimarer Ausgabe),
Bd. 36, Weimar 1909, S. 270-286, hier S. 274: „[. . .] Und ist gleich wie ein Einhorn, von welchem
man saget, das mans nicht kbnne lebendig fahen, man hetze und jeche es, wie man wolle, erstechen,
schiessen und tbdten lesst sichs wol, aber fahen lesset sichs nicht [. . .] ."
47 Indien als Verbreitungsgebiet bzw. Heimat des Einhorns wird z. B. bei folgenden
342 Ralf Kirstan
sus als Lebensraum des Einhorns sein, welche den in der antiken Literatur
durchaus bewanderten Letzner49 und seinen ebenfalls humanistisch gebildeten
Zeitgenossen Eckstorm50 jener Deutung der albern bewrinnen auffden dorffern mit
spottischer Verachtung begegnen lieBen. Immerhin erwahnt nur Caesar in sei-
nem »Gallischen Kriege« (De bello Gallico, 6, 25-26) als Lebensraum des Ein-
horns auch das Hercynische Waldgebirge in Germanien (welches von friihneu-
zeidichen Gelehrten wie zum Beispiel dem Mediziner Daniel Sennert immer
wieder mit dem Harz identifiziert worden ist).51 Jedoch ist Caesar im 16. und
17. Jahrhundert nur in wenigen Fallen als Schulautor genutzt worden52 - in Me-
lanchthons Lehrplanen fur die reformatorischen Ratsschulen ist er beispielsweise
nicht vertreten53 - und wurde erst im 19. Jahrhundert im schulischen Lektiire-
kanon fixiert.54 So konnte zum Beispiel noch 1627 Gerhard Vossius in seinem
dreibandigen Werk »De hictoricis Latinis« klagen, daB Caesar so wenig von der
klassischen Autoren genannt: Aristoteles, Historia animalium, 2, 1, 499b 18-20; Ders., De
partibus animalium, 3, 2, 663a 23: nach Pierre Louis ist das an jener Stelle erwahnte Tier
»6pU(;« ein Fabelwesen, „qui a donne naissance a la legende des licornes" (Aristote, Histoire
des animaux, Tome I, Livres ITV, traduit par Pierre Louis, Paris 1964, S. 40a Anm. 4); Plini-
us, naturalis historia 8, 76 sowie Aelianus, De natura animalium 3, 41; 16, 20.
48 Der Kaukasus als Heimat des Einhorns genannt bei: Strabon, Geographika 15, 1,56.
49 Johannes Letzner benutzte zur Abfassung seiner Werke recht haufig griechische und
romische Schriftsteller, unter anderem auch Aristoteles, Strabon und Plinius den Alteren.
Vgl. Klinge, 1951, wie Anm. 26, Bd. 1, S. 130. Wie sehr er dabei mit der »naturalis historia«
Plinius' des Alteren vertraut war, zeigt sich beispielsweise in Herzog-August-Bibliothek Wol-
fenbiittel, Cod. Guelf. 159 Extrav., Vorbl. 13 sowie Bl. 55T: An diesen Stellen fiihrt Letzner
Plinius den Alteren im Autorenverzeichnis seiner »Hardessischen Chronica« auf und nimmt
explizit Bezug auf das 7. Buch der »naturalis historia«.
50 Alle Vertreter der konfessionellen Historiographie des 16. und 17.Jahrhunderts, egal
ob protestantisch oder katholisch, sind durch die Schule des Humanismus gegangen. Vgl.
Ulrich Muhlack, Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklarung: Die Vor-
geschichte des Historismus, Munchen 1991, S. 52 f.
51 Zur Physiognomie des Einhorns teilt Caesar, bell. Gall., 6, 26 mit: Est bos cervi figura,
cuius a media fronts inter aures unum cornu exsistit excelsius magisque derectum his quae nobis nota
sunt cornibus: ab eius summo sicut palmae ramique late diffunduntur. Eadem est feminae marisque
natura, eadem forma magnitudoque cornuum. (Ubersetzung R. K.: Es existiert ein Rind mit der
Gestalt eines Hirsches, auf dessen Stirnmitte zwischen den Ohren ein einzelnes Horn sich
erhebt, langer und gerader als die Horner, die uns bekannt sind: an der Spitze verzweigt es
sich so wie Hande und Zweige. Das weibliche und das mannliche Tier haben die gleiche Na-
tur sowie die gleiche Form und GroBe der Horner.)
52 Vgl. Friedrich August Eckstein, Lateinischer und Griechischer Unterricht, Leipzig
1887, S. 219.
53 Vgl. Michael von Albrecht, Geschichte der rbmischen Literatur von Andronicus
bis Boethius : Mit Beriicksichtigung ihrer Bedeutung fur die Neuzeit, Bd. 1, Munchen 2 1994,
S. 341.
54 Vgl. Andreas Fritsch, Die Didaktik des Lateinunterrichts in der Bundesrepublik
Die »Hohlwelten« des Harzes 343
Jugend gelesen werde.55 Daher scheint es durchaus plausibel, daB Letzner, Eck-
storm und auch der Elbingeroder Amtmann der Vorstellung vom Harz als Hei-
mat von Einhornem deswegen abgeneigt sind, weil sie die entsprechende Stelle
im »bellum Gallicum« - zumal Letzner die Werke Caesars zur Abfassung seiner
Schriften auch nicht herangezogen zu haben scheint56 - gar nicht kannten. Paral-
lelen zu dem Arzt und Iatrochemiker Daniel Sennert und dessen 1633 in dritter
Auflage erschienener Schrift Epitome naturalis scientiae57 drangen sich auf: Auch
Sennert auBert erhebliche Bedenken gegeniiber der These, daB es sich bei den
Fossilien vor allem des Harzwaldes bei Elbingerode - in ihm ist die Baumanns-
hohle gelegen - urn Einhornknochen handele.58 Allerdings scheinen diese Be-
denken keiner wie auch immer gearteten „proto-rationalistischen" Einsicht in die
Widersinnigkeit des Einhorn-Glaubens zu entspringen. Denn daB Einhorner exi-
stieren oder existiert haben, wird auch von Sennert grundsatzlich als glaubhaft
bezeichnet und nicht in Zweifel gezogen.59 Skeptisch stimmt ihn vielmehr die Tat-
sache, daB die vermeintlichen Einhornknochenfunde zuhauf im deutsch-mahri-
schen Raum60 gemacht wiirden, wo es doch andere Gebiete gebe, an denen die
Deutschland - Versuch eines kurzen Uberblicks, in: Forum Classicum 2/1999, S. 80-91, hier
bes. S. 85 f. Vgl. auch: Manfred Fuhrmann, Latein und Europa: Geschichte des gelehrten Un-
terrichts in Deutschland von Karl dem Grofien bis Wilhelm II., Koln 2001, S. 169f., 176.
55 Vgl. Eckstein, wie Anm. 52, S. 219.
56 Vgl. Klinge, 1951, wie Anm. 26, Bd. 1, S. 130: In Klinges Zusammenstellung der von
Letzner zur Abfassung seiner Werke und Schriften herangezogenen Autoren taucht Caesar
nicht auf.
57 Die Erstauflage dieses Werkes war bereits 1618 mit identischem Wortlaut erschienen.
Vgl. Daniel Sennert, Epitome naturalis scientiae, Wittebergae 1618, hier S. 384 f.
58 Sunt qui putant [sic!] ossa ista ex bestia ilia Monocerote [. . .] reliqua esse, carnibus & aliis
mollioribus partibus vetustate consumtis [sic!]. Verum rationi consentanea non est haec opinio. [. . .]
Probabilius ergo statuitur, minerales esse istos lapides. (Ubersetzung R. K.: Es gibt Leute, die glau-
ben, daB diese Knochen von jenem Tier Einhorn nach altersbedingter Auflosung des Flei-
sches und anderer weicherer Korperteile iibriggeblieben sind. Aber mit der Vernunft in
Ubereinklang zu bringen ist diese Auffassung nicht. Mit groBerer Wahrscheinlichkeit wird
behauptet, daB es sich bei diesen „Steinen" um Mineralien handelt.) Daniel Sennert,
Epitome naturalis scientiae, Wittebergae 31633, S. 423 f.
59 Ebd.: monocerotes degere credibilius est. - Vgl. auch ebd.: Veritm a genuino Monocerotis cor-
nu facile discerni possunt [sc. die Knochen, die vulgo pro cornu monocerotis venditantur; R. K.].
Nam verum unicornu durum & ' solidum est, ut vix radi, multb minus teripossit. (Ubersetzung R. K:
Aber vom echten Einhorn konnen sie [d. h. die Knochen, die gemeinhin als Einhorn ver-
kauft werden] einfach unterschieden werden. Denn echtes Einhorn ist hart und fest, so daB
es kaum geschabt und noch viel weniger zerrieben werden kann.)
60 Vgl. ebd.: in Thuringia & silva Hercinia prope Elbingrodam, item circa Heidelbergam, Hil-
deshemium, in Misnia, Silesia, Moravia, multisque aliis locis (Ubersetzung R. K: in Thiiringen
und dem Harzwalde bei Elbingerode, ebenso um Heidelberg, Hildesheim, in MeiBen, Schle-
sien, Mahren und an vielen anderen Orten).
344 Ralf Kirstan
Existenz von Einhorngebein glaubhafter sei: Et cur in hisce potius, quam in aliis loch,
in quibus monocerotes degere credibilius est, ista cornua inveniuntur?61 »Locis, in quibus
monocerotes degere credibilius est«: »Gegenden, von denen eher anzunehmen
ist, daB in ihnen Einhornerleben« - eine entlarvende Wendung: Sie legt den Ver-
dacht nahe, daB Sennert bei Abfassung dieser Stelle an Indien und den Kaukasus
als die von den Alten iiberlieferten Verbreitungsgebiete des Einhorns gedacht
hat. Es spricht somit einiges dafiir, daB auch Letzner und Eckstorm hinsichtlich
der Einhomthematik durchaus nicht Friihaufklarer „avant la lettre" waren, son-
dern - ebenso wie Daniel Sennert - spathumanistisch geschulte und mit antiker
Literatur vertraute Gelehrte, die sich mit Caesar jedoch nicht intensiverbeschaf-
tigt hatten. Daher standen sie der These von der Harzregion als einstiger Heimat
von Einhornern skeptisch gegeniiber, obwohl sie freilich grundsatzlich an die
Existenz dieser mythischen Tiere glaubten.
Unterschiede zur Hohlengeister-Thematik fallen ins Auge: Wahrend die Exi-
stenz numinoser Wesen in den unterirdischen »Hohlwelten« des Harzes bei aka-
demisch Gebildeten des 16. und friihen 17. Jahrhunderts grundsatzlich unstrittig
gewesen zu sein scheint und man skeptische Distanz offenbar nur gegeniiber bi-
blisch nicht abgesicherten volkskulturellen Uberlieferungen wahrte, ergeben die
zeitgenossischen AuBerungen zur Einhorn-Thematik ein differenzierteres Bild:
Hier scheint die Linie des Dissenses offensichtlich sogar durch die Gruppe der
humanistisch Gebildeten verlaufen zu sein. Die einen, wie zum Beispiel der Su-
perintendent Olearius, der Studiosus von Alvensleben oder der Historiker und
Orientalist Hermann von der Hardt, glaubten an das Vorhandensein von fossilem
Einhorngebein in den Hohlen des Harzes und waren sich darin mit dem traditio-
nellen Volksglauben einig. Andere, wie zum Beispiel die Theologen Letzner und
Eckstorm, der fur Matthaeus Merians »Topographia« arbeitende Amtmann von
Elbingerode sowie der Arzt Daniel Sennert, waren da weitaus skeptischer und
scheinen a prima vista naturphilosophische Betrachtungsweisen der Eriihaufkla-
rung zum Teil schon im Ubergang vom 16. zum 17. Jahrhundert vorweggenom-
men zu haben. Erst bei genauerer Analyse stellt sich jedoch heraus, daB dieser
Eindruck triigt: Zutiefst von der Verbalinspiration derHeiligen Schrift iiberzeugt,
diirfte wohl weder ein Johannes Letzner noch ein Heinrich Eckstorm grundsatzli-
che Zweifel an derbiblisch verbiirgten Existenz von Einhornern gehabt haben. Es
scheint vielmehr so, als habe die Kenntnis der Werke von beriihmten antiken Na-
turforschern sie zu der Auffassung gelangen lassen, nur Asien kame als Heimat fiir
das Einhorn in Frage. Die Werke des romischen Geschichtsschreibers Caesar, der
61 Ebd. ; Ubersetzung R. K. : Und warum werden diese Knochen eher in dieser als in an-
deren Gegenden gefunden, von denen eher anzunehmen ist, daB in ihnen Einhorner leben?
Die »Hohlwelten« des Harzes 345
diese These gefahrdete und das Einhorn auch in den Waldern Germaniens lokali-
sierte, scheinen sie dagegen nicht gekannt zu haben.
Entscheidende Anhaltspunkte dafiir, warum sich die vermeintlichen Einhorn-
knochen bei den Bauern der Harzregion so groBer Beliebtheit erfreuten, liefert
Heinrich Eckstorm: Uber bestimmte Krafte (nescio quas vires) sollen sie nach An-
gaben derer, die mit ihnen handelten, verfiigen und dabei nicht allzu teuer sein.62
Diese Krafte bestanden weitverbreiteten friihneuzeitlichen Vorstellungen zufolge
besonders in einer Schutzfunktion vor Krampfen, Epilepsie und Gift.63 Der Arzt
Daniel Sennert (1572-1637) erwahnt dariiber hinaus eine Wunden, Knochenbrii-
che und Geschwiire heilende Wirkung und bezeichnet fossiles Einhorn vor allem
auch als probates Mittel gegen starke Fieber, Pest und Bauch-Koliken bei kleinen
Kindern.64 Aber nicht nur aufgrund ihrer vermeintlichen Einhorn-Knochen ge-
nossen die Hohlen des Harzes einen besonderen medizinischen Ruf, auch in an-
derer Hinsicht zog man aus ihnen einen therapeutischen Nutzen. So laBt der El-
bingeroder Amtmann iiber die Baumannshohle verlauten: Ubersolche wunderbahre
structur dieser erschrocklichen Hohlen [. . .] befinden sich noch andere denckwiirdige Sachen
darinnen, zumahl bald im ersten Gang ein Briinnlein sehr klaren Wassers ist, welches von
vielen fur die Schmertzen deji Blasensteins taglich nicht ohne Nutzen gebrauchet wird.65
Neben solchem klaren Quellwasser als Therapeutikum gegen Blasensteine stellte
die Hohle aber auch in veterinarmedizinischer Hinsicht Arzneistoffe zur Verfii-
gung: Und demnach[. . .] das Wasser in der Hohlen stets von obenherab Tropffenweise nie-
derfdllet, so hdngen sich oben an die Sterne von solchen Tropffen, in Gleichnuji der Eifizapf-
fen, lange dunne Steine, gantz weisser Farben, welche mit Verwunderung in grosser menge
herauji gebracht, verkaufft, zu Pulver gestossen, unddem schadhafften Viehe in die Wunden
mit grossem Nutzen gestrewet werden.66 An diesem Zitat wird deutlich, daB sich im
62 [. . .] pro Unicornis cornu imperitis hominibus, non ita magno tamen precio obtrudunt, affin-
gentes ipsis nescio quas vires. Eckstorm, wie Anm. 10, S. 222.
63 Hermann Guntert, Art. »Einhorn«, in: Handwtirterbuch des deutschen Aberglau-
bens, Bd. 2, Berlin /Leipzig 1929/1930, Sp. 708-712, hier Sp. 709; Jacques le Goff, Ritter,
Einhorn, Troubadoure: Helden und Wunder des Mittelalters, Miinchen 2005, S. 136; Lise-
lotte Wehrhahn-Stauch, Art. »Einhorn«, in: Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte,
Bd. 4, Stuttgart 1958, Sp. 1504-1544, hier Sp. 1505. - Der Glaube an die Heilkraft von Ein-
horngebein war verbreitet, obwohl weder Galen noch Hippokrates noch Dioskurides als
»Doyen« der auch der friihneuzeitlichen Medizin zugrundeliegenden humoralpathologi-
schen Lehre dessen therapeutischen Wert erwahnen. Vgl. ebd., Sp. 1508.
64 Vgl. Sennert, wie Anm. 58, S. 423, wo es zu Horn und Knochen des Einhorns heiBt:
quae ad vulnera & ossafracta glutinanda, ulceraque sananda utilia esse pradicantur. Imprimis autem
cornua ista non parvum in Epilepsia, febribus malignis, peste, aim torminibus in infantibus, aliisq;
morbis sanandis habere usum, experientia docuit [...].
65 Merian, wie Anm. 1, S. 32f.
66 Ebd., S. 33.
346 Ralf Kirstan
17. Jahrhundert urn die Harzhohlen ein eigener Gewerbezweig etabliert hatte,
welcher von der Verarbeitung derhangenden Tropfsteine lebte. Diese sogenann-
ten Stalaktiten wurden zu Pulver verarbeitet und den Bauern als Wundmittel fiir
ihr Vieh verkauft - eine Medizin, der auch der Amtmann groBen Nutzen zuer-
kennt und die nach Eckstorm iiber die »Kraft zum Austrocknen« (vim exsiccandi)
verfiigte.67 Obwohl diese AuBerung vor dem Hintergrund des in derfriihen Neu-
zeit popularen und im folgenden noch anzusprechenden medizinischen Konzep-
tes der Vier-Safte-Lehre zu sehen ist,68 konnte sie als Hinweis aufzufassen sein auf
eine moglicherweise entzundungshemmende Wirkung des Stalaktiten- Pul vers:
Bestand dieses doch aus nichts anderem als Kalk, der - einmal gebrannt - als
Calciumoxid (Branntkalk) eine desinfizierende, bakterizide und somit ent-
zundungshemmende Wirkung hatte. Bereits Letznerberichtet iiber eine derartige
Verarbeitung von Tropfsteinen zu Arznei; dabei gibt er zu erkennen, daB sie auch
einen starken asthetischen Reiz auf ihn ausiiben: Beschreibt er sie doch als lang
und kurtz, gros und klein, gantz reinlich und subtiel, mit feinen natiirlichen und schonen
blumen hangend.6® Jedoch sind es im medizinischen Sinne nicht nur positive
Aspekte, die friihneuzeitliche Autoren mit unterirdischen »Hohlwelten« in Ver-
bindung brachten. Auch als Orte von Gefahren fiir die Gesundheit wurden sie
gesehen. Dabei ist es nicht nur der felsige, zerkliiftete und zuweilen auch Sicher-
heitsvorkehrungen wie das Anseilen erfordernde Untergrund 70 oder die zahlrei-
67 Ruricolae eum [den Tropfstein; R. K.], quod vim exsiccandi habeat, in pulvisculum redactum
sauciorum jumentorum vulneribus vel vlceribus inspergunt. (Ubers. R. K. : Die Landbewohner
streuen ihn [den Tropfstein] in zu Pulver zerstoBener Form in die Wunden oder Geschwiire
verletzter Nutztiere, weil er die Kraft zum Austrocknen besitzen soil.) Eckstorm, wie
Anm. 10, S. 222.
68 Das auf die antiken Arzte Hippokrates und Galen zuriickfuhrbare und noch bis ins
19. Jahrhundert hinein verbreitete medizinische Konzept der Vier-Safte-Lehre (Humoralpa-
thologie) definiert Krankheit als eine Storung des labilen Gleichgewichts der vierim Korper
vorhanden geglaubten Safte Blut, Schleim, schwarze Galle und gelbe Galle. Dabei man man
jedem Saft eine bestimmte Guialitat zu: Blut gait als warm & feucht, Schleim als kalt &
feucht, schwarze Galle als kalt & trocken, gelbe Galle als warm & trocken. Vgl. hierzu Regi-
na Hell, Der Saftebegriff in den Schriften Thomas Sydenhams (1624-1689), Diss. med.
(masch.), Tubingen 2002, S. 35. Heilung im medizinischen Sinne nun bedeutete die Wieder-
herstellung des natiirlichen Gleichgewichts dieser vier Safte. Das glaubte man dadurch er-
reichen zu konnen, daB man - das Prinzip des contraria contrariis verfolgend - einer aus dem
UberschuB eines Saftes resultierenden Erkrankung mit Mitteln begegnete, die jeweils anta-
gonistische Guialitaten aufwiesen: Beispielsweise heilte man eine schwarende und somit
durch einen lokalen UberschuB an den Saften Blut oder Schleim »feuchte« Wunde am be-
sten durch die Gabe eines »austrocknenden«, d. h. von seiner Qualitat her »trockenen« The-
rapeutikums.
69 StA Minister, Msc. VII, 13, wie Anm. 27, fol. 78 v.
70 Wenn man viel hundert Schritt darin fortgangen, und gekrochen, trifft man einen spitzigen Fel-
Die »Hohlwelten« des Harzes 347
chen, ein hoffmmgsloses Verirren begiinstigenden Kammern,71 welche eine Hoh-
le aus zeitgenossischer Sicht immer auch zu einem grausamen72 finstere[n] und un-
freundtliche[n]73 Orte machten. Auch andere Bedrohungen fur die Gesundheit
konnten in ihr lauern. So schreibt Letzner iiber die heute so genannte Einhorn-
hohle: In dieserhoele ist esfast halt, so spilret und vernimptman auch daselbstkein bosege-
wiirm, doch aber ist diese hoele sine acre incluso nicht, die iederman ohn schaden nicht wol
erleiden mag.7i Dieses Zitat gibt mit seiner Erwahnung eines schadigenden »aer
inclusus« (d. h. „eingeschlossene Luft") einen Hinweis darauf, daB Letzner ein An-
hanger der sogenannten Miasmen-Theorie war, die in der zeitgenossischen arztli-
chen Diskussion eine wichtige Rolle spielte.75 Miasmen wurden mit einer Verun-
reinigung oder Verderbnis der Luft in Verbindung gebracht, als deren Quelle
Wetter- Anomalien, Leichen und Kadaver, Siimpfe, stehende Gewasser, verrotten-
des Gemiise, Exkremente, aber auch - in unserem Zusammenhang besonders
wichtig - Erdspalten, Hohlen und dergleichen mehrgalten.76 Sie wurden als Aus-
diinstungen betrachtet, die untrennbar mit der Luft sich vermischen, sie »infizie-
ren«, und iiber diesen Weg vom Menschen iiber die Atmung oder die Hautporen
aufgenommen werden konnen. War das geschehen, beeinfluBten sie das labile
Gleichgewicht der vier nach zeitgenossischer Vorstellung im Korper enthaltenen
Hauptsafte Blut, Schleim, gelbe Galle und schwarze Galle. Da man in der friihen
Neuzeit jedoch in der Regel immer noch der antiken, auf Hippokrates und Galen
zuriickfiihrbaren Lehre der Humoralpathologie anhing,77 wonach Krankheit de-
finiert war als eine Storung des labilen Gleichgewichts eben dieser vier Kardinal-
safte, stellte ein Miasma von der Art des in der Einhornhohle vorhandenen eine
potentielle Bedrohung fiir die Gesundheit dar, ja konnte schlimmstenfalls sogar
sen zwischen zwo Klufften an, das Rofi genant, iiber welchen man hiniiber hutschen, und hernach sich
unterweilen gar mit Stricken hinunter lassen mufi [...]. Merian, wie Anm. 1, S. 32.
71 [. . .] wann sich einer einmahl in den unzehlich vielen Hohlen verwirret, unmbglich ist, sich
wieder heraufi zufinden, wie man dessen Exempel an denen darin gefundenen todten Cbrpern oder sce-
letis hat [. . .]. Ebd.
72 Ebd.
73 StA Minister, Msc. VII, 13, wie Anm. 27, fol. 79 r.
74 GWLB Hannover, Ms. XXIII, 611a, wie Anm. 27, fol. 36 r.
75 Noch deutlicher offenbart Letzner sein Anhangen an die Miasmen-Theorie, wo er
von der bosen faulen und gifftigen lufft der pestilentz spricht. StA Minister, Msc. VII, 13, wie
Anm. 27, fol. 246 r.
76 Charles-Edward Amory Winslow, The Conquest of Epidemic Disease: A Chapter in
the History of Ideas, Princeton 21944, S. 117; Michael Stolberg, Homo patiens: Krankheits-
und Korpererfahrungin der Friihen Neuzeit, Koln 2003, S. 158; Mary Lindemann, Medicine
and Society in Early Modern Europe, Cambridge 1999, S. 179.
77 Das iatrochemische Modell des Theophrastus Bombastus von Hohenheim, genannt
Paracelsus, spielte demgegenuber eine untergeordnete Rolle.
348 Ralf Kirstan
spezifische Krankheitsbilder wie das der Pest hervorrufen.78 Fur Johannes Letz-
ner stellten unterirdische »Hohlerden« also auch insofern ein gesundheitliches
Risiko dar, als sie miasmatische Diinste enthalten konnten, die - einmal vom Or-
ganismus aufgenommen - Veranderungen im Saftehaushalt des Korpers bewir-
ken und zum Entstehen von unter Umstanden todlichen Krankheiten fiihren
konnten.79 Ahnlich verhalt es sich auch mit dem von Letzner erwahnten »bose ge-
wiirm«. Unter »Gewiirm« diirfte er dabei als neuhochdeutscher Autor des 16.
Jahrhunderts ein Collectivum verstanden haben, dessen Bedeutungsumfang sehr
weit gezogen ist und in der Verwendung Luthers „alles, was da kreucht und
schleicht" umfaBt; es bedeutet nicht allein den heutigen »Wurm«, sondern alle
kriechenden Tiere, fur die die Vulgata-Bibel den Begriff des »reptile« einsetzt.80
Zwar vermochte Letzner derartige Kriechtiere in der Einhornhohle nicht zu
entdecken; jedoch deutet allein schon seine Erwahnung dieser Tierkategorie im
Zusammenhang seiner Hohlenbeschreibung darauf hin, daB erin unterirdischen
»Hohlwelten« durchaus mit ihrem Vorhandensein rechnete. Auf was jedoch
spielt Letzner mit seiner Formulierung »bose gewiirm« konkret an? Was versteht
er unter Kriechtieren, die in Hohlen leben und dazu noch »bose« sind? Eine Ant-
wort auf diese Fragen ist moglicherweise im Werke des von uns bereits erwahnten
Georg Agricola zu finden. Dieser weiB am Ende des sechsten Buches seiner
»Zwolf Biicher vom Berg- und Hiittenwesen« von einem Tier aus der gating der
vorgifftige Ameissen zu berichten, welches vast klein, vnnd den spinnen gleich sei. Die-
ses Tier, genandt Solifuga, darumb das es den tagfleuhet, sieht Agricola in Rekurs auf
den spatantiken romischen SchriftstellerSolinus haufig in sardinischen Silbergru-
ben vorkommen; es kreucht gantz still vndheimlich, vn bringt denen darauffes sitzet von
wegejrer vnforsichtigkeit, ein pestilentz in bussen [= in den Busen; R. K.].81 Zwar muB
78 Vgl. hierzu vor allem Andrew Wear, Medicine in Early Modern Europe, 1500-1700, in:
Lawrence I. Conrad, Michael Neve, Vivian Nutton, Roy Porter, Andrew Wear (Hgg.), The
Western Medical Tradition 800 BC to AD 1800, Cambridge 1995, S. 215-362, hierS. 263.
79 Fragwiirdig erscheint auf diesem Hintergrund der Versuch von Reinboth und Vladi,
den von Letzner erwahnten „aer inclusus" mit irgendwelchen realen, moglicherweise von
den Speiseabfallen der Knochengraber oder dem Geleucht herriihrenden schlechten Gerii-
chen in Verbindung zu bringen - zumal beide Autoren konstatieren, daB die Wetter in der
Einhornhohle einwandfrei seien. Vgl. zu deren beider Erklarungsansatz Friedrich Rein-
both, Firouz Vladi, Johannes Letzners Beschreibung der Steinkirche und der Einhornhohle
bei Scharzfeld, in: Harz-Zeitschrift 32 (1980), S. 77-91, hier S. 86 Anm. 48. Wenn Letzner mit
seiner Formulierung tatsachlich auf irgendwelche sinnlich wahrnehmbaren Diinste anspie-
len sollte, dann wohl am ehesten auf die auch vom Elbingeroder Amtmann erwahnten Diin-
ste und Nebel, die sich in der Hohle durch zu hohe Luftfeuchtigkeit gebildet hatten.
80 Vgl. Eintrag »Gewiirm (Gewiirme)« in: Deutsches Worterbuch von Jacob Grimm
und Wilhelm Grimm, bearb. von Hermann Wunderlich et al., 4. Bd., I. Abt., 4. Teil, Leipzig
1949 = Bd. 7, Miinchen 1984, Sp. 6814-6828, hier Sp. 6816ff.
81 Agricola, Vom Bergkwerck, wie Anm. 18, 6. Buch, S. clxxx.
Die »Hohlwelten« des Harzes 349
es nicht genau dieses bei Agricola erwahnte Tier gewesen sein, welches Letzner
im Sinn hatte, als er die Formulierung „bose gewiirm" verwendete; immerhin
heiBt es bei Agricola auch: Aber in vnsern grube ist nicht die gattug der vorgifftige
Ameissen [. . .].82 Dennoch aber ist diese Stelle aus dem Werke des Bergbau-Ge-
lehrten hochst erhellend fiir das Verstandnis jener Letznerschen Formulierung:
Zeigt sich daran doch exemplarisch, daB im 16. Jahrhundert gelehrte Laien und
Bergbaufachleute gleichermaBen unterirdische »Hohlwelten« immer auch als na-
tiirliche Lebens- und Riickzugsraume von wunderlichen, fiir den Menschen ge-
fahrlichen Insekten und Kriechtieren angesehen haben. Daneben waren die
Hohlen des Harzes jedoch auch verrufen und gefiirchtet als Schlupforte fiirLand-
fahrer und anderes »Gelichter«. Denn es berichtet der Chronist Letzner iiber die
Einhornhohle ferner: Man sagt, das sich offtmals bose verdechtige leut, die anderstwo
keinen guten stern und windt haben, auch aus alien wassern am tage nicht trincken miigen,
sich in diese hoele als in das buben- und wolffs geleide verbergen und verstecken sollen,
welchs ich nicht ungerne geleube, denn als ich und meine domaligen geferten anno 1583, den
27.Junii,83 diese hoele visitirten, haben wir fewr, frisch gespaltet holtz, rinden vom brott,
die schwarten vom speck und andere frische urkunden mher daselbst mit verwunderung,
auch nicht mit geringem schrecken funden.84
Trotz eines derartigen ihnen von den Zeitgenossen beigemessenen Gefahren-
potentials scheinen die Hohlen des Harzes dennoch auch im 16. und 17. Jahrhun-
dert immer wieder neugierige Besucher angezogen zu haben. Darauf deutet nicht
nur die Formulierung des Elbingeroder Amtmanns hin, es „versamlen sich ge-
meiniglich der jenigen/ so den Ort zu besehen willens/ eine zimliche Gesell-
schafft [. . .]".85 Es zeigt sich auch an folgender Mitteilung Letzners zur sogenann-
ten Einhornhohle: In der aller hinder sten [Hohle; R. K.] werden viel fiirnemer leut na-
men, in demfelse mit kollen und rotel geschrieben, mit gewisser iarzael und tage zeit, wann
solche leut da gewesen, funden86 Offensichtlich waren die Harz-Hohlen bereits im
16. Jh. eine Art „touristischer" Anziehungspunkt, derspeziell »furneme leut«, d. h.
auBeres Ansehen besitzende87 Angehorige der Oberschicht, zur Besichtigung
reizte.88 Diese haben sich dann, des Schreibens und Lesens kundig, durch Kohle-
82 Ebd.
83 Diese Datumsangabe nach julianischem Kalender entspricht dem 4. Juli nach dem
heute gebrauchlichen gregorianischen Kalender.
84 GWLB Hannover, Ms. XXIII, 611a, wie Anm. 27, fol. 36r.
85 Merian, wie Anm. 1, S. 32.
86 GWLB Hannover, Ms. XXIII, 611a, wie Anm. 27, fol. 35v.
87 Vgl. Eintrag »fiirnehm« in: Deutsches Worterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm
Grimm, bearb. vonjacob Grimm, Karl Weigand, Rudolf Hildebrand, 4. Bd., I. Abt., 1. Half-
te, Leipzig 1878 = Bd. 4, Miinchen 1984, Sp. 774-776, hier Sp. 775.
88 Auch Letzner war nach eigener Angabe bei seiner am 27. Juni 1583 veranstalteten
350 Ralf Kirstan
und Rotelinschriften in den Hohlen zu »verewigen« versucht, so daB selbst noch
in heutiger Zeit im Schillersaal der Einhornhohle (= dritte Hohle) teilweise bis in
das 15. Jahrhundert zuriickreichende Inschriften zu finden sind.89 Fiir Besichti-
gungen der Baumannshohle zu „touristischen" Zwecken scheint sogarbereits Mit-
te des 17. Jahrhunderts eine bestimmte Ordnung eingerichtet worden zu sein: Seit
1649 erfolgten Fiihrungen durch den eigens dafiir vom Herzog mit einem Privileg
ausgestatteten Valtin Wagner.90
Welche Vorstellungen zur Entstehung solcher unterirdischen »Hohlwelten«
hatte man aberim 16. und 17. Jahrhundert? Auch hierbei gilt es zwischen Erkla-
rungsansatzen des »gemeinen Mannes« einerseits und denen von akademisch ge-
bildeten Theologen und Angehorigen der Oberschicht andererseits zu unter-
scheiden. Der »gemeine Mann« scheint - das zumindest ergibt eine Befragung
der im Umfeld der Einhornhohle siedelnden Landbevolkerung durch den Chro-
nisten Letzner - davon iiberzeugt gewesen zu sein, diese Hohle sei von Zwergen
erschaffen worden: Die benachbarten und der gemeine man halten und nennen diese
vielbenandte hoele vor zwerglocher, wissen davon sonst nichts mher zuberichten.91 Im Ge-
gensatz dazu vertreten andere, offensichtlich geschichtlich gebildete und daher
den literaten hoheren Schichten zuzurechnende Zeitgenossen die Ansicht, die
Hohlen seien in den Wirren der Volkerwanderungszeit von Menschenhand
kiinstlich erschaffen worden: Andere haltens dafiir, das fur alters, als die Gothen, Hun-
nen, Wenden und andere barbarische, frembde und tirrannische volcker die lande mit heeres
kraft durchzfigen, so gar grewlich getobet, gewutet und gantz unmenschlich gehandelt und
mit dem armen volck umbgangen, das daher die leut aus grosser forcht und angst solche hoe-
len gesucht, gemachet und erweitert und darin sich mit den ihren so wol und gut sie ver-
mocht, bis das ungewitter furiiber gewesen, versteckt und auffgehalten haben?2 Letzner
spielt hiermit wahrscheinlich u. a. auf Johannes Mathesius an, der 1571 in einem
Buch iiber Bergwerke und Metalle beziiglich der Baumannshohle die Ansicht ver-
treten hat, sie sei von Menschen gegraben worden.93 SchlieBlich erwahnt Letzner
noch einen dritten Erklarungsansatz, der von „etzlichen" vertreten werde und
einmal mehr zeigt, wie sehr die Bibel in der friihen Neuzeit als historiographi-
sches Werk betrachtet wurde, das, einem Geschichtswerk gleich, wahrhaftig sich
Besichtigung der Einhornhohle in Begleitung zweier Adliger. Vgl. Reinboth, Vladi wie
Anm. 79, S. 86.
89 Vgl. ebd., S. 85 Anm. 45; vgl. auch Karl Burger, Die Baumannshohle: Geschichte ei-
nes Harzer Naturdenkmals, in: Zeitschrift des Harz-Vereins fiir Geschichte und Altertums-
kunde, 63. Jg., 1930, S. 82-106, S. 88 Anm. 7.
90 Vgl. ebd., S. 106.
91 GWLB Hannover, Ms. XXIII, 611a, wie Anm. 27, fbl. 36v.
92 Ebd.
93 Vgl. hierzu Kempe, Reinboth, wie Anm. 1, hier S. 35f.
Die »Hohlwelten« des Harzes 351
ereignet habende Geschehnisse berichtet: Etzliche meinen und haltens auch dafiir,
das diese und dergleichen hoelen und locher in der sindtflut also wurden, und die menschen
domals, iung und alt zugleich, mit bergen und steinfelsen bedeckt und also umbkomen sein
sollen.9i Diesem „tektonischen" Erklarungsansatz gemaB erschuf die Sintflut die
unterirdischen Hohlen, indem sie Berge und Steinfelsen aufeinandertiirmte. Da-
mit hatte man zugleich eine Erklarung fur das Vorhandensein von alten, aus heu-
tiger Sicht prahistorischen menschlichen Knochen in den unterirdischen »Hohl-
welten« des Harzes: sterbliche Uberreste von Zeitgenossen Noahs waren es, die
damals zur Zeit des ersten Bundes unter den von der Sintflut in Bewegung gesetz-
ten Bergen und Felsen begraben worden waren. Letzner nimmt damit wahr-
scheinlich Bezug auf Heinrich Eckstorm, der in einer 1589 abgefaBten und 1620
publizierten „Epistola de specu Bumanni vulgo Bumannsholl" offenbar als erster
eine Art „Uberdeckungs-Hypothese" im Hinblick auf die Entstehung von Hohlen
formuliert hatte.95
Zusammenfassend kann festgestellt werden, daB es im 16. und 17. Jahrhundert
je nach Schichtzugehorigkeit und Bildungsniveau durchaus abweichende Vorstel-
lungen zum Thema »Hohlerden« geben konnte. Zwar war es fiir alle, fiir den „ge-
meinen Mann" wie fiir humanistische Gelehrte gleichermaBen, ganz selbstver-
standlich, daB unterirdische »Hohlerden« immer auch natiirliche Riickzugsorte
von Gespenstern und numinosen Wesen waren - eine Vorstellung, die insbeson-
dere in lutherischen Gebieten durch das Neue Testament befordert worden zu
sein scheint. Dennoch aber begegnet auch schon in jener Zeit bei gebildeten
Zeitgenossen ein gewisses »kritisches« BewuBtsein, das nicht jeden Bericht des
»gemeinen Mannes« iiber phantastische Vorkommnisse in Hohlen fiir bare Miin-
ze nimmt: Allerdings scheint eine derartige Grenzziehung zwischen Realitat und
Aberglauben nicht aus irgendeiner „proto-rationalistischen" Einstellung erfolgt
zu sein; vielmehr diirfte sie gewissen Anschauungen Luthers geschuldet sein so-
wie dem Versuch, die Welt mit der zu den phantastischen Berichten des »gemei-
nen Mannes« freilich keine Aussagen treffenden Bibel zu erklaren. Im Gegensatz
dazu laBt sich der Glaube an das Vorkommen von Einhorngebein in den Hohlen
des Harzraumes nicht so einfach einer spezifischen Gruppe oder Schicht zuord-
nen: Die Vorstellung, daB es sich bei »prahistorischen« Knochenfunden in den
Harz-Hohlen um das beriihmte unicornu fossilehandeln miisse, war nicht nurbeim
gemeinen Volke verbreitet, sondern teilweise auch in akademischen Kreisen.
Zweifel an dieser Anschauung scheinen bis zum Beginn der Aufklarung haufig
nicht aus irgendeiner Einsicht in die Widersinnigkeit des Einhornglaubens er-
wachsen zu sein, sondern aus folgenden Griinden: Erstens aus spathumanisti-
94 GWLB Hannover, Ms. XXIII, 611a, wie Anm. 27, fol. 36v.
95 Vgl. Kempe, Reinboth, wie Anm. 1, hier S. 35.
352 Ralf Kirstan
scher Lektiire antiker griechischer und romischer Naturforscher, welche als Hei-
mat des Einhorns den asiatischen Raum bezeichnen; zweitens aus der relativ
untergeordneten Rolle von Caesar als Schulautor und einem daraus resultieren-
den geringen Bekanntheitsgrad von Caesars »Bellum Gallicum«, einem Werk,
das jedoch als einzige der iiberlieferten antiken Schriften die Behauptung enthalt,
daB auch der Hercynische Wald Lebensraum von Einhornern sei. Dariiberhin-
aus war das Verhaltnis gerade der gebildeten hoheren Schichten zu unterirdi-
schen »Hohlerden« ein durchaus ambivalentes: einerseits fiirchtete man sie als
Orte mit einem hohen Potential an Gesundheitsgefahren (Miasmen, „bose" Tie-
re), andererseits schatzte man sie als Lieferant von wichtigen Arzneistoffen, ja
entwickelte ein geradezu touristisches Interesse an ihnen. Bildungs- und schicht-
abhangig sind in der friihen Neuzeit ebenso die Theorien zur Entstehung von
Hohlen: Wahrend der »gemeine Mann« glaubte, die Harzhohlen seien von Zwer-
gen erschaffen worden, begegnet bei literaten Angehorigen hoherer Schichten
die Auffassung, sie seien in der Volkerwanderungszeit durch Menschenhand ge-
formt worden oder aber das Produkt der als reales historisches Ereignis aufgefaB-
ten Sintflut.
In der Bastille gewesen zu sein, ist eine Empfehlung.
Abenteurer und ehemalige Bastille-Haftlinge
am hannoverschen Hof um 1700
Von Gerd van den Heuvel
Will man ein einzelnes Ereignis benennen, das auch heute noch den epochalen,
grundstiirzenden Charakter der Franzosischen Revolution in der historischen
Wahrnehmung einer breiteren Offentlichkeit verkorpert, dann steht der Sturm
auf die Bastille am 14.Juli 1789 zweifellos an ersterStelle,1 noch vor der Erklarung
der Abgeordneten des Dritten Standes zur Nationalversammlung, der Deklarati-
on derMenschen- und Biirgerrechte, der Hinrichtung Ludwigs XVI. oder derja-
kobinischen Terrorherrschaft. In ihrer doppelten Funktion als Verkorperung der
iiberwundenen Willkiirherrschaft des Ancien Regime und (mit der Erstiirmung
durch das Volk) des verheiBungsvollen Beginns einer neuen, unter der Leitidee
derFreiheit stehenden Epoche der Menschheitsgeschichte erfiillt die Bastille alle
Voraussetzungen, um als Kollektivsymbol das Selbstverstandnis der franzosi-
schen Nation bis heute zu pragen und dariiber hinaus weltweit als Metapher fur
revolutionare Entschlossenheit und die Befreiung von ungerechter Herrschaft
Verwendung zu finden. Die gewaltsame Eroberung der Pariser Stadtfestung am
14. Juli, die nachfolgende Schleifung imjahre 1790, die jahrlichen, mobilisieren-
den Gedenktage wahrend der Revolution, die Errichtung einer Freiheitsstatue auf
dem Bastille-Platz wahrend derjulimonarchie und schlieBlich die Erhebung des
14. Juli zum franzosischen Nationalfeiertag (1880) markieren nur einige Etappen
revolutionarer Memoria, mit denen der Fall des Pariser Kerkers als Griindungs-
mythos des modernen Frankreich institutionalisiert wurde.2
1 Vgl. Winfried Schulze, Der 14. Juli 1789. Biographie eines Tages, Stuttgart 1989;
Ders.: Der 14. Juli 1789, in: Andreas Anderhub, Berthold Roland (Hrsg.), Die Bastille: Sym-
bolik und Mythos in der Revolutionsgraphik [Ausstellungskatalog Landesmuseum Mainz],
Mainz 1989, S. 11-21.
2 Hans-Jurgen Lusebrink, Rolf Reichardt, Die „Bastille". Zur Symbolgeschichte von
Herrschaft und Freiheit, Frankfurt/M. 1990. Treffender lautet der Titel in der englischen
Ubersetzung: The Bastille: a history of a symbol of despotism and freedom, London 1997.
354 Gerd van den Heuvel
Mit seinen zahlreichen Studien zur Geschichte und Funktion des koniglichen
Sondergefangnisses im kollektiven BewuBtsein Frankreichs hat Rolf Reichardt
gezeigt, dass die Bastille als Symbol von Despotismus und Freiheit nicht nur in
der Nachgeschichte von 1789 ihre Wirkung entfaltete, sondern bereits im Ancien
Regime als steinernes Zeugnis absolutistischer Willkiirherrschaft fest in der Vor-
stellungswelt breiter Bevolkerungsschichten verankert war, ja nur aus dieser Vor-
geschichte erklarbar wird, warum ein vor der Revolution weitgehend seiner Funk-
tion als Staatsgefangnis verlustig gegangenes, 1789 lediglich noch mit einigen
Geisteskranken und gewohnlichen Kriminellen besetztes Gemauer diese iiberra-
gende Bedeutung gewinnen konnte.3
I.
Seit dem friihen 17. Jahrhundert war die Bastille alles andere als ein norm ales Ge-
fangnis gewesen. Zur Zeit des Kardinals Richelieu, vor allem aber unter Ludwig
XIV. diente die Stadtfestung als Herrschaftsinstrument einer allmachtig erschei-
nenden Monarchie sowohl gegen rebellische Adlige, Verschworer und Spione als
auch gegen Protestanten, aufmiipfige Literaten oder andere Kritiker des Sonnen-
konigs. Zu den Personen, die durch konigliche Siegelbriefe, die lettres de cachet, oh-
ne konkrete Begriindung und ohne Gerichtsverfahren inhaftiert wurden, zahlten
aber nicht nur solche im weitesten Sinne politische Gefangene, sondern auch An-
gehorige der oberen Gesellschaftsschichten, deren Lebenswandel die Familien-
ehre diskreditierte und die auf Antrag ihrer Verwandten in der Bastille landeten.
Diese gerauschlose, auf der Basis des Gottesgnadentums unmittelbar vom Konig
in vaterlicher Fiirsorge gehandhabte Form der Sozialdisziplinierung, bei der of-
fentliches Aufsehen durch einen GerichtsprozeB vermieden und die Anonymitat
des Inhaftierten gewahrt wurde, gait als nicht ehrenriihrig und war ein probates
Mittel, auch hochrangige, allzu sehr iiber die Strange schlagende Mitglieder der
Hofgesellschaft fiir eine gewisse Zeit aus dem Verkehr zu Ziehen. Die Bastille wur-
de in diesem Sinne auch als annexe de Versailleshezeichnet} So verbrachte derspa-
tere Marschall von Richelieu, GroBneffe des beriihmten Kardinals und Ersten
3 Rolf Reichardt, Bastille, in: Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich
1680-1820, hrsg. von R. Reichardt u. E. Schmitt in Verbindung mit G. van den Heuvel und
A. Hofer, Heft 9, Miinchen 1988, S. 7-74; Ders., Prints: Images of the Bastille, in: Robert
Darnton/ Daniel Roche (Hrsg.), Revolution in Print. The Press in France 1775-1800, Berke-
ley 1989, S. 223-251; Ders.: Die Bildpublizistik zur „Bastille" 1715 bis 1880, in: Die Bastille,
wie Anm. 1, S. 23-70.
4 Vgl. Claus Sussenberger, Grossneffe des Kardinals und Liebling der Frauen. Mar-
schall von Richelieu 1696-1788, in: Ders., Die Klaviere des Henkers. Lebenswege zwischen
Bastille und Guillotine, Frankfurt/New York 1997, S. 97-152, hier S. 103.
Abenteurer und Bastille-Haftlinge
355
Abb. 1:
Constantin de Renneville,
Franzbsische Inquisition,
Pag. 1, Ansicht der Bastille.
Ministers Ludwigs XIII., be-
reits als knapp Fiinfzehnjahri-
ger einige Zeit in der Bastille,
vordergriindig, weil er das ehe-
liche Beilager mit der ihm an-
getrauten Nichte des Pariser
Erzbischofs verweigerte, tat-
sachlichjedoch, weil ermit sei-
ner 1 1 Jahre alteren Taufpatin,
der von ihrem Gemahl gelang-
weilten Herzogin von Bur-
gund und Savoyen, zugleich
Dauphine und damit kiinftige
Konigin von Frankreich, im
Bett erwischt worden war. Die
daraufhin von seinem Vater
beantragte und vom Konig ge-
wahrte Unterbringung seines
SproBlings in der Bastille ge-
staltete sich mit Dienstperso-
nal, einem eigenen geistlichen Erzieher sowie je einem Sprach- und Mathematik-
lehrer recht komfortabel, war allerdings mit der Auflage verbunden, seine Ge-
mahlin zweimal wochentlich in der Bastille zwecks Schwangerung zu empfangen.
Das gewiinschte Ergebnis blieb jedoch aus, Richelieu wurde bald entlassen, be-
wahrte sich in der koniglichen Armee und setzte im iibrigen sein gewohntes Le-
ben des hocharistokratischen Haudegens und amourosen Abenteurers fort. Die
Bastille sah er noch zweimal von innen: Zunachst wegen eines Duells, danach,
weil er dem Regenten Philipp von Orleans zwei seiner Matressen streitig gemacht
hatte, denen aber auch wahrend der Kerkerhaft ihres Geliebten ein regelmaBiger
Besuchsverkehr in der Bastille gestattet wurde.5
i>asSdifafi,u.>0£?niJJiamfoit?&0i li.ivtfelpj'ruik
5 Vgl. ebd. und Francois Ravaisson-Mollien (Hrsg.), Archives de la Bastille, T. XII, Pa-
356
Gerd van den Heuvel
Abb. 2:
Constantin de Renneville,
Inquisition francoise,
Pag. 27: Verhaftung Rennevilles
um 4 Uhr morgens.
Prasentierte sich die Bastille
auf diese Weise als relativ lax
gefiihrte und wenig erfolgrei-
che Erziehungsanstalt fur hoch-
aristokratische Libertins, zu de-
ren Wohlergehen in der Haft
die Staatskasse z. B. auch die
Kosten fiir Prostituierte iiber-
nahm,6 so wurde die offentliche
Wahrnehmung des Staatsge-
fangnisses seit dem friihen 18.
Jahrhundert vor allem durch
gedruckte, in groBer Auflage
verbreitete Berichte entlassener
oder geflohener Gefangener ge-
pragt, die mit Enthiillungsge-
schichten iiberihre grausamen Haftbedingungen europaweit Aufmerksamkeit er-
regten. Den groBten literarischen Erfolg landete Rene-Auguste Constantin de
Renneville, ein franzosischer Protestant und Doppelagent, der wahrend des Spa-
nischen Erbfolgekrieges von 1702 bis 1713 in der Bastille inhaftiert gewesen war.
1715 klagte er in einem beinahe 500 Seiten starken Band die unmenschlichen
Haftbedingungen in der Bastille an. 23 Kupferstiche illustrierten die Beschrei-
bung des Kerkers, die einzelnen Etappen von Rennevilles eigener Leidensge-
schichte von der Verhaftung bis zur Einzelhaft in den fensterlosen Verliesen der
Festung7 sowie das Schicksal von Mitgefangenen. Seine Schrift L'Inquisition
ris 1881 (Nachdruck Genf 1975), S. 77-85.
6 Sussenberger, GroBneffe des Kardinals, wie Anm. 4, S. 116 Anm.
7 Vgl. Abb. 1-4.
Abenteurer und Bastille-Haftlinge
357
Abb. 3:
Constantin de Renneville,
Inquisition francoise,
Pag. 171: Renneville wild
in ein Zimmer mit zwei
verwahrlosten Gefangenen
gestofien, die ihn aus
seiner Ohnmacht retten.
frangoise ou I'Histoire de la Ba-
stille, die gleichzeitig auch
in englischer und deutscher
Ubersetzung publiziert wur-
de,8 verglich die Zustande in
diesem Staatsgefangnis mit
der portugiesisch-spanischen
Inquisition in Goa, ja hielt
letztere noch fur milde gegen-
iiber der Willkiirherrschaft in
der Bastille. Die Gefangenen
wiirden vom Gefangnisper-
sonal bestohlen, die medi-
zinische Versorgung sei kata-
strophal, am schlimmsten seijedoch die Habgierund Grausamkeit des Komman-
danten Bernaville, der die vom Konig fur jeden Insassen gezahlten Verpflegungs-
gelder zum groBten Teil unterschlage, ihnen schlechtes Essen vorsetze und seine
Rachsucht auslebe, indem er die Gefangenen grundlos in die beriichtigten cachots,
die unterirdischen Verliese, sperren lasse. Er selbst, Renneville, habe dort im Jah-
re 1709 lange Zeit bei Wasserund Brot zugebracht, auf verfaultem Stroh liegend
8 Rene-Auguste Constantin de Renneville, L'Inquisition frangoise ou l'histoire de la
Bastille, Amsterdam 1715; engl.: The French inquisition: or, The history of the Bastille in Pa-
ris, the state-prison in France: in which is an account of the manner of the apprehending of
persons sent thither: and of the barbarous usage they meet with there. [. . .] Translated from
the original printed in Amsterdam, London 1715; deutsch: Entlarvte Franzosische Inquisiti-
on oder Geschichte der Bastille, Teil 1, Niirnberg 1715.
358
Gerd van den Heuvel
Abb. 4:
Constantin de Renneville,
Inquisition frangoise,
Pag. 466: Renneville in einem
von Ratten bevolkerten
unterirdischen cachot.
und von unzahligen Ratten
gequalt, weil ihm Komplizen-
schaft beim Ausbruch eines
anderen Haftlings, des Abbe
de Bucquoy, vorgeworfen wor-
den war. Die Anprangerung
dieser skandalosen Institution,
so fiihrte Renneville weiter
aus, habe universelle Bedeu-
tung und diene alien Men-
schen, denn er habe wahrend
seiner elfjahrigen Haftzeit An-
gehorige aller Lander und
Kontinente, aller Hautfarben und jeden Standes in dieser schauderhaften Hdhle
kennengelernt, Europaer, Asiaten und Afrikaner, einfache Arbeiter und Pralaten,
Schuhputzerund Minister, Greise und Kinder, Kriminelle und Unschuldige.9 Pa-
thetisch warnte erarglose Auslander, die nichtsahnend Frankreich und besonders
Paris, die lieblichste Stadt der Welt besuchten, dass die Stadt in ihren Grenzen die Ba-
stille undBicetre beherbergt, das Fegefeuer und die Nolle dieser Welt, wo auch unschuldige
Auslander leicht landen kdnnen.10
Renneville hatte das Thema seines Lebens gefunden. Er vermarktete sein
Schicksal als Bastille-Haftling in einer Sammlung von Gedichten, verfaJSt in den
9 Vgl. ebd. (frz. Ausgabe), Preface, S. Xllf. u. XVIIf.
10 Ebd., S. XVIII.
Abenteurer und Bastille-Haftlinge 359
Greueln der Pariser Bastille11 und in drei weiteren Banden, denen noch ein Buch
iiber die Praktiken der katholischen Inquisition in Indien folgte.12 Sein Bericht
iiber die Haftjahre besteht zum einen aus detaillierten Aufzeichnungen, die Aus-
kunft geben iiber sein alltagliches, zumindest bis 1709 recht ertraglich anmuten-
des Leben in der Bastille mit Vier-Gange-Menus, gutem Wein, geraumigen, im
Winter ausreichend geheizten Raumlichkeiten und zahlreichen sozialen Kontak-
ten der Haftlinge untereinander, zum anderen aus zumeist von anderen kolpor-
tierten Horrorgeschichten iiber die Behandlung widerspenstiger Haftlinge und
allgemeinen Anklagen gegen das Gefangnisregime unterdem GouverneurBerna-
ville, Schilderungen, die dazu angetan waren, Schauder beim Leser iiber die Un-
geheuerlichkeit des Staatsgefangnisses und die Unertraglichkeit der einzelnen
Schicksale zu erwecken. Die Bastille, so resiimierte Renneville, ist ein sozialer Tod,
der einen in jedem Augenblick den natiirlichen Tod herbeisehnen lafSt. Von zehn Gefange-
nen stiirben drei, drei begingen Selbstmord, drei wiirden wahnsinnig und nur ei-
ner konne von Gliick sagen, wenn er durch Zufall mit klarem Verstand entlassen
werde.13
Dem publizistischen Erfolg Rennevilles hatte bereits ein weiterer Gefangener
vorgearbeitet, dessen Lebensgeschichte noch abenteuerlicher war als die des pro-
testantischen Doppelagenten, zumal ihm etwas gelungen war, was eigentlich als
unmoglich gait: die Flucht aus der Bastille.
Jean-Albert d'Archambaud, Comte und Abbe de Bucquoy, hatte sich in der
Nacht vom 4. auf den 5. Mai 1709 in einer halsbrecherischen Aktion aus einem
der Gefangnistiirme abgeseilt und sich gliicklich ins Ausland gerettet, zunachst in
die Schweiz, dann nach Holland, schlieBlich nach Deutschland. Einen ersten Be-
richt iiber den abenteuerlichen Ausbruch veroffentlichte er unter Mithilfe der
Madame Du Noyer, einer erfolgreichen Herausgeberin von Skandal- und
Klatschgeschichten,14 bereits 1710 unter zwei unterschiedlichen Titeln in Frank-
furt.15 Wirklich bekannt wurde sein Husarenstiick jedoch in einer breiteren
Offentlichkeit durch weitere Ausgaben seines Lebens- und Fluchtberichts, den
Madame Du Noyer im Jahre 1719 in Form eines fiktiven Briefwechsels zweier
11 R.-A. Constantin de Renneville, Recueil de poesies chretiennes composees dans les
horreurs de la Bastille de Paris, Den Haag 1715.
12 Der letzte Band erschien postum 1724.
13 La prison de la Bastille est une mort civile, qui fait desirer la mart naturelle a. chaque instant.
Constantin de Renneville, Inquisition, S. LXXIII.
14 Vgl. Dictionnaire de biographie francaise, T. 12, 1970, Sp. 284-286.
15 Marguerite Petit Du Noyer /Jean-Albert d'Archambaud, comte de Bucquoy, L'Evasi-
on de lAbbe de Bucquoy hors de la Bastille: ou evenemens des plus rares, Francfort 1710;
Diess., L'Evasion de l'abe de Busquoit hors de la Bastille en forme de letres, melee de cir-
constances curieuses, qui regardent en particulier cette prison et de plusieurs reflexions cri-
tiques, morales et politiques. [. . .], Francfort 1710.
360
Gerd van den Heuvel
edsr * |l
U3a/titf± zuSarij-
TlttUti
Abb. 5:
Bucquoy,
Die so genannte Hfille
Frontispiz.
Damen, die sich iiber
die Abenteuer des Gra-
fen austauschten, so-
wohl auf Franzosisch
als auch in deutscher
Ubersetzung und ei-
ner zweisprachigen Pa-
rallelausgabe auf den
Markt warf.16 Ahnlich
wie von Constantin de
Renneville, der im zweiten Band seiner Inquisition frangoise iiber den erfolgreichen
Fluchtversuch berichtete, wird die Bastille von Bucquoy als Hoik der Lebendigen
16 Diess., Evenement des plus rares, ou l'histoire du sieur abbe comte de Bucquoy, singu-
lierement son evasion du Fort l'Eveque et de la Bastille, avec plusieurs de ses ouvrages, vers et
prose, et particulierement la game des femmes, o. O. 1719; Diess., Die so genannte Holle der
Lebendigen: das ist die Welt-beruffene Bastille zu Paris, woraus sich der bekannte Abt, Graf
von Buquoy, durch seine kluge und hertzhafften Anschlage gliicklich mit der Flucht befreyet
und errettet; nebst ietzt-genannten Abts Lebens-Lauff, in einer wahrhafften Beschreibung
vorgestellet, und anietzo aus dem Frantzosischen iibersetzet; deme zugleich eine Nachricht
von der Bastille und ihren Befehlshabern mit beygefuget ist, o.O. 1719; Evenement des plus
rares, ou l'Histoire du Sr. abbe comte de Bucquoy, singulierement son evasion du Fort-
l'Eveque et de la Bastille, l'allemend a cote, revue et augmentee. 2e edition, avec plusieurs de
Abenteurer und Bastille-Haftlinge 361
geschildert, wo Marc-Rene de Voyer d' Argenson, Generallieutenant der Pariser
Polizei, und Charles Le Fourniere de Bernaville, seit dem 12. November 1708
Gouverneur des Gefangnisses, als Teufel herrschen und in einem Kupferstich
auch als solche iiber der Bastille schwebend, dem Abgrund der Hollen, dargestellt
II.
Constantin de Renneville und den Grafen Bucquoy verband nicht nurdas Schick-
sal der Haft in der Bastille und die Rolle als Kronzeugen fur die unmenschlichen
Zustande im beriihmtesten franzosischen Kerker, beiden Autoren war auch ge-
meinsam, dass sie bald nach ihrer Entlassung bzw. Flucht Zugang zum kurfiirstli-
chen Hof Georg Ludwigs in Hannover erlangten, der nach seiner Thronbestei-
gung als Georg I. in England weiterhin die prominenten Bastille-Opfer, aber
nicht nur diese beiden, protegierte und finanziell unterstiitzte. Eine solche Fiirsor-
ge erstaunt auf den ersten Blick, lieBen doch Herkunft und Lebenslauf der beiden
Enthiillungsautoren keineswegs die personlichen Voraussetzungen erkennen, die
normalerweise gefordert waren, um an einem der ersten Hofe Deutschlands Be-
achtung und Unterhalt zu finden.
R.-A. Constantin de Renneville,18 geboren um 1650, entstammte eineraltadeli-
gen Familie des Anjou, hatte wie seine zwolf alteren Briider die Militarlaufbahn
eingeschlagen und war - wohl um 1689/90 - als Vertrauter des Intendanten von
Rouen, Michel de Chamillart, zum Steuer- und Domanendirektor [directeur des
aides et domaines) in Carentan (Normandie) berufen worden. Angeblich, um in
Frieden sein protestantisches Bekenntnis ausiiben zu konnen, das er erst kurz zu-
vor angenommen hatte, wahrscheinlich jedoch als franzosischer Agent, der Ver-
sailles mit geheimen Informationen versorgen sollte, siedelte Renneville 1699 mit
seiner Familie nach Holland iiber, wurde aber bereits zwei Jahre spater von sei-
nem Gonner, dem inzwischen zum Finanz- und Kriegsminister aufgestiegenen
Michel de Chamillart, nach Versailles zuriickgerufen. Neben der Zusage einer
jahrlichen Pension von 1.000 livres stellte ihm der Minister die nachste freiwer-
ses ouvrages vers et proses, et particululierement [sic] la «Game des femmes», chezjean de la
Franchise, rue de la Reforme, a l'Esperance, a Bonnefoy, 1719. - Eine Neuausgabe der franzo-
sischen Fassung erschien 1866 u.d.T. L'Histoire du sieur abbe-comte de Bucquoy, singuliere-
ment son evasion du For l'Eveque et de la Bastille, par Madame du Noyer, Paris 1866 (Nach-
druck Saint-Jean d'Aulps 1989).
17 Vgl. Abb. 5.
18 Das Folgende nach Biographie universelle, ancienne et moderne, T. 37, Paris 1824,
S. 357-359, und Alexis Guerin, L'Etoile aventuriere ou la vie de PAbbe de Bucquoy, Saint-
Jean dAulps 1998, passim.
362 Gerd van den Heuvel
dende Stelle im Finanzministerium in Aussicht. Dem erhofften Aufstieg folgte der
jahe Fall, dessen nahere Umstande im Dunkeln bleiben. Sei es, dass Renneville
iiberfiihrt wurde, in den Niederlanden nicht nur fur Frankreich, sondern als Dop-
pelagent gearbeitet zu haben, sei es, dass er als Bauernopfer bei einer Hofintrige
gegen den zwar honorigen, aber inkompetenten Minister Chamillart herhalten
muBte, sei es, dass einige Frankreich-kritische Gedichte Rennevilles, die dem Hof
zugespielt wurden, ausschlaggebend fur das plotzliche MiBtrauen gegen ihn wa-
ren: Constantin de Renneville wurde am 16. Mai 1702 auf Befehl des Kanzlers
Colbert de Torcy verhaftet, in die Bastille gebracht und dort bis nach dem Frie-
densschluB von Utrecht festgehalten. Die weiteren Stationen seines Lebensweges
nach derEntlassung am 16.Juni 1713 sind nurpunktuell zu ermitteln. Am 4. Janu-
ar 1714 berichtet Kurfiirstin Sophie an Leibniz in Wien, dass man die Ankunft des
pauvre Constantin in Begleitung eines anderen ehemaligen Bastille-Haftlings, des
Pere de Brandebourg (iiber dennoch zu reden sein wird), in Hannover erwarte.19 Im
September 1714 trifft Renneville im Haag mit dem hannoverschen Kurfiirsten
Georg Ludwig zusammen, der auf dem Weg nach England ist, um gemaB der Suk-
zessionsakte von 1701 dort als Georg I. die Krone zu iibernehmen. Wahrschein-
lich folgt Renneville dem Monarchen nach London. Denn nach Rennevilles eige-
nen Angaben wurde dort von gedungenen Schergen ein Mordanschlag auf ihn
veriibt, den er mit Gliick heil iiberstanden habe. Ob dieser angeblich von der
franzosischen Krone initiierte Anschlag tatsachlich stattgefunden hat oder die
Schilderung Teil der Marketingstrategie fur seine Bastille-Berichte war, muB of-
fenbleiben. Wie lange Renneville in England blieb und ob er noch einmal nach
Hannover kam, bevor er eine Offiziersstelle im Heer des Landgrafen Karl von
Hessen-Kassel antrat, in dessen Diensten er am 13. Marz 1723 starb, ist aus den
vorliegenden Quellen ebenfalls nicht ersichtlich. In jedem Fall scheint Renne-
ville sich in den ersten Jahren nach seiner Freilassung der Unterstiitzung der Kur-
fiirstin Sophie bzw. ihres Sohnes erfreut zu haben. Im Georg I. gewidmeten und
mit dessen Portrat als Frontispiz versehenen ersten Band der Inquisition francoise
bezeichnet sich Renneville als dessen Untertan.20
Ungewohnlich und hinsichtlich des Wahrheitsgehalts nicht in alien Einzelhei-
ten nachpriifbar stellt sich auch der Lebenslauf des Grafen Bucquoy dar.21 1671
19 Vgl. Onno Klopp (Hrsg.), Die Werke von Leibniz, Reihe I, Bd. 9, Hannover 1873,
S. 420 f.
20 Im Goldschnitt-Exemplar der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek/Niedersachsi-
sche Landesbibliothek (GWLB) findet sich auf der letzten Seite eine handschriftliche Notiz,
mit der sich der Autor fur die Fehler und Eigenmachtigkeiten des Buchhandlers entschul-
digt. Gleichzeitig werden im gesamten Band die offensichtlichen Fehler von derselben Hand
interlinear korrigiert.
21 Guerin, Bucquoy, wie Anm. 18.
Abenteurer und Bastille-Haftlinge 363
oder 1672 wahrscheinlich in Liittich als Sohn eines in spanischen Diensten stehen-
den Offiziers geboren,22 entstammte Bucquoy einer zwar alten, aber ins Abseits
geratenen franzosischen Adelsfamilie, die um 1650 wahrend der Fronde auf das
falsche Pferd, namlich auf die opponierenden Prinzen und auf Spanien gesetzt
hatte. Seit 1682 Vollwaise, wachst Jean Albert d'Archambaud comte de Bucquoy
bei einer Pflegefamilie in Paris auf, geht mit 13 Jahren zum Militar, sucht mit 18
nach einem religiosen Erweckungserlebnis zunachst Kontakt zu den Jesuiten,
wird dann aber Kartausermonch und schlieBt sich endlich, getrieben von dem
Wunsch, der Welt vollig zu entsagen, den Trappisten an. Nach nur vier Monaten
muB der ebenso um sein Seelenheil besorgte wie mitteilsame Monch jedoch er-
kennen, dass die strengen Ordensregeln, insbesondere das Schweigegeliibde,
liber seine Krafte gehen. Bucquoy kehrt nach Paris zuriick, vagabundiert einige
Zeit durch Frankreich, studiert um 1690 amjesuitenseminarzu Rouen und spielt
- zuriick in Paris - mit dem Gedanken, in Irland fur den entmachteten Stuartkonig
Jakob II. zu kampfen oder alternativ in der Chinamission der Jesuiten aktiv zu
werden. Statt in die weite Welt zu gehen, entscheidet er sich jedoch dafiir, seine
personliche Sinnsuche in der Heimat fortzusetzen und eine Gemeinschaft von
Geistlichen zu griinden, die es sich zur Aufgabe machen soil, die Wahrheit der
christlichen Religion zu beweisen. Auch dieses Vorhaben gibt Bucquoy nach kur-
zer Zeit wieder auf, um kurz vor derjahrhundertwende als Ordensgeistlicher eine
Pfrunde in Noyen-sur-Seine anzunehmen, die er nach allerlei Querelen mit dem
ortlichen Grundherrn drei Jahre spater jedoch wieder quittieren muB. Im Jahre
1706 besinnt sich der gescheiterte Geistliche erneut seiner militarischen Talente
und faBt den EntschluB, ein Regiment aufzustellen, das nicht nur ihn reich ma-
chen, sondern auch dazu beitragen soil, Frankreich nach der verlorenen Schlacht
bei Hochstedt 1704 wieder auf die Beine zu helfen. Zu diesem Zweck unternimmt
er eine Reise nach Burgund, gerat aber dort Ende August/Anfang September
1706 ins Visier der Polizei, als er in einem Gasthof vehement eine Bande von Salz-
schmugglern verteidigt, die gerade vom koniglichen Militar zerschlagen worden
war. Wie gewohnt schwadronierend gibt er zum Besten, dass dieses Gefecht mit
ihm als Chef der Salzschmuggler anders ausgegangen ware. Im iibrigen wettert er
gegen die verhaBte Salzsteuer (gabelle) , brandmarkt den ,Despotismus' insgesamt
und entwickelt ganz nebenbei noch Plane fur eine bessere Staatsverfassung und
22 Die Altersangaben von und iiber Bucquoy variieren. Wahrend die meisten biographi-
schen Lexika das Geburtsdatum 1650 angeben, macht Guerin, Bucquoy, wie Anm. 18, S. 25,
eine Geburt um 1671/72 wahrscheinlich. Bucquoy selbst bezeichnet sich in einer Schrift
vom 16. Juli 1738 als iiber neunundsiebzig-jahrig, was ein Geburtsdatum um 1659 bedeuten
wiirde. Vgl. Jean-Albert dArchambaud, comte de Bucquoy, A s. Exe. Mr. Le G. M. de R. ou
a la faveur d'un nouveau trait de l'audace du maitre compagnon jardinier d'Herrenhausen
[. . .], Herrenhausen 1739. Vgl. dazu unten S. 383.
364 Gerd van den Heuvel
ein alternatives Regierungsprogramm. Die ortlichen Behorden verhaften ihn um-
gehend als vermeintlichen Anfiihrer der Bande. Vom Gefangnis im burgundi-
schen Sens wird er z weeks weiterer Untersuchung der Angelegenheit nach Paris in
das Fort l'Eveque, eine Nebenstelle der Bastille gebracht. Aber auch dort halt es
den umtriebigen Abenteurernurein paarTage. MitHilfe eines selbstgelegten Feu-
erslaBt er seine ZellentiirinFlammen aufgehenund seilt sich anschlieBendmit ei-
nem aus Laken gefertigten Strickiiberfiinf odersechs Etagen in die Freiheit ab. Es
gelingt Bucquoy, bis zum Friihjahr 1707 unerkannt im Untergrund zu leben,
schlieBlich wird er aber Anfang Mai in La Fere, etwa 100 km nordostlich von Pa-
ris, aufgegriffen und im dortigen Gefangnis inhaftiert, ohne dass man um seine
Identitat weiB. Abermals beweist der hyperaktive Graf seinen unbandigen Frei-
heitsdrang, als ihm Anfang Juni im dritten Anlauf der Ausbruch aus dem Kerker
gelingt, indem er mit einer verwegenen Kletterei beim Hofgang die Gefangnis-
mauer iiberwindet und den angrenzenden modrigen Wassergraben durch-
schwimmt. Hier endet dann allerdings die Flucht. Bucquoy wird von den herbei-
geeilten Wachen gestellt und umgehend in das vermeintlich ausbruchsichere, be-
riihmte Staatsgefangnis der Hauptstadt, die Bastille, gebracht. Dort bemiiht sich
die Pariser Polizei, Naheres iiber seine Identitat in Erfahrung zu bringen. Man halt
ihn fur einen Abenteurer und Gliicksritter, der seine adlige Herkunft nur vorspiele,23
moglicherweise fiir einen Spion oder Mann mit dunklen Absichten, den man am
besten bis zum FriedensschluB in der Bastille vergessen sollte.24
Auch dort hat der Abbe und Comte de Bucquoy nicht die Absicht, seinen
sprunghaften und abwechslungsreichen Lebenswandel als geduldigerHaftling zu
verstetigen. Durch allerlei Finessen und das Simulieren von Krankheiten und Ge-
brechen gelingt es ihm, in die verschiedensten Zellen derFestung zu gelangen, bis
er im Friihjahr 1709 in ein Turmzimmer verlegt wird, das fiir den Ausbruchver-
such geeignet erscheint. Zweckdienliche Feilen zum Durchsagen der Fenstergit-
ter hatte Bucquoy wohl gleich bei seiner Einlieferung mitgebracht. Zusammen
mit zwei weiteren Zelleninsassen gliickt ihm die Flucht aus der Festung. Die bei-
den anderen Ausbrecher werden jedoch sofort wieder gefaBt; ein weiterer Mit-
haftling muB zuriickbleiben, weil er aufgrund seiner Korperfiille nicht durch die
Fensteroffnung paBt - was nicht unbedingt fiir eine schlechte Ernahrungslage der
Gefangenen in dieser „Holle der Lebendigen" spricht.
23 Cet homme n'a aucunes manures de qualite;je crois que s'il n'est pas espion, il a de mauvaises
affaires sur les bras. [. . .] On croit ici que e'est un aventurier, chevalier d'industrie [. . .]. M.Jourdieu,
Pariser Polizeilieutenant an M. d'Ormesson, Intendant von Soissons. D'Argenson an Pont-
chartrain, 26. Juli 1707. Vgl. Ravaisson-Mollien, Archives, wie Anm. 5, T. XI, S. 326f.
24 Jepense done que ce prisonnier est un de ceux que Von doit outlier a la Bastille, jusqu'd lapaix.
D'Argenson an Pontchartrain, 26. Juli 1707. Ebd., S. 337.
Abenteurer und Bastille-Haftlinge 365
Bucquoy irrt zunachst einige Zeit in der Schweiz25 und in Siiddeutschland um-
her, geht dann aber nach den gescheiterten Friedensgesprachen zwischen Frank-
reich und den Niederlanden in Geertruidenberg (1710) 26 nach Holland, um im
diplomatischen Umfeld weiter gegen Frankreich zu arbeiten.27 Im August 1711
gelangt Bucquoy an der Seite des Generals Matthiasjohann von der Schulenburg,
Bruder der kurfiirstlichen Matresse Ehrengard Melusine, der fiinf Jahre spater als
Feldmarschall der Republik Venedig bei der Verteidigung von Korfu gegen die
Tiirken zu Ruhm gelangen sollte, zunachst an den sachsischen Hof in Dresden,
wenig spater dann nach Hannover. Kurfiirstin Sophie ist von dem possirlichen abt
von calitet, [. . .] der ihmer schreyt undt[. . .] recht gutte sachen [sagt], sogleich angetan.
Er ist aus der Bastille ausgerissen, da er stundenlang von erzellen kan ohne aufhoren, so be-
richtet sie ihrerNichte, derRaugrafin Luise in Frankfurt.28 Auch Sophies jiingster
Sohn kann die besondere Begabung des Fliichtlings bestatigen: Niemals zuvor habe
ich einen Menschen mit einem derartigen RedefluJS gesehen, so schreibt Herzog Ernst
August an seinen Freund Karl Dietrich von Wendt.29Damit sind die ausschlagge-
benden Vorziige des Neuankommlings bereits benannt: Er besitzt Unterhaltungs-
wert als wortreicher Interpret seiner eigenen Biographie, und er bietet Gesprachs-
stoff, um sich mit anderen iiber den ungewohnlichen Zeitgenossen auszutau-
schen. Als eine der ersten erfahrt Liselotte von der Pfalz, deren Leben am
franzosischen Hof als Schwagerin Ludwigs XIV. im wesentlichen aus derbriefli-
chen Verbreitung und Entgegennahme von Klatsch und Tratsch besteht, von der
Ankunft des Bastille-Fliichtlings, der den Bastille-Kommandeurblamiert hat und
nach dem die franzosische Polizei weiterhin fahndet. Sie selbst hat den Namen
noch nie gehort und kann kaum glauben, dass man aus der Bastille entkommen
kann: die fenster seindt klein, die thilrm abscheulich hoch; diefenstern seindt alle gegittert;
es ist also nicht zu begreiffen, wie er es mufi gemacht haben. In jedem Fall begliick-
wiinscht sie ihre Tante, etwas Abwechslung und Unterhaltung durch diesen
Abenteurer zu erhalten, dessen sonderlichen, extrovertierten und iiberspannten
25 Dort verfaBt er mit Widmung fur den englischen Botschafter seine Reflexions d'un
prisonnier de la Bastille sur la vie de ce monde. Vers, Bern [ca. 1710].
26 Vgl. Georg Schnath, Geschichte Hannovers im Zeitalter der neunten Kur und der
englischen Sukzession 1674-1714, Bd 3, Hildesheim 1978, S. 709-716.
27 Vgl. Guerin, Bucquoy, wie Anm. 18, S. 267-274.
28 Vgl. Sophies Brief vom 27. August 1711 in: Eduard Bodemann (Hrsg.), Briefe der Kur-
fiirstin Sophie an die Raugrafinnen und Raugrafen zu Pfalz, Leipzig 1888 (Neudruck Osna-
briickl966),Nr. 360, S. 321.
29 A mon retour j'ais trouve icy le general Choulenbourg, qui a ammene un sertain abbe, qui s'est
sauve de la Bastille. Je n'ais jamais veu un telflus de bouche, qu'a sethomme. Vgl. Erich Graf Kiel-
mansegg (Hrsg.), Briefe des Herzogs Ernst August zu Braunschweig- Luneburg an Johann
Franz Diedrich von Wendt aus denjahren 1703 bis 1726, Hannover /Leipzig 1902, Nr. Ill
(29. August 1711), S. 252.
366 Gerd van den Heuvel
Charakter Sophie offensichtlich in ihrem nicht iiberlieferten Brief angedeutet hat-
te: Ich habe allezeit hdren sagen: ein nar allezeit mehr verstandt hatt, alJS ein sot [Dumm-
kopf]; dieser abbe mufi ein rar personage sein.30 In Begleitung Schulenburgs wohnt
Bucquoy den Kronungsfeierlichkeiten fur Karl VI. in Frankfurt bei, nachdem er
zuvor Kurfiirstin Sophie als Unterhalter in die wildtnuf von der Gher [Gohrde] be-
gleitet hatte.31
Fiir den rar personnage interessierte sich auch Leibniz. Denn auch in die Rolle
des Philosophen vermochte Bucquoy zu schliipfen. Bereits in der Bastille hatte er
sich seiner Kontakte zum beriihmtesten Historiker des Benediktinerordens, Jean
Mabillon, und zu dem Cartesianer Nicolas Malebranche geriihmt und sich mit
Akademie-Preisschriften, einem vollig neuen philosophischen System und seiner
eingehenden Beschaftigung mit Konfuzius gebriistet.32 Leibniz wechselte einige
Briefe mit dem Bastille-Fliichtling33 und war sich nicht zu schade, die metaphysi-
schen Spekulationen des Grafen, speziell dessen Versuch eines Gottesbeweises,
im November 1711 einer relativ moderaten und wohlwollenden Kritik zu unterzie-
hen.34 Spatere Eskapaden Bucquoys am hannoverschen Hof veranlaBten Leibniz
dann allerdings eher zu ironischen Stellungnahmen.35
Der Abbe de Bucquoy war nicht der erste und sollte nicht der letzte ehemalige
Bastille-Gefangene gewesen sein, der in Hannover Anteilnahme erregte und Auf-
nahme fand. Bereits imjahre 1702 warderlangjahrige schottische Leibniz-Korre-
spondent Thomas Burnett of Kemney, ein seit Mitte der 1690er Jahre gern gese-
hener Gast und Unterhalter an den kurfurstlichen Hofen in Berlin und Hanno-
ver,36 wahrend seiner Frankreichreise in Paris als angeblicher Spion verhaftet
und in die Bastille gesperrt worden. Er war zu Beginn des Spanischen Erbfolge-
krieges den Polizeibehorden als ein etwas zu lauthals politisierender und in reli-
30 Vgl. Eduard Bodemann (Hrsg.), Aus den Briefen der Herzogin Elisabeth Charlotte
von Orleans an die Kurfiirstin Sophie von Hannover, Bd 1-2, Hannover 1891, Bd 2, Nr. 769
(Brief vom 11. September 1711), S. 284.
31 Ich bin fro, dafi general Schullenburg E. L. den abbeBouquoy zugefiihrt hatt, denn ich weifi,
daji er E. L. divertirt, welches E. L. in Dero wildtnufs von der Gher woll von nbthen haben. Elisabeth
Charlotte an Sophie am 5. Dezember 1711; vgl. ebd., Nr. 777, S. 296.
32 Vgl. Ravaisson-Mollien, Archives, wie Anm. 5, T. X, S. 329f.
33 GWLB: LBr. 127.
34 Vgl. Patrick Riley, Leibniz' unpublished Remarks on the Abbe Bucquoi's Proof of
the Existence of God (1711), in: Studia leibnitiana, 15, 1983, 215-220.
35 Vgl. untenS. 372 f.
36 Vgl. seine Korrespondenz mit Leibniz in den Banden der Akademie-Ausgabe: Gott-
fried Wilhem Leibniz, Samtliche Schriften und Briefe, Erste Reihe: Allgemeiner, politischer
und historischer Briefwechsel, Darmstadt u.a. 1923ff. (im Folgenden: LAA). Der erste iiber-
lieferte Brief der Korrespondenz mit Burnett of Kemney datiert vom 12. Marz 1695 (LAA I,
UN. 218).
Abenteurer und Bastille-Haftlinge 367
giosen Fragen sich ereifernder Auslander aufgefallen und hatte sich in Pariser Ca-
fes besonders verdachtig gemacht, als er seiner tiefen Trailer iiber den Tod des
englischen Konigs Wilhelm III., eines Erzfeindes Ludwigs XIV. und seiner Hege-
monialbestrebungen, Ausdruck gab.37 Burnett war weder ein Verschworer noch
ein Abenteurer, sondern ein wohlhabender, literarisch interessierter, ansonsten
hypochondrischer, in seinen Briefen an Leibniz zumeist iiber seine Krankheiten
lamentierender Adliger, der seine Zeit mit Bildungsreisen kreuz und quer durch
Europa zubrachte. Als Cousin des einfluBreichen anglikanischen Bischofs Gil-
bert Burnet besaB erin den Augen der franzosischen Regierung auch seinen Wert
als Geisel und Informationsquelle fur Interna der englischen Politik,38 wobei letz-
teres sich als vollige Fehleinschatzung erwies.
Sobald die Verhaftung Burnetts bekannt wurde, setzte Kurfiirstin Sophie alle
Hebel in Bewegung, um seine Freilassung zu erwirken. Im Auftrag und im Na-
men von Sophie und der preuBischen Konigin Sophie Charlotte intervenierte
Leibniz iiber Mittelsmanner am franzosischen Hof zugunsten von Burnett, in Ver-
sailles wurde Elisabeth Charlotte von Orleans, Sophies Nichte, eingespannt, in
Paris der danische Gesandte bemiiht,39 und nach gut einem Jahr erhielt der redse-
lige Schotte dank dieser Bemiihungen die Freiheit wieder. Seine Dankesschuld
gegeniiber seinen fiirstlichen Befreierinnen, so empfahl ihm Leibniz, sollte er ab-
tragen, indem er alles im Detail aufschrieb, was ihm in der Bastille widerfahren
war. Ob er diesem Wunsch nachkam, wissen wir nicht, aber im Jahre 1704 weilte
Burnett fur langere Zeit am Hof inLietzenburgundkonnte dort die lange Geschich-
te erzahlen, was er in diesem Gefdngnis erlitten hatte.i0 Burnetts knappe Angaben, die
er Leibniz gegeniiber zu seiner Haftzeit machte, beinhalten die wesentlichen
Schlagworte, mit denen auch in Deutschland der ministerielle Despotismus in
Frankreich und sein Symbol, die Bastille, wahrgenommen wurde: Inhaftierung
ohne Anklage, fortwahrende Verhore, ein korruptes, die Gefangenen schikanie-
rendes Gefangnisregime, Entlassung ohne Erklarung oder Entschuldigung. Die
Bastille, so Burnett, sei ein Ort, wo es weder eine regulare noch eine irregulareju-
stiz gebe. Es bedilrfte eines dicken Buches und einiger Monate, um nur einen Teil dessen
aufzuschreiben, was mir in mehrals einemjahr widerfahren ist.il Aber auch diese Erfah-
37 Vgl. die Berichte in Ravaisson-Mollien, Archives, wie Anm. 5,T. X, S. 422 f.
38 Folglich empfahl der englische Botschafter in Frankreich, franzosische Staatsbiirger
in London zu verhaften, um Burnett freizubekommen. Vgl. ebd., S. 423.
39 Vgl. die Briefe Sophies an Leibniz vom 16. und 30. September und vom 27. Novem-
ber 1702 sowie Leibniz' Briefe an den franzosischen Mittelsmann de La Rosiere vom 29.
September und 30. Dezember 1702 (LAA I, 21; im Druck).
40 Brief Burnetts an Leibniz vom 5. November 1703 (GWLB: LBr. 132 Bl. 132-133).
41 Ilfaudroit un grand lime et quelques mois pour ecrire un bon part seulement du traitement que
j'ay eu pendant plus d'un anne [sic]. (Brief an Leibniz vom 25.Januar 1704. Ebd., Bl. 136-137).
368 Gerd van den Heuvel
rung konnte Burnetts Bild des Sonnenkonigs nicht verdunkeln. Er war sicher, dass
Ludwig XIV. in keiner Weise iiberdie millionenfachen Unregelmafiigkeiten und Mijistan-
de in diesem Gefdngnis unterrichtet war.42
Burnetts Urteil bestatigte das Bild der Bastille als monstroser Institution einer
ungebandigten Willkurherrschaft, wie es schon Jahre zuvor durch andere Ge-
wahrsleute am hannoverschen Hof verbreitet worden war. So brandmarkte der
Numismatiker und Leibniz-Korrespondent Andreas Morell, ein reformierter
Schweizer, der als Antiquar und Vorsteher des koniglichen Miinzkabinetts in Pa-
ris nach der Aufhebung des Edikts von Nantes die Pariser Festung mehrmals von
innen gesehen hatte, bevor er 1692 iiber die Schweiz nach Deutschland emigrier-
te, die Bastille sarkastisch als normale franzosische Vergiitung, als payement
frangois.43 Und Elisabeth Charlotte von Orleans konnte die stets von Geheimnis
und Stillschweigen umgebene Verhaftungspraxis bestatigen: Wenn jemandts in die
bastille gesetzt [wird], weifS es kein mensch weder bey hoffnoch in der statt.44
Aber auch die Verwendung des beriihmten Staatsgefangnisses als Verwahr-
und Besserungsanstalt fur allzu eigensinnige, renitente oder kriminelle Mitglieder
des Hochadels sorgte fur Gesprachsstoff in derhofischen Gesellschaft an derLei-
ne, sei es, dass Liselotte von der Pfalz iiber Bastille-Strafen wegen verbotenen Du-
ellierens berichtete,45 sei es, dass sie vom jungen Due d'Estrees erzahlte, der in
Haft gekommen sei, weil ersich mitt seine eygenen laquayen sternsvoll gesoffen und[. . .]
heiifeer in Paris angezjindt hatte.46 Und all diese Skandal-Historchen wurden noch
iibertroffenen vom geheimnisumwitterten Mann mit der Maske, dem 1703 verstor-
benen Bastille-Haftling, dessen Anonymitat auf koniglichen Befehl unter Andro-
hung der Todesstrafe durch das Tragen einer Samtmaske gewahrt wurde und iiber
den Liselotte von der Pfalz den ersten uns bekannten Bericht in einem Brief an ih-
re Tante Sophie in Hannover verfaBte.47 Von Voltaire als Mann mit der eisernen
42 Brief an Leibniz vom 5. November 1703, wie Anm. 40: [Le Roi] n'est aucunement in-
forme des millions des desordres et abus dans ces prisons.
43 Brief an Leibniz vom 17. (27.) Marz 1696 (LAA I, 12 N. 321, S. 498). Morell berichtet
iiber M. Keller de Zurich, fondeur du Roy dans I'arsenal de Paris, quia receu le payement francois,j'en-
tends la bastille.
44 Brief an Kurfiirstin Sophie vom 10. Oktober 1711. Vgl. Bodemann, Briefe Elisabeth
Charlotte, wie Anm. 30, Bd 2, Nr. 772, S. 288).
45 Brief an Kurfiirstin Sophie vom 4. Marz 1699. Vgl. Bodemann, Briefe Elisabeth Char-
lotte, wie Anm. 30, Bd. 1, Nr. 374, S. 360.
46 Brief an Kurfiirstin Sophie vom 21. September 1700 (ebd., Nr. 428, S. 416). Zu den
Eskapaden des Due d'Estrees vgl. auch Ravaisson-Mollien, Archives, wie Anm. 5, T. X,
S. 279-285.
47 Bodemann, Briefe Elisabeth Charlotte, wie Anm. 30, Bd 2, Nr. 772 (10. Oktober 1711):
[. . .] ein mensch ist lange in der bastille gesejien, der ist masquirt drin gestorben; er hatte alji zwey mous-
quetirer auffbeyder seydt, im fall er die masque abthet, ihngleich niederzu schiefien. Erhatt masquirt ge-
Abenteurer und Bastille-Haftlinge 369
Maske weiter dramatisiert und ausgeschmiickt,48 sollten sein Schicksal und das
Ratsel seiner Identitat Romanschriftsteller und Filmindustrie bis heute mit Stoff
fur alle moglichen Spekulationen versorgen.
In welcher Funktion die Bastille auch immer wahrgenommen wurde: sie war
als diistere Zwingburg, um die sich Geriichte, Legenden und Schauergeschichten
rankten, ein unerschopflicher Gesprachsgegenstand. Jede diesbeziigliche Neuig-
keit wurde begierig aufgegriffen und ehemalige Insassen, die als Augen- und Oh-
renzeugen etwas iiber das konigliche Sondergefangnis zu berichten wuBten,
konnten sich der wohlwollenden Aufmerksamkeit in Hannover gewiB sein. Der
bereits 1709 aus der Bastille geflohene Abbe de Bucquoy bildete gleichsam die
Vorhut fur eine Reihe weitererHaftlinge, die nach dem Spanischen Erbfolgekrieg
wieder auf freien FuB gesetzt worden waren und in Hannover vorsprachen.
Zusammen mit Constantin de Renneville kam - wie bereits erwahnt - imjanu-
ar 1714 der Pater Florentin de Brandenbourg nach Hannover.49 Der aus Dinant
bei Namur gebiirtige Graf war in jungenjahren in den Kapuzinerorden eingetre-
ten, hatte aber sein Leben keineswegs in klosterlicher Abgeschiedenheit und Ent-
haltsamkeit zugebracht. Seine Wanderschaft fiihrte ihn durch Deutschland, Itali-
en und Spanien, wo ernach eigenen Angaben stets Zugang zu einfluBreichen Per-
sonlichkeiten an den Fiirstenhofen erlangt hatte. Aus Spanien kommend war er
im Sommer 1702 auf dem Weg in die Niederlande bei Poitiers der franzosischen
Polizei aufgefallen und Anfang September unter dem Vorwurf der Spionage fur
Osterreich sowie wegen unsittlichen Lebenswandels in Versailles verhaftet und
in die Bastille iiberstellt worden. In seinem Gepack fand man einige Biindel Lie-
besbriefe verschiedener Frauen und eine ganze Reihe von ihm verfaBter Gedich-
te, zumeist pornographischen Inhalts. Uber seine Liebesaffaren legte er eine der-
artige Mitteilsamkeit an den Tag, dass die ihn verhorenden Beamten angewiesen
wurden, seine diesbeziiglichen Aussagen nicht weiter in die Protokolle aufzuneh-
men, da man dergleichen nicht in den Akten haben wollte.50 In der Bastille stellte
sich der Kapuzinerpater seinen Mitgefangenen als Prince vor, bestand auf der An-
fien undt geschlaffen. Es mufe doch etwafe rechts gewefeen sein, denn man hatt ihn sonst sehr woll tractirt,
wall logirt undt alles geben was er begehrt hatt. Er hatt masquirt communicirt, war sehr devot undt hatt
continuirlich gelefien. Man hatt sein leben nicht erfahren konnen, wer der mensch gewejien.
48 Francois Marie Arouet de Voltaire, Siecle de Louis XIV, in: (Euvres completes de
Voltaire, nouvelle edition, T. 14, Paris 1878 (Reprint Nendeln/ Liechtenstein 1967), S. 427f.
Zu den Legenden um den „Mann mit der eisernen Maske" und den verschiedenen Deutun-
gen seiner Identitat vgl. Franz Funck-Brentano, L'homme au masque de velours noir dit le
masque de fer, in: Revue historique, 56, 1894, S. 253-303.
49 Das Folgende nach Ravaisson-Mollien, Archives, wie Anm. 5, T. X, S. 429-473 und
Guerin, Bucquoy, wie Anm. 18, S. 165-180.
50 Ravaisson-Mollien, Archives, wie Anm. 5, T. X, S. 436.
370 Gerd van den Heuvel
rede Monseigneur und prahlte im iibrigen auch dort mit seinen Eroberungen hoch-
adliger Frauen, unter ihnen Maria Mancini, Fiirstin Colonna, Nichte Mazarins,
die kurzzeitig auch Geliebte des hannoverschen Kurfiirsten Ernst August wah-
rend seiner Italienreisen gewesen war, darunter aber auch die Grafin Martinitz,
Gattin des kaiserlichen Botschafters beim Papst. Die bedeutendste Affare, mit der
er sich briistete, war jedoch das Verhaltnis zur Witwe des aufgrund generationen-
iibergreifenderlnzucht korperlich wie geistig degenerierten und impotenten spa-
nischen Konigs Karl II., der er nicht nur als Beichtvater gedient hatte. Als Leibniz
1716 diese Geschichte iiber den ehemaligen Monch horte, der inzwischen die
Kutte abgelegt hatte und zum Protestantismus iibergetreten war, stellte er in ei-
nem Brief an die englische Kronprinzessin Caroline von Wales scherzhaft die
Frage, ob der galante ehemalige Kapuziner nach nunmehrigem Wegfall des
Beichtgeheimnisses nicht Auskunft dariiber geben konne, warum die spanische
Konigin nicht durch diesen oder andere Seitenspriinge Europa vor dem Spani-
schen Erbfolgekrieg bewahrt hatte.51
1710 war Ludwig XIV. willens, Brandenbourg freizulassen, wenn ein Kapuzi-
nerkloster sich bereit erklarte, den Ordensbruderin sicheren Gewahrsam zu neh-
men. Da sich kein Kloster fand, das diese Biirde schultern wollte, blieb der Pater
unter offenbar recht komfortablen Umstanden in der Bastille, denn der Konig gab
die Anweisung, fur ihn die Miihsal des Gefangnisses so weit eben mdglich zu mildern.52
Die Freilassung erfolgte im Juni 1713.
Genauso wie der Abbe de Bucquoy war Florentin de Brandenbourg ein gern-
gesehener Gast an der koniglichen Tafel in Hannover und Herrenhausen, wenn
sich Georg I. - wie z. B. 1716 - in seinen Stammlanden aufhielt. Er bezog in Han-
nover eine konigliche Pension, die Sophie Charlotte von Kielmansegg, geb. von
Platen-Hallermund, ihm vermittelt hatte,53 und trug sich 1716 mit dem Gedan-
ken, Georg I. nach England zu begleiten. Ob er diesen Schritt auf die Insel tat, ist
nicht bekannt.54
Die illustre Gesellschaft von Welt und Halbwelt, die sich zu Beginn des 18.
Jahrhunderts am hannoverschen Hof tummelte, wurde komplettiert durch einen
weiteren erwahnenswerten Abenteurer, der zwar nicht in der Bastille gesessen
hatte, aber mit Sicherheit dort gelandet ware, wenn die franzosische Polizei seiner
51 S'il luy etoit permis depuis qu'il a quitte le metier de rompre le sceau de la confession, il nous
pourroit dire, si la Reine d'Espagne n'a pas etc tentee d'e'pargner une grande guerre a I'Europe par un
peccadillo, comme quelquesuns le voudroient peutetre nommer. Brief vom 11. September 1716; vgl.
Klopp, Werke von Leibniz, wie Anm. 19, Bd 11, S. 182-186, hier S. 185.
52 Ravaisson-Mollien, Archives, wie Anm. 5, T. X, S. 473.
53 Klopp, Werke von Leibniz, wie Anm. 19, Bd. 11, S. 185.
54 Je ne say s'il accompagnera Sa Mte en Angleterre. Leibniz an Caroline von Wales, Septem-
ber 1716; vgl. Klopp, Werke von Leibniz, wie Anm. 19, Bd 11, S. 189.
Abenteurer und Bastille-Haftlinge 371
hatte habhaft werden konnen. Louis-Armand de Lorn d'Arce, baron de Lahontan
hatte als franzosischer Offizier von 1683 bis 1693 in Kanada gelebt und u. a. am
Kampf gegen Englanderund Irokesen teilgenommen, war 1693 aber wegen eines
Streits mit dem franzosischen Gouverneur, der ihn als Verrater und Deserteur ver-
folgen LieB, nach Portugal geflohen und iiber weitere Exilstationen schlieBlich
1707 an den hannoverschen Hof gelangt, wo erbis zu seinem Tode im April 1716
lebte.55 Mit Lahontan gelangte ein franzosischer Dissident nach Hannover, den
die literarische Verarbeitung seiner Erlebnisse in Nordamerika beriihmt machen
und dessen Schriften eine lange Wirkungsgeschichte haben sollten. Mit seinem
Ende 1702 publizierten Reisebericht,56 vor allem aber durch den 1704 erschiene-
nen fiktiven Dialog zwischen ihm selbst und dem Huronen Adario57 - beide
Schriften wurden etwa gleichzeitig auch ins Englische iibersetzt - pragte Lahon-
tan nachhaltig den Topos vom ,guten Wilden', dessen natiirliche Freiheit, Tugend
und Nachstenliebe er in scharfen Kontrast zu Despotismus, Unterwiirfigkeit und
Gewinnsucht in Europa und vor allem in Frankreich setzte. Die zivilisationskriti-
schen Aufklarungsphilosophen, alien voran Jean-Jacques Rousseau und Guillau-
me-Thomas Raynal, waren stark beeinfluBt von Lahontans Werken, in denen ei-
ne harmonische Eingeborenengesellschaft ohne individuelles Eigentum, ohne
Priester und ohne kodifizierte Gesetze verherrlicht wurde.58
III.
Das von Norbert Elias konstatierte Charakteristikum der hofischen Gesellschaft,
der permanente Konkurrenzkampf um Rang und Prestige,59 war auch fiir die von
55 Vgl. Real Quellet, Lahontan: Les dernieres annees de sa vie; ses rapports avec Leib-
niz, in: Revue d'histoire litteraire de la France, 87, 1987, S. 121-131; Ders. (Hrsg.), Sur La-
hontan. Comptes rendus et critiques (1702-1711), Quebec 1983.
56 Louis-Armand de Lorn d'Arce, baron de Lahontan, Nouveaux voyages de Mr. le Ba-
ron de Lahontan, dans L'Amerique septentrionale, qui contiennent une relation des diffe-
rens Peuples qui y habitent [. . .]. T. 1, La Haye 1703. T. 2 u.d.T.: Memoires de lAmerique
septentrionale, ou la suite des voyages de Mr. le Baron de Lahontan [...], La Haye 1703. Bei-
de Teile erschienen November 1702.
57 Ders., Suite du voyage de lAmerique ou Dialogues de Monsieur le Baron de Lahon-
tan et d'un sauvage, dans lAmerique. Contenant une description exacte des mceurs et des
coutumes de ces peuples sauvages, Amsterdam 1704.
58 Vgl. Urs Bitterli, Die , Wilden' und die ,Zivilisierten'. Die europaisch-iiberseeische
Begegnung, Miinchen 1976, bes. S. 234-238 u. 420-425; Werner Krauss, Zur Anthropologie
des 18. Jahrhunderts. Die Fruhgeschichte der Menschheit im Blickpunkt der Aufklarung,
Berlin 1978.
59 Norbert Elias, Die hofische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Konig-
tums und der hofischen Aristokratie, 4. Aufl., Darmstadt und Neuwied 1979, S. 152f.
372 Gerd van den Heuvel
keinerHof- und Rangordnung60 erfaBten Abenteurer eine Grundbedingung ih-
rer sozialen Existenz. Folglich war das tagliche Miteinander dieser Figuren am
hannoverschen Hof keineswegs von Harmonie gepragt. Jeder der Gestrandeten
suchte das einzige in Prestigechancen ummiinzbare soziale Kapital, iiber das er
neben seiner adligen Herkunft verfiigte: seine auBergewohnliche, mit Eloquenz
vorgetragene und immer wieder mit neuen Anekdoten angereicherte Lebensge-
schichte, moglichst exklusiv seinen fiirstlichen Gonnern zu Gehor zu bringen und
damit bei Hofe seine Stellung zu behaupten. So berichtet der jiingere Herzog
Ernst August von einem andauernden Streit des hugenottischen Fliichtlings de
Boncoeur, der 1686 ebenfalls in der Bastille gesessen hatte, mit dem Abbe de
Bucquoy, in dessen weiterem Verlauf eine regelrechte Priigelei zu befiirchten
sei.61 Als derselbe Boncoeur wenig spater im Beisein des Kurprinzen sich auch
mit dem englischen Sondergesandten Thomas Harley in die Haare geriet, ver-
mochte Georg August die Streithahne nur auseinanderzubringen, indem er kur-
zerhand die Tafel aufhob.62 Und Lahontan beschwerte sich Anfang 1714, von
Leibniz in einem Brief (wohl an die Kurfiirstin Sophie) in einem Atemzug mit
dem Abbe de Bucquoy genannt worden zu sein.63 Leibniz, der im fernen Wien
von Sophie iiber die Distanzierung des Barons Lahontan vom Grafen Bucquoy
unterrichtet worden war, schiitzte Unverstandnis fur diese Haltung vor angesichts
der Tatsache, dass beide oft gemeinsam an der Tafel des Kurfursten sitzen und ihre Un-
terhaltungen das Wohlgefallen eines derart geistreichen Fiirsten wie Seiner Kurfiirstlichen
Hoheit finden.64 Der oft genug selbst als geschatzter Gesprachspartner zum Hofe
bestellte Universalgelehrte kannte die Charaktere derbeiden Protagonisten wohl
zur Geniige, um sich die Rivalitat um den Platz des Spitzen-Abenteurers ausma-
len zu konnen, aber er belieB es bei diesem leisen Spott und beteuerte fadenschei-
nig, in Wien nicht genug Neuigkeiten iiber den hannoverschen Hof erhalten zu
haben, um beurteilen zu konnen, ob sich die beiden inzwischen vielleicht zerstrit-
ten hatten.65 Dass dem so war und der Indianerfreund mit dem Bastille-Opfer
60 Zur hannoverschen Rangordnung von 1696 vgl. Schnath, Geschichte Hannovers,
wie Anm. 26, Bd 2, 1976, S. 384.
61 Brief vom 17. April 1712; vgl. Kielmansegg, Briefe des Herzogs Ernst August, wie
Anm. 29, Nr. 121, S. 270.
62 Ebd. Nr. 136 (24. August 1712), S. 293.
63 Sophie an Leibniz, 4. Januar 1714. Klopp, Werke von Leibniz, wie Anm. 19, Bd 9,
1873, S. 420f.,hierS. 421.
64 Je ne say pourquoy M. de la Hontan ne veut pas etre en compagnie de M. I'Abbe Bouquoy dans
ma lettre, puisqu'il est souvent dans sa compagnie a la table de Mgr. I'Electeur, et que leurs entretiens
donnent de la satisfaction a un prince aussi spirituel que S.A.E. Brief vom 31. Januar 1714; vgl.
ebd., S. 425-428, hierS. 426.
65 Ebd.
Abenteurer und Bastille-Haftlinge 373
wohl in permanenter Fehde um Aufmerksamkeit und Zuspruch bei Hofe lag, ist
auch in einer Druckschrift dokumentiert. Mit Datum vom 16. April 1713 erschien
ein anonymes, sechzehnseitiges Pamphlet,66 in dem sich scheinbar Bucquoy iiber
die Verleumdungen gegen seine Person durch den Irokesen beschwerte. Offen-
kundige Absicht der Flugschrift, die moglicherweise aus dem Umfeld Lahontans
kam und deren Konfiszierung Bucquoy bei der hannoverschen Regierung bean-
tragte,67 war es jedoch, alle Verriicktheiten und peinlichen Auftritte des geltungs-
siichtigen Hoflings detailliert auszubreiten. Wenig spaterbestatigte auch Herzog
Ernst August d.J. die erbitterte Feindschaft derbeiden Abenteurer: Herr Lahontan
ist aus Holland zuriick, so berichtete eram 13. August 1713, erhat Oberwasser, denn der
Abbe de Bucquoy ist noch krank, seitdem er in Pyrmont war.68
Florentin de Brandenbourg und Rene-Auguste Constantin de Renneville, iiber
deren Ankunft in Hannover Sophie in ihrem Brief vom 4. Januar 1714 berichtet
hatte, kannte Leibniz zu diesem Zeitpunkt noch nicht, aber er war sich sicher - so
kann man in seinem Antwortschreiben aus Wien zwischen den Zeilen lesen -,
dass nach der bislang an derLeine gezeigten Vorliebe fur ehemalige Bastille-Haft-
linge auch diese beiden den richtigen Aufenthaltsort gefunden hatten. Es ist eine
Empfehlung, in der Bastille gewesen zu sein, so begliickwiinschte Leibniz die 83jahri-
ge Kurfurstin zu ihren neuen Mitgliedern der Tafelrunde, aber derbereits in Han-
nover befindliche Abbe de Bucquoy, so bemerkte er, sei aus derBastille doch ruhm-
reicherals die anderen herausgekommen.69 Bei allerlronie und und trotz des leicht pi-
kierten Tons, in dem sich Leibniz iiber seine momentanen Stellvertreter als
Gesprachspartner der alten Kurfurstin auslieB, entsprach seine Feststellung, mit
einer Bastille-Vergangenheit empfehle man sich fur den Zugang zum kurfiirstli-
chen Hof in Hannover, durchaus der Realitat. Als ,Edel-Dissidenten' mit dem
Ausweis, im beriihmtesten franzosischen Kerker gesessen zu haben, konnten sich
die ehemaligen Bastille-Haftlinge der besonderen Aufmerksamkeit des Kurfiir-
sten und seiner Familie gewiB sein.
Uber Art und Umfang der finanziellen Unterstiitzung der Abenteurer am han-
noverschen Hof lassen sich nur unzureichende Angaben ermitteln. Lahontan er-
hielt in denjahren 1714 und 1715jeweils gut 90 Reichstaler fur den Unterhalt von
66 [Anonym], LAnti-Buquoit on plainte de l'abbe Buquoit aux Allies. Le 10. dAvril
1713. a Hanover.
67 Handschriftliche verfaBte Eingabe, dem Exemplar des „Anti-Buquoit" in der GWLB
beigebunden.
68 Mr. la Honton est enfin revenu de Hollande et brille autant qu 'il a toutjourfa.it; il a le haut du
pave, car l'abbe de Bucoit est ancore malade depuis Pirmont. Kielmansegg, Briefe des Herzogs
Ernst August, wie Anm. 29, Nr. 163, S. 326.
69 C'est une recommendation d'avoir ete a la Bastille; mais il me semble que M. I'Abbe Bouquoy en
est sorti plus glorieusement que les autres. Leibniz an Sophie, 31. Januar 1714, wie Anm. 64.
374 Gerd van den Heuvel
immerhin sechs Pferden, die er in Herrenhausen untergestellt hatte.70 Kurfiirstin
Sophie vermachte ihm, ebenso wie dem Abbe de Bucquoy, testamentarisch 60
Reichstaler,71 und nach Lahontans Tod im April 1716 wurden dessen Schwester
als Gnaden Geschenck 200 Rt. ausgezahlt.72 1720 bedankt sich Bucquoy fur ein
Neujahrsgeschenk des englischen Konigs in Hohe von 200 Reichstalern.73 Der
Comte de Brandenbourg erscheint 1716 mit einem praesent von 200 Rt. in den Kam-
merrechnungen;74 seine Pension, die Leibniz erwahnt,75 ist dort nicht nachweis-
bar. Man kann angesichts dieser wenigen Belege allerdings davon ausgehen, dass
wegen fehlender ordentlicher Etats, eines unvollstandigen Kassen- und Rech-
nungswesens sowie der gangigen Praxis zahlreicher fiirstlicher Privat- und Ge-
heimkassen76 langst nicht alle Zuwendungen in den staatlichen Rechnungsbii-
chern dokumentiert sind. Zudem diirften sich die Exilanten auch andere Geld-
quellen erschlossen haben. So spottete Herzog Ernst August d. J. im Mai 1712,
Bucquoy wiirde den Hof wohl bald verlassen, weil er alien Wein, den er bei Hofe
erhielte, verkaufe, um mit dem Geld seine hochfliegenden Plane zu verwirkli-
chen.77
Was fiihrte nun diese Ex-Haftlinge an die Leine und welche Motive standen
hinter der Entscheidung des Kurfiirsten/ Konigs, ihnen nicht nur Aufenthalt und
Unterhalt zu gewahren, sondern sie an die nur wenigen zugangliche und auf
der Prestigeskala der hofischen Gesellschaft weit oben angesiedelte Hoftafel zu
bitten?
Den ehemaligen Haftlingen muBte Hannover als gutgewahlter Asylort er-
scheinen, stand Georg Ludwig doch nicht nur als Kurfiirst an der Spitze der
Frankreich feindlichen Reichsfiirsten, sondern bot als designierter englischer
Konig ihnen angesichts des absehbaren Todes von Queen Anne auch die Aus-
sicht, bald auf ungleich hoherer Ebene Gehor zu finden, ihr Auskommen zu si-
chern, moglicherweise sogarpolitischen EinfluB zu gewinnen. Der sich selbst als
Reformator des Menschengeschlechts verstehende Abbe de Bucquoy, so berichtete
Leibniz 1716 der Kronprinzessin, setze auf den englischen Konig, um seine
70 Niedersachsisches Hauptstaatsarchiv Hannover (HStA) Hann. 76 c A Nr. 240, S. 552.
71 Vgl. ebd., Nr. 238, S. 267.
72 Ebd., Nr. 240, S. 552.
73 Vgl. Guerin, Bucquoy, wie Anm. 18, S. 322.
74 HStA Hann. 76 c A Nr. 240, S. 553.
75 Vgl. oben Anm. 53.
76 Vgl. Gerd van den Heuvel, Niedersachsen im 17. Jahrhundert, in: Christine van den
HEUVEL/Manfred von Boetticher (Hrsg.), Geschichte Niedersachsen, Bd 3,1, Hannover
1998, S. 192.
77 Kielmansegg, Briefe des Herzogs Ernst August, wie Anm. 29, Nr. 126 (28. Mai 1712),
S. 278.
Abenteurer und Bastille-Haftlinge 375
hochtrabenden Plane zu verwirklichen, obwohl sich dieser wenig geneigt zeige,
ihn ernst zu nehmen.78
Von Seiten des Kurfiirsten konnen hinter der freundlichen Aufnahme der ,Op-
fer des Despotismus', die in franzosischen Kerkern geschmachtet hatten, geflohen
oder nach ihrer Haftentlassung als unliebsame Personen aus Frankreich ausge-
wiesen worden waren und durch Europa irrten, durchaus politische Motive ver-
mutet werden. Ihre Leidensgeschichten in den Klauen eines als unmenschlich
geschilderten Polizei- und Justizapparates waren geeignet, Frankreich als Gegner
von Kaiser und Reich im Spanischen Erbfolgekrieg moralisch zu diskreditieren,
quasi den kriegslegitimierenden Manifesten fur den gerechten Krieg79 noch die
lebenden Beweise fur die Willkurherrschaft und moralische Verwerflichkeit des
Gegners hinzuzufiigen. Kurfiirst Georg Ludwig, der sich seit 1709 vehement ge-
gen einen von England angestrebten und zunehmend auch von den Vereinigten
Niederlanden befiirworteten KompromiBfrieden mit Ludwig XIV. stemmte, den
FriedensschluB von Utrecht ablehnte und bis zuletzt fur eine konsequentere Ein-
dammung der bourbonischen Expansionsbestrebungen eintrat,80 kam die Mog-
lichkeit, sich in der Offentlichkeit als Beschiitzer franzosischerjustizopfer prasen-
tieren zu konnen, sicherlich nicht ungelegen. So honorierte er vor seiner Uber-
fahrt nach England die Verdienste von Bucquoys Co-Autorin Madame Du Noyer,
die sich auch in ihren anderen Publikationen als eifrige Propagandistin der han-
noverschen Thronfolge gezeigt hatte, mit einer Goldmedaille.81 Kurzfristig, zwi-
schen 1710 und 1714, blieb der propagandistische Erfolg der ,Asylpolitik' auf
miindliche und briefliche Kommunikationskanale angewiesen, nach 1714 aber,
als der hannoversche Kurfiirst die Thronfolge in GroBbritannien angetreten hatte
und Renneville ebenso wie Bucquoy ihre Bastille-Memoiren herausbrachten, in
denen sie nicht mit Lob fiir die Liberalitat des englischen Konigs sparten, trugen
sie mit ihren Schriften dazu bei, den im weiteren 18. Jahrhundert gelaufigen Ge-
gensatz von ,englischer Freiheit' und ,franzosischem Despotismus' mit zu pragen,
einen im Zeitalter der Aufklarung gangigen Topos der politischen Philosophie
und Publizistik, der von Voltaire, Montesquieu und anderen aufgegriffen und po-
pularisiert wurde.82 Zudem leisteten Renneville und Bucquoy mit ihren ankla-
78 // [l'abbe de Bucquoy] se met quelquesfois sur ses grands chevaux, et donne le pion a tout le
monde. II se plaint que le Roy ne I'ecoute pas assez serieusement, car il voudroit etre le Re'formateur du
genre humain, et croit que le Roy pourroit seconder ses grands desseins, s'il en avoit envie. Leibniz an
Caroline von Wales, September 1716, Klopp, Werke von Leibniz, wie Anm. 19, Bd 11, S. 189.
79 Konrad Repgen, Kriegslegitimation in Alteuropa. Entwurf einer historischen Typolo-
gie, in: Historische Zeitschrift 241, 1985, S. 27-49.
80 Schnath, Geschichte Hannovers, wie Anm. 26, Bd 3 , S. 709-738.
81 Guerin, Bucquoy, wie Anm. 18, S. 312.
82 Vgl. dazu Gerd van den Heuvel, Der Freiheitsbegriff der Franzosischen Revolution.
376 Gerd van den Heuvel
genden, die Bastille damonisierenden Illustrationen zur Franzosischen Inquisition
bzw. zur Hblle der Lebendigen nicht nur einen Beitrag zum „Krieg der Bilder"83 im
propagandistischen Gefecht der feindlichen Staaten, sondern forderten auch
nachhaltig „die weitere mystifizierende Ausdeutung und politisch-symbolische
Aufladung der Bastille"84 im 18. Jahrhundert.
Der Abbe de Bucquoy machte sich schon vor der mehrsprachigen Neuauflage
seiner Lebenserinnerungen im Jahre 1719 wahrend der laufenden Friedensver-
handlungen in Utrecht als politischer Pamphletist gegen Frankreich niitzlich oder
glaubte zumindest, seinen Gastgebern damit zu dienen. Es gibt kein Mittel, ihn zu-
riickzuhalten, so berichte Herzog Ernst August 1712 iiber die Abreise Bucquoys
nach Holland. Ergeht nach Utrecht, um den Gesandten Ratschldge zu geben. Danach will
er wohl den Prinzen Eugen aufsuchen, um auch ihnzu beraten.85 Auch der franzosischen
Regierung waren die Aktivitaten Bucquoys in den Niederlanden nicht verborgen
geblieben. Die Anstrengungen Bucquoys, die englischen Gesandten fur seine Pla-
ne gegen Frankreich zu gewinnen, nahm man sarkastisch zur Kenntnis: Man kann
nur hoffen, dass unsere Feinde ihn zu ihrem Chefberater machen, so lautete der Kom-
mentar des Ministers Pontchartrain.86
In Holland veroffentlichte Bucquoy Ende 1712 eine Flugschrift,87 in der jeder
Studien zur Revohitionsideologie, Gottingen 1988, S. 60-81; Ders., Art. Liberte, in: Hand-
buch politisch-sozialer Grundbegriffe, wie Anm. 3, Heft 16-18, 1996, S. 85-121, hier S. 92f.;
vgl. jetzt auch Hans-Christof Kraus, Englische Verfassung und politisches Denken im An-
cien Regime, Miinchen 2006, bes. S. 71-258.
83 Wolfgang Cillessen (Hrsg.), Krieg der Bilder. Druckgraphik als Medium politischer
Auseinandersetzung im Europa des Absolutismus [Ausstellungskatalog], Berlin (Deutsches
Historisches Museum) 1997.
84 Rolf Reichardt, Zur visuellen Dimension geschichtlicher Symbole am Beispiel der
Bastille, in: Rudolf Schlogel, Bernhard GiESEN,Jiirgen Osterhammel (Hrsg.), Die Wirklich-
keit der Symbole. Grundlagen der Kommunikation in historischen und gegenwartigen Ge-
sellschaften, Konstanz 2004, S. 303-338, hier S. 307.
85 Iln'y a plus de moien de le tenir. II va a Utregt donner des avis a mesieurs les pleniponsie[r]s. De
la il ira, a se [=ce] que je crois, en donner au Prince Eugene. Kielmansegg, Briefe des Herzogs
Ernst August, wie Anm. 29, Nr. 134 (7. August 1712), S. 289.
86 [. . .] je crois que Von doit souhaiter que les ennemis le prennent pour chefde leur conseil. Pont-
chartrain an den comte du Luc, 18. Marz 1711. Vgl. Ravaisson-Mollien, Archives, wie Anm.
5, T. XI, S. 350.
87 [Jean-Albert dArchambaud, comte de Bucquoy], Le Leurre de l'Europe, ou la Re-
nonciation du due dAnjou, avec quelques avis aux Allies, ou on les exhorte surtout a porter
la guerre a la France en dedans. En forme de lettre. o. O. u. J. Das Exemplar der GWLB ent-
halt unter dem Titel den gedruckten Hinweis: „NB. Cete Brochure imprimee a la Haie en
1711. est comme L'image de tout cequi se passe aujourd'hui en Europe.* Da ebd., S. 16, die
Schlacht von Denain (24. Juli 1712) erwahnt wird, ist die Flugschrift wohl eher auf die zweite
Jahreshalfte 1712 zu datieren. Sie erschien auch in englischer Ubersetzung: The bait of
Europe: or, the Duke of Anjou's renunciation; with an advice to the allies, to carry the war
Abenteurer und Bastille-Haftlinge 377
FriedensschluB, der Frankreichs Eroberungen der letzten Jahrzehnte nicht riick-
gangig machte, kategorisch abgelehnt wurde. Bucquoy rief dazu auf, den Krieg
ins Innere Frankreichs zu tragen, die Bourbonen zu stiirzen und - wie er pathe-
tisch formulierte - das Herz anzugreifen und die Mauer niederzureifen.&8 Sich selbst,
der sich mit ebensoviel Mut und Fleifi wie Glilck aus den geheimen Kammern des Fort
L'Eveque und der Bastille befreit habe, sah er an der Spitze der Rebellion. Drohend
verband er sein Exil mit dem kommenden Umsturz. So wie das Romische Reich
nur aus dem Innern heraus habe kollabieren konnen, proklamierte er, konne man
nur mit Hilfe der Exilfranzosen nach Paris und Madrid gelangen.89
Allerdings ware Bucquoy dem Wirrwarr seiner Lebensentwiirfe untreu gewor-
den, wenn er nicht bald darauf, verstarkt aber nach dem Tode des Sonnenkonigs,
seine Fiihler auch nach Frankreich ausgestreckt und die Moglichkeiten fur eine
Riickkehrin seine Heimat sondiert hatte.90 Der Regent lehntejedoch die Repatri-
ierung des rastlosen Grafen dankend ab: Mein sohn [. . .] sagt, erhette narren genung
Mr, so ihnplagen schrieb Elisabeth Charlotte von Orleans an ihre Nichte Luise En-
de 1717.91
Der eher in den Sommer 1789 als insjahr 1712 passende Aufruf, die Mauer nie-
derzureifien, verfehlte als eine schwache Stimme unter vielen seine Wirkung; die
politischen Weichen waren bereits in eine andere Richtung gestellt. Bucquoy
konnte als Schlachtenbummler des Friedenskongresses (wenn dieses schiefe Bild
hier erlaubt ist) gegen die Einigung der Seemachte mit Frankreich und Spanien
ebensowenig ausrichten wie die kaiserliche oder hannoversche Diplomatie. Spa-
testens nach AbschluB des Friedensvertrages am 11. April 1713 kehrte er nach
Herrenhausen zuriick; jedenfalls wird sein dortiger Aufenthalt (als in diejahre
gekommener Galan stellte er vergeblich der Grafin Cosel, der Matresse Augusts
d. Starken nach) im Mai von Sophies jiingstem Sohn Ernst August erwahnt.92
Als politischer Akteur war Bucquoy am hannoverschen Hof von eher zweifel-
haftem Nutzen, aber es gab eine andere Rolle, die er - und mit ihm andere auf ein
into the heart of France, London 1713.
88 [ J.-A. d'Archambaud, comte de Bucquoy], Le Leurre de PEurope, wie Anm. 87, S. 8.
89 Ebd., S. 32.
90 Vgl. Guerin, Bucquoy, wie Anm. 18, S. 3 1 4 f f .
91 Brief vom 2. Dezember 1717. Wilhelm Ludwig Holland (Hrsg.) , Briefe der Herzogin
Elisabeth Charlotte von Orleans, Bd 3 (1716-1718), Tubingen 1874 (Nachdruck Hildesheim
1988), Nr. 869, S. 142. - Dass sich Bucquoy intensiv urn eine Riickkehr nach Frankreich be-
miihte und Elisabeth Charlotte von Orleans dafiir einzuspannen suchte, zeigen auch deren
Briefe an den hannoverschen Oberstallmeister Christian Friedrich von Harling. Vgl. Hanne-
lore Helfer (Hrsg.), Liselotte von der Pfalz in ihren Harling-Briefen, Teil 1, Hannover 2007,
S. 400 und 406.
92 Kielmansegg, Briefe des Herzogs Ernst August, wie Anm. 29, Nr. 154 (17. Mai 1713),
S. 316.
378 Gerd van den Heuvel
bewegtes Leben zuriickblickende Gliickritter - besser und zur groBeren Zufrie-
denheit ihrer Gonner ausfiillten. Um die Position gestrandeter Dissidenten wie
Renneville, Brandenbourg, Bucquoy, Boncceur oder Lahontan bei Hofe zu verste-
hen, ist es hilfreich, diese Einzelbeipiele fiir einen Moment hintanzustellen und ei-
nen Blick auf die Rolle des Abenteurers im hofischen Europa des 17. und 18. Jahr-
hunderts zu werfen.
IV.
„Dasein heiBt eine Rolle spielen" - so iibertitelte Claus SiiBenberger 1996 seinen
einleitenden Essay zu sieben brillanten Kurzbiographien von Abenteurern, Gliicks-
rittern und Maitressen an den europaischen Fiirstenhofen der friihen Neuzeit,93 die
zeigen, dass die Ansammlung von Abenteurern im Spatherbst der „goldenen Ta-
ge von Herrenhausen"94 keine singulare Erscheinung war. Die Rolle, mit der die-
se Personen ihr Leben ausfiillten, scheint auf den ersten Blick so gar nicht zu pas-
sen zur festgelegten Ordnung der Standegesellschaft, in der jeder seinen ange-
stammten oder zugewiesenen Platz hatte, in der soziale Range durch Herkunft
festgelegt und durch Kleidung, Ehrenkodexund Zeremoniell sicht- und erfahrbar
gemacht wurden. Aber gerade als Gegenbild zur gesellschaftlichen Normalitat
gewannen diese Lebenslaufe in derZurschaustellung ihren sozialen Sinn. Eine ih-
rer Normen und Statuszuweisungen gewisse Gesellschaft „[erlaubt sich] den Lu-
xus des vereinzelten farbigen Abweichlertums" und findet ihr Wohlgefallen „an
dem unterhaltsamen Aufriihrer, der zwar Plane zur Weltverbesserung Schmieden
darf, sich dann aber mit der Erregung von Anekdotenstoffen zufrieden gibt". Als
„schillernde Nebenfigur im Regelsystem des hofischen Milieus" fallt der Aben-
teurer aus dessen Verhaltenskodex, versichert aber gleichzeitig in seiner AuBen-
seiterrolle und mit seiner unkonventionellen Lebensfiihrung die hofische Gesell-
schaft ihrer eigenen Normen.
Die Rolle des unterhaltsamen Abenteurers war vielfaltig ausfiillbar, wenn der
Person nur „gewisse Elemente von Glanz, Mobilitat, gesellschaftlicher Gewieft-
heit, aber auch von Regelwidrigkeit, Provokation, vielleicht auch von Vagabun-
dentum und Internationalitat zu eigen waren, oder ihr wenigstens zugemessen
werden konnten". Eine weitere, nicht unabdingbare, aber den Zugang zum Hof
im friihen 18.Jahrhundert erleichternde Voraussetzung fiir den gesellschaftstaug-
lichen Abenteurer war die adlige Herkunft95 oder zumindest die glaubhafte Be-
93 Claus Sussenberger, Abenteurer, Glucksritter und Maitressen. Virtuosen der Lebens-
kunst an europaischen Hofen, Frankfurt/ M., New York 1996.
94 Sohnath, Geschichte Hannovers, wie Anm. 26, Bd 3, S. 766.
95 Die Definition des Abenteurers „als sozialerTyp [. . .], dessen spezifisches Verhaltnis
zur Adelsgesellschaft vor allem durch die Kompensation der fehlenden Voraussetzungen
Abenteurer und Bastille-Haftlinge 379
hauptung, von Stand zu sein. Mit der ersten Mitteilung iiberBucquoy, den possirli-
chen abt, der ihmer schreyt, versicherte Sophie ihre Nichte, dass er von calitet sei. Alle
ehemaligen Bastille-Haftlinge und Abenteurer, die eine Zeit lang am hanno-
verschen Hof Unterschlupf fanden, waren Adlige. Und noch etwas anderes war
ihnen gemeinsam: alle waren gebiirtige Franzosen, Reprasentanten der kulturel-
len Fiihrungsmacht der Zeit und somit in Habitus und Sprache mit den Paradig-
men der hofischen Umgangsformen vertraut; zumindest reichte es fur die Anfor-
derungen, die deutsche Fiirstenhofe in dieser Beziehung stellten. Gerade an den
Fiirstenhofen des Alten Reichs, die um 1700 in der Regel franzosische Sprachin-
seln in einermundartlich gepragten Umgebung waren, vermochten sich diese du-
biosen Vertreter des franzosischen Adels relativ leicht zurechtzufinden und mit
ihrer Konversation zu brillieren. Mit einigem Recht ist die Vermutung geauBert
worden, dass sie „oft schon allein deshalb erfolgreich operieren konnten, weil
dort [an den Fiirstenhofen] der Kredit der franzosischen Sprache und Kultur so
hoch war, daB man auch auf jene hereinfiel, die aus diesem Kredit nur bares Kapi-
tal fiir sich herausschlagen wollten."96
Die Motive, aus denen heraus die exilierten Franzosen Aufnahme fanden,
mochten am Ende des Spanischen Erbfolgekrieges auch von politischen Oppor-
tunitatserwagungen gepragt sein; der Humus, auf dem diese Gestalten abervoral-
lem gediehen, bisweilen langfristig Wurzeln schlugen und ihr Auskommen finden
konnten, war die Langeweile einer zu MiiBiggang und Nichtstun verdammten,
nach Unterhaltung und Abwechslung gierenden Hofgesellschaft. Kurfiirst Georg
Ludwig war 1714 zunachst garnicht davon angetan, dass zwei weitere ehemalige
Insassen der Bastille, Constantin de Renneville und Florentin de Brandenbourg,
nach Hannover kommen wollten. Doch Neugierde und die Aussicht auf lebhafte
Unterhaltung wischten in den Augen der Kurfiirstin Sophie alle Bedenken vom
Tisch, denn, so lautete ihr durchschlagendes Argument, on dit que ceux-cy ont beau-
coup d'esprit,97 frei iibersetzt: sie haben was zu erzflhlen. Das Schlimmste, was man
der Serenissima des hannoverschen Hofes antun konnte, war, ihr Leute vorzustel-
len, die einsilbig, wenig geistreich und langweilig waren. Eloquente Besuchermit
von Geburt und Stand [. . .] gekennzeichnet war", grenzt den Personenkreis unnotig ein und
verkennt, dass diese Existenzen nicht zuletzt genuine Produkte der aristokratischen Gesell-
schaft des Ancien Regime waren. Vgl. die zitierte Definition in Annett Volmer, Vom ewigen
Buhlen um Gunst oder: Kulturvermittlung als Abenteuer - Timoleon-Alphonse Gallien de
Salmorenc, in: Das Achtzehnte Jahrhundert, 24, 2000 (Abenteuer und Abenteurer im 18.
Jahrhundert),S. 139-149, hier S. 139.
96 Edward Reichel, Der Abenteurer und sein Jahrhundert. Eine Figur „ganz oben" und
„tief unten" in der Gesellschaft und Literatur des Rokoko, in: Romanische Forschungen, 98,
1986, S. 367-377, hier S. 368 Anm. 3.
97 Sophie an Leibniz, 4. Januar 1714, Klopp, Werke von Leibniz, wie Anm. 19, Bd 9, S. 421.
380 Gerd van den Heuvel
auBergewohnlichen Ideen konnten stets ihrer Gastfreundschaft gewiB sein, auch
wenn dies zu erheblichen politischen Belastungen fiihrte, wie im Fall von John
Toland, der wegen religionskritischer Schriften im Streit mit der anglikanischen
Kirche die Insel verlassen muBte, 1702 in Hannover und Berlin empfangen wur-
de, in GroBbritannien jedoch nicht gerade als der geeignete Umgang fur die Er-
bin der englischen Krone angesehen wurde.98
Der tagliche Kampf gegen den von Wolfgang Lepenies sozial in der hofischen
Gesellschaft verorteten Temperamentszustand derMelancholie," gegen eine aus
der Langeweile erwachsene depressive Gemiitsstimmung, eroffnete diesen mit
dem Milieu des Hofes vertrauten Randfiguren des Adelsstandes eine Biihne, auf
dersie ihre Rolle spielen konnten -je ungewohnlicher, abwechslungsreicher und
exaltierter desto besser. Ein schlechter Leumund und selbst die vor versammelter
Hofgesellschaft in Hannover verlesene Auskunft des franzosischen Ministers
Pontchartrain, Bucquoy habe in der Bastille gesessen, weil er ein Betrilger, Schuft
und Liigner \n\A zudem gar nicht derjenige sei, als der er sich ausgebe,100 konnen
dessen Stellung nicht erschiittern. In Verletzung der hofischen Etikette ereifert
sich der Abbe de Bucquoy bei Tisch iiber alle MaBen, wird laut, springt auf,101
und geht sogar so weit, den General von der Schulenburg, der ihn bei Hofe einge-
fiihrt hat, zum Duell zu fordern. Weder flegelhaftes Benehmen noch die schlech-
ten Tischmanieren noch das verbotene Duell, zu dem man sich auBerhalb Kur-
hannovers im Hildesheimischen verabredet, fiihren zur Verweisung Bucquoys
aus der Residenz. Vielmehr treibt der Kurfiirst, als er von den beabsichtigten Eh-
renhandeln erfahrt, die Komodie auf die Spitze, indem er einige Soldaten los-
schickt, die den Abbe in eine Uniform stecken, ihm den ersten Sold aushandigen
und ihn dann als angeblichen preuBischen Zwangsrekrutierten nach Hannover
zuriickbringen.102 Der Hof hat seinen SpaB, einige Briefe werden um die neue
Anekdote bereichert, die Ernst August gleich zweimal an seinen Korrespondenz-
partner weitergibt. Der iiberrumpelte und zunachst seine Auslieferung an Frank-
reich fiirchtende Bucquoy stimmt schlieBlich in das Gelachter ein und muB wi-
derwillig seine Rolle als Hofnarr hinnehmen, als der er auch expressis verbis von
98 Zur Diskussion der hannoverschen Regierung und Diplomatic, ob es opportun sei, J.
Toland in Hannover zu empfangen, vgl. die entsprechenden Stellungnahmen in LAA I, 20
und 21.
99 Wolfgang Lepenies, Melancholie und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1969, S. 46-78.
100 Nous avons eu une comedie asse plesante a table. Mme [Elisabeth Charlotte von Orleans]
s'est informe de Mr. de Pontchartrin, pourquoy l'on avoit mis Mr. de Bucoi a la Bastille, a quoy il a
repondu: parcequ'il est fourbe,fripon et imposteur. L'on mande ausi qu'il n'est pas veritable Bucoi. L'on
luy a lu tout sla en plenne table. Kielmansegg, Briefe des Herzogs Ernst August, wie Anm. 29,
Nr. 125, S. 276.
101 Ebd., Nr. 127 (11. Juni 1712), S. 280.
102 Ebd., Nr. 157 (14. Juni 1713), S. 319; Nr. 158 (20. Juni 1713), S. 321.
Abenteurer und Bastille-Haftlinge 381
der Hofgesellschaft tituliert wird.103 Um sich iiber ihn lustig zu machen und „die
etwas stumpfe und dumpfe Stimmung dieses Hofes" 104 aufzuheitern, taugt
Bucquoy allemal. Als er Kurfiirstin Sophie ein von ihm geschossenes Rebhuhn
zum Geschenkmacht, revanchiert sich die 82jahrige mit dem Bild eines als Cupi-
do verkleideten Affen, was sehr gut zu diesem alten Liebhaber pafit, wie Sophie jiing-
ster Sohn anmerkte. 105 Wirfilhren ein sehr ruhiges Leben in Herrenhausen, so berichtet
Ernst August an seinen Freundjohann Franz Diedrich von Wendt, nur der Abbe de
Bucquoy weckt uns auf.106 14 Tage spater gibt er erneut dem Grundgefiihl nervto-
tender Langeweile Ausdruck: Wenn man in Hannover kurze Briefe schreibt, hat man
immer die gute Ausrede, dass es nichts zu berichten gibt. 107
Ob das, was die Abenteurer bei Hofe zum Besten geben, der Wahrheit ent-
spricht, ist weniger wichtig als der Unterhaltungswert ihrer Darbietungen. Als Ge-
org Ludwig im September 1714 auf dem Weg zur englischen Krone Constantin de
Renneville in Holland trifft, fragt er ihn, ob Bucquoy tatsachlich dieses bewegte
Leben gefiihrt habe, in der Bastille gewesen und daraus geflohen sei.108 Renne-
ville kann als Mithaftling im GroBen und Ganzen Bucquoys Angaben bestatigen.
Drei Jahre lang hatte der hannoversche Kurfiirst sich also die ihm im Grunde un-
glaubwiirdig erscheinenden Geschichten des Bastille-Fliichtlings angehort, deren
Wert fur ihn offensichtlich nicht in ihrer Authentizitat lag. Angesichts des knap-
pen Angebots an Unterhaltungsmoglichkeiten hatte man die , daily soap' des
schwadronierenden Abenteurers genossen, gleichgiiltig wie weit sich Fiktion und
Realitat in den Erzahlungen mischten, wenn sie nur Zerstreuung und Abwechs-
lung versprachen. Die gleiche Wertschatzung in ahnlicher Rolle erfuhr auch
Florentin de Brandenbourg, der ehemalige Beichtvater der spanischen Konigin.
Leibniz konnte in einem Brief an Caroline von Wales dessen abenteuerliche Be-
richte weder bestatigen noch widerlegen, muBte dem friiheren Kapuziner aber
konzedieren, dass ervon wendigem Geist ist, der den Konig[Georg I.] zufriedenstellt.109
Mit welcher Siiffisanz Leibniz dieses Lob aussprach, erschlieBt sich aus dem Kon-
text. Im Brief davor hatte er iiber vergleichbare Abenteurer am Wiener Hof be-
103 Ernst August schreibt aus Pyrmont: Je vous ecris plus sette poste, pour vous montrer que
j'ais resu vos lettres, que pour pouvoir vous mander quelque chose de divertissan d'icy, ou Von ne songe
q'd altera la selle,jusqu'd I'abbe de Bucoi qui s'en mile ausi, mats ilne s'en trouve pas ancortrop bien,
parcequ'il s'echauffe trop a disputer et parceque quelques malisieus I'ont regalle du titre de „Hofnarr".
Ebd., Nr. 159 (1. Juli 1713), S. 321.
104 Schnath, Geschichte Hannovers, wie Anm. 26, Bd. 3, S. 506.
105 Kielmannsegg, Briefe, wie Anm. 29, Nr. 137 (4. September 1712), S. 293.
106 Ebd., Nr. 126 (28. Mai 1712), S. 278.
107 Ebd., Nr. 127 (11. Juni 1712), S. 280.
108 Vgl. Du Noyer, Histoire, wie Anm. 16, 1866, Vorwort zum Nachdruck 1989, S. IX.
109 [. . .] qu'il est d'un esprit aise [. . .] qui donne du contentement au Roy. Klopp, Werke von
Leibniz, wie Anm. 19, Bd 11, S. 189.
382 Gerd van den Heuvel
richtet, den Marquis de Langallerie und den Prince de Linange.110 Philippe de
Gentils de Lajonchapt marquis de Langallerie warbereits im Herbst 1711 in Han-
nover aufgetaucht und hatte dem Kurfiirsten einen Plan verkaufen wo lien, wie der
Spanische Erbfolgekrieg mit einem Schlag siegreich beendet werden konne. Er
warzwarbei GeorgLudwigin derGohrdenicht vorgelassen worden,111 hatte aber
immerhin ein Prasent von 400 Reichstalern aus der kurfiirstlichen Kasse erhal-
ten.112 Auch seinLeben war das eines rastlosen Hasardeurs. Als franzosischerOf-
fizier wegen permanenter Besserwisserei und Streitlust in Ungnade gefallen, war
er 1705 in osterreichische Dienste gewechselt, wurde wenig spater General einer
litauischen Armee des polnischen Konigs August des Starken, verlieB auch die-
sen Posten, konvertierte 1711 in Holland zum Protestantismus und suchte um 1716
Kontakt zum Botschafter der Pforte in den Niederlanden, mit dem Plan, an der
Spitze einer tiirkischen Armee in Italien einzufallen, den Papst als Feind Jesu
Christi an die Tiirken auszuliefern und Rom dem deutschen Kaiser zu iibergeben.
Langallerie endete 1717 als kaiserlicher Gefangener im ungarischen Raab durch
Verhungern.113 Dem ebenfalls 1716 in Wien anwesende Prinz von Linange, der,
wie Leibniz berichtete, nach tausenden Schurkereien in Frankreich sich in Holland als
Abgesandter derPiraten von Madagaskar vorgestellt hatte, war es in Wien gelungen, als
Wegbereiter des Messias geniigend Verriickte zu finden, die ihm Geld gaben.lu
V.
Die von Leibniz geschilderten Falle zeigen, dass sich unter der ansehnlichen Zahl
der entwurzelten Aristokraten in Hannover keineswegs die skurrilsten Vertreter
dieser Spezies befanden und andere Hofe, alien voran der Kaiserhof in Wien,
noch groBere Anziehungskraft fur Gliicksritter, Scharlatane und Projektemacher
aller Art besaBen. In Hannover verlieren sich nach 1716 die Spuren der meisten
ehemaligen Bastille-Haftlinge, bis auf einen, den Grafen Bucquoy, der - von Ge-
org I. und nach 1727 auch von dessen Sohn Georg II. finanziell unterstiitzt - mit
Unterbrechungen noch 25Jahre an derLeine leben und hierauch seine letzte Ru-
hestatte finden sollte.
Bucquoy bleibt nach derUbersiedlung des Hofes nach London in Herrenhau-
sen zuriick, in einem Nebengebaude des Schlosses, wo der Graf in den oberen
Raumlichkeiten untergebracht ist und im ErdgeschoB ein Schreiber der konigli-
110 Brief vom 11. September 1716, ebd., S. 183f.
111 Schnath, Geschichte Hannovers, wie Anm. 26, Bd 3, S. 720.
112 HStA, Harm. 76 c A Nr. 236, S. 523, 13. Dezember 1711.
113 Vgl. Dictionnaire de biographie francaise, T. 15, 1982, Sp. 1094-1096.
114 Leibniz an Caroline von Wales, 11. September 1716. Klopp, Werke von Leibniz, wie
Anm. 19, Bd 11, S. 184.
Abenteurer und Bastille-Haftlinge 383
chen Gartenverwaltung mit der Witwe eines Paukenschlagers der koniglichen
Leibgarde wohnt.115 Die Querelen dieser Hausgemeinschaft sind noch in einer
Reihe von franzosischsprachigen Druckschriften dokumentiert, mit denen sich
Bucquoy in den 1730er Jahren quasi offentlich iiber seine Mitbewohner bei den
zuriickgelassenen Geheimen Raten in Hannover beschwert.116 Zunachst nimmt
der Graf jedoch seine intensive Reisetatigkeit wieder auf, unter anderem nach
Briissel, Frankfurt und Leipzig. Vor allem aber sucht er Kontakt zum anderen
Zweig des Welfenhauses, dem Hof in Wolfenbiittel. Fiireinigejahre gewinnt erei-
nen neuen Gonnerin Herzog Ludwig Rudolf, demjiingeren Sohn Anton Ulrichs,
der die Nebenresidenz Blankenburg innehat. Bucquoy agiert weiter als umtriebi-
ger, politisierender, theologische wie philosophische Banalitaten publizierender,
Gelegenheitsgedichte verfassender und in alle moglichen Rollen schliipfender
Abenteurer, bis es schlieBlich „auch fiirihn ernst wirdund er sich mit der einzigen
fur ihn giiltigen Realitat ins Benehmen setzen muB - dem Altwerden".117 Aber
Bucquoy ware nicht Bucquoy, wenn er nicht auch diesen letzten Lebensabschnitt
in adaquater Weise fiir sein qualitativ wie quantitativ geschrumpftes Publikum
und die Nachwelt gestaltet und stilisiert hatte. Bis zuletzt bestatigt er die Charak-
terisierung, die der Chef der Pariser Polizei nach der Flucht des Grafen aus der Ba-
stille in einem Steckbrief zu Papier gebracht hatte: Er redet viel, spielt den Philoso-
phen, will sich in seinen Reden als Gelehrter und Mann von Stand darstellen, der grojie
Hochachtung verdient.u& Als Einsiedler von Herrenhausen - so der Titel einer seiner
Druckschriften119 - kniipft er wieder an seine monchische Vergangenheit an, ver-
liert dabei aberkeine Minute das Ziel aus den Augen, Aufmerksamkeit zu erregen
und sein Leben bekanntzumachen. So bringt er 1740 als Textvorschlage fiir sei-
nen Grabstein eine Kurzgefajite Lebens-Beschreibung des Abts und Grafen von B in
einigen Grabschriften zum Druck,120 mit mehr als einem Dutzend lateinischen,
115 Das Folgende nach Guerin, Bucquoy, wie Anm. 18, S. 312-330.
116 [Jean-Albert d'Archambaud, comte de Bucquoy], Le Solitaire d'Herrenhausen en
forme de supplique a leurs Excellences Messieurs les conseillers prives au sujet des mauvai-
ses pratiques de Sch. . . et de sa femme contre sa personne etc. Herrenhausen ce 10. Obre
1738, [Hannover] 1739; Ders., A S. Exe. Mr. Le G. M. de R., ou a la faveur d'un nouveau
Trait de l'audace du Maitre Compagnon Jardinier d'Herrenhausen Sch... & de sa femme,
on tache de repandre un plein jour sur toute leur iniquite precedente, [1739].
117 Sussenberger, Abenteurer, wie Anm. 93, S. 21.
118 II park beaucoup,fait le philosophe, veutfaire connaitre dans ses discours qu'il est homme sa-
vant et de qualite, et qu'il merite beaucoup de consideration. Zitat nach Guerin, Bucquoy, wie
Anm. 18, S. 30.
119 Vgl. Anm. 122 und dazu die biographische Skizze von Wrampelmeyer, Der Einsied-
ler von Herrenhausen, in: Hannoverland, 1915, 3. Heft, S. 33-35.
120 Gedruckt im Anhang zu: [Jean-Albert dArchambaud, comte de Bucquoy], Diffe-
rentes Epitaphes au sujet du comte de Scarborough [...]/ Verschiedene Grabschriften, wo-
384 Gerd van den Heuvel
franzosischen und deutschen Zwei- und Vierzeilern, darunter so ,bedeutende' wie
diese:
Der, den Hannover liebt und qudlt, ruht hier. 0 Seltenheit!
Es bringt sich selber um, da es den Tod mir drdut.
In Nieder-Sachsen sucht man sich an ihm zu reiben,
dock der ihm Tort gethan, vermochte nicht zu bleiben.
Den dieses Grab umschliefit, war kaum in Sachsen kommen
so ward sein Rath sofort als heilsam angenommen,
die Grdfin Cosel selbst hb'rt ihn gedultig an,
doch wenn sie ihm gefolgt, sie ware besser dran.
Denjetzt die Erde deckt, gab manchen guten Rath
die Coseln folgte nicht, und nun ist es zu spat.
Am anschaulichsten und klarsten wird die Selbsteinschatzung und Lebensbi-
lanz des ehemaligen Haftlings in einem Kupferstich,121 mit dem sich der Einsiedler
von Herrenhausenhurz vor seinem Tod ins Bild setzte und auf 7,5 mal 10,5 cm noch
einmal die , Highlights' seiner Biographie rekapitulierte: Der aus dunklem Ge-
wolk hell angestrahlte, im Gestus des Philosophen meditierende Greis sitzt unter
einem alten Baum, im rechten Hintergrund die drei Gefangnisse, denen er als
Ausbrecherkonig entronnen ist (die Bastilleflucht wird durch den Lichtstrahl be-
sonders hervorgehoben), im linken Hintergrund vor den stilisierten Garten von
Herrenhausen die konigliche Tafel, an der er mit der Herrscherfamilie speist. Der
Kupferstich diente als Frontispiz zu einer Gedichtsammlung iiber die Nichtigkeit
der Welt m und war mit folgendem erklarendem Text untertitelt:
Dreymahl sezt Er sich in Freyheit, doch Er meint Er sey erstfrey
Wenn Er Fursten dieser Erden sagen darfwas Warheit sey
Und noch mehr wenn Er Allein kan sein eigner Kdnig seyn.
Jean-Albert dArchambaud, comte de Bucquoy starb am 1. November 1740 in
Herrenhausen und wurde in der Krypta der katholischen Clemenskirche beige-
setzt. Ob man bei der Gestaltung des nicht erhaltenen Grabsteins auf Bucquoys
zu der Graf von Scarborug Gelegenheit gegeben, welcher sich an seinem Hochzeits-Tage mit
einem Pistolen-SchuB durch den Mund ertodtet hat. o. O. 1740.
121 Vgl. Abb. 6.
122 [Jean-Albert d'Archambaud, comte de Bucquoy], Le Tableau du Solitaire d'Herren-
hausen ou ses differents sentiment [sic] sur le neant des choses humaines. Le vers allemand
et latin uni au vers francois. Das BildniB des Einsiedlers zu Herrenhausen oder verschiedene
Gedanken desselben iiber die Nichtigkeit der Welt, [Hannover ca. 1740].
Abb. 6:
Bucquoy,
Le Tableau du Solitaire
d'Herrenhausen,
Frontispiz
Abenteurer und Bastille-Haftlinge 385
Vorschlage zuriickgriff, ist
nicht bekannt. Er hinter-
lieB der Gemeinde einen
NachlaB im Wert von
1000 Reichstalern.
J A . C . D . B
VI.
Auch wenn Bucquoy seine letzten Lebensjahre als Einsiedler von Herrenhausen rela-
tiv stationar, sozusagen als , Abenteurer im Ruhestand' verbrachte, so steht seine
Biographie doch stellvertretend fur die einer Vielzahl unbekannter oder wenig be-
achteter Gliicksritter, welche die Fiirstenhofe des 18. Jahrhunderts bevolkerten.
Andere Reprasentanten dieser Spezies wie Cagliostro oder Casanova mogen be-
reits zu Lebzeiten bekannter und als Titelhelden in Literatur und Oper in der
386 Gerd van den Heuvel
Nachwelt beriihmter geworden sein, doch auch fur die am hannoverschen Hof
nach 1700 Gestrandeten trifft die allgemeine Charakterisierung des aventurier des
18. Jahrhunderts123 zu: Er lebt ohne gesichertes Einkommen und ohne einen fe-
sten Platz in der Gesellschaft; er steht oder stand in Konflikt mit gesellschaftlichen
Normen und staatlichen Gesetzen; er ist mobil, umtriebig, stets in Bewegung, sei
es aus eigenem Antrieb, sei es als Verfolgter; er ist aufgrund seiner Sozialisation,
Bildung und Erfahrung in der Lage, sich den Erfordernissen verschiedener
Milieus anzupassen, vom Wirtshaus bis zum Fiirstenhof. Der Abenteurer ist eine
Figur „ganz oben" und „tief unten" in der Gesellschaft,124 ein Mann, dessen Cha-
raktermerkmale der Chef der Pariser Polizei in der Person des Abbe de Bucquoy
in durchaus allgemeingiiltiger Weise so beschrieb: Er wechselte seinen Stand nach
seinen Bediirfnissen und Ansichten; er war mal Offizier, mal Trappist, Seminarist, Burger
und Pilger; er warfsich sogar manchmal zum Theologen und Philosophen auf, obwohl er
nach seinem eigenen Eingestdndnis weder das eine noch das andere studiert hatte. Er ist von
einem Abenteuer zum nachsten geeilt oder, um es genauer zu sagen, von Hirngespinst zu
Hirngespinst; man kannfolglich sagen, dass seine Lebensgeschichte ein Gewebe von Gaune-
reien und Liigen ist.125
In seiner Ungebundenheit, kosmopolitischen Existenz,126 intellektuellen Flexi-
bilitat und religiosen oder moralischen Indifferenz verkorpert der Abenteurer
den Ausbruch aus den auBerlich starren Normen der hofischen Gesellschaft, die
dieses ephemere Abweichlertum noch nicht als gefahrlich, sondern als exotisch,
amiisant und unterhaltsam empfindet. Die auBergewohnliche, exaltierte und
normverletzende Rolle des Abenteurers konnte diese Gesellschaft umso leichter
akzeptieren und goutieren, als auch das Regelsystem des Hofes, die Etikette, auf
Rollenspielen beruhte und auch hier „das Sein sich im Scheinen" ausdriickte.127
„Dasein heiBt eine Rolle spielen": Was der ansassigen, hierarchisch gegliederten
Hofgesellschaft nur temporar im Karneval, in den beliebten Verkleidungen der
Wirtschaften und bei Theaterauffiihrungen gegeben war, der spielerische Rollen-
wechsel, die kurzfristige Imagination einer anderen sozialen Existenz, verkorpert
123 Vgl. Suzanne Roth, Art. Aventurier, in: Michel Delon (Hrsg.), Dictionnaire eu-
ropeen des Lumieres, Paris 2007, S. 151-153.
124 Reichel, Der Abenteurer und sein Jahrhundert, wie Anm. 96.
125 // changea.it d'etat suivant ses besoins et ses vues; il etait tantot capitaine, religieux de la Trap-
pe, seminarists, bourgeois etpelerin; ils'erigeait meme quelquefois en theologien et enphilosophe, quoi-
que, de sonpropre aveu, iln'ait jamais etudie ni I'une ni I'autre de ces sciences; il a passe d'aventure en
aventure, ou pour parler plus exactement, de chimere en chimere; ainsi, I'onpeut dire que I'histoire de sa
vie est un tissu de friponneries et de mensonges. M.-R. de Voyer dArgenson an L. Phelypeaux de
Pontchartrain, 26. Juli 1707. Vgl. Ravaisson-Mollien, Archives, wie Anm. 5, T. XI, S. 336.
126 Gerd van den Heuvel, Cosmopolite, Cosmopolitisme, in: Handbuch politisch-so-
zialer Grundbegriffe, wie Anm. 3, Heft 6, 1986, S. 41-55.
127 Reichel, Der Abenteurer und sein Jahrhundert, wie Anm. 96, S. 375.
Abenteurer und Bastille-Haftlinge 387
der Abenteurer mit seiner Biographie in Permanenz: den offenen, von Zufallen
und Rollenwechseln gepragten Lebensentwurf, die Alternative zu einem von star-
ren Umgangsformen und Eintonigkeit gepragten Alltag. Er ist Projektionsflache
und Unterhaltungsmedium einer vom Zwang zur Arbeit freigestellten, materiell
sorglos lebenden Hofgesellschaft, die der „gro6en Krankheit der Epoche, der
Langeweile",128 zu entfliehen sucht.
Der Abenteurer ist zwar eine Randfigur im fiirstlichen Machtzentrum; seine
Existenz und sein bisweilen enormer sozialer Erfolg in der Sphare des Hofes laBt
aber erkennen, dass die historische Realitat der hofischen Gesellschaft, ihr Alltag
und ihre Umgangsformen auf der Basis normativer Vorgaben der zeitgenossi-
schen Zeremonialwissenschaft129 nur unzureichend beschrieben werden kon-
nen. In der breitgefacherten neueren Forschungsliteratur zum fruhneuzeitlichen
Fiirstenhof 130 spielt das abweichende, gleichwohl akzeptierte oder gar goutierte
Sozialverhalten der aventuriers so gut wie keine Rolle. Eine starkere Beriicksichti-
gung des hofischen Alltags jenseits einer von Hofordnungen vorgegebenen und
von Etikette wie Zeremoniell bestimmten AuBendarstellung vermag hingegen
dazu beizutragen, idealtypische Beschreibungen131 des Sozialsystems Hof diffe-
renzierter zu betrachten.
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wird sich die Ein- und Wertschatzung des
Abenteurers grundlegend gewandelt haben. In seinem bekanntesten Werk Uber
den Umgang mit Menschen siedelt Adolph Freiherr Knigge den aventurierim Kapitel
Leute von allerley Lebensart und Gewerbe auf der untersten Stufe der sozialen Hier-
archie an, noch hinter den kleinen Kaufleuten, Pferdehandlem, Juden und
Bauern.132 Allerdings unterscheidet er Abenteurer von unschddlicher Art und die
eigentlichen Betriiger und Gauner. Das heraufziehende biirgerliche Zeitalter mit sei-
nen Idealen der Geradlinigkeit, Ehrlichkeit, Authentizitat und personlichen Inte-
128 Sussenberger, Abenteurer, wie Anm. 93, S. 19; Rudolf Vierhaus, Hofe und hofische
Gesellschaft in Deutschland im 17. und 18. Jahrhundert, in: Ernst Hinrichs (Hrsg.), Absolu-
tisms, Frankfurt 1986, S. 116-137, hier S. 131.
129 Vgl. Julius Bernhard von Rohr, Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschaft der grossen
Herren [1729], Ndr. der 2. Auflage Berlin 1733, hrsg. und kommentiert von Monika Schlechte,
Weinheim 1990; Ders., Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschaft der Privat-Personen [1728],
hrsg. und kommentiert von Gotthardt Fruhsorge, Weinheim 1990. Daran orientiert z. B. An-
dreas Gestrich, Absolutismus und Offentlichkeit, Gottingen 1994, S. 156-168.
130 Rainer A. Muller, Der Fiirstenhof in der friihen Neuzeit, Miinchen 1995; Klaus Ma-
LETTKE/Chantal Grell, Hofgesellschaft und Hoflinge an europaischen Furstenhofen in der
Friihen Neuzeit (15.-18. Jh.), Miinster/Hamburg/Berlin/London 2001.
131 Volker Bauer, Die hofische Gesellschaft in Deutschland von der Mitte des 17. bis
zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, Tubingen 1993.
132 Adolph Freiherr Knigge, Uber den Umgang mit Menschen [1788]. Nachwort von
Wolf Lepenies, Zurich 2000, Dritter Teil, 7. Kapitel, S. 471-480.
388 Gerd van den Heuvel
gritat vermag die schillernde Figur des Abenteurers, des gewandten und sich
nach Bedarf wandelnden, opportunistischen, nirgendwo wirklich gebunden so-
zialen Chamaleons, nicht mehr in seine Vorstellung von einer wohlgeordneten
Gesellschaft zu integrieren. Der Sturm auf die Bastille beseitigt nicht nur ein Sym-
bol absolutistischerWillkiir, ermarkiert auch das Ende einer nur scheinbarfestge-
fiigten und klar gegliederten standischen Gesellschaftsordnung, die vielfaltiger,
bunter und in mancher Hinsicht auch offener war, als man bisweilen annimmt.
Die Industrialisierung des Konigreichs Hannover
in der offentlichen Debatte urn
die Gewerbereform
Von Daniel Mohr
Geht es um den ProzeB der Industrialisierung im Konigreich Hannover, so setzt
die einschlagige Literatur dreierlei meist als selbstverstandlich voraus:
1) Die Wirtschaftsstruktur dieses Staates sei iiberwiegend agrarisch und dieser in
seiner Entwicklung deshalb ruckstandig gewesen.
2) Die verschiedenen hannoverschen Regierungen hatten vorzugsweise den
Ackerbau gefordert, eine Modernisierung der Gewerbe oder gar Industriali-
sierung des Landes hingegen hatten sie nicht gewollt.
3) Auch in der offentlichen Meinung habe die Auffassung vorgeherrscht, Han-
nover sei ein Agrarland und miisse das auch in Zukunft bleiben.
Im folgenden soil deutlich werden, daB diese Thesen1 teils nicht zutreffen, teils
stark zu relativieren sind. Mittelpunkt der Untersuchung ist die offentliche Dis-
kussion um die Gewerbeverfassung. Es geht allerdings nicht darum, diese voll-
standig und ausfiihrlich nachzuzeichnen, sie fungiert vielmehr als Bindeglied zwi-
schen den oben genannten Fragestellungen.
1) Die wirtschaftliche Struktur des von 1815 bis 1866 bestehenden Konigreichs
ist bis heute nur liickenhaft erforscht. Das diirfte vor allem an der Unzulanglich-
keit des zeitgenossischen statistischen Materials liegen.2 In diesem ist zwar von
1 Dezidiert vertritt sie z.B. Heide Barmeyer. Ihre Begriindungen sind allerdings in vieler
Hinsicht unzureichend. So erfahrt man zwar, daB der hannoversche Gewerbeverein sich um
die Modernisierung der hannoverschen Gewerbe und somit letztlich auch um die Industriali-
sierung bemiihte, nicht aber, daB dieser Verein von der Regierung gelenkt und zu einem guten
Teil finanziert wurde. Auch negiert Barmeyer publizistische Beitrage, deren Verfasser schon
friih dafur eintraten, die Industrialisierung des Konigreichs Hannover zu fordern. Siehe Heide
Barmeyer, Gewerbefreiheit oder Zunftbindung? Hannover an der Schwelle des Industrie-
zeitalters, in: Niedersachsisches Jahrbuch fur Landesgeschichte 46/47, 1974/75, S. 231-262,
S. 232-234.
2 Erwahnenswert sind F.W.O. Freiherr von Reden, Das Konigreich Hannover statistisch
390 Daniel Mohr
Handwerksbetrieben und Fabriken die Rede, nirgends wird aber klar zwischen
beidem differenziert. Fur lange Zeitraume liegen iiberdies gar keine Zahlen vor.
Ein weiteres Informationsdefizit ergibt sich daraus, daB die Akten des fur Gewer-
beangelegenheiten zustandigen hannoverschen Innenministeriums im Zweiten
Weltkrieg zerstort worden sind. Neuere, wissenschaftlichen Anspriichen genii-
gende Studien beschranken sich durchweg auf einzelne Orte und zudem haufig
auf spezielle Fragestellungen. So geht es in Wieland Sachses Beitrag iiber Got-
tingen3 vornehmlich um die Bevolkerungsentwicklung und weniger um wirt-
schaftiiche Strukturen. Uber diesen „Umweg" bestatigt sich allerdings, daB
Gottingen selbst in der Spatzeit des Konigreichs alles andere als eine Industrie-
stadt war. Noch 1860, das weist Sachse anhand von Einwohner- und Steuerlisten
nach, hatte die Universitatsstadt eine weitgehend friihneuzeitliche Bevolke-
rungsstruktur. Auch die iibrigen Forschungsbeitrage bestatigen den iiberwiegend
agrarischen Charakter der hannoverschen Wirtschaft. Eine groBere Anzahl von
Fabriken entstand nur an wenigen Orten, namentlich in der Landeshauptstadt
und in Osnabriick, im Handwerk dominierte noch lange der traditionell arbeiten-
de Kleinbetrieb.4
Die meisten deutschen Staaten waren im fraglichen Zeitraum aber auf einem
vergleichbaren wirtschaftlichen Entwicklungsstand, weshalb es unangemessen
ist, von einer besonderen Riickstandigkeit Hannovers zu sprechen.5 Hinzu
beschrieben, zunachst in Beziehung auf Landwirthschaft, Gewerbe und Handel, 1. Abthei-
lung: Bodenbeschaffenheit, Landwirthschaft, Gewerbtatigkeit, Hannover 1839 sowie N. N.,
Zur Statistik des Konigreichs Hannover, Zehntes Heft, Gewerbestatistik 1861, Hannover
1864.
3 Wieland Sachse, Zur Sozialstruktur Gottingens im 18. und 19. Jahrhundert, in: Nieder-
sachsisches Jahrbuch fur Landesgeschichte 58, 1986, S. 27-54.
4 Klaus Assmann, Zustand und Entwicklung des stadtischen Handwerks in der ersten
Halfte des 19. Jahrhunderts, dargestellt am Beispiel der Stadte Liineburg, Celle, Gottingen
und Duderstadt, Gottingen 1971, S. 75-89; Ulrich Hagenah, Landliche Gesellschaft im Wan-
del zwischen 1750 und 1850 - das Beispiel Hannover, in: Niedersachsisches Jahrbuch fur
Landesgeschichte 57, 1985, S. 161-206, S. 192-194; Johannes Laufer, Zwischen Heimgewer-
be und Fabrik. Der Strukturwandel im Textilgewerbe im sudlichen Niedersachsen im 19.
Jahrhundert, in: Niedersachsisches Jahrbuch fur Landesgeschichte 71, 1999, S. 201-222. Die
einzige Stadt, die schon bei der Griindung des Konigreichs industriell gepragt war ist Oste-
rode. Siehe hierzu Michael Mende, Bereits vor 1800 . . . als eigentliche Fabrikstadt zu be-
trachten: Osterodes Sonderrolle in der Industrialisierung Hannovers, in: Niedersachsisches
Jahrbuch fur Landesgeschichte Niedersachsisches Jahrbuch fur Landesgeschichte 66, 1994,
S. 105-127.
5 Sabine Barnowski-Fecht, Das Handwerk der Stadt Oldenburg zwischen Zunftbin-
dung und Gewerbefreiheit (1731-1861), Oldenburg 2001 sowie Ulrich Moker, Nordhessen
im Zeitalter der Industriellen Revolution, Koln/Wien 1977. Ein Uberblick iiber die Entwick-
lung" in ganz Deutschland findet sich bei Reinhard Rurup, Deutsche Geschichte im 19. Jahr-
hundert. 1815-1871, Gottingen 1984, S. 60-109.
Die Industrialisierung des Konigreichs Hannover 391
kommt, daB auch im Konigreich friihzeitig Strukturen geschaffen wurden, welche
fiir die spatere industrielle Entwicklung von Bedeutung waren. Zu nennen sind
hier insbesondere die Erweiterung des StraBennetzes sowie der Bau der ersten Ei-
senbahnlinien.6 Seit 1850 nahm die Anzahl der Fabriken auBerdem merklich zu,
wenngleich der Anteil der dort beschaftigten Personen im Verhaltnis zur Gesamt-
heit der Erwerbstatigen gering blieb.7
2) Im Kurfiirstentum Hannover sowie in den iibrigen Teilen des spateren Konig-
reichs8 war das Handwerk, wie iiberall im alten Reich, ziinftig organisiert gewe-
sen. Mit der franzosischen Besatzung fand diese Gewerbeverfassung ein abruptes
Ende. In Hildesheim, Osnabriick und Ostfriesland losten die neuen Machthaber
die Ziinfte auf, in Hannover blieben sie zwar formell bestehen, die Mitgliedschaft
in einer Zunft war aber nicht mehr Voraussetzung fiir die Niederlassung als Hand-
werker.9 Diese Gewerbefreiheit war allerdings nur von kurzer Dauer. Nachdem
1813 die Besatzung zu Ende gegangen und das Konigreich Hannover gegriindet
worden war, hob die neue eingesetzte Regierung schon nach einem Monat das so-
genannte Patentsteuergesetz auf, die Rechtsgrundlage fiir die erst wenige Jahre
bestehende Gewerbefreiheit.10
Auf dem Gebiet des ehemaligen Kurfiirstentums bestand alte Zunftwesen da-
mit weiterhin. In Hildesheim, Osnabriick und Ostfriesland stellte man es 1817
bzw. 1819 per ErlaB wieder her. Diese Erlasse, die sogenannten Wiederherstel-
lungsedikte, erneuerten iiber weite Strecken den alten Rechtszustand, gewahrten
den Handwerkern bzw. ihren Kunden an zwei Stellen aber mehr Freiheit. Zum ei-
nem hoben sie samtliche Beschrankungen der Gesellenzahl pro Betrieb auf, zum
anderen erlaubten sie jedem ziinftigen Meister, seine Waren und Dienstleistun-
gen auch auBerhalb des Zunftbezirks anzubieten. Handwerker, welche sich wah-
rend der Besatzungszeit gegen die bloBe Zahlung einer Gebiihr niedergelassen
hatten (sog. Patentmeister), durften ihr Gewerbe weiterfiihren, jedoch unter er-
heblichen Einschrankungen. Bestand am Wohnort fiir ihr Handwerk eine Zunft,
6 Ernst Schubert, Die Veranderung eines Konigreichs, in: Bernd Ulrich Hucker/Ernst
ScHUBERT/Bernd Weisbrod (Hrsg.), Niedersachsische Geschichte, Gottingen 1993, S. 374-
386.
7 Jorg Jeschke, Gewerberecht und Handwerkswirtschaft des Konigreichs Hannover im
Ubergang 1815-1866, Gottingen 1977, S. 304-310.
8 Bei diesen handelte es sich um die Bistiimer Hildesheim und Osnabriick sowie um
Ostfriesland, das bis 1807 zu PreuBen gehort hatte. Das Kurfiirstentum Hannover wurde
1807 bzw. 1809 dem Konigreich Westfalen angegliedert.
9 Jeschke, wie Anm.7, S. 29-31.
10 Daniel Mohr, Auseinandersetzungen um Gewerbereformen und um die Einfuhrung
der Gewerbefreiheit im Konigreich Hannover, Gottingen 2001 (http.://webdoc. sub. gwdg.
de./diss/2002/mohr), S. 29 sowie 70-71.
392 Daniel Mohr
so muBten sie dieser in Osnabriick und Ostfriesland (allerdings unter erleichter-
ten Bedingungen) beitreten, in Hildesheim konnten sie es.n Die Wiederherstel-
lung des Zunftwesens im neu gegriindeten Konigreich war ein Akt konservativer
Politik. Man restaurierte weitgehend den alten Rechtszustand, trug aber den wah-
rend der Besatzung geschaffenen Fakten Rechnung und liberalisierte die Gewer-
beverfassung auch dariiber hinaus ein wenig. Mit einer grundlegenden Reform
hatte das nichts zu tun, diese war offenbar aber auch noch nicht beabsichtigt.
Gar keine Erwahnung in den Edikten findet das Fabrikwesen. Hier blieb es im
ganzen Konigreich noch lange bei der alten Rechtspraxis, wonach der Betrieb ei-
ner Fabrik an eine Konzession gebunden war. Das ergab sich daraus, daB das alte
hannoversche Gewerberecht diese Betriebsform nicht gekannt hatte, sie mithin
aus dem gegebenen rechtlichen Rahmen fiel. Folge war, daB es keine allgemein
verbindlichen Richtlinien fur die Zulassung von Fabriken gab und die Behorden
hierbei uneinheitlich und haufig willkiirlich verfuhren. Wurde das Gesuch um ei-
ne Konzession verweigert, so ging es durchweg um den Schutz ziinftiger Privilegi-
en. Kaum strittig hingegen waren die Falle, wo die geplante Fabrik mit einem un-
ziinftigen Gewerbe konkurrierte oder es um eine vollig neue Art von Produkten
ging. Im anderen Fall fragten die zustandigen Behorden (die Landdrosteien sowie
das Innenministerium) zum einen, ob die Verdienstmoglichkeiten des betreffen-
den Handwerks im Falle einer Fabrikgriindung wirklich beeintrachtigt wiirden,
zum anderen, inwieweit in der geplanten Fabrik tatsachlich ziinftige Arbeiten ver-
richtet werden sollten.12
Bei dieser Politik blieb es bis zum Beginn der 1830erjahre. Eine 1830 im Ent-
wurf vorgelegte Gewerbeordnung13 hatte die geschilderte Zulassungspraxis ge-
setzlich festgeschrieben und auch sonst nur das schon lange geltende Recht besta-
tigt. So sollte das Landhandwerk14 weiterhin streng beschrankt bleiben, auch die
Moglichkeit von Zunftschliissen 15 wollte man beibehalten. Nur einjahr nach Vor-
11 Zum Inhalt der Wiederherstellungsedikte ebd., S. 71-87.
12 Jeschke, wie Anm. 6, S. 18-27 sowie Mohr, wie Anm. 10, S. 117.
13 Dieser Referentenentwurf wurde den Landdrosteien vorgelegt, die ihn zur Begutach-
tung an die Magistrate der Stadte weiterleiteten. Niemals aber entstand eine iiberarbeitete
Version, die man der Standeversammlung zur Diskussion bzw. BeschluBfassung vorgelegt
hatte. Genaueres sowohl zum Inhalt des Entwurfs als auch zum gescheiterten Gesetzge-
bungsverfahren ebd., wie Anm. 10, S. 87-98.
14 In den meisten Gebieten des Konigreichs Hannover unterlag das Landhandwerk
weitgehenden Beschrankungen. Die im 17. und 18. Jahrhundert erlassenen Gesetze erlaub-
ten nur den Handwerkern die Niederlassung auflerhalb der Stadte, deren Waren und Dienst-
leistungen die Landbewohner unbedingt vor Ort brauchten. Ebd., wie Anm. 10, S. 20-22.
15 „ZunftschluB" besagte, daB eine Zunft nur eine bestimmte Anzahl von Mitgliedern
aufnehmen brauchte. Im Konigreich Hannover war dies eher selten der Fall. Auch handelte
Die Industrialisierung des Konigreichs Hannover 393
lage bzw. Scheitern des Entwurfs nahm die hannoversche Gewerbepolitikaberei-
ne entscheidende Wende. Der neue Innenministerjohann Caspar von der Wisch
(im Amt von 1831 bis 1848) machte sich daran, das Gewerberecht behutsam zu
vereinheidichen und zu modernisieren. So bestimmten die Landdrosteien fur je-
des Handwerk ein einheitiiches Meisterstiick und legten zudem verbindliche Re-
geln fiir die Durchfiihrung der Meisterpriifung fest. Erstmals iiberhaupt einge-
fiihrt wurde eine obligatorische Gesellenpriifung. Wo bereits Gewerbeschulen
(Vorlaufer der spateren Berufsschulen) bestanden, verpflichtete die Landdrostei
Liineburg jeden Lehrling zum Besuch derselben.16 Auch der Gewerbebetrieb in
den Flecken fand 1840 zumindest in den Landdrosteien Hannover und Liineburg
eine einheitliche Regelung. War es bisher in vielen Fallen unklar gewesen, ob die
in den Flecken ansassigen Handwerker als Land- oder Stadthandwerker anzuse-
hen seien, so wurden sie in den oben genannten Bezirken nunmehr den stadti-
schen gleichgestellt. Wer in einem Flecken das Gemeinderecht erworben hatte,
war bei der Gewerbeausiibung somit von alien Beschrankungen frei, die einem
Landbewohner hierbei auferlegt waren.17
Fiir die industrielle Entwicklung diirften die bisher geschilderten MaBnahmen
von eher geringer Bedeutung gewesen sein. Sie sollten Rechtssicherheit schaffen
bzw. die Kenntnisse und Fahigkeiten der traditionell ziinftig arbeitenden Hand-
werker verbessern. Spatestens ab 1833 unterstutzte die hannoversche Regierung
aber auch diejenigen, welche auBerhalb des traditionellen Rahmens gewerblich
tatig werden wollten. Auf Initiative der Regierung wurde in diesem Jahr ein Ge-
werbeverein18 gegriindet. Seine Aufgaben bestanden nach dem Griindungsmit-
glied Karl Karmarsch vor allem in der Forderung der technischen Innovation,
was z. B. durch die Anschaffung und Sammlung von Musterexemplaren bewdhrter Ma-
schinen, Werkzeuge und Produkte ausldndischer Fabriken, Pramierung hervorragender ge-
werblicher Leistungen, Preisausschreibungen zur Forderung von Erfindungen, [. . .] und
Vergabe von Reisestipendien sowie Darlehen zur Betriebsgrundung19 geschehen sollte.
Ein nach der traditionellen, im jeweiligen Zunftbrief festgelegten Art arbeitender
Handwerker diirfte sich durch dieses Programm kaum angesprochen gefiihlt ha-
es sich in den meisten Fallen nicht um ein dauerhaft verliehenes Privileg, sondern um eine
voriibergehende VerwaltungsmaBnahme. Mohr, wie Anm. 10, S. 43-44.
16 Naheres zu Einrichtung, Organisation und Effizienz der Gewerbeschulen bei
Jeschke, wie Anm. 7, S. 190-200.
17 Zu den Veranderungen im Gewerberecht 1831-1846 siehe Mohr, wie Anm. 10, S. 81-87.
18 Jeschke, wie Anm. 7, S. 170-177, sowie Mohr, wie Anm. 10, S. 100-103. Die Akten des
bis 1940 bestehenden Vereins sind nicht erhalten, so daB seine Geschichte nur luckenhaft
geschrieben werden kann.
19 Vgl. Karl Karmarsch, Die deutschen Gewerbsvereine, in: Deutsche Vierteljahres-
schrift, 1840, 4. Heft, S. 286ff. Zitiert nach Jeschke, wie Anm. 7, S. 174.
394 Daniel Mohr
ben. Der Verein forderte aber auch die gerade erwahnten Gewerbeschulen. Au-
Berdem konnten sich ihm die lokalen Gewerbevereine anschlieBen, deren Mit-
glieder iiberwiegend Handwerker waren. Fiir sie gab er sogar eine eigene Zeit-
schrift {Monatsblatt des Gewerbevereins) heraus, die iiber technische Neuerungen
informierte. Das Blatt war eine Erganzung zu den Mittheilungen des Gewerbevereins
fiir das Kdnigreich Hannover, welche einen hoheren Kenntnisstand voraussetzten.
Der Gewerbeverein wollte die industrielle Entwicklung also auf zweierlei Weise
fordern. Erstens unterstiitzte erjeden, derunmittelbar die Griindung einerFabrik
oder eines vergleichbaren Betriebes plante. Zweitens ging es ihm um die Mo-
dernisierung der handwerklichen Arbeit. Letzteres konnte langerfristig zur Folge
haben, daB viele Meister die traditionelle Handarbeit aufgaben und durch ma-
schinelle Produktion ersetzten. Wer das aber tat, gait schnell nicht mehr als Hand-
werker, sondern als Fabrikant.
Spatestens seit Beginn der 1830er Jahre forderte die hannoversche Regierung
also nicht mehr nur den Ackerbau, sondern auch das Handwerk sowie die noch in
den Anfangen steckende Fabrikindustrie. Zu einer gesetzlichen Regelung der Zu-
lassung von Fabriken kam man jedoch erst Jahre spater, namlich am 1. Juli 1848.
An diesem Tag trat die Gewerbeordnung in Kraft,20 welche die gewerberechtli-
chen Verhaltnisse im Konigreich endlich halbwegs vereinheitlichte.21 MaBgebli-
che Quellen des hannoverschen Gewerberechts waren bisher die Zunftbriefe, die
von Ortsobrigkeiten und Landdrosteien erlassenen Vorschriften sowie das Ge-
wohnheitsrecht gewesen. Zwar griff das neue Gesetz nur behutsam in die lokalen
und regionalen Rechtsverhaltnisse ein, schuf aber doch einheitliche Rahmenbe-
dingungen. So gab es in den Landdrosteibezirken Osnabriick und Stade keine
Beschrankungen des Landhandwerks, in den anderen gingen diese unterschied-
lich weit. Die Paragraphen 196 und 198 der Gewerbeordnung legten nun fest, daB
die Vertreter der gangigsten Handwerke sich auf dem Land kiinftig frei niederlas-
sen durften, die iibrigen hingegen konzessionspflichtig blieben. Letzteres gait
jedoch nicht fiir die Landdrosteibezirke Osnabriick und Stade, in denen die land-
liche Gewerbefreiheit bestehen blieb (§ 210). Die Paragraphen 222-224, welche
alle Handelsbeschrankungen fiir Handwerksprodukte aufhoben, wurden kurz
vor Inkrafttreten der Gewerbeordnung suspendiert, nachdem sich seitens des
ziinftigen Handwerks massiver Widerstand dagegen geregt hatte. Obwohl diese
Beschrankungen entweder gar nicht mehr bestanden oder faktisch unwirksam
20 Zur Vorgeschichte dieser Gewerbeordnung sowie zu den teilweise heftigen Auseinan-
dersetzungen, welche von der Vorlage des Entwurfs am 24.2.1846 bis zum Inkrafttreten iiber
zwei Jahre spater um sie gefiihrt wurden, siehe Mohr, wie Anm. 10, S. 104-149.
21 Gewerbe-Ordnung vom 1. August 1847, in: Sammlung der Gesetze, Verordnungen
und Ausschreiben fiir das Konigreich Hannover, Hannover, 1848, 1. Abt., Nr. 46, S. 215-257.
Die Industrialisierung des Konigreichs Hannover 395
waren,22 hielt die Mehrheit der stadtischen Handwerker damals verbissen an ih-
nen fest.23
Eine fur das ganze Konigreich einheitliche Regelung brachte die Gewerbeord-
nung fur das Fabrikwesen. Zunachst die entsprechenden Paragraphen im Wort-
laut:
§ 190. Die Regel des freien Gewerbebetriebes in den Stddten nach ndherer Bestimmung
des §782 gilt auch von Fabriken.
§ 797. Sollen in derFabrik Waaren erzeugt werden, ZM deren Verfertigung eine Zunft in
der Stadt ausschliefilich befugt ist, so muJS der Unternehmer Mitglied der Zunft sein oder
werden.
§ 792. Kann der Unternehmer wegen mangelnder Erfordernisse nicht Mitglied der Zunft
werden, oder greift das Unternehmen in die Gewerberechte mehrerer Ziinfte ein, so kann die
Erlaubnifi zur Fabrikanlage nach Anhorung der betreffenden Ziinfte unter angemessenen
Bedingungen von der Obrigkeit ertheilt werden. Die Erlaubnifi ist nicht zu versagen, wenn
die Obrigkeit, nach eingezogenen Gutachten von Sachverstandigen, sich iiberzeugt, daf> der
beabsichtigte fabrikmdfige Betrieb sich vom Handwerksbetriebe wesentlich unterscheidet.
§ 793. Die Beschrdnkungen der beiden vorhergehenden §§. gelten nicht, wenn der Unter-
nehmer die Erzeugnisse der Fabrik nur im Grofhandel (§277) verkauft.
§ 794. Sie gelten ferner dann nicht, wenn der Fabrikunternehmer nur zunftige Meister be-
schdftigt.24
Auch hier bestatigte die Gewerbeordnung weitgehend die bisherige Rechts-
praxis: Man wollte die Anlage von Fabriken grundsatzlich fordern, sofern keine
ziinftigen Privilegien beriihrt waren. Paragraph 192 schloss willkiirliche Ent-
scheidungen zwar nicht aus, die gesetzliche Regelung diirfte aber fur erheblich
mehr Rechtssicherheit gesorgt haben.
Bei dieser Rechtslage blieb es bis 1867, dem Jahr, in welchem PreuBen in der
(nunmehrigen) Provinz Hannover die Gewerbefreiheit einfiihrte. Zwei Gesetzent-
wiirfe, welche das Anderungsgesetz von 1848 aufheben und die Gewerbeverfas-
22 Belege hierfiir beijESCHKE, wie Anm. 7, S. 118-124 sowie W. Heinrichs (Hrsg.), Die
Gewerbeordnung fur das Konigreich Hannover, Hannover 1853, S. 18-20.
23 Die Suspension erfolgte durch ein sogenanntes Anderungsgesetz, das am 15.7.1848 in
Kraft trat. Es betraf noch zahlreiche andere Bestimmungen, insbesondere die, welche die
Verfassung der Ziinfte regeln sollten. Hintergrund des ziinftigen Protestes, dem sich zahlrei-
che Standevertreter anschlossen, war die 48er - Revolution. Wahrend dieser konstituierte
sich erstmals eine gesamtdeutsche Handwerkerbewegung, die sich unter anderem dem
Kampf gegen alle gewerbefreiheitlichen Tendenzen zum Ziel machte. In diesem Sinne inter-
pretierte man auch Teile derhannoverschen Gewerbeordnung. Bis zum Ausbruch der Revo-
lution hatte es zwar auch Widerspruch gegeben, dieser hatte sich jedoch in Grenzen gehal-
ten. Siehe Mohr, wie Anm. 10, S. 123-149.
24 Vgl. Gewerbe-Ordnung, wie Anm. 21.
396 Daniel Mohr
sung auch dariiber hinaus liberalisieren sollten, kamen zwar in der Standever-
sammlung zur Beratung, erlangten aber nie Gesetzeskraft. Der erste aus dem Jahr
1858 sah neben der Aufhebung des Anderungsgesetzes auch die vollstandige Frei-
gabe des Landhandwerks vor, wollte andererseits die Griindung bestimmter Fa-
briken aberwieder vom Erwerb einerKonzession abhangig machen. Auch sollten
die Behorden kiinftig von sehr vielen Bestimmungen der Gewerbeordnung (z.B.
auch von Meisterstiickund Zunftzwang) dispensieren konnen. Warum dieses Vor-
haben scheiterte, ist anhand der iiberlieferten Dokumente nicht eindeutig nachzu-
vollziehen, hangt zweifelsohne aber mit der Kritik zusammen, welche der Entwurf
nach seiner Veroffentlichung von alien Seiten erfuhr. Vorallem die geplante Aus-
weitung derbehordlichen Befugnisse stieB sowohl bei zunftigen Handwerkern als
auch bei Befiirwortern der Gewerbefreiheit auf Ablehnung.25 Der zweite, der
Standeversammlung im April 1866 vorgelegte, Entwurf sah eine Aufhebung des
Zunftzwanges vor, wollte die Ziinfte als Institutionen aber nicht nur erhalten, son-
dern fordern. Insbesondere sollten sich auch diejenigen, welche der Zunft ihres
Gewerbes fernblieben, an der Finanzierung bestimmter ziinftiger Aufgaben betei-
ligen. Ein stadtischer Handwerker hatte zudem spatestens drei Jahre nach seiner
Niederlassung das Biirgerrecht erwerben miissen. Bevor dieser Entwurf jedoch
Gesetz werden konnte, horte das Konigreich Hannover auf als Staat zu existie-
ren.26 Ein knappes Jahr spater erlieB die preuBische Regierung eine Verordnung,
welche den Zunftzwang ohne jede Einschrankung aufhob.27
Zunachst betrieb Hannover also eine betont konservative Gewerbepolitik, de-
ren Ziel der Erhalt der agrarischen und kleingewerblichen Struktur des Landes
war. 1831 erfolgte ein Paradigmenwechsel: Ziel war nun die Vereinheitlichung
und behutsame Liberalisierung der Gewerbeverfassung, die Modernisierung und
Verbesserung der handwerklichen Ausbildung sowie die Hebung des techni-
schen Entwicklungsstandes. Letzteres implizierte auch, daB man Fabriken nicht
nur im Einzelfall erlaubte, sondern deren Entstehung grundsatzlich forderte.
Ordnungsrahmen fiir die Entfaltung der hannoverschen Gewerbe blieb aber die
Zunftverfassung. Ob und inwieweit die seit 1850 haufiger zu beobachtenden Fa-
brikgriindungen eine Folge dieser Politik waren, ist mangels aussagekraftiger
Quellen nicht nachvollziehbar.28
25 Zum Entwurf von 1858 sowie den darum gefiihrten Auseinandersetzungen siehe
Mohr, wie Anm. 10, S. 164-187.
26 Zum Entwurf von 1866 ebd., S. 201-217.
27 Ebd. S. 220-221.
28 Insbesondere sind die Akten des Gewerbevereins nicht erhalten (Anm. 18).
Die Industrialisierung des Konigreichs Hannover 397
3) Bereits im lS.Jahrhundert hatte es eine umfangreiche Publizistik zum Thema
„Ziinfte" gegeben.29 Gegangen war es in dieser vor allem um zwei Themen: Er-
stens um den allgemeinen Nutzen oder Schaden der Handwerkerkorporationen,
zweitens um die beidiesen aus staatlicher Sicht eingerissenen MiBbrauche.30 Die
meisten Verfasser sprachen sich fur den Erhalt der Ziinfte aus, weil sie in ihnen ei-
nen Garant fur gute handwerkliche Ausbildung und iiberdies einen wichtigen
Ordnungsfaktor sahen. Gleichzeitig wurde jedoch die Abstellung der besagten
MiBbrauche angemahnt. Andere forderten die Aufhebung der Ziinfte, weil sie
diese zum einen (im Hinblick auf die MiBbrauche) nicht fur reformierbar hielten,
zum anderen, weil sie sich von der dann unbegrenzten Konkurrenz eine Verbes-
serung der handwerklichen Arbeit erhofften. Wie in ganz Deutschland, so setzte
sich diese Diskussion im 19. Jahrhundert auch im Konigreich Hannover fort. Im
Kern stritt man immer noch darum, ob die Ziinfte aufzuheben, zu reformieren
oder unverandert beizubehalten seien. Hinzu kamen jedoch andere Fragen, wie
z.B. die des landlichen Handwerks und des Heimatrechts.31 Die Industrialisie-
rung wurde nur in wenigen Beitragen behandelt.
Nur ein Verfasser war, soweit es um Hannover ging, rundweg dagegen. Karl
Hansemann, ein Pastor aus der Landeshauptstadt, schrieb wortlich: Dafi unser
durchso viele Umstandevorzugsweiseaufdie Cultur des Bodens angewiesenes Vaterlandje-
mals ein bedeutender Fabrikstaat werde, ist nicht zu erwarten, auch wohl nicht zu wiin-
schen32 Die Bewohner von Industriestaaten seien sehr abhangig von der Konjunk-
tur, auBerdem wiirden dort Ausbildung und sittliche Erziehung der Jugend zu
kurz kommen.33 Auch der Verwaltungsbeamte August Petersen schatzte den
volkswirtschaftlichen Nutzen von Fabriken und Manufakturen nicht allzu hoch
ein.34 Ihn interessierte vor allem, ob neue Betriebsformen dem Staat zusatzliche
29 Siehe hierzu Mohr, wie Anm. 10, S. 29-34.
30 Zu diesen MiBbrauchen zahlten Gesetzgeber und Publizisten z.B. den in sehr vielen
Zunften iiblichen Brauch, die Kinder von Angehorigen bestimmter Berufsgruppen (Z.B.
Abdecker und Bader) nicht als Lehrlinge anzunehmen. Ebenso das Schimpfen oder Schel-
ten, was bedeutete, daB eine Zunft ihren Mitgliedern jeden Umgang mit einem Handwerker
(er mochte aus der eigenen oder einer anderen Zunft sein) verbot. Hintergrund war mei-
stens, daB man diesem irgendein unehrenhaftes Verhalten vorwarf. Zu den seit 1530 im
Reich und seinen Territorialstaaten erlassenen Gesetzen gegen die ZunftmiBbrauche ebd.,
S. 22-29.
31 Das fur die Ziinfte entscheidende Privileg war der sogenannte Zunftzwang, nach dem
das jeweilige Handwerk innerhalb der Stadtgrenzen nur von Zunftmitgliedern ausgeiibt wer-
den durfte. Der Eintritt in die Zunft wiederum setzte den Erwerb des fur Ortsfremde Perso-
nen meist kostspieligen Biirgerrechts voraus.
32 Vgl. Karl Hansemann, Gedanken iiber Belebung inlandischer Gewerbe, in: Hanno-
versches Magazin 1834, S. 240ff., S. 259.
33 Ebd. S. 259-260.
34 August Petersen, Beantwortung der jetzt wichtigen Frage, ob und wie dem Land-
398 Daniel Mohr
Steuereinnahmen brachten und als politisch erwiinscht eingeschatzt werden
konnten. Immerhin lobte Petersen das preuBische Fabrikwesen und stellte klar,
daB er auch das des Konigreichs Hannover fiir entwicklungsfahig und erweiterbar
hielt. Dies setze aber beispielsweise die Verbesserung der Transportmoglichkei-
ten, den Zugang zu den notwendigen Rohstoffen sowie zinsgiinstige Kredite fiir
Untemehmensgriinder voraus. Nur wo diese und andere Voraussetzungen erfiillt
seien, diirfe der Staat entsprechende Genehmigungen erteilen.35
Petersen beurteilte die Industrialisierung also immerhin vorsichtig optimi-
stisch, verkannte dabei allerdings vollig die diesem ProzeB innewohnende Eigen-
dynamik. Der Gottinger Rechtsprofessor Ferdinand Oesterley erahnte diese im-
merhin. Bei Aufhebung der Ziinfte befiirchtete er zwar ein Uberhandnehmen der
Fabriken in der Produktion. Andererseits raumte er aber ein, daB sie vielfach in
der Lage seien, Dinge schneller, billiger und gleichzeitig besser herzustellen. Un-
bedingt forderungswiirdig waren daher Fabriken, die mit keinem der ziinftigen
Handwerke konkurrierten. Doch auch wo dies der Fall war, stand der Verfasser
dem Verbot von Fabrikgriindungen ausgesprochen skeptisch gegeniiber. Ein sol-
ches sei z.B. sinnlos, wenn ein Handwerk an einem Ort auch ohne die Konkur-
renz einer Fabrik keine reelle Uberlebenschance habe oderwenn die produzierte
Ware gar nicht fiir den Absatz in der naheren Umgebung bestimmt sei. Uberdies
komme es haufig vor, daB ein Fabrikant nur am Anfang mit einer Zunft konkurrie-
re, dann aberzurHerstellung andererGegenstande iiberginge.36 Oesterley sah al-
so, modern gesprochen, nicht nur die Risiken, sondern auch die Chancen des Fa-
brikwesens.
Eindeutig positiv beurteilte Eduard Weinlig, ein Rechtsanwalt aus Soltau, die
Industrialisierung. Vehement widersprach er der nach wie vor verbreiteten Auf-
fassung, Hannover sei ausschlieBlich oder ganz iiberwiegend ein Agrarland. Mit
seiner Infrastruktur (Reichtum an Rohstoffen, giinstige geographische Lage fiir
Handelsverkehr, gut ausgebaute Verkehrswege) erfiille das Konigreich vielmehr
alle Voraussetzungen fiir die Entwicklung zu einer Industrieregion. Dies sei sogar
notwendig, weil nur so die Entstehung bzw. das Anwachsen von Armut zu verhin-
dern sei. Der bisherige Mangel an industriell produzierenden Betrieben habe
baue, den technischen Gewerben und dem Handel mehrere Freiheiten zu geben und dieses
mit den mannigfachen Verhaltnissen im innern Staatsleben zu vereinigen ist? in besonderer
Beziehung auf das Konigreich Hannover, Gottingen 1831, S. 165-166.
35 Ebd. S. 172. Die gleichen Schwierigkeiten sah auch Gustav von Gulich, Ueber den
gegenwartigen Zustand des Ackerbaus, des Handels und der Gewerbe im Konigreiche Han-
nover, Hannover 1827, S. 82-103. Nach seinen Vorstellungen sollte sich der Staat abermassiv
fiir den Ausbau des Fabrikwesens einsetzen.
36 Ferdinand Oesterley, Ist es rathsam, die Zunftverfassung aufzuheben? Gottingen
1833, S. 3-91 sowie S. 131-135.
Die Industrialisierung des Konigreichs Hannover 399
namlich zweierlei zur Folge: Erstens miisse das Konigreich Hannover immer
mehr Waren aus dem Ausland importieren, ohne dort andererseits seine Agrar-
produkte in nennenswertem Umfang absetzen zu konnen.37 Zweitens sah Weinlig
die Gefahr der wachsenden Landarmut angesichts stagnierender Beschaftigungs-
moglichkeiten in der Landwirtschaft.38 DaB die Industrialisierung bisher weit hun-
ter ihren Moglichkeiten zuriicklag, fiihrte er vor allem auf die bestehende Gewer-
beverfassung zuriick. Diese erschwere jungen Handwerkern die Niederlassung
auf unverantwortliche Weise. Auch wenn kein ZunftschluB bestehe, wiirden Ziinf-
te und stadtische Obrigkeiten die Anzahl der Meister oft nach Gutdiinken klein
halten. Unerwunschten Bewerbern verweigere man dann einfach die Erteilung
des fur eine Betriebsgriindung zwingend erforderlichen Biirgerrechts. Beides ver-
urteilte Weinlig scharf. Er wo lite zwar, wie auch Oesterley und Petersen, den ziinf-
tigen Ausbildungsgang erhalten wissen, eine Begrenzung der Meisterzahl pro
Handwerk und Ort jedoch hielt er fur iiberfliissig und schadlich. Erst der Abbau
traditioneller Konkurrenzbeschrankungen sporne die Handwerker an, ihre Pro-
duktion entsprechend den jeweiligen Moglichkeiten zu modernisieren und ggf.
auf industrielle Produktion umzustellen.39
Nach 1848 veranderte sich die Diskussion iiber die Ziinfte dann grundlegend.
Insbesondere spielten das Landhandwerk und die MiBbrauche keine Rolle mehr.
Man konzentrierte sich vielmehr auf das Verhaltnis zwischen Handwerk und In-
dustrie, stellte insbesondere die Frage, ob eine Organisationsform wie das Zunft-
wesen angesichts des rasant fortschreitenden Fabrikwesens iiberhaupt noch zeit-
gemaB sein konnte. Auch wurde jetzt viel starker als vorherBezug auf die jeweils
aktuelle Politik genommen. SchlieBlich mischten sich die Vertreter von Hand-
werk und Ziinften nunmehr selbst in die offentliche Auseinandersetzung ein.
Diese dauerte bis Ende der 1860erjahre fort, demjahrzehnt, in welchem die deut-
schen Staaten nach und nach die Gewerbefreiheit einfiihrten.41 Im Konigreich
Hannover beteiligten sich in diesem Zeitraum drei Gruppen an der Diskussion
um die Gewerbeverfassung: Erstens, wie schon vorher, handwerksfremde Perso-
37 Eduard Weinlig, Was driickt das hannoversche Volk und wie konnte ihm vielleicht
geholfen werden?, Hamburg 1832, S. 54.
38 Eduard Weinlig, Versuch einer Beantwortung der Frage: Wie ist der immer driik-
kender werdenden Noth der Hauslingsfamilien um Obdach und Unterkommen auf eine
griindliche Weise abzuhelfen? In besonderer Beziehung auf das Fiirstenthum Luneburg, in:
Hannoversches Magazin, 1830, S. 188-199.
39 Siehe Weinlig, wie Anm. 37, S. 304.
40 Zwar hatten Handwerker auch vor 1848 haufig Petitionen an die Standeversammlung
geschickt, darin war es aber fast ausschlieBlich um Belange der jeweiligen Zunft gegangen.
Auch ist keine dieser Petitionen nachweislich gedruckt oder sonstwie offentlich gemacht
worden. Siehe hierzu Mohr, wie Anm. 10, S. 98-100.
41 Ubersicht ebd., S. 212-213.
400 Daniel Mohr
nen, zweitens traditionell ziinftig eingestellte Handwerker, drittens Handwerker
und Fabrikanten, die in den lokalen Gewerbevereinen organisiert waren und dem
Zunftwesen kritisch bis ablehnend gegeniiberstanden.
Ausloser fiir die offentliche Diskussion waren der Beitritt Hannovers zum Zoll-
verein 1854, die Gesetzentwiirfe zur Anderung der Gewerbeordnung 1858 und
1866 sowie die Einfiihrung der Gewerbefreiheit im Konigreich Sachsen 1861. Die
lokalen Gewerbevereine pladierten zunachst fiir eine nachhaltige Reform des
Zunftwesens. Urn 1855/56, also kurz nachdem sich Hannover dem Zollverein an-
geschlossen hatte, forderten sie die Inkraftsetzung der Paragraphen 222-224 der
Gewerbeordnung. Besonders wichtig war ihnen dabei § 224, der Handwerkern
erlauben sollte, neben selbst hergestellten auch anderswo erworbene Gegenstan-
de zum Kauf anzubieten. Kein Handwerker konne sonst noch gegen die Konkur-
renz der Fabriken bestehen, viele verstieBen deshalb notgedrungen gegen das bis-
lang geltende Verbot. 1858 kritisierten verschiedene Gewerbevereine die geplan-
te neuerliche Konzessionierung von Fabriken, forderten auBerdem eine
erhebliche Lockerung der ziinftigen Bestimmungen zur Arbeitsteilung zwischen
den Berufen. Immer weniger Handwerker konnten es sich leisten, diese Bestim-
mungen zu befolgen, manche waren deshalb bereits aus ihrer Zunft ausgetreten
und arbeiteten nunmehrunterdem Namen „Fabrikant" weiter. 1861 begriiBte der
Gewerbeverein der Residenzstadt die Einfiihrung der Gewerbefreiheit in Sach-
sen. Auch andere Lokalgewerbevereine forderten nunmehr die Aufhebung der
Ziinfte. Hauptargumente waren einmal mehr die Industrialisierung sowie der
Beitritt zum Deutschen Zollverein.42
Ziinfte meldeten sich erstmals 1858 in Petitionen zu Wort und kritisierten den
damals vorgestellten Gesetzentwurf. Sie nahmen - wie kaum anders zu erwarten
- vor allem AnstoB an zahlreichen Ausnahmen, die kiinftig von ziinftigen Bestim-
mungen moglich sein sollten. Teils befiirchtet man willkiirliche Entscheidungen
der Behorden, teils die de facto Abschaffung des Zunftzwanges.43 1861 traten Vor-
stande von Ziinften erstmals mit eigenen Druckschriften an die Offentlichkeit.
Sie verteidigten darin das Zunftwesen mit den altbekannten Argumenten, wobei
der groBte Akzent wieder einmal auf die Ordnungsfunktion der Ziinfte sowie die
griindliche Ausbildung der Handwerker gelegt wurde. Bei Einfiihrung der Ge-
werbefreiheit befiirchteten sie dementsprechend Ordnungsverlust und das Uber-
handnehmen von Pfusch. AuBerdem konnten die Handwerker sich dann nicht
mehr gegen die Konkurrenz der Fabriken behaupten. Das wiederum ziehe eine
Verarmung breiter Bevolkerungsschichten nach sich. Andererseits traten die
42 Ebd., S. 156-159, 183-186 sowie 195-197. Einige Verfasser sagen explizit, daB die Kon-
kurrenz durch industrielle Produkte seitdem sehr viel groBer geworden sei.
43 Ebd., S. 172-173 sowie 184-185.
Die Industrialisierung des Konigreichs Hannover 401
Zunftvorsteher aber fur eine maBvolle Reform der Gewerbeverfassung ein. Insbe-
sondere forderten auch sie die Aufhebung der noch bestehenden ziinftigen Han-
delsbeschrankungen. SchlieBlich bestritten sie, daB die ziinftige Gewerbeverfas-
sung die notwendige Konkurrenz im Handwerk verhindere.44 Noch 1866 erschie-
nen zwei von Zunftvertretern verfaBte Biicher, die vom Grundsatz her die
Vorziige des Zunftwesens verteidigten. Wahrend in dereinen Schrift sehrweitge-
hende Reformen (z.B. sogar der Verzicht auf den Zunft- und Lehrzwang) gefor-
dert wurden, trauerten die Verfasser der anderen dem alten Zunftwesen extrem
nach, wohl wissend, daB seine Zeit langst vorbei war.45 In den ziinftigen Publika-
tionen erscheint die Industrialisierung haufig in einem doppelten Licht: Einer-
seits sah man durch sie den selbstandigen Handwerker in seiner Existenz be-
droht, andererseits nahm man sie als gegeben hin, um ihr im Einezlfall auch
Vorteile abzugewinnen. Fur die Verfasser kam es ganz auf die ,richtige' Gewerbe-
verfassung an. Die Gewerbefreiheit setzten sie gleich mit dem endgiiltigen Nie-
dergang des Handwerks, die mehr oder weniger reformierte Zunftverfassung mit
einem fruchtbaren Neben- und Miteinander von Handwerk und Industrie.
Publikationen von handwerksfremden Personen, in denen es um die Gewerbe-
frage und insbesondere um die Industrialisierung geht, sind nach 1848 zweimal
erschienen. 1858 setzte sich ein ungenannter Verfasser mit einer Petition von
Zunftvorstehern aus Hannover auseinander. Diese hatten den geplanten Gesetz-
entwurf offenbar heftig kritisiert und sich gegen jede Liberalisierung der Gewer-
beverfassung ausgesprochen. Der Verfasser widersprach ihnen scharf und be-
hauptete, daB das Handwerk die Konkurrenz gegen die Fabriken nur bestehen
konne, wenn man die Zunftverfassung erheblich lockere. In diesem Zusammen-
hang lobte er den Gesetzentwurf ausdriicklich, und zwar auch die zahlreichen
darin vorgesehenen Ausnahmetatbestande. Die Industrialisierung hatte in den
Augen dieses Verfassers ihren Schrecken verloren, er verband mit ihr technischen
Fortschritt zum Wohle der Menschen.46 Ebenso argumentierte der Gottinger Se-
nator Berg, dessen Veroffentlichung 1861 erschien. Seiner Meinung nach profi-
44 N.N., An unsere Handwerksgenossen im Konigreiche Hannover. Eine Ansprache
von einer Anzahl Zunftgenossen in Liineburg, Liineburg 1861 sowie N.N., Vorstellungen an
Konigliches Ministerium des Innern zu Hannover von Seiten der Ziinfte und Gilden zu Han-
nover, Hildesheim, Osnabriick und Liineburg, Hannover 1861.
45 N.N., Ein Beitrag zur Gewerbefrage unseres Landes. Von den Vorstanden der Aemter
und Gilden zu Osnabriick, Osnabriick 1866 sowie J. L. Gehrcke, Ob Zunft, ob Gewerbefrei-
heit. Oder Beitrage zur Reform des Gewerbewesens im Konigreich Hannover. Herausgege-
ben von dem engeren Gilde - AusschuB, Hildesheim 1866.
46 N.N., Die Gewerbeordnung und die hannoverschen Zunftvorsteher, Hannover 1858.
Die besagte Petition ist nicht iiberliefert, ihr Inhalt laBt sich anhand der Schrift des unge-
nannten Verfassers aber gut rekonstruieren.
402 Daniel Mohr
tierten sogar die Handwerker von der Industrialisierung. So bezogen viele ihre
Rohstoffe mittlerweile maschinell vorgearbeitet und konnten eine Arbeit in viel
kiirzerer Zeit erledigen. Auch wiirden Maschinen dem Menschen v. a. besonders
stumpfsinnige oder korperlich harte Arbeiten abnehmen. Wollte der Verfasser
von 1858 die Ziinfte im Sinne des geplanten Anderungsgesetzes reformieren, so
pladierte Berg dafiir, sie durch ein System von Gewerberaten zu ersetzen. Die
Niederlassung als Meister sollte nach seiner Vorstellung erheblich erleichtert
werden.47
Die offentliche Meinung im Konigreich Hannover war langst nicht so industrie-
feindlich, wie dies die Forschung bisher angenommen hat. Die Auffassung, daB
Hannover ein Agrarland sei und bleiben miisse, war in der ersten Halfte des 19.
Jahrhunderts zwar noch weit verbreitet,48 stieB aber schon damals auf zum Teil
heftigen Widerspruch. Nach 1850 wurde sie in der gewerbepolitischen Diskussi-
on nicht mehr vertreten. Spatestens seit dem Beitritt Hannovers zum Deutschen
Zollverein war sogar bei den Handwerkern ein Wandel der Mentalitat zu beob-
achten. Angesichts der wachsenden industriellen Konkurrenz wuchs der Kreis
derjenigen, die das Zunftwesen kritisch sahen. Seine verbliebenen Anhanger
fiirchteten zwar die Industrialisierung und sehnten sich manchmal nach vergan-
genen, vermeintlich idealen Zeiten. Selbst sie forderten aber Reformen, die der
veranderten Wirklichkeit Rechnung tragen sollten.
47 F. A. Berg, Wird der goldene Boden des Gewerbebetriebes (Kunstfertigkeit und FleiB)
durch die Einwirkung der Maschinenarbeit und Gewerbefreiheit erhalten? Gottingen 1861.
48 U.a. in der Debatte um Hannovers Beitritt zum Deutschen Zollverein. Auch hier gab
es aber Gegenstimmen. Dazu Hilde Arning, Hannovers Stellung zum Zollverein, Hannover
1930, S. 52-68 sowie 78-85; ferner N.N., Der Zollverein und seine hannoverschen Geg-
ner.Von einem Hannoveraner im Auslande, Berlin 1852.
Theanolte Bahnisch (1899-1973) und ihr Beitrag
zum Wiederaufbau Deutschlands im Rahmen
der Westorientierung nach 1945
Von Nadine Freund
7. Einleitung
Undoubtly an extremely talented woman and one of Hannover's most colourful characters,
she has an attractive, if at times overpowering, personality. [. . .] She is not above personal
intrigue but has a high standard of official integrity,1 urteilt der Verfasser des Beitrags
im „Who's Who in Lower Saxony", einem Personenleitfaden der britischen Mili-
tarregierung von 1948/49 iiber Theanolte Bahnisch, die zu dieser Zeit Regie-
rungsprasidentin in Hannover,2 Vorsitzende des Frauenringes der britischen Zo-
ne,3 Herausgeberin der Zeitschrift „Stimme der Frau"4 und eine der Vizeprasi-
dentinnen des Deutschen Rates der Europaischen Bewegung5 war.
1 Andreas Ropcke, Who's Who in Lower Saxony. Ein politisch-biographischer Leitfa-
den der britischen Besatzungsmacht 1948/49, in: Niedersachsisches Jahrbuch fiir Landege-
schichte, Bd. 55, 1981, S. 243-309, hier S. 258.
2 Bahnisch wurde im Marz 1946 zur Regierungsvizeprasidentin, im September 1946 zur
Regierungsprasidentin ernannt und loste damit den friiheren Regierungsprasidenten Wer-
ner Ellinghaus ab. Sie blieb im Amt bis 1959, als sie nach Bonn umzog ran dort als Staatsse-
kretarin fiir Niedersachsen beim Bund tatig zu werden.
3 Der Frauenring der britischen Zone entstand 1947 unter weitgehend identischer Ziel-
setzung und Fiihrung wie der „Club deutscher Frauen Hannover", der ersten, 1946 auf regio-
naler Ebene von Bahnisch gegriindeten Frauenorganisation. Hauptziel des Frauenringes
war die Vermittlung von Wissen rund um die Rechte, Pflichten und Moglichkeiten der Frau-
en als Biirgerinnen im Staat, „staatsbiirgerliche Erziehung" genannt. 1949 gelang Bahnisch
der ZusammenschluB des Frauenringes der britischen Zone mit Frauenringen e. V. in den an-
deren Westzonen zum zoneniibergreifenden Verband „Deutscher Frauenring" (DFR). Der
Deutsche Frauenring besteht bis heute. Er gehort seit 1951 dem International Council of Wo-
men (ICW) als Deutscher Nationalrat an.
4 Unter dem Titel „Die Stimme der Frau" erschien die Zeitschrift erstmals im Mai 1946.
Ab Heft 16 des Jahrgangs 1949/50 hieB sie nur noch „Stimme der Frau". Im FlieBtext wird
die Zeitschrift von mir im Folgenden durchgangig als „Stimme der Frau" bezeichnet. Die bi-
bliographischen Angaben orientieren sich am Namen der jeweiligen Ausgabe. Die Zeit-
404 Nadine Freund
Blattert man weiter im alphabetisch geordneten Leitfaden, der den Offizieren
vor Ort die Kontaktaufnahme und -pflege mit den von der Britischen Besatzungs-
macht fur bedeutend erachteten niedersachsischen Personlichkeiten erleichtern
sollte, so stoBt man auch auf den dort zu Recht als aufiergewohnlicher Theologe von
internationalem Ruf bezeichneten Hannoveraner Landesbischof der Evangeli-
schen Kirche, Hanns Lilje.6 Dieser wiederum hielt fiir die Katholikin Theanolte
Bahnisch anlaBlich ihrer Pensionierung im Jahr 1964 ein iiberschaumendes Lob
bereit: Gott hat die hohen intellektuellen und administrativen Fdhigkeiten, die Sie in so
vielen wichtigen offentlichen Aufgaben bewdhrt haben, mit einer solchen Fiille personlicher
Gaben, mit so viel unmittelbar gewinnender Natiirlichkeit und menschlicher Kontaktfahig-
keit verbunden, wie es nicht eben hdufig ist. Sie haben Sachlichkeit und Fraulichkeit so
glucklich verbinden kdnnen, dafilhnen - was ganzselten ist - in ihrer offentlichen Tdtigkeit
so gut wie keine unzufriedene Kritik begegnet ist? Worauf Lilje damit anspielt, das ist
die iiber allejahre ihres Wirkens wahrende konfessions- und parteiiibergreifende
Beliebtheit Bahnischs, ihre Fahigkeit, in den unterschiedlichsten ideellen Lagern
iiberzeugend ihre Ideen zu vertreten und entschiedene, einfluBreiche Fiirspre-
cher zu gewinnen. Dementsprechend liest sich die Liste der 100 prominentesten
Mitglieder der Fiihrungsschicht Niedersachsens8 in besagtem Who's Who in
Ausziigen wie eine Aufstellung enger Vertrauter Bahnischs, denn vertreten sind
hier neben Bahnisch und Lilje unter anderem Heinrich Hellwege, zu dieser Zeit
Landrat von Stade und Landes- sowie Bundesvorsitzender der Deutschen Partei
(DP) ,9 von 1955 bis 1959 Ministerprasident Niedersachsens und somit Vorgesetz-
schrift erschien zunachst in zwei Doppeljahrgangen und wechselte iiber eine verlangerte
Heftfolge im Jahrgang 1949/50 schlieBlich in Einzeljahrgange, beginnend mit dem 3. Jahr-
gang, 1951.
5 Zum deutschen Rat, den verschiedenen anderen Institutionen in der Europaischen Be
wegung und ihren Kongressen vgl. Frank Niess, Die europaische Idee. Aus dem Geist des
Widerstands, Frankfurt am Main 2001, fiir einen kiirzeren Uberblick vgl. Gerhard Brunn,
Die europaische Einigung von 1945 bis heute, Lizenzausgabe fiir die Bundeszentrale fiir po-
litische Bildung, Bonn 2004, S. 52-69.
6 Ropcke, wie Anm. 1, S. 288.
7 Landesbischof Dr. Hanns Lilje an Theanolte Bahnisch, Badgastein, am 23.04.1964, in:
Stiftung Archiv der deutschen Frauenbewegung (AddF), Kassel, SP -1 [Sammlung Theanolte
Bahnisch SP-1.] Bei der Sammlung SP-1 handelt es sich um Kopien aus dem NachlaB von
Theanolte Bahnisch (im Privatbesitz von Dr. Orla Maria Fels).
8 Bemerkenswert ist, wie Ropcke erwahnt, daB die Regierungsprasidenten von Stade
und Liineburg in der Auswahl fehlen, vgl. Ropcke, wie Anm. 1, S. 246.
9 Vgl. Ropcke, wie Anm. 1, S. 278. Beide Amter behielt Hellwege bis 1961, von 1946-
1948 war er Mitglied des Zonenbeirats, von 1947-1952 und 1955-1963 Mitglied des Nieder-
sachsischen Landtags. Ab 1949 bis 1955 hatte er das Amt des Bundesministers fiir Angele-
genheiten des Bundesrates inne, danach wurde er Niedersachsischer Ministerprasident. Im
Dritten Reich hatte sich Hellwege in der Bekennenden Kirche engagiert.
Theanolte Bahnisch 405
ter Bahnischs, dann Martha Fuchs,10 zunachst Erziehungsministerin, spater Kom-
missarin fiir Fliichtlingswesen (SPD) , die von Beruf wegen, aber auch in der nach
1945 wieder erstarkenden biirgerlichen Frauenbewegung mit Bahnisch eng zu-
sammenarbeitete, ferner einer der maBgeblichen Unterstiitzer Bahnischs, Adolf
Grimme,11 fiihrenderPadagoge im Nachkriegsdeutschland, christlicher Sozialist,
Kultusminister Niedersachsens bis 1948 und anschlieBend Direktor des NWDR.
Im gleichen Atemzug zu nennen ist Hinrich Wilhelm Kopf, der als Ministerprasi-
dent Niedersachsens 12 nicht nur Vorgesetzter, sondern ebenfalls entschiedener
Forderer13 der ersten weiblichen Regierungsprasidentin Deutschlands war. Au-
Berdem sind, um die Auswahl abzuschlieBen, verzeichnet der den Besatzungs-
machten auBerst kritisch gegeniiberstehende SPD-Parteivorsitzende Kurt Schu-
macher, der Bahnischs Politik zwar nicht immer gut hieB, sie aber immer wieder
protegierte und schlieBlich Maria Meyer- Sevenich,14 anfangs kommunistisch be-
wegt, dann CDU-, spater SPD- und kurz vor ihrem Tode wieder CDU-Mitglied,
10 Vgl. Ropcke, wie Anm. 1, S. 273. Fuchs' politische Karriere begann als Mitglied des
Brandenburgischen Provinziallandtages. In der NS-Zeit wurde sie von der Gestapo verfolgt
und 1944/45 im Konzentrationslager Ravensbriick interniert. Nach Kriegsende wurde sie
Ratsherrin in Braunschweig, von Mai bis November 1946 war sie Kultusministerin des Lan-
des Braunschweig. Abjanuar 1947 war sie fiir die folgenden l'/2jahre als Staatskommissarin
fiir Fliichtlingswesen (mit Ministerrang) im Land Niedersachsen tatig. 1949 iibernahm sie
den Landesvorsitz der SPD im Bezirk Braunschweig. Sie war Mitglied des Niedersachsi-
schen Landtags von 1947-1951 und 1954/55.
11 Vgl. Ropcke, wie Anm. 1, S. 40/41. Grimme trug wesentlich dazu bei, daB Bahnisch
1945 ihren Wirkungsort Koln verlieB, um nach Hannover zu kommen (Vgl. AddF, SP-1, Kurt
Schumacher an Theanolte Bahnisch, Hannover am 16. Dezember 1945). Er lobte Bahnischs
Engagement in der Frauenarbeit im SPD-Parteivorstand und engagierte sich in den von ihr
initiierten Veranstaltungen, indem erbeispielsweise einfiihrende Worte zum jeweiligen Rah-
menthema sprach. Vgl. Grimme, Adolf, Rede an die Frauen. Ansprache bei einer Tagung
der iiberparteilichen und iiberkonfessionellen Frauenorganisationen der Britischen Zone,
in: Denkendes Volk, 1947a, Heft 7. Auch bekam Bahnisch wiederholt die Moglichkeit, ihre
Gedanken im Frauenfunk des NWDR, dessen Leiter Grimme war, zu auBern.
12 Vgl. Ropcke, wie Anm. 1, S. 282/283.
13 1945 war Bahnisch zunachst im Gesprach fiir den Posten als Kopfs personliche Refe-
rentin, Vgl.: AddF, Kassel, SP-1, Schumacher an Theanolte Bahnisch (wie Anm. 11), spater
bat er Bahnisch - so jedenfalls ist es einem Zeitungsartikel zu entnehmen - Regierungsprasi-
dentin zu werden. Vgl. Theanolte Bahnisch erzahlt. Die Entscheidung fiir Hannover, in:
Hannoversche Presse, Nr. 299, 23. Dezember 1964.
14 Vgl. Ropcke, wie Anm. 1, S. 302/303. Sevenich war Mitbegriinderin der „Deutschen
Aufbaubewegung" (DAB), die, als Gegenpol zu SPD und KPD, Hort einer iiberkonfessionel-
len christlichen und sozialen Politik werden sollte. Ende 1945 ging die DAB in die CDU
iiber. Nachdem Sevenich 1948 aus der CDU ausgetreten war, trat sie 1949 in die SPD ein. Ihr
Austritt aus der SPD und Wiedereintritt in die CDU kurz vor ihrem Tod erfolgte vor dem
Hintergrund der neuen Ostpolitik der SPD.
406 Nadine Freund
von den jeweiligen Parteigenossen ob ihrer Wechsellaunen immer argwohnisch
beaugt, wenn nicht gar gefiirchtet.15
Sie alle, engagierte und tatkraftige Personlichkeiten aus den Bereichen Bil-
dung, Politik und Verwaltung standen in intensivem Austausch mit und in freund-
schafdichem Kontakt zu Bahnisch, die ihrer Partei, der SPD, zwar, anders als Se-
venich, immer treu geblieben ist,16 sich dennoch nie in parteiliche Schranken hat
weisen lassen, bei ihren Bestrebungen, einerseits am Wiederaufbau der Wirt-
schaft und Verwaltung im Land Niedersachen mitzuwirken, andererseits auf kul-
turpolitischer Ebene zu einer Renovatio der westdeutschen Gesellschaft ihren
Beitrag zu leisten. Dies fiihrte dazu, daB die weit iiber die Landes- und Zonen-
grenzen hin bekannte und wohlgelittene Bahnisch in der eigenen Partei bald auch
erbitterte Gegner hatte: Nicht zuletzt war dies auf die Anerkennung, die ihr
machtvolle Personlichkeiten im In- und Ausland zollten, zuriickzufuhren. Vor al-
lem Fritz Heine, Leiter des Presse- und Propagandasekretariats der SPD, im
Who's Who als blinkered political dogmatist17 bewertet, war die aus Uberzeugung
parteiiibergreifend operierende Regierungsprasidentin ein Dorn im Auge, eben-
so der Leiterin des SPD-Frauensekretariats Hertha Gotthelf, der kein Einzelein-
trag im Who's Who gewidmet ist. Im Artikel iiber Bahnisch aber heiBt es: Her
[Bahnischs] greatest interest is non-political women's organisations. In this sphere she has
frequently clashed with Hertha Gotthelf of the SPD zonal Committee and their feud has be-
come legendary in Hannover.18
Worin lag nun die Tatsache begriindet, daB Theanolte Bahnisch einerseits ein
so hohes Ansehen unter den Eliten in Politik, Kultur und Wirtschaft genoB, wel-
ches ihr immer wieder ermoglichte, im Rahmen ihrer vielen Positionen und Auf-
gaben divergierende Interessen auf einen Nenner zu bringen? Warum fiihrte an-
dererseits scheinbargerade diese Fahigkeit dazu, daB sie sich fiir einige Genossen
zu einer Art Erzrivalin entwickelte, was zwar zu erhitzten Diskussionen um Bah-
nisch im Parteivorstand, in Ausschiissen und auf den Parteiversammlungen fiihr-
te, am Ende aber doch keine greifbare Sanktion fiir Bahnisch nach sich zog?
15 Beispielsweise Herta Gotthelf auBert sich iiber Meyer-Sevenich in Bezug auf eine ge-
plante Unterhaltung mit Mary Sutherland, einer Vertreterin der Militarregierung dergestalt,
daB sie nicht wolle, daB Sevenich wieder zu einer politischen Plattform verholfen werde, ob~
wohl sie eine hochintelligente Frau und eine gldnzende Rednerin sei. Das bedeutet noch nicht, dafi sie
fiir die Partei ein Plus ware. Man weifi bei ihrja, was sie heute tut, aber nicht, was morgen bei ihr her-
auskommen wiirde" Archiv der sozialen Demokratie (AdSD), Bonn, Kurt Schumacher, Mappe
174, Herta Gotthelf an Martha Fuchs, 12. November 1948.
16 Wann Bahnisch erstmalig in die SPD eingetreten ist, ist unklar: Das AdSD in Bonn
verfiigt lediglich iiber eine Mitgliedskarte aus demjahr 1945, es ist jedoch anzunehmen, daB
Bahnisch schon in den 20er Jahren Mitglied der SPD war.
17 Ropcke, wie Anm. 1, S. 278.
18 Ropcke, wie Anm. 1, S. 258.
Theanolte Bahnisch 407
Welche Sozialisations- und Berufserfahrungen der Regierungsprasidentin spiel-
ten dabei eine Rolle, welche personlichen Kontakte und Wirkungskreise, welches
Verhalten und welche Argumente? Diesen Fragen soil im folgenden nachgegan-
gen werden, gestiitzt auf die These, daB Bahnisch mit ihren Ansatzen und Ideen,
die sie im Rahmen ihrer verschiedenen Tatigkeiten nicht nur den deutschen und
britischen Eliten in Politik, Wirtschaft und Kultur, sondern der gesamten west-
deutschen Gesellschaft publikumswirksam unterbreitete, die Errichtung einer
deutschen Demokratie „westlicher" Pragung und deren Integration in europai-
sch-transatlantische Biindnisse entscheidend unterstiitzte, indem sie namlich da-
zu beitrug, den antikommunistischen Grundkonsens, die „Basisideologie" der
jungen deutschen Republik, in der Bevolkerung zu festigen und das Interesse an
„Europa" als Kultur-, Politik- und Wirtschaftsraum zu starken.
Zunachst soil, um dieser These zu folgen, ein Einblick in die Ausbildung, Be-
rufstatigkeit und das politische Engagement Bahnischs vor 1945 gegeben werden,
um die Fundamente abzustecken, auf deren Basis die Verwaltungsjuristin 1946
den Posten als Regierungsprasidentin angetragen bekam.19 Daran anschlieBend
werden die wesentlichen Ziige ihres Wirkens in der Sozialdemokratie, im Re-
gierungsprasidium, in der biirgerlichen, iiberparteilichen Frauenbewegung - be-
sonders auch im Unterschied zur SPD-internen Frauenarbeit - und in der Presse
der direkten Nachkriegszeit beleuchtet. AbschlieBend soil mit Blick auf das Zu-
sammenspiel dieser verschiedenen Bereiche die integrations- und identifikations-
fordernde Komponente und damit das Potential von Bahnischs Arbeit fur eine in
der Re-orientierung begriffene Gesellschaft herausgearbeitet werden.
Uber die ideellen Grundlagen von Theanolte Bahnischs Handeln, den Platz ih-
rer Themen und Ideen in den deutschen und internationalen Nachkriegsdiskur-
sen und die mogliche Wirkung der durch Bahnisch angestoBenen, vertieften und
veranderten Diskurse auf die deutsche Gesellschaft ist bisher ebenso wenig ge-
forscht worden, wie iiber die Schnittmengen der verschiedenen Wirkungsgebiete
und damit die Personen und Institutionen, mit denen sich Bahnisch vernetzte.
Neben kiirzeren biographischen Darstellungen20 und Zeitungsartikeln sowie
19 Neben Ministerprasident Kopf strebte auch der Kommandant der britischen Armee
fiir den Regierungsbezirk Hannover, Hume, die Einstellung Bahnischs an. Dariiber berichtet
beispielsweise die Oxforder Germanistikprofessorin Helena Deneke, die 1946 im Auftrag
der Militarregierung eine Reise durch Deutschland unternahm. Bodleian Library, UK, Ox-
ford, Special Collections, Papers of Helena and Marga Deneke, Box Nr. 7, Manuscript ac-
count of H. D.'s visit to Germany at the government's invitation ,to try interest German wo-
men in democracy', 1946-1952. Aus dieser Reise entstand der vielzitierte Report: National
Council of Social Service/Helena DENEKE/Betty Norris, The Women of Germany, 1947.
20 Vgl. z.B. Dorothea Bahnisch, o. V., in: Internationales Biographisches Archiv (Mun-
ziger Archiv), 29. Juli 1961, S. 2882.
408 Nadine Freund
Meldungen, die die Institution Deutscher Frauenring (DFR) und seine Vorlaufer
behandeln, sind zur Person und zum Handeln Bahnischs vierkiirzere Aufsatze er-
schienen, die alle auf Bahnischs frauenpolitisches Wirken fokussieren.21 Drei
Werke, die die Re-education Politik der Besatzungsmachte in Deutschland the-
matisieren,22 geben erste Aufschliisse iiber Bahnischs zentrale Funktion in der
Frauenbewegung und -bildung. Ihr Handeln in der SPD, der Europabewegung23
und als Regierungsprasidentin ist bisher jedoch nicht zum Gegenstand wissen-
schaftlicher Publikationen geworden. Ein breiter angelegter Blick auf die ver-
schiedenen Wirkungsgebiete und deren Zusammenspiel erscheint deshalb sinn-
voll, um die Vielschichtigkeit ihres Engagements und damit die Spanne ihrer Ein-
fluBmoglichkeiten in der deutschen Nachkriegsgesellschaft aufzuzeigen.
Als Quellengrundlagen fur dieses Vorhaben dienen Zeitungsartikel iiber Bah-
nisch in der regionalen und iiberregionalen Presse der 40er bis 60er Jahre, Akten
des Regierungsprasidiums Hannover und des niedersachsischen Innenministeri-
ums, Akten der britischen Militarregierung in Deutschland, des SPD-Parteivor-
stands sowie Papiere aus dem NachlaB Theanolte Bahnischs und die friihen Jahr-
gange der Zeitschrift „Stimme der Frau".
2. Kindheit undjugend als ,Hohere Tochter' im katholischen Westfalen
Ich stamme aus einer alten westfdlischen Bauernfamilie, und zwar sowohl vdterlicher- wie
mutterlicherseits2i leitet Theanolte Bahnisch einen undatierten Lebenslauf ein,
der, mit „Kurze Lebensskizze" iiberschrieben, in ihrem PrivatnachlaB iiberliefert
ist. Am 25. April 1899 wurde sie als Dorothea Nolte in Beuthen/Oberschlesien
21 Vgl. Barbel Clemens, Theanolte Bahnisch (1899-1973). WirFrauen miissen ein kluges
Herz haben, in: Hiltrud Schroeder (Hrsg.), Sophie & Co. Bedeutende Frauen Hannovers,
Hannover 1996, S. 201-213; Nadine FREUND/Kerstin Wolff, Um harte Kerne gegen den
Kommunismus zu bilden . . ." Die staatsbiirgerliche Arbeit von Theanolte Bahnisch in der
Zeitschrift „Die Stimme der Frau", in: Ariadne - Forum fur Frauen- und Geschlechterge-
schichte 44, 2003, S. 62-69; Barbara HENicz/Margrit Hirschfeld, Der Club deutscher Frau-
en in Hannover, in: Annette Kuhn (Hrsg.), Frauen in der deutschen Nachkriegszeit, Bd. 2:
Frauenpolitik 1945-1949, Diisseldorf 1986, S. 127-134; Dies., „Wenn die Frauen wiiBten, was
sie konnten, wenn sie wollten" - Zur Griindungsgeschichte des Deutschen Frauenrings, in:
Ebd, S. 135-156.
22 Vgl. Pia Grundhofer, Auslanderinnen reichen die Hand, Hansel-Hohenhausen
1999, zugl. Diss. Uni Trier 1995; Denise Tscharntke, Re-educating German Women. The
work of the Women's Affairs Section of British Military Government 1946-1951, Frankfurt a.
M. 2003; Christl Ziegler, Lernziel Demokratie. Politische Frauenbildung in der britischen
und amerikanischen Besatzungszone 1945-1949, Koln/Weimar/Wien 1997.
23 Eine tiefergehende Analyse dieser Arbeit ist auch in diesem Aufsatz nicht moglich,
da der Aktenbestand im AdSD Bonn noch nicht komplett ausgewertet wurde.
24 AddF Kassel, SPT, Kurze Lebensskizze, verfaflt von Theanolte Bahnisch, o. D.
Theanolte Bahnisch 409
geboren, wo ihr Vater Franz Nolte einigejahre lang an einem Gymnasium unter-
richtete. Um 1904 zog die Familie nach Westfalen.25 Thea, wie sie von der Familie
und von engen Freunden genannt wurde, wuchs zusammen mit sechs Geschwi-
sterkindern auf und besuchte in Warendorf bei Minister die katholische Hohere
Tochterschule, danach - im AnschluB an eine Phase des Privatunterrichts durch
ihren Vater- ab dem 16. Lebensjahrdas Lehrerinnenseminarin Dortmund, nicht
untypisch fur ein junges Madchen aus bildungsbiirgerlichem Haushalt. Bereits
nach einem halbenjahrbrach sie diese Ausbildungjedoch ab.26 Nachdem ihr Va-
ter sie im Hausunterricht weiter bis zur Unterprimarreife vorbereitet hatte, trat sie
1917 in die Studienanstalt der Ursulinen inKoln ein, wo sie 1919 das Abiturableg-
te.27 An das Studium der Rechtswissenschaften in Miinster28 schloB sie das Ge-
richtsreferendariat an, wahrend dessen sie festgestellt hatte, daB sie im Strafrecht
nicht ihre berufliche Zukunft sah. Deshalb ersuchte sie nach Beendigung dieses
ersten Referendariats die Zulassung zum Regierungsreferendariat. Das war nicht
so einfach, denn es war bis dahin iiberhaupt noch keine Frau zugelassen worden. Ich [. . .]
erreichte in hartndckigen Verhandlungen [. . .] vorallem in einer personlichen Unterredung
mit [dem preuBischen Irmen-jMinister Severing die Zulassung,29 schreibt Bahnisch
spater dazu. Man kann esja mal versuchen,30 soil Severing auf das entschiedene und
damit erfolgreiche Begehren der jungen Frau geantwortet haben: Sie bekam ei-
nen Referendariatsplatz bei der Regierung in Miinster.
3. „Bollwerk Preufeen" und sozialdemokratischer Widerstand in Berlin
1923 wurde Dorothea Nolte als Beamtenanwarterin im Berliner Polizeiprasidium
angestellt. Sie durchlief dort samtliche Abteilungen und vertiefte so auch ihre
Kenntnisse iiber die verschiedenen Probleme bei der Verwaltung eines Regie-
rungsbezirks, denn der Berliner Polizeiprasident fungierte zu dieser Zeit zugleich
25 Die Angaben in den Quellen zum Umzug Bahnischs variieren leicht, es ist daher un-
klar, wann der Umzug stattfand.
26 AddFKassel, SP-1, Kurze Lebensskizze, verfaBt von Theanolte Bahnisch, o. D.
27 Staatsarchiv (StA) Hannover, Nds. 50, Ace. 75/88, Nr. 1, Lebenslauf von Theanolte
Bahnisch, o. D.
28 Vermutlich lernte sie dort den „Reisedoktor" Kurt Schumacher kennen, der sich, zu-
vor Referendar am Berliner Kammergericht, zwecks Abwicklung seiner Promotion bei dem
Nationalbkonomenjohann Plenge im Sommersemester 1920 in Miinster aufhielt. Vgl. Kurt
Schober, Der junge Kurt Schumacher, 1895-1933, Bonn 2000, S. 115-124.
29 AddF Kassel, SP1, Kurze Lebensskizze, verfaBt von Theanolte Bahnisch, o. D. Dazu
vgl. auch: Barbara Groneweg, Eine Frau im bffentlichen Leben, Theanolte Bahnisch wurde
60Jahre, in: Stuttgarter Zeitung, 28. April 1959.
30 Marieluise Schareina, Regierungsprasident Theanolte Bahnisch 60 Jahre. Ein Frau -
die ihren Mann steht, in: Die Rundschau, Nr. 96, 25. /26. April. 1959.
410 Nadine Freund
auch als Regierungsprasident Berlins. Im Prasidium, das 21.000 Mitarbeiter be-
schaftigte und nicht nur lokale Zustandigkeiten fiir die Viermillionenstadt, son-
dern auch politische Polizeiaufgaben fiirganz PreuBen wahrzunehmen hatte, wa-
ren ihr Sozialdemokraten wie die Polizeiprasidenten Wilhelm Richter, Friedrich
Zorbiegel und Albert Grzesinski,31 Staatssekretar Wilhelm Abegg, Innenminister
Carl Severing und schlieBlich Ministerprasident Otto Braun vorgesetzt. Jene re-
prasentierten in ihren amtlichen und politischen Positionen das sozialdemokrati-
sche „Bollwerk PreuBen" im zunehmend demokratiedefizitaren Reich.32 Die An-
warterin war also wahrend ihrer Ausbildung im Prasidium aus nachster Nahe
konfrontiert mit den politischen Auseinandersetzungen auf institutionellerEbene
zwischen PreuBen und dem Reich, den Bemuhungen der politischen Polizei, die
demokratiefeindlichen Parteien zu iiberwachen, schlieBlich mit den wiederholt
den Einsatz der preuBischen Polizei nach sich ziehenden StraBenkampfen zwi-
schen Kommunisten und NSDAP-Anhangern.
Auch nach ihrem Assessorexamen 1926 und der Heirat mit dem Kollegen Al-
brecht Bahnisch 1927 blieb sie beim Polizeiprasidium beschaftigt, nicht ohne sich
vorher die schriftliche Zusicherung Grzesinskis (mittlerweile preuBischer Innen-
minister), eingeholt zu haben, daB die Bestimmungen beziiglich des „Doppelver-
dienertums" bzw. „Beamtinnenzolibats" auf sie nicht angewendet werden wiir-
den.33 Diesejahre bewertet sie riickblickend, aufgrund derZusammenarbeit und
den gemeinsamen Interessen mit ihrem Mann, der Regierungsrat im Innenmini-
sterium war, als besonders wertvoll.34 Erst 1930, als Albrecht Bahnisch Landrat
von Merseburg in der preuBischen Provinz Sachsen wurde, schied seine Ehefrau,
die nach der Hochzeit ihren Madchennamen zum Vornamen hinzugezogen hatte
und fortan „Theanolte" genannt wurde, mit dem Titel „Regierungsrat" aus dem
Dienst aus. Das [. . .] ist mir ungeheuer schwer gef alien, aber mir kam der Himmel selbst
zur Hilfe. Als ich mein Abschiedgesuch schrieb, wusste ich, dass ich ein Kind erwartete.35
Als 1931 die Tochter Orla-Maria geboren wurde, schien alles darauf hinzudeuten,
daB den Bahnischs, abgesichert nicht zuletzt durch ein groBziigiges, representati-
ves Amtshaus,36 ruhige Familienjahre fernab der GroBstadt bevorstanden. Doch
31 Zwischen zwei Perioden im Amt des Berliner Polizeiprasidenten war Grzesinski von
1926-1930 preuBischer Innenminister.
32 Vgl. dazu: Hans-Peter Ehni, Bollwerk PreuBen? PreuBen-Regierung, Reich-Lander-
Problem und Sozialdemokratie 1928-1932, Bonn 1975.
33 AddF Kassel, SP-1, Kurze Lebensskizze.
34 Ebd.
35 Ebd.
36 Die GroBziigigkeit der Privatraume im Dienstsitz des Merseburger Regierungsprasi-
denten fuhrte wahrend Albrecht Bahnischs Regierungszeit zu erbitterten Auseinanderset-
zungen in der lokalen Politik, schlieBlich sogar zu einer Klage gegen Bahnischs Vorganger
Theanolte Bahnisch 411
in der kurzen Zeit bis zur Geburt des Sohnes Albrecht im Marz 1933 hatten sich
die Ereignisse iiberschlagen: Ob Bahnischs politischer Weitblick in der Retro-
spektive nicht etwas geschont ist, wenn sie schreibt: Endejuni 32, acht Tage nachdem
Severing vom Militdr aus dem Innenministerium geholt war, beantragte ich beim Oberver-
waltungsgericht Berlin meine Zulassung als Verwaltungsrechtsrat [. . .] [i] ch rechnete von
dem Augenblick ab mil einer Naziregierung,37 sei dahingestellt. Fakt ist, daB Landrat
Bahnisch am 8. Marz 1933, vier Tage vor der Geburt seines Sohnes, seines Amtes
enthoben und die vierkopfige Familie wenig spater gezwungen wurde, aus der,
wie Theanolte Bahnisch selbst schreibt, ubergrqfien Dienstwohnung38 in eine zwei-
einhalb Zimmerwohnung in Berlin umzuziehen, die sogar noch als frisch gegriin-
dete Anwaltspraxis fur Verwaltungsrecht mitgenutzt wurde.39 Da der Zulauf an
Kunden zu den neu zugelassenen Verwaltungsrechtsraten Albrecht und Theanol-
te Bahnisch (Albrecht hatte nach seiner Amtsenthebung den gleichen berufli-
chen Weg wie seine Frau gewahlt) sich erst etablieren muBte, arbeitete Theanolte
nebenbei als Vertreterin fur Pressephotos, Albrecht zunachst als Sekretar, dann
als Prokurist.
Der gemeinsamen Anwaltspraxis gait jedoch, wenn man Theanolte Bahnischs
Ausfiihrungen glauben darf, immer das eigentliche, vor allem politische Interesse
des Paares: Theanolte Bahnisch wollte den Praxisbetrieb als einen Akt des politi-
schen Widerstands verstanden wissen, da sie und ihr Mann, so berichtet sie nach
1945, vornehmlich von den Nationalsozialisten politisch und rassisch Verfolgten
gegen ein geringes Entgelt im eigenen Ermessen der Klienten Unterstiitzung und
rechtlichen Beistand geleistet hatten. Im Laufe der ndchsten 2Jahre [. . .] bin ich bei
vielen Gestapos der deutschen Grofistadte gewesen, um mich nach Verhafteten und in 's KZ
Verschleppten zu erkundigen und mich fur sie einzusetzen. Es wird manchen merkwiirdig
vorkommen, aber ich habe tatsachlich wiederholt Erfolge gehabt.i0 Dies war, Bahnischs
Aussagen zufolge, nur einer von drei Aspekten ihres Widerstandes gegen den Na-
tionalsozialismus. Auch publizistisch habe sie sich engagiert und 1931 den „Frei-
heitsverlag" gegriindet, um in diesem Schriften gegen den Nationalsozialismus zu
Wilhelm Guske (ebenfalls SPD, ab 1930 Vorsitzender der Eisernen Front in Koblenz sowie
Vizeprasident der Rheinprovinz) , der den Neubau des Gebaudes in Auftrag gegeben hatte,
wegen mutmaBlicher Verschwendung offentlicher Gelder. Diskussionen um Bader, Tennis-
platze und Gartenanlagen iiberlagern so einen im Grunde politischen Konflikt, den Aufstieg
neuer Machthaber und die Verdrangung sozialdemokratischer Beamter aus ihren Positionen.
Vgl.: Geheimes Staatsarchiv preuBischer Kulturbesitz, Berlin-Dahlem (StA PK), HA I, Rep.
77, Nr. 5176.
37 Lebenslauf von Theanolte Bahnisch, o. D., in: HSTA, Nds. 50, Ace. 75/88, Nr. 1.
38 AddFKassel, SP-1, Kurze Lebensskizze.
39 Ebd.
40 Ebd.
412 Nadine Freund
publizieren.41 Anhand von Parallelquellen nachvollziehen laBt sich dieses publi-
zistische Engagement bis dato allerdings nicht - oder miiBte man doch vielmehr
sagen „nicht mehr"? - Ministerialrat Carl Spieker habe ihres Erachtens nach per-
sonlich fiir die Vernichtung der Unterlagen, die die Finanzierung der Presse-
erzeugnisse aus dem sozialdemokratischen Widerstand belegten, gesorgt,42
schreibt Bahnisch in einem Lebenslauf, der ihrer Personalakte beiliegt. Wir wis-
sen nicht, ob sie damit lediglich zu erklaren versuchte, warum es den Nationalso-
zialisten nicht gelungen war, die Verantwortlichen zu fassen, oder, ob sie mit ih-
ren Ausfiihrungen ebenfalls plausibel machen wollte, weshalb der Name Bah-
nisch im Zusammenhang mit dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus in
der entsprechenden Literatur nicht zu finden ist.43 Ebenso wenig durch Parallel-
quellen zu belegen ist bisher die Aussage der spateren Regierungsprasidentin,
daB Ernst von Harnack, bis 1932 sozialdemokratischer Regierungsprasident von
Merseburg und damit Vorgesetzter des Landrates Bahnisch, sie 1938 fiir die Wi-
derstandsgruppe Harnack/ Schulze-Boysen, besserbekannt als „Die Rote Kapel-
le", als Verbindungsfrau geworben habe. Sie brauchten dringend jemanden, um wich-
tige Verbindungen herzustellen, eine Frau sei unauffalliger^ erklart Bahnisch 1964 von
Harnacks Anliegen an sie in einem Interview. Keinesfalls aber konnen diese
Quellen- und Forschungsliicken das von Bahnisch erklarte Engagement widerle-
gen, zumal Korrespondenzen Bahnischs, unter anderem mit Adolf Grimme, der
zu dieser Zeit preuBischer Kultusminister war, belegen, daB personliche Kontakte
zwischen ihr und Protagonisten des sozialdemokratischen Widerstands gegen
den Nationalsozialismus in den 30er Jahren bestanden haben. Eine genauere
Klarung der Rolle Bahnischs im Widerstand steht also noch aus. Ihrer Aussage
zufolge hat sie von verschiedenen Stadten aus bis zum Ende des Krieges als Ver-
waltungsrechtsratin ihre Mandanten betreut, wobei ihr von der Gestapo wieder-
holt mit Gefangennahme gedroht worden sei.4
41 Ebd.
42 HStA Hannover, Nds. 50, Ace. 75/88, Nr. 1, Reg. Pras. Bahnisch, Blatt 8/9: undatier-
ter Lebenslauf [vermutlich 1947].
43 Bisher ergab sowohl die Suche in den Bestanden der Geheimen Staatspolizei im Ober-
bestand „Reich" des Bundesarchivs in Berlin-Lichterfelde, als auch in den einschlagigen Pu-
blikationen zum sozialdemokratischen Widerstand und zur „Roten Kapelle" keine Resultate.
In der Zentralkartei des Document Center ist Bahnisch nicht enthalten. Vgl. AdSD Bonn,
Sammlung: Personalia, Theanolte Bahnisch.
44 Theanolte Bahnisch erzahlt. Heimkehrerin nach Hannover. Der Weg in das Regie-
rungsprasidium, in: Hannoversche Presse Nr. 298 vom 22. Dezember 1964.
45 Vgl. AdSD Bonn, Sammlung Personalia, Theanolte Bahnisch, Zum Material der Lei-
stungen von weiblichen Mitgliedern der SPD wahrend der Hitlerherrschaft, o. D.
Theanolte Bahnisch 413
4. „Vorreiterin" der neuen Volkspartei SPD - Richtung Europa
1945 lieB sich Bahnisch mit ihren beiden Kindern, die achtjahre lang bei ihrer al-
teren Schwester im Taunus untergebracht waren, in Koln nieder. Ihr Mann Al-
brecht, der 1939 zum Kriegsdienst eingezogen worden war, war vom RuBland-
feldzug der Wehrmacht nicht zuriickgekehrt.46 Sie beantragte und erhielt erneut
die Zulassung als Verwaltungsrechtsratin und schrieb dariiber spater, sie habe
nun in dieser Funktion „Butterbrot-PG's" (so nannte ich der Militdrregierung die, die
um ihrer Existenz willen der Partei beigetreten wareni7) anstelle von Widerstandlern
verteidigt. Der AnschluB an die SPD, den sie in Koln suchte, gelang ihr jedoch
nicht. So oft bin ich noch nie einem Mann hinterhergelaufen,4& schrieb sie an Kurt Schu-
macher 1945 bezogen auf Robert Gorlinger, den sozialdemokratischen Nachfol-
ger Konrad Adenauers im Amt des Kolner Oberbiirgermeisters. Gorlinger hatte
versucht, Bahnisch fur den Wiederaufbau der Frauenarbeit in der SPD zu gewin-
nen, wozu die spatere Prasidentin des Deutschen Frauenringes zu dieser Zeit je-
doch bemerkte: das liegt miraber gar nicht. Ich bin Frauen in Massen immeraus dem Weg
gegangen. Ihr Wunsch, mit der politischen Problemlage vor Ort und den damit zu-
sammenhangenden Strategien der Partei vertraut gemacht zu werden, blieb uner-
fiillt. Vielleicht ist es auf diese Enttauschung49 zuruckzufiihren, daB sie, entgegen
ihres urspriinglichen Plans, Koln schon 1946 wieder verlieB, um nach Hannover
zu Ziehen.
Wiralle hierkennen ihre Fdhigkeiten und wollen Sie besserverwendet wissen als bisher,50
hatte ihr Schumacher, der die SPD in Hannover seit Mai 1945 wieder aufbaute, im
Dezember 1945 mitgeteilt. Wir, damit meinte er die Parteigenossen, die sich, wie
Bahnisch, als politisch unbelastet eingestuit, um den Wiederaufbau der Gesellschaft
bemiihten. Schumacher hatte Bahnisch auf Empfehlung Adolf Grimmes eine
Stelle angeboten, von der er schrieb, sie sei die groBte Vertrauensposition, die im
Land Niedersachsen iiberhaupt zu vergeben sei: Sie sollte personliche Referentin
des Sozialdemokraten Hinrich Wilhelm Kopf, zu dieser Zeit Regierungsprasident
46 Als „Versprengter der Kampfgruppe Matthieu" wurde Albrecht Bahnisch im Februar
1943 als in der Nahe von Charkow vermiBt gemeldet. Theanolte Bahnischs Versuche, ihren
Mann zu finden, bleiben ergebnislos. 1952 wird er fur tot erklart. Vgl. HStA, Nds. 50, Ace.
75/88, Nr. 1, Reg. Pras. Bahnisch Beschluss des Amtsgerichtes Koln 19. Dezember 1952, AZ
4 II 1027/52.
47 Heimkehrerin nach Hannover, wie Anm. 44.
48 AdSD Bonn, Kurt Schumacher, Nr. 126, Theanolte Bahnisch an Kurt Schumacher,
Koln-Klettenberg, den 23. Dezember 1945.
49 Dieser versuchte sie fur den Wiederaufbau der Frauenarbeit in der Partei zu gewin-
nen, wahrend sie lieber mit der allgemeinen Problemlage vor Ort vertraut gemacht werden
wollte, vgl.: ebd.
50 AddFKassel, SPT, Schumacher an Bahnisch, wie Anm. 11.
414 Nadine Freund
in Hannover, werden. Wie Kopf und Grimme gehorte Bahnisch zu jenem Fliigel
der SPD, der nach 1945 einer Kooperation mit anderen politischen Lagern gegen-
iiber sehr aufgeschlossen war, das Ziel der Wiederaufhahme von Beziehungen
Deutschlands mit anderen Landern iiber die Parteilinie setzte und in diesem Zu-
sammenhang im Rahmen des angestrebten Wiederaufbaus Deutschlands engen
Kontakt mit den Besatzern suchte: alles in allem Wegbereiter also des neuen Kur-
ses der Partei „auf dem Weg nach Bad Godesberg", zur groBen Mittelstandspartei
und in die Europaische Union.51 Auch als stellvertretende Prasidentin des Deut-
schen Rates der Europaischen Bewegung versuchte Bahnisch, die Europa-Bewe-
gung unter den Sozialdemokraten und im Land starker zu machen, der Parteivor-
sitzende, Schumacher, stand diesem Treiben seiner Genossen eher skeptisch ge-
geniiber, wollte jedoch einen moglichen EinfluB der Sozialdemokraten auf die
Bewegung nicht verspielen, weshalb er die Europabegeisterten in der SPD ge-
wahren lieB.52 Gleichgesinnte fand Bahnisch in Genossen wie Otto Suhr, Max
Brauer und Adolf Ludwig, mit denen sie auch zur Konferenz des „Mouvement so-
cialiste pour les Etats-Unis d'Europe" (MSEUE) in Briissel reiste, 53 aber beispiels-
weise auch in den CDU-Politikern Heinrich von Brentano54 und Christine
Teusch.55 Wie auch Adolf Grimme und Heinrich Albertz, evangelischer Pfarrer
in Celle und sozialdemokratischer Fliichtlingsminister in Niedersachen, strebte
51 Dazu vgl. Kurt Klotzbach, Der Weg zur Staatspartei. Programmatik, praktische Poli-
tik und Organisation der deutschen Sozialdemokratie 1945 bis 1965, Bonn 1982.
52 Zur gespaltenen Stellung der SPD gegeniiber der Europaischen Bewegung vgl. Willy
Albrecht, Europakonzeptionen der SPD in der Griindungszeit der Bundesrepublik. Einige
programmatische Texte aus der Zeit der ersten Nachkriegsvorsitzenden Schumacher und
Ollenhauer, in: Oliver Mengersen (Hrsg.), Personen, Soziale Bewegungen, Parteien, Fest-
schrift fur Hartmut Soell, Heidelberg 2004, S. 365-375 sowie Detlef Rogosch, Sozialdemo-
kratie zwischen nationaler Orientierung und Westintegration 1945-1947, in: Mareike Ko-
Nio/Matthias Schulz (Hrsg.), Die Bundesrepublik Deutschland und die europaische Eini-
gung 1949-2000. Politische Akteure, gesellschaftliche Krafte und internationale Erfahrun-
gen. Festschrift fur Wolf D. Gruner zum 60. Geburtstag, Wiesbaden 2004, S. 287-310.
53 Vgl. Willy Albrecht (Hrsg.) , Die SPD unter Kurt Schumacher und Erich Ollenhauer
1946 bis 1963. Sitzungsprotokolle der Spitzengremien,Bd. 2: 1948-1950, Bonn 2003, S. 123.
54 Vgl. AddFKassel, SP-1, Heinrich v. Brentano an Theanolte Bahnisch, Darmstadt, 24.
April 1964. Dort schreibt er: Ich denke immer wieder gerne an die vorzugliche Zusammenarbeit mitlh-
nen, und hoffe, dass wir sie wenigstens im Rahmen der europaischen Bewegung fortsetzen kbnnen, woun-
sere Vorstellungen, Wunsche undZieleja vollig iibereinstimmen. Brentano war zunachst Mitglied des
Hessischen Landtages und Fraktionsvorsitzender der CDU, dann Mitglied des Parlamentari-
schen Rates, anschlieBend Mitglied des Bundestages und spaterBundesauBenminister. Ergilt
als einer der maBgeblichen Wegbereiter der europaischen Integration von deutscher Seite.
55 Christine Teusch wurde 1947 Kultusministerin von Nordhrein-Westfalen. Gemein-
sam mit Theanolte Bahnisch oblag ihr die Leitung der kulturpolitischen Sektion im deut-
schen Rat der Europaischen Bewegung" und dort unter anderem die Auswahl deutscher Be
werber fur das Europakolleg in Brugge.
Theanolte Bahnisch 415
Bahnisch eine engere Kooperation zwischen der Sozialdemokratie und den Kir-
chen an, im „christlichen Sozialismus" sah sie die wiinschenswerte Grundlage fiir
diejunge Demokratie.56
5. „Eine Briicke zur Bevolkerung": Die Regierungsprdsidentin Bahnisch
Im Marz 1946 wurde Bahnisch zunachst zur Regierungsvizeprasidentin, im Sep-
tember des Jahres dann zur Regierungsprasidentin des Bezirks Hannover er-
nannt. Dieses Amt, von Barbel Clemens in Anbetracht der schwierigen Nach-
kriegslage wohl nicht zu Unrecht als „Biirde und Herausforderung" zugleich be-
zeichnet,57 iibte sie 13 Jahre lang aus.58 Ihr Amt fiillte sie mit groBem Tatendrang
aus, widmete sich, gema.6 ihrem Ziel, die in der politikwissenschaftlichen Litera-
tur oft als „unbekannte Behorde" titulierte Mittelinstanz 59 eine Briicke zur Bevolke-
rung60 sein zu lassen, den zentralen Problemen Fliichtlingselend (eine ihrerersten
Amtshandlungen war die Einrichtung des Jugenfliichtlingslagers Poggenha-
gen),61 Wohnraummangel, Arbeitslosigkeit, Krankheit und Mangelernahrung
und forderte dabei wiederholt - so ist aus den Protokollen derBesprechungen mit
Kollegen und Vorgesetzen zu lesen - eine unbiirokratischere Zusammenarbeit
der Dezernate sowie eine groBere Freiheit der Regierungsprasidenten bei der
Verteilung von Geldern, vor allem in Bezug auf den sozialen Wohnungsbau.62
Landesweite Achtung in der Bevolkerung erwarb sie sich unter anderem mit ihrer
Aktion, die Generale Clay und Robertson auf die Notlage der Bevolkerung auf-
merksam zu machen, indem sie diesen ein Tablett mit der von den Alliierten fest-
gelegten schmalen taglichen Nahrungsration pro Kopf prasentierte.63 Ende 1946
brach sie zu ihrer ersten Nachkriegsreise nach GroBbritannien auf, im Gepack
56 AdSD Bonn, Kurt Schumacher, Mappe 174.
57 Clemens, wie Anm. 21, S. 202.
58 Sie verwaltete den Bezirk also nicht nur unter der Schirmherrschaft Kopfs, sondern
auch in der Amtsperiode des Ministerprasidenten Heinrich Hellwege, DVP, 1955-1959.
59 Uber das Regierungsprasidium als Behorde existiert kaum Forschungsliteratur, nicht
mehr aktuell aber aus genanntem Grund noch immer sehr niitzlich: Friedrich Fonk, Die Be-
horde des Regierungsprasidenten: Funktionen, Zustandigkeiten, Organisation, Berlin 1967.
60 Schareina, wie Anm. 29.
61 Vgl. Use Langner, Regierungsprasident Theanolte Bahnisch, in: Die Zeit, 21. Febru-
ar 1957, Kopie o. Nr. in: Archiv der sozialen Demokratie, Sammlung Personalia - Theanolte
Bahnisch.
62 HStA Hannover, Nds. 120 Hannover, Ace. 176/91, Nr. 27, Protokoll der Dienstbespre-
chung mit den Regierungsprasidenten im Niedersachsischen Ministerium des Innern, Nie-
dersachsisches Ministerium des Innern, Hann., 26. Juni 1952.
63 Vgl. Herbert Wolf, Herbert Wolf iiber Theanolte Bahnisch, in: Die Stimme der Frau
1, 1948/49, H. 1.
416 Nadine Freund
Arbeitsberichte der Wohltatigkeitsorganisationen, Material zur weiblichen Poli-
zei, zum Schulwesen, zur Frauenarbeit, zu Fliichtlingsunterkiinften, zur Gesund-
heitslage und zur lokalen Politik. Damit wollte sie eine groBere Unterstiitzung der
Labour Regierung, aber auch der britischen Wohlfahrtsorganisationen fur die Be-
volkerung in der Region erwirken. Vom British National Council des Internatio-
nal Council of Women eingeladen64 reiste Bahnisch in einerDoppelfunktion: Als
eine der Vertreterinnen der neuen deutschen Frauenbewegung65 und als Regie-
rungsprasidentin. Dieser Einladung nach England sollten bald weitere folgen, so
auch eine der Hansard Society.66 Auch auf anderen Ebenen suchte Bahnisch iiber
die Region Hannover den AnschluB an andere Europaische Lander: Eng arbeite-
te sie beispielsweise zusammen mit der Professorin Katharina Petersen,67 Regie-
rungsdirektorin im Niedersachsischen Bildungsministerium und Initiatorin der
Hannover-Bristol-Society,68 die im Rahmen eines deutsch-britischen Experten-
zirkels an der Hochschulreform in Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg
mitwirkte sowie mit dem bereits mehrfach erwahnten Minister fur Bildung und
Kultur, Adolf Grimme, der den Wiederaufbau des Volkshochschulwesens in der
Region vorantrieb und dabei besonders den Personen-Austausch mit den Nie-
derlanden, Schweden und GroBbritannien unterstiitzte. Die Nahe Hannovers zu
Biinde und Herford, zwei Sitzen der Militarregierung, machten es Bahnisch
leicht, intensiven Kontakt zu den Briten zu halten.
Besonderes Augenmerk legte die Regierungsprasidentin bei ihrer Arbeit auf
die Lage derFrauen im Bezirk: So ordnete sie beispielsweise an, daB die regionale
64 AddFKassel, SP-1, Auslandsreisen der Frau Regierungsprasident Bahnisch, o. V.,o. D.
65 Mit ihr reisten Agnes von Zahn-Harnack und Else Ulich-Beil, mit denen Bahnisch
spater den Deutschen Frauenring griindete.
66 StA Hannover, Nds. 50, Ace. 75/88, Nr. 1, Regierungsprasidentin Bahnisch an Mini-
sterprasident Kopf, Hannover den 03. Januar 1949. Die Hansard-Society ist eine 1944 ge-
griindete, britische Nicht-Regierungsorganisation, welche sich die Starkung parlamentari-
scher Demokratie zum Ziel setzt und die Gesellschaft zu starkerer Feilhabe am politischen
Geschehen bewegen mochte. Vgl. www.hansardsociety.org.uk.
67 Petersen trat am 01. Januar 1946 ihren Dienst als Regierungs- und Schulratin im
Obersprasidium Hannover an und wurde am 19.12.1947 zur Regierungsdirektorin fur
Volks-, Mittel- und Sonderschulen im Niedersachsischen Kultusministerium ernannt. Zu ih-
rem Wirken vor 1945 vgl. Alexander Hesse, Die Professoren und Dozenten der preuBischen
Padagogischen Akademien (1926-1933) und Hochschulen fur Lehrerfortbildung (1933-
1941), Weinheim 1995, zu ihren Leistungen nach 1945 vgl. Inge Hansen-Schaberg, Riick-
kehr und Neuanfang. Die Wirkungsmoglichkeiten der Padagoginnen Olga Essig, Katharina
Petersen, Anna Siemsen und Minna Specht im westlichen Deutschland der Nachkriegszeit,
in: Jahrbuch fur historische Bildungsforschung, Bd. 1, 1993, S. 319-338, hier S. 328-331.
68 Uber die Stadtepartnerschaft hat die Stadt Hannover eine Broschure herausgegeben.
Vgl. Landeshauptstadt Hannover/Klaus Meyer, Bristol - Hannover. Wie es begann, Han-
nover 1988.
Theanolte Bahnisch 417
Presse unter dem Gesichtspunkt der Frauenbewegung auszuwerten sei, 69 enga-
gierte sich fur die Entsendung besonders von Mitarbeiterinnen der Verwaltung
zu Fortbildungskursen70 und fungierte selbst als Leiterin solcherKurse.71 SchlieB-
lich erhielt sie Arbeitsberichte von den Kreisinspektoren und Landraten, die den
Themen Frauenberufstatigkeit, weibliche Fliichtlinge, Krankheitsbildern bei
Frauen und aus sozialer Not resultierender Delinquenz von Frauen besondere Be-
achtung zollen,72 was auf eine dahingehende Instruktion von Seiten der Regie-
rungsprasidentin schlieBen laBt. 1948 unterbreitete sie den Briten einen Plan zur
Errichtung einer Frauenverwaltungsschule, nach dem Modell der in den bereits
bestehenden Verwaltungsschulen in Hahnenklee und Bodenforde angebotenen
Frauenkurse, aus dem recht unschwer zu erkennen ist, daB Bahnisch selbst gem
die Rolle der Leiterin einer solchen Schule iibernehmen wollte. Der Plan stieB auf
reges Interesse bei der Militarregierung, scheiterte letztendlich aber an finanziel-
len Mitteln.73
6. Engagement im Wiederaufbau der biirgerlichen Frauenbewegung
Die Frauen fordernde Politik im Bezirk erganzte Bahnischs frauenpolitisches Wir-
ken auf einer weiteren, mit ihrem Amt als Regierungsprasidentin personell wie
organisatorisch eng verkniipftem Ebene, ihrer Arbeit fur den Wiederaufbau der
biirgerlichen Frauenbewegung in Westdeutschland nach 1945. Mit ihren Ideen
und Planen traf Bahnisch einen Haupt-Nerv des britischen Re-education-Kon-
zeptes fur Deutschland, da in diesem den Frauen eine zentrale Rolle zugedacht
wurde: In einem Rundschreiben an alle Behorden in der Besatzungszone im
April 1946 instruierte die Militarregierung: German women should be encouraged
to take an active interest in the life of their communities and in their civic responsibility
and should achieve an appropriate education to that end.74 Das gesellschaftliche Enga-
gement von Frauen im Rahmen demokratisch organisierter Frauenverbande
entsprach dem britischen Erwachsenenbildungskonzept der „grassroots demo-
cracy", derEiniibung demokratischer Verhaltensweisen auf kleinsten organisato-
69 StA Hannover, Nds. 120 Hann., Ace 1/76 (13) Nr. 38, Der Regierungsprasident [Bah-
nisch] an Oberregierungsrat Dr. Paul, Rechtsanwalt Dr. Voges, Regierungsrat Westermann,
Regierungsinspektor Gutmann, Hannover am 5. Mai 1947.
70 National Archives (NA), UK, London, FO 1050/1593.
71 NA, UK, London, FO 371/70717, Proposal for a school for education of Women in Ci-
tizenship, Theanolte Bahnisch, o. D. [vermutlich September 1948]
72 Vgl.: Stadtarchiv Hannover, R 15, 217, Der Regierungsprasident an die Hauptstadt
Hannover, die Stadt Hameln und die Landrate des Bezirks, Einladung zur internationalen
kommunalpolitischen Konferenz in Norderney 1950, Hann. 28. Juni 1950.
73 StA Hannover, Hann. 180, Hann. g. Nr. 169.
74 I. A. &C. Division Mil. Gov. Instruction No. 78,zitiertin: Ziegler, wie Anm. 22, S. 17.
418 Nadine Freund
rischen und lokalen Nenner. Mit der Forderung solcher Unternehmungen hatte
die Militarregierung ab 1946 Offiziere betraut, die einzig fur den Bereich „Wo-
men's Affairs" zustandig waren: Sie stellten neu oder wieder gegriindeten Frauen-
verbanden Material zur Verfiigung, planten Konferenzen, auf denen sich Mitglie-
der der verschiedenen Verbande austauschen konnten, arrangierten Besuche von
prominenten Vertreterinnen derFrauenbewegung aus GroBbritannien und ande-
ren europaischen Landern in Deutschland sowie Gegenbesuche deutscher Frau-
en in GroBbritannien.75 Im Zuge des sich verscharfenden Kalten Krieges forder-
ten diese Offiziere bald - entgegen ihres urspriinglichen Planes - die Griindung
einer zonenweiten Frauenorganisation, die eine Front gegen den von der Sowjeti-
schen Militaradministration kontrollierten kommunistischen Frauenverband,
den Demokratischen Frauenbund Deutschlands (DFD) 76 bilden sollte.77 Dieser
war am 8. Marz 1947 offiziell in der sowjetischen Besatzungszone gegriindet wor-
den. Schon 1945 war allerdings von der sowjetischen Militarregierung die Bil-
dung von Frauenverbanden bei den Parteien verboten und die Zusammenfiih-
rung allerin der sowjetischen Besatzungszone existierenden Frauenverbande un-
ter dem Dach eines Zentralen Frauenausschusses vorbereitet worden. Die
Westmachte befiirchteten durch den schnell wachsenden DFD eine kommunisti-
sche Beeinflussung der Frauen auch in Westdeutschland, zumal der DFD bald
auch in den westlichen Besatzungszonen politische Arbeit betrieb und Griindun-
gen vornahm.78 Ein schnelles Handeln schien also geboten: In Bahnischs im Juni
1946 gemeinsam mit den Genossinnen Anna Mosolf, Katharina Petersen, Anita
Prejawa und derKommunistin Elfriede Paul79 gegriindeten iiberparteilichen und
75 Die Einladung von Protagonistinnen deutscher Frauenorganisationen diente nicht
zuletzt der sogenannten „Projection of Britain": Zuriick in Deutschland sollten die ausge-
wahlten Multiplikatorinnen von ihren Erfahrungen mit Land und Leuten berichten und bri-
tische Ansatze in Frauen- und Wohlfahrtsarbeit in Deutschland popular machen. Theanolte
Bahnisch wurde diesem Ansinnen der Besatzungsregierung in vielfacher Hinsicht gerecht:
Sie berichtete in Versammlungen von ihrer Reise, bewarb britische Frauenorganisationen in
der von ihr herausgegebenen Zeitschrift „Stimme der Frau" und motivierte weitere Frauen,
nach GroBbritannien zu reisen. Inwiefern sie praktische Anregungen auch in ihrer Arbeit
im Deutschen Frauenring umzusetzen versuchte, ist beim gegenwartigen Stand der For-
schung noch nicht eindeutig zu beantworten. Dazu vgl. Tscharntke sowie Ziegler, beide
wie Anm. 22.
76 Vgl. Corinne BouilloT/Elke Schuller, „Eine machtvolle Frauenorganisation" -
oder: „Der Schwamm, der die Frauen aufsaugen soil". Ein deutsch-deutscher Vergleich der
Frauenzusammenschliisse in der Nachkriegszeit, in: Ariadne 11, 1995, H. 27, S. 47-55.
77 NA, UK, London, FO 1036/52. Political developments leading to the Deutscher Frau-
enkongreB Pyrmont.
78 Vgl. Bouillot/Schuller, wie Anm. 76.
79 Dr. med. Elfriede Paul (KPD) war Ministerin fur Wiederaufbau in Niedersachsen.
Wahrend des Nationalsozialismus war sie in der Widerstandsbewegung „Rote Kapelle" en-
Theanolte Bahnisch 419
iiberkonfessionellen „Club deutscher Frauen Hannovers" sahen die Briten eine
vielversprechende Organisationsform, weshalb sie sowohl die Konstituierung
des Frauenringes der britischen Zone in Bad Pyrmont im Juni 1947 unter Bah-
nisch, als auch die des Deutschen Frauenringes 1949 als iiberparteilichen und
iiberkonfessionellen Dachverband von Frauenorganisationen aller Westzonen
unterstiitzten und seine Organisationsform als Leitmodell in den Westzonen/der
Bundesrepublik propagierten. Auch die US-amerikanische Militarregierung
sprang 1947 auf den Zug der Frauen-Re-education auf und „kopierte" die institu-
tionellen Einrichtungen der Briten in Bezug auf die „Women's Affairs" fiir den ei-
genen Apparat weitgehend.80 Ihren Beitrag zur Etablierung des DFRleistete sie,
indem sie unter anderem die Raumlichkeiten fiir die Griindungstagung organi-
sierte. Neben deutschen Reprasentantinnen von 42 Frauenausschiissen, -organis-
ationen und -vereinen, deren Zahl auf 240 geschatzt wird, kamen viele weitere
prominente Gaste zur Griindungs-Konferenz des Deutschen Frauenringes: Ver-
treterinnen von europaischen und amerikanischen Frauenvereinen, Offiziere der
drei Westmachte und deutsche Politiker.81
Hatte Bahnisch dem Gedanken derFrauenbildung 1945 noch Unmut entgegen
gebracht, so fiihlte sie sich 1946 scheinbarin derPflicht. Zum zehnjahrigenjubi-
laum des DFR 1959 erklarte sie, mittlerweile Ehrenprasidentin des Verbandes,
mit Blickauf die Verhaltnisse imjahr 1946: Ich beobachtete starke Versuche kommuni-
stischer Frauen, sich diese Tatsache [daB 2/3 der Wahler Frauen waren] zu nutze zu ma-
rten und die Frauen in iiberparteilich getarnten, aber unter kommunistischer Fiihrung ste-
henden Gruppen zusammenzuschlieJSen. Diese Gefahrfur die deutschen Frauen war um so
grofier als sie ja seit 1933 durch Hitler von jeder Tatigkeit im offentlichen Leben ausge-
schlossen waren und deshalb politisch vdllig ahnungslos den kommunistischen Versuchen
ausgeliefert waren. Es gab nur eine Mbglichkeit, dieser Gefahr zu begegnen: die deutschen
Frauen wieder in eigenen Verbanden zusammenzuschliejien und staatsbiirgerlich aufzukla-
ren.82 Unter „staatsbiirgerlicher Aufklarung" verstand Bahnisch, Frauen dazu zu
befahigen, eigenverantwortlich politisch zu handeln: Demokratie zu leben durch
die Wahrnehmung des Wahlrechts, durch die Mitarbeit in Vereinen, Verbanden
und Parteien, durch Prasenz und Artikulation der eigenen Ideen und Interessen
in der Offentlichkeit. Die Arbeit von Frauen in Frauenverbanden begriff sie als
„vorpolitisches Feld", das Frauen aller Berufs- und Altersgruppen fiir die „eigent-
gagiert. Schon 1946 ging Paul in die Sowjetische Besatzungszone, das Verhaltnis zwischen
ihr und Bahnisch zerbrach im Zuge des sich verstarkenden Ost-West-Konflikts.
80 Vgl. Tscharntke, wie Anm. 22, S. 139/140 sowie Ziegler, wie Anm. 22, S. 136-138
81 Vgl.: Henicz/Hirschfeld, Wenn die Frauen wiissten, wie Anm. 21, S. 135.
82 Theanolte Bahnisch, Vom Wiederaufbau der Frauenarbeit nach dem Zusammen-
bruch 1945. Vortrag zum lOjahrigen Bestehen des Deutschen Frauenrings, in: Madchenbil-
dung und Frauenschaffen 10, 1960, H. 4, S. 162-180, hier S. 162/163.
420 Nadine Freund
liche" politische Arbeit in Parteien und Parlamenten schulen sollte. Dabei sah
sich die 1899 geborene Bahnisch als „Fackeltragerin" derldeen aus der Vorkriegs-
frauenbewegung, die sich in der Weimarer Republik an Figuren wie Gertrud Ball-
mer (1873) , Agnes von Zahn-Harnack (1884) , Else Ulich-Beil (1886) und Dorothee
von Velsen festmachen laBt, in die jiingere Generation.
Vermutlich aus ihrer Zeit in Berlin verfiigte Bahnisch iiber Kontakte zu diesen
leitenden Personen der Frauenbewegung, insbesondere zu Agnes von Zahn-Har-
nack, der Schwester des schon erwahnten Ernst von Harnack und Tochter des
Theologen Adolf von Harnack, einer der zentralen Figuren des deutschen Kultur-
protestantismus83 im 19. Jahrhundert. Dort, im liberal-protestantischen Milieu,
hatte die biirgerliche Frauenbewegung, an deren Ideen Bahnisch nach 1945
wieder ankniipfte, ihre Wurzeln, hier war der Gedanke entstanden, die „miitterli-
chen Krafte" derFrauen nicht langernurim Rahmen derbiirgerlichen Kleinfami-
lie zur Entfaltung kommen zu lassen, sondern die dem Begriff „Miitterlichkeit"
zugrunde liegende Trias Empathie - Fiirsorglichkeit - Sittlichkeit zu einer Kate-
gorie gesamtgesellschaftlicher Relevanz werden zu lassen, was wiederum bedeu-
tete, Prasenz und Engagement von Frauen in der Offentlichkeit, vor allem im
Wohlfahrts- und Bildungssektor zu forcieren und in diesem Zuge auch verstarkte
Rechte zur Mitsprache, das Wahlrecht eingeschlossen, zu fordern. Frauen waren
berufen, ihren Beitrag zur Hebung derbiirgerlichen Gesellschaft durch individu-
elles Bildungs- und Leistungsstreben zu erbringen und der Berufsarbeit des Man-
ner die „Miitterlichkeit" als Profession zur Seite stellen.84
Die Regierungs- und Schulratin sowie spatere Mitbegriinderin der Gewerk-
schaft Erziehung und Wissenschaft, Anna Mosolf, mit der Bahnisch ab 1948 auch
die „Stimme der Frau" herausgab, forderte als eines der Griindungsmitglieder des
Club deutscher Frauen in Hannover 1946 in diesem Sinne die brachliegenden miit-
terlichen Krdfte85 zu nutzen, um die Nachkriegsnot zu iiberwinden, Frauen staats-
biirgerlich zu bilden, den WiederanschluB an die Frauen in der Welt zu finden
und zur Wiedererweckung eines gesunden Nationalstolzes beizutragen.86 Jenen
83 Als Kulturprotestantismus wird erne Stromung des Neuprotestantismus definiert, die
einen kirchenfeindlichen Liberalismus ebenso ablehnte wie den kirchlichen Konfessionalis-
mus, sondern danach strebte, dass Kirche und moderne Kultur im Sinne einer kulturellen
Hebung dergesamten Gesellschaft eine gewinnbringende Verbindung eingehen. Vgl. dazu:
Hans M. Muller, Kulturprotestantismus. Beitrage zu einer Gestalt des modernen Christen-
tums, Giitersloh 1992.
84 Vgl. Gisa Bauer, Kulturprotestantismus und friihe biirgerliche Frauenbewegung" in
Deutschland. Agnes von Zahn-Harnack (1884-1950), Leipzig 2006.
85 Club deutscher Frauen: Protokoll der ersten Kundgebung, o. O., o. J., abgedruckt in:
Kuhn, wie Anm. 21, S. 224-226, hier S. 224/225.
86 Vgl.: „Club deutscher Frauen" in Hannover, in: Neuer Hannoverscher Kurier, 7. Juni
1946, S. 6.
Theanolte Bahnisch 421
Zielen fiihlten sich auch die aus dem Club deutscher Frauen 1947 beziehungswei-
se 1949 entstandenen Organisationen „Frauenring der britischen Zone" und
„Deutscher Frauenring" (DFR) verbunden. Die Griindung des DFR 1949 in Pyr-
mont bedeutet fur Bahnisch den Vorsitz einer westdeutschlandweiten Frauenor-
ganisation, die sich zum Ziel gesetzt hatte, Dachorganisation aller dem Gedanken
der staatsbiirgerlichen Frauenbildung nahestehenden Frauenorganisationen zu
werden. Dem Griindungsvorstand gehorten auBerdem an: Gabriele Strecker
(CDU), Marie-Elisabeth Liiders (LDPD), Else Ulich-Beil und Agnes von Zahn-
Harnack.
Seine zentrale Aufgabe sah der DFR, dessen Arbeit so strukturiert war, daB je-
weils ein Landesverband einen Arbeits-AusschuB bildete, in seinem staatsbiirger-
lichen AusschuB, der vor allem Vortragsreihen und Kurse zu den Themenkom-
plexen Frauenbewegung, Demokratie, „Deutschland in Europa" sowie „Recht
und Verwaltung" organisierte und dabei mit den Zentralen fur Heimatdienst
(heute Zentralen fur politische Bildung) zusammenarbeitete. Ein weiteres wichti-
ges Arbeitsgebiet des DFR war die „gesamtdeutsche Arbeit", in deren Rahmen
„Aufklarungsarbeit iiber den Osten" geleistet und Pressearbeit nach Ostdeutsch-
land betrieben, aber auch im Rahmen der „Packchenhilfe Ost"87 dauernde - be-
ziehungsweise wahrend der Berlin-Blockade88 verstarkte - materielle Prasenz des
Westens gezeigt wurde. Der RechtsausschuB des DFR sorgte unter anderem fur
die Berufung von Frauen an das Bundesverfassungsgericht89 und engagierte sich
im Rahmen derjuristentage90 und in Zusammenarbeit mit dem deutschen Juri-
87 Ute Gerhard schreibt, der DFR habe in manchen Ortsringen bis in die siebziger Jahre
hinein regelmaBig „Zonenpakete" gepackt und wertet dies als Bestandteil der Aufklarung iiber
den Kommunismus im Rahmen der staatsbiirgerlichen Bildung. Vgl. Ute Gerhardt, „Fern
von jedem Suffragettentum." Frauenpolitik in Deutschland nach 1945, eine Bewegung der
Frauen? in: Irene Bandhauer-Schoffmann/ Claire Duchen (Hrsg.), Nach dem Krieg. Frauen-
leben in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, Herbolzheim 2000, S. 175-200, hier S. 191.
88 Vgl. Frauen des Westens helft den Berliner Miittern und Kindern, o. V., in: Die Stim-
me der Frau 1, 1948/49, H. 3, S. 3.
89 Mit maBgeblichem Engagement des Deutschen Frauenringes gelang 1951 die Beru-
fung von Erna Scheffler an das Bundesverfassungsgericht, die, als Halbjiidin von den Natio-
nalsozialisten verfolgt, von ihrer Position als Amtsgerichtsratin in Berlin zunachst „beur-
laubt" worden, dann mit Berufsverbot belegt worden war. 1948 wurde sie Verwaltungsge-
richtsratin, spater Verwaltungsgerichtsdirektorin am Verwaltungsgericht Diisseldorf. Mit
einem Referat zum Thema „Gleichstellung von Mann und Frau" empfahl sie sich auf dem
Juristentag 1950 als Bundesverfassungsrichterin. Bis 1961 war Scheffler Richterin am BVG.
90 1950 war Theanolte Bahnisch Vorsitzende der Biirgerlich-Rechtlichen Sektion auf
dem deutschen Juristentag. Vgl. Verhandlungen des 38. deutschen Juristentages in Frank-
furt am Main 1950, hrsg. von der standigen Deputation des deutschen Juristentages, Tubin-
gen 1951. Erna Scheffler hielt das Eingangsreferat zum Thema „Gleichberechtigung". Vgl.
Ebd., B3 - B27.
422 Nadine Freund
stinnenbund, aber auch durch Eingaben und Gutachten fur eine Erweiterung der
Rechte von Frauen in Staat, Beruf und Familie. Dem internationalen AusschuB
gelang schlieBlich 1951 die Aufhahme des DFR als Rechtsnachfolger des Bund
deutscher Frauen (BDF) in den International Council of Women (ICW),91 dermit
beratender Stimme an den General versammlungen der Vereinten Nationen (UN)
teilnahm. Die Selbstdefinition des ICW als Internationaler Verband von Frauen-
vereinen „westlicher Denkungsart"92 verdeutlichte die gewollte Abgrenzung von
der Internationalen Demokratischen Frauenfoderation (IDFF), der der ostdeut-
sche Verband DFD angehorte.
7. tiberparteiliche versus partei-interne Frauenarbeit
Die Griindung und maBgebliche Unterstiitzung des DFR durch die Westmachte
geschah sehr zum Leidwesen weiter Teile der SPD-internen Frauenbewegung um
Herta Gotthelf, die als Mitglied des Parteivorstandes ebenfalls von Hannover aus
frauenpolitische Arbeit betrieb 93 und auf britische Unterstiitzung fiir ihre Frauen-
arbeit innerhalb der Partei hoffte. Sie neidete der Organisation Bahnischs die ide-
elle wie finanzielle Unterstiitzung durch die Briten, die Papierzuteilungen fiir die
Publikation von Zeitschriften, die Sendezeit im Frauenfunk der Rundfunkanstal-
ten, die Platze in internationalen Austauschprogrammen und nicht zuletzt: die
Mitglieder. Trotz wiederholter Protestschreiben Gotthelfs an die Militarregie-
rung, in denen sie kritisierte, daB die iiberparteiliche, vermeintlich unpolitische
Frauenorganisation DFRgegeniiberdervonihrals „politisch" definierten Frauen-
91 Gegriindet 1888 war der ICW eine der ersten, international operierenden Frauen-
organisationen.
92 In ihrer Funktion als Vizeprasidentin des ICW schrieb Bahnisch 1964 in einem Brief
an den Atomminister a. D. (CSU) und Prasidenten der Bundesvereinigung der Arbeitgeber-
verbande (VDA) Dr. Siegfried Balke, um Spendengelder aus der chemischen Industrie ein-
zuwerben: „DerI.C.W[. . .] ist die mafigebende iiberparteiliche und uberkonfessionelle Frauenorga-
nisation in der Welt mitjetzt 58 angeschlossenen National Councils westlicher Denkungsart. [. . .] Um
harte Kerne gegen den Kommunismus zu bilden, haben voir in den letztenjahren zahlreiche Neugriin-
dungen in Asien, Afrika und Sudamerika vorgenommen. [. . .] Unser Ziel ist die staatsbiirgerliche Er-
ziehung der Frauen, um ihnen politische Einsichten zu vermitteln und sie dazu zu bringen, verantwort-
lich im bffentlichen Leben mitzuwirken. Denn wir denken an die Zukunft unserer Kinder, die wir mit-
gestalten a>o/fe?2. "(AddFKassel, SP-1, Theanolte Bahnisch an Prof. Dr. Balke am 20. Oktober
1964.)
93 Zur Bedeutung Herta Gotthelfs vgl. Karin Gille, „Kennen sie Herta Gotthelf?" Eine
Parteifunktionarin im Schatten von Elisabeth Selbert, in: Bartmann, Sylke/ Gille, Karin/
Haunss, Sebastian (Hrsg.): Kollektives Handeln: politische Mobilisierung zwischen Struktur
und Identitat; Beitrage der wissenschaftlichen Tagung der Promotionsstipendiatinnen und
Promotionsstipendiaten der Hans-Bockler-Stiftung vom 20. bis 23. Mai 2001 in Oer-Erken-
schwick, Diisseldorf 2002, S. 221-238.
Theanolte Bahnisch 423
arbeit innerhalb der Parteien bevorzugt wurde, hatte Gotthelf, die eine Zusam-
menarbeit mit „den Biirgerlichen" dezidiert ablehnte, keinen Erfolg. Der Arger
iiber Bahnisch gipfelte darin, daB Fritz Heine sich als erklarter Verteidiger Gott-
helfs schlieBlich an Duncan Wilson (Political Division) wand, um Klarung in der
Angelegenheit zu erwirken.94 Daraufhin definierte Robertson, der britische
Oberbefehlshaber, in dessen Hande das Schreiben schlieBlich gelangt war, nach
Riicksprachen mit den Officers in Deutschland, in einem Schreiben an Paken-
ham, dem Leiter der German Section im Foreign Office, unmiBverstandlich seine
und damit Bahnischs Position: At the risk of being misunderstood [. . .] by the S.P.D.
headquarters, we should [. . .] back the non-party form of organisations represented by the
Frauenring under the leadership ofFrau Baehnisch. Such an organisation is by no means
non-political. Frau Baehnisch herself is an energetic S.P.D. - Member and Regierungsprasi-
dentin ofRB [Regierungsbezirk, N.F.] Hannover. Unterstreichend fiigt er hinzu: The
most successfull type of political indoctrination will be fairly indirect and must be carefully
mixed with non-political interests and activities?5 Versuche Pakenhams Gotthelf vom
Nutzen der Mitarbeit in der iiberparteilichen Frauenbewegung zu iiberzeugen,
scheiterten: Sie blieb bei der Meinung, gerade Uberparteilichkeit ermogliche den
Kommunisten die Unterwanderung von westdeutschen Frauenverbanden. Um
den Kommunisten die Angriffsflache zu nehmen, miisse man diese Verbande
auflosen. Bahnisch dagegenbekraftigte ihre Position, die Gefahr einer Unterwan-
derung bestiinde nur, weil sich die SPD-Frauen aus der iiberparteilichen Arbeit
heraushielten. Ich habe keine Lust, ein zweites 33 zu erleben und werde all meine Krdfte
einsetzen, [. . .] um es zu verhindern schrieb Bahnisch an Gotthelf und fuhrfort: Was
ich iibernommen habe ist eine hochwichtige staatspolitische Aufgabe undes ist tiefbedauer-
lich, dass sie auf ihrem so unendendlich wichtigen Posten diese Notwendigkeit verken-
nen. Sie uberlassen die Majoritdt der Frauen vollig sich selbst und das kann und will ich
nicht tun.96
Das gemeinsame Ziel der Bekampfung des Kommunismus vor Augen, schie-
nen die Positionen derbeiden SPD-Politikerinnen unvereinbar, was sich maBgeb-
lich auf ein unterschiedliches Verstandnis von „Politik" zuriickfuhren laBt: Wah-
rend Herta Gotthelf (SPD-) parteilich gebundene, ideologisch eindeutig festge-
legte Frauen als Garantinnen des demokratischen Neubeginns ansah, die
Frauenfrage deshalb als Teil des Aufbaus einer sozialdemokratischen Gesell-
schaft behandelt wissen wollte und Bahnischs Bemiihungen als „gehobenes Ge-
94 NA, UK, London, FO 371/70711, Fritz Heine an Duncan Wilson, Hannover, 24. Juni
1949.
95 NA, UK, London, FO 371/70711, General Sir Brian Robertson an Rt. Hon. Lord Pa-
kenham, 29. April 1948.
96 AdSD Bonn, SPD PV, alter Bestand, Frauenbiiro, 0244A, Theanolte Bahnisch an
Herta Gotthelf, Hannover, 29. April 1947.
424 Nadine Freund
sellschaftsspiel" oder „Kaffeekranzchen" abtat, lag das Verstandnis von „Politik",
dem die britische Militarregierung und Bahnisch anhingen, bedeutend naher an
unserem heutigen, erweiterten Politikbegriff, nach dem all das „politisch" ist, was
der Proklamation und Verhandlung von Interessen im offentlichen Raum dient.
Es beinhaltete die Uberzeugung, daB deutsche Frauen in der Nachkriegszeit zu-
nachst durch Verhandlung ihrer Ideen in einem raumlich, thematisch wie perso-
nell begrenzten Rahmen demokratisches Denken und Handeln (Argumentieren,
Diskutieren, Abstimmen, Einbringen) iiben und erlernen sollten, ohne Ein-
schrankung durch parteiliche Bindung oder ideologische Festlegung, sondern al-
lein ausgehend von personlichen Erfahrungen, Noten und Wiinschen. DaB die
Briten von diesem Konzept der staatsbiirgerlichen Frauenbildung nicht abriicken
wiirden, miiBte auch Gotthelf klar geworden sein, unmiBverstandlich hatte man
ihr deutlich gemacht, daB die einzige Moglichkeit, ihren EinfluBspielraum zu ver-
groBern iiber die Beteiligung an der Arbeit des Deutschen Frauenringes gefiihrt
hatte.
Versuche, von Seiten der SPD-Politikerinnen um Gotthelf, den Genossinnen
die Mitarbeit in Bahnischs Organisation schlichtweg zu verbieten, scheiterten.
Der Zulauf zum Deutschen Frauenring wuchs, auch aus den Reihen der SPD.
Schumacher sollte ein Machtwort sprechen, verlangte Herta Gotthelf. Der Partei-
vorsitzende sprach auf dem Frankfurter Parteitag am 2. Juni 1947, doch was er
sprach, war, wohl nicht unbeabsichtigt, verschieden auslegbar: Die Zugehorigkeit
zu einer eigenstandigen Frauenpartei oder einer eindeutig von der Politik einer
gegnerischen Partei bestimmten Organisation lieBe sich zwar mit der Mitglied-
schaft in der SPD nicht vereinbaren. Die Tatigkeit in einer anderen Sonderorga-
nisation hinge jedoch vom freien personlichen EntschluB der SPD-Mitglieder ab,
solange daraus eine Beeintrachtigung der Arbeit in der Partei nicht resultiere, da
die Kraft der Funktionarinnen in erster Linie der Partei zur Verfiigung stehen sol-
le, verkiindete Schumacher.97 So proklamierten Bahnischs Gegner, basierend auf
diese Ausfiihrungen, fortan, die Mitarbeit im DFR sei nicht erwiinscht, wahrend
ihre Fiirsprecher wenig beeindruckt entgegneten, sie sei schlieBlich auch nicht
verboten.98 Es ist anzunehmen, daB sich Schumacher zu einer eindeutigen Aussa-
ge deshalb nicht durchrang, weil er Bahnischs Logik, durch eine nicht parteilich
gebundene, auch praktische Komponenten (vor allem Wohlfahrtsleistungen) ein-
beziehende Arbeit von „Parteilichkeiten" abgeschreckte Frauen eher ansprechen
und diese somit erfolgreich vom geschickt agitierenden kommunistischen Frau-
97 AdSD Bonn, SPD PV, alter Bestand, Mappe 0244A, Auszug aus einer Rede Dr. Schu-
machers in der P.V. Sitzung in Frankfurt am Main am 2. Juni 1947.
98 Vgl. AdSD Bonn, Biiro Schumacher, Frauenbiiro, Korrespondenzen Gotthelfs mit
den verschiedenen Parteibezirken, passim.
Theanolte Bahnisch 425
enverband fernhalten zu konnen, nicht von der Hand weisen konnte. Die Be-
kampfung des Kommunismus und der Kommunisten, die er wie Bahnisch als
„rotlackierte Nazis" ansah, war schlieBlich erklartes Ziel auch Schumachers.
Im Juli 1951 nutzt Herta Gotthelf die Gelegenheit anlaBlich eines Artikels in
der „Times", der die bevorstehende SchlieBung der Women's Affairs Sections the-
matisiert, das Foreign Office zu seinem EntschluB zu begliickwiinschen, in der
Uberzeugung, daB die Unterstiitzung der iiberparteilichen Frauenorganisationen
in Deutschland damit beendet sei." Entscheidende Wegmarken, die bis in die
Gegenwart wirken, waren zu dieser Zeit jedoch gelegt: Nora Melle, vorher Leite-
rin des Ausschusses fiirgesamtdeutsche Fragen im Deutschen Frauenring war mit
der Fuhrung des „Informationsdienst Frauenfragen" betraut worden, den die
amerikanische Militarverwaltung, kurz bevor diese sich ebenfalls aus Deutsch-
land zuriickzog, ins Leben gerufen hatte, um die deutschen Frauenvereine und
-initiativen nach dem Abzug der Militarregierung mit Material zu versorgen. Bah-
nisch war es auBerdem gelungen, Dorothea Karsten, zuvor Mitarbeiterin im Re-
gierungsprasidium Hannover und Leiterin des dem DFR untergliederten „Ver-
band der Frauen in sozialen Berufen", im Bundesinnenministerium als Leiterin
des Referats fur Frauenfragen zu implementieren. Auch in Verbraucherausschiis-
sen sowie Handelsverbanden war der DFR beratend tatig. SchlieBlich war die
Re-etablierung des Deutschen Rotes Kreuzes,100 das freilich eine von der Sozial-
demokratie abweichende soziale Idee vertrat und in SPD-Kreisen wegen der
kriegserhaltenden Beteiligung in beiden Weltkriegen kritisch beaugt wurde, nicht
zuletzt im SchulterschluB mit dem DFR gesichert worden. Der Frauenpolitik in
der jungen Republik hatte Bahnisch mit ihrer iiberparteilich-antikommunisti-
schen Arbeit so nicht zuletzt institutionell ihren Stempel aufgedriickt. 1952 zog
sich Bahnisch, fast mochte man meinen, „nach getaner Arbeit" zunachst ein Stuck
weit aus der Frauenbewegung zuriick: sie legte ihr Amt als Prasidentin des DFR
nieder, in Folge beruflicher Uberlastung. Der Frauenbewegung blieb sie jedoch
verbunden, engagierte sich dahingehend in ihrem Regierungsamt und bald auch
schon auf internationalem Niveau, als Leiterin des Ausschusses fiir internationale
Fragen im ICW, 1961 sogar als dessen Vizeprasidentin.
99 AdSD Bonn, SPD-PV (alter Bestand) , Nr. 0203 A, Herta Gotthelf an den Herausgeber
der Times, Bonn, 5. Juli 1951.
100 Bahnisch selbst war Vorstandsmitglied des DRK-Kreisverbandes Hannover Stadt.
Vgl. Stadtarchiv Hannover, HR 15, 565, Satzung des Deutschen Roten Kreuzes Kreisver-
band Hannover Stadt vom 21. April 1948.
426 Nadine Freund
8. Die Zeitschrift „Stimme der Frau"
Theanolte Bahnischs Ziele und Werthorizonte werden greifbar vor allem auch in
der ab Juni 1948 in Hannover erscheinenden Zeitschrift „Stimme der Frau":101
Der Inhalt der Zeitschrift orientiert sich wie der der anderen in Nachkriegs-
deutschland am angenommenen Bediirfnis derFrauen nach Ratgeberartikeln zur
Bewaltigung der Nachkriegsnot und nach Zerstreuung, weshalb Kurz- und Fort-
setzungsgeschichten sowie Ratsel geboten werden. Sie bedient aber- und das un-
terscheidet sie von vielen anderen Frauenzeitschriften ihrer Zeit, beispielsweise
der auflagenstarksten, der „Constanze", - den kulturpolitischen Anspruch, den
die Besatzer an die Nachkriegspresse hegten: In der „Stimme der Frau" erschei-
nen Artikel iiber frauenpolitisches Wirken im Bildungs-, Wohlfahrts- und politi-
schen Bereich in Deutschland, aber auch im Ausland, solche iiber Kunst und Kul-
tur sowie iiber Padagogik und zu Rechtsfragen. Im Bereich „Erziehung" wird oft
eine Briicke zwischen individueller Verantwortung der Frauen als Erzieherinnen
der Kinder und der gesamtgesellschaftlichen VerfaBtheit geschlagen, beispiels-
weise in einem Artikel, der, angeregt durch die nationalsozialistischen, gefiihls-
verneinenden Erziehungsmethoden, betitelt ist mit „Ein Madchen kann nicht
weinen" und dazu anregt, zu einem verstandnisvolleren, gefiihlsbetonten Erzie-
hungsstil zuriickzufinden.102
Einer allgemein hohen Wertschatzung europaischer, als „abendlandisch" de-
klarierter Kultur in den Beitragen der Zeitschrift steht eine deutliche Abwertung
des Kommunismus und der Sowjetunion, zuweilen auch der Slawen gegeniiber.
Als zentral fur diese Gegeniiberstellung „Ost" gegen „West" sind die in der Zeit-
schrift umrissenen Implikationen des Begriffes „Weiblichkeit" bzw. „Miitterlich-
101 Die „Stimme der Frau" erschien zunachst in Hannover, im „Stimme der Frau" - Ver-
lag, ab Marz 1949 im Hamburger Jahreszeiten-Verlag. Der Jahreszeiten-Verlag, Bestandteil
der Ganske Verlagsgruppe, publiziert die Zeitschrift noch heute unter dem 1957 eingefiihr-
ten Titel „Fur Sie". Auch nach dem Wechsel des Verlages blieb Bahnisch Herausgeberin der
Zeitschrift. DaB der Jahreszeiten-Verlag die „Stimme der Frau" 1950 als „modische Frauen-
zeitschrift fur alle Fragen in Familie und Haushalt" bewarb, zeugt von der deutliche Feuille-
tonisierung, die die Zeitschrift ab 1950 erfahrt. (ADW-Zeitungskatalog 1950, zitiert in: Syl-
via Lott, Die Frauenzeitschriften von Hans Huffzky undjohn Jahr. Zur Geschichte der deut-
schen Frauenzeitschrift zwischen 1933 und 1970, Berlin 1984, S. 387. Die Studie stellt einen
gelungenen Uberblick iiber den Frauenzeitschriftenmarkt in dem Zeitraum dar und nimmt
Stellung zu den verschiedenen Richtungen derZeitschriften.) Bei einer Auflage von 105.000
Exemplaren 1950 wird der weiteste Leserkreis der „Stimme der Frau" fiir diese Zeit auf 1,2 %
der Bevolkerung geschatzt. (Angeben des Instituts fiir Demoskopie, Allensbach, nach Lott,
S. 400).
102 Hansi Kessler, Ein psychologisches Problem unserer Generation. Ein Madchen kann
nicht weinen, in: Die Stimme der Frau 1, 1948/49, H. 1, S. 19.
Theanolte Bahnisch 427
keit" auszumachen. Daran wird am deutlichsten greifbar, wie sich die von Bah-
nisch und ihren Mitstreiterinnen vertretene Forderung, daB Frauen durch ihre
„Weiblichkeit" auf jeweils individuelle Weise der „Verfachlichung, Technisierung,
Entseelung und Vermassung" dermodernen Welt entgegenwirken sollten, in vie-
lerlei Hinsicht gegen die kommunistische Lehre verwenden lieB. Denn jene po-
stulierte als eine hochgradig wissenschafts- und technikorientierte die Gleichheit
der Geschlechter, rief die Frauen in die Fabriken und an die FlieBbander, wollte
die wirtschaftliche Sicherung der Burger nicht durch Fiirsorge, sondern durch
staadiche Garantien gewahrleistet sehen und propagierte das „Kollektiv" ge-
geniiberdem von Bahnisch im Rahmen humanistischerldeale verteidigten „Indi-
vidualismus". 1950 zitiert die „Stimme der Frau" demgemaB die sogenannte
„Friedensresolution" des DFR, mit der dieser die Notwendigkeit der deutschen
Wiederbewaffnung begriindete, wie folgt: Wdhrend die Verwirklichung des ostlichen
Weltbildes, wie sie sich heute vollzieht, zum Untergang des Einzelnen in der Masse, und da-
mit zur Aufhebung der persdnlichen Verantwortungfiihrt, vertreten voir den Gedanken der
Freiheit des Einzelnen, der Verpflichtung gegeniiber der sozialen Not undder Verantwortung
des Individuums vor Gott.103 Die Darstellung des „Ostens" als glaubensfern, empa-
thieunfahig,jageradezu grausam in der Zeitschrift vollzieht sich nicht zuletztiiber
den Focus auf die deutsche Schicksalsgemeinschaft aus Kriegsgefangenen,
Spatheimkehrern, (Ost)Fliichtlingen, Kriegerwitwen und Waisenkindern, deren
Leid nicht als Folge deutschen GroBmachtstrebens dargestellt, sondern mit dem
als „unmenschlich" charakterisierten Verhalten RuBlands nach Niederlegung der
Kriegshandlungen begriindet wird.
Mai totalitarismustheoretisch, mal rassistisch argumentierend stellt die Zeit-
schriftenberichterstattung in ihrer demokratiepropagierenden und zugleich kol-
portierenden Manier eine Art Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen dar, die eine
Analyse der Herkunft und Entstehung der verschiedenen Argumentationsstran-
ge, denen in der Zeitschrift jeweils eine spezifisch „weibliche Komponente" auf-
gepfropft zu werden scheint, reizvoll macht.
Der Diskurs um Weiblichkeit in westlicher Pragung, was nicht zuletzt bedeutet,
daB Frauen, wenn iiberhaupt berufstatig, dann doch „schicke Stenotypistinnen"
und eben nicht „tuchtige Traktoristinnen" sein sollten,104 eine gangige Gegen-
103 Aus der Frauenwelt. Der deutsche Frauenring fur den Frieden, o. V., in: Die Stimme
der Frau, 2. Jg. (1949/50), H. 20, S. 29.
104 Diese Gegeniiberstellung, die auch in anderen Frauenzeitzeitschriften dieser Zeit
nachzuvollziehen ist wird beschrieben von: Budde, Gunilla Friederike, „Tuchtige Traktori-
stinnen" und „schicke Stenotypistinnen". Frauenbilder in den deutschen Nachkriegsgesell-
schaften - Tendenzen der „Sowjetisierung" und „Amerikanisierung"?, in: Konrad Ja-
RAUSCH/Hannes Siegrist (Hrsg.), Amerikanisierung und Sowjetisierung in Deutschland
1945-1970, Frankfurt a. M. /New York 1997, S. 243-273.
428 Nadine Freund
iiberstellung „West" gegen „Ost", ist als Kernkomponente der Zeitschrift auszu-
machen, er pragt als ein Leitmotiv die Zeitschriftenberichterstattung auf einer Art
Meta-Ebene und nimmt dabei als ein hochgradig popularisierbares Konstrukt die
Funktion eines in der Diskurstheorie als „Interdiskurs" 105 bezeichneten Bild-
raumes ein, der zwischen den Spezialdiskursen in den Feldern Politik, Wirt-
schaft, Kultur etc. durch mannigfaltige thematische Ankniipfungspunkte vermit-
telt. „Weiblichkeit" scheint dabei nicht langer nur mit „Mannlichkeit" unverein-
bar zu sein, sondern auch mit dem Kommunismus, der, so suggeriert die „Stimme
der Frau", die Frauen zum Dienst an der Waffe, zu schweiBtreibenden „Mannerar-
beiten" und zur Abkehr vom Glauben notigt.
Der Forderung nach gleicher Rechtsgrundlage fur Frauen in Ehe, Familie, Be-
ruf und Politik steht in der „Stimme der Frau" die Tradierung herkommlicher
Charakterzuschreibungen der Geschlechter entgegen, so daB im gleichen Atem-
zug „gleicher Lohn fur gleiche Arbeit" gefordert, das Leben der vollberufstatigen,
womoglich alleinstehenden Frau aber als trostlos gezeichnet und die scheinbare
Sehnsucht aller Frauen nach hauslicher Warme im Kreise einer Familie betont
wird.106 Dieses Gliick scheint durch die Annehmlichkeiten komplettiert zu wer-
den, die die moderne Haushaltsindustrie bietet, gekront schlieBlich durch die
Produkte der Mode- und Kosmetikindustrie. Die Aussage, die im ersten Heft der
Stimme der Frau zu lesen ist, der zufolge das Mondane fur lange Zeit verschwun-
den sei,107 scheint spatestens 1953 iiberholt: Artikel zur Politik, Wirtschaft, Kultur
werden immer seltener, der Hochglanz- und Werbeanteil steigt stetig, wenn die
„Stimme der Frau" auch, anders als Ihre Verlagsschwester „Film und Frau", eine
Zeitschrift fur die wirtschaftlich etwas schlechter gestellten Frauen und Familien
bleibt.
9. Verschrdnkung der Handlungsf elder und vorldufiges Fazit
iiber die Arbeit Bdhnischs nach 7945
Dass sich sowohl Bahnischs Arbeitsfelder und Mitstreiter als auch die Themen
und Diskurse rund um beziehungsweise in der „Stimme der Frau" mit denen im
DFR, im Regierungsprasidium, im Deutschen Rat der Europaischen Union und
in der SPD zum Teil iiberschnitten, zum Teil verschrankten und erganzten, wird
deutlich, richtet man den Blick wieder auf diese anderen Wirkungsgebiete Bah-
105 Vgl.: Jiirgen Link, Konturen medialer Kollektivsymbolik in der BRD und in den
USA, in: Peter Grzybek (Hrsg.), Cultural Semiotics: Facts and Facets / Fakten und Facetten
der Kultursemiotik, S. 95-135, Bochum 1991.
106 Vgl.: Eine mit sich allein, o. V., in: Stimme der Frau 3, 1951, H. 2, S. 6/7.
107 Vgl.:Jorg Schuddekopf, Er, Sie oderbeide?Jorg Schiiddekopf an die Redaktion Die
Stimme der Frau, in: Die Stimme der Frau 1, 1948/49, H. 1, S. 4.
Theanolte Bahnisch 429
nischs zuriick. Einige Beispiele sollen diese Verworbenheit illustrieren: In derBe-
richterstattung der „Stimme der Frau" treten deutlich die Ideen der Europa-Bewe-
gung, der iiberparteilichen Frauenbewegung, aber auch der Sozialdemokratie
und der christlichen Kirchen hervor. Mit den Einnahmen fur die Zeitschrift, die
auch durch die dem DFRuntergliederten oder affiliierten Frauenorganisationen,
wie beispielsweise dem deutsch-evangelischen Frauenbund, vertrieben wurde,
wurden Teile der Arbeit des DFR finanziert. Im Regierungsprasidium konnte
Bahnisch immer wieder ehrenamtliche Mitarbeiterinnen fur den Deutschen Frau-
enring gewinnen und die dort zur Verfiigung stehenden Raumlichkeiten als Ver-
sammlungsort fiir den Verband nutzen. Vorgesetzte und Forderer Bahnischs, al-
ien voran Kopf und Grimme, aber auch ihre Mitarbeiter im Regierungsprasidium
nahmen als Redner an Versammlungen des DFR teil. Christine Teusch, mit der
Bahnisch im Deutschen Rat der Europaischen Bewegung zusammenarbeitete, lei-
tete bald auch den Landesring des DFR in Nordrhein-Westfalen. Viele der Perso-
nen, mit denen Bahnisch auf einem ihrer Wirkungsgebiete zusammenarbeitete,
ebneten ihr so Kontakte auf anderen Ebenen, sorgten fiir einen Input von neuen
Ideen und profitierten dabei selbst von Bahnischs Umtriebigkeit. Eine eingehen-
de Analyse diskursiver Strange aus dem Quellenmaterial, anhand derer aufge-
schliisselt werden konnte, aus welchen politischen Lagern und Ideenschulen die
von Bahnisch vertretenen Argumente kamen und wie diese in wiederum andere
Lager weitergegeben und dabei eventuell transformiert wurden, ist deshalb nur
sinnvoll vor dem Hintergrund einer Analyse auch der vielfaltigen personlichen
Kontakte Bahnischs. Eine fruchtbare Diskursanalyse gerat in diesem Kontext
also fast zwangslaufig auch zu einer Netzwerkanalyse. Der Annahme Rechnung
tragend, daB Theanolte Bahnisch aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung auf
mehreren Ebenen hochgradig konsensbildend und damit integrativ auf die im
Wiederaufbau befindliche und nach Identitat suchende Gesellschaft wirken
konnte, kann dieser Aufsatz als eine Vorstudie zu einer derzeit entstehenden gro-
Beren Studie begriffen108 und folgendes, vorlaufiges Fazit gezogen werden:
Bahnisch hatte 1. durch ihre Prasenz in Erziehungs-, Politik- und Wirtschafts-
kreisen Anteil an der Etablierung und am Erhalt eines Eliten-Netzwerkes, das un-
ter Weiterfiihrung bestehender Traditionen deutscher Alltagskultur und Hinzu-
ziehung neuer Anregungen, nicht zuletzt aus dem europaischen Ausland, nach
und nach den Rahmen fiir eine stabile Demokratie errichtete. Sie iibte 2. als
Leiterin und Ideengeberin eines Dachverbandes eine vermittelnde Funktion
unter den verschiedenen Frauenverbanden diverser Berufs- und Interessengrup-
108 Die Dissertation wird unter dem Titel „Weiblichkeit und Westintegration. Theanol-
te Bahnisch, die ,Stimme der Frau' und der Wiederaufbau Deutschlands im Kontext des Kal-
ten Krieges" voraussichtlich im Jahr 2009 erscheinen.
430 Nadine Freund
pen sowie den Frauensektionen gemischtgeschlechtlicher Verbande aus. Sie
wirkte 3. als Multiplikatorin: in ihrer Rolle als Prasidentin des DFR, der Basisar-
beit bis auf Ortsgruppen- bzw. Stadtteilebene leistete und durch ihre Prasenz im
offentlichen Gesprach und in den Medien - worunter nicht nur die „Stimme der
Frau" sondern beispielsweise auch regionale Tageszeitungen in Niedersachsen
sowie der NWDR zu fassen sind - und verfiigte 4. in dieser Rolle iiber die Mog-
lichkeit, mit ihren Politik- und Personalempfehlungen in verschiedenen Institu-
tionen und Kreisen Gehor zu finden.
Obwohl Bahnischs Arbeit insbesondere Frauen ansprechen sollte, indem sie
durch die Konstituierung des „Wir-Gefuhls" an den weiblichen Aufbauwillen ap-
pellierte, waren doch auch Manner Zielgruppe ihrer Rhetorik, in deren Rahmen
sie tradierte geschlechtsspezifische Zuschreibungen und Aufgabengebiete als
durch den Kommunismus „bedroht" darstellte und somit ein die Gesellschaft in
mikro- wie makrosoziologischer Hinsicht pragendes Gefiige als gefahrdet dekla-
rierte. Sie trug damit dazu bei, jenen Diskurs um die „bedrohte Weiblichkeit" in
den antikommunistischen Grundkonsens der jungen Republik zu implementie-
ren und wies ihm dort einen Platz zu, der eng mit den Diskursen um „Demokra-
tie" und „Freiheit" zusammenhing und ein klares Feindbild kannte, das schon im
Nationalsozialismus identitatsstiftend gewirkt hatte. In die Nachkriegszeit iiber-
fiihrt konnten sich darin sowohl Gegner des Nationalsozialismus, wie auch vom
System „Enttauschte", Alte wie Junge, gut situierte Burger wie Geringverdiener,
Sozialdemokraten wie Liberale und Konservative verorten.
Als Theanolte Bahnisch 1964 aus ihrem Amt als Staatssekretarin als Bevoll-
machtigte des Landes Niedersachsen, das sie ab 1959 innegehabt hatte, aus-
schied, wurde in der „Welt" fast so etwas wie eine Institution in Bonn109 verloren ge-
meldet. Schon neunjahre spater, am 9. Juni 1973, starb Theanolte Bahnisch, die
in Folge ihrer beruflichen Belastung immer wieder an ernsten korperlichen Er-
krankungen gelitten hatte. Beigesetzt wurde sie in Hannover, wo heute der The-
anolte-Bahnisch-Weg an sie erinnert. Ein Nachruf der deutsch-kanadischen Ge-
sellschaft auf sein Ehrenmitglied Theanolte Bahnisch in der Washington Post ver-
kiindet etwas ungelenk und wie die biirgerliche Frauenbewegung die Differenzen
der Geschlechter betonend: Konrad Adenauer nannte die Sozialdemokratin, Katholi-
kin und Frau eine der starksten Personlichkeiten unseres politischen Lebens.110
109 Theanolte Bahnisch, o. V.: in: „Die Welt", 10. April 1964.
110 AddF Kassel, SPT, Nachruf der deutsch-kanadischen Gesellschaft fur Theanolte
Bahnisch, in: Washington Post, Kopie o. D.
BESPRECHUNGEN
ALLGEMEINES
Hamburg und sein norddeutsches Umland. Aspekte des Wandels seit der friihen Neuzeit.
Festschrift fur Franklin Kopitzsch. Hrsg. von Dirk Brietzke, Norbert Fischer und Ar-
no Herzig. Hamburg: DOBU Verlag 2007. 432 S. Abb. = Beitrage zur Hamburgi-
schen Geschichte Bd. 3. Geb. 39,90 €.
Die vorliegende Festschrift entstand anlasslich des 60. Geburtstages von Franklin Ko-
pitzsch, Professor fur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte unter Beriicksichtigung nord-
deutscher Regionalgeschichte an der Universitat Hamburg. Derjubilar, der daruber hin-
aus die Arbeitsstelle fur Hamburgische Geschichte leitet, hat grundlegende Forschun-
gen zur Geschichte Hamburgs und der umliegenden Regionen betrieben und auf diesen
Forschungsfeldern wegweisende Erkenntnisse vorgelegt. Insofern war es konsequent
und sinnvoll, die Beitrage fur die Festschrift unter dem Generalthema „Hamburg und
sein norddeutsches Umland" zu biindeln. Sie reichen vom Spatmittelalterbis zurZeitge-
schichte und vereinen iiberwiegend neue Forschungen zu sozial- und wirtschaftsge-
schichtlichen, kultur- und ideengeschichtlichen, medien- und kommunikationsge-
schichtlichen, sowie konfessionsgeschichtlichen und biographischen Fragestellungen.
Die Vielfalt an Themen und Perspektiven ist kaum zu iiberbieten, sie spiegelt gleichsam
die groBe Aufgeschlossenheit und die immens breite wissenschaftliche Kompetenz des
Jubilars wider.
Die Herausgeber der Festschrift - Dierk Brietzke, wissenschaftlicher Mitarbeiter der
Arbeitsstelle fur Hamburgische Geschichte am Historischen Seminar der Universitat
Hamburg, Norbert Fischer, Honorarprofessor am Institut fur Volkskunde/Kulturan-
thropologie und Privatdozent am Historischen Seminar der Universitat Hamburg, und
Arno Herzig, Prof. em. fur Neuere Geschichte am Historischen Seminar der Universitat
Hamburg - erlautern im Vorwort nach Vorstellung des zu Ehrenden das Konzept der
Festschrift und fassen die einzelnen Beitrage inhaltlich kurz zusammen.
Die ersten beiden Abhandlungen widmen sich der Person Franklin Kopitzsch. Rainer
Wohlfeil wiirdigt seine bis 1970 zuriick reichende menschliche und kollegiale Verbin-
dung mit dem Jubilar. Dorothee Stapelfeldt stellt den Politiker Franklin Kopitzsch vor,
seine Tatigkeit als Abgeordneter der Hamburgischen Biirgerschaft von 1991 bis 2001
und als kulturpolitischer Sprecher der SPD-Biirgerschaftsfraktion.
Die nachfolgenden 26 Beitrage sind in eine chronologische Gliederung eingebun-
den. Die Abhandlungen zu „Spatmittelalter und Friihe Neuzeit" untersuchen spatmittel-
alterliche Handelsstreitigkeiten in Hamburg und Magdeburg (Gerhard Theuerkauf),
die Frage der Offentlichkeit in der landlichen Gesellschaft der Friihen Neuzeit auf der
432 Besprechungen
Quellenbasis von Visitationsartikeln aus Siiderdithmarschen von 1635 und Briicheregis-
tern der weltlichen Gerichtsbarkeit aus dem lutherischen Holstein des 17. Jahrhunderts
(Heide Wunder), die biirgerliche Wohltatigkeit am Beispiel von Liibecker Stiftungen des
17. Jahrhunderts (Antjekathrin GraBmann), Konflikte zwischen Handwerksamtern und
Obrigkeiten in den norddeutschen Hansestadten Hamburg, Bremen und Liibeck des 17.
und 18. Jahrhunderts (Dirk Brietzke), einen spektakularen Inzest-Fall in Hamburg aus
dem Jahr 1766 (Mary Lindemann), das Verbot der sogenannten Hamburger Zucker-
bilder wegen gesundheitsschadigender Wirkungen und die Diskussionen und Konse-
quenzen am Beispiel der Stadt Braunschweig im 18./19. Jahrhundert (Peter Albrecht),
sowie die Aufnahme der franzosischen Emigranten, die wahrend der Franzosischen Re-
volution nach Hamburg kamen (Burghardt Schmidt).
Der Abschnitt „Das Zeitalter der Aufklarung" vereint Abhandlungen zur Pressege-
schichte des 17./ 18. Jahrhunderts (Holger Boning und Astrid Blome) , zu Stammbiichern
des spaten 18. Jahrhunderts (Giselajaacks) und zu Otto Schuchmacher, seit 1771 Pastor
an der Hamburger Hauptkirche St.Jacobi (Renate Hauschild-Thiessen) mit wirtschafts-
und ideengeschichtlichen Beitragen. Die Rolle Hamburgs in Adam Smiths „Wohlstand
der Nationen" von 1776 untersuchtjiirgen Overhoff, die Bewertungen von Maschinen in
den Zeiten der Aufklarung und des Friihsozialismus Klaus Schlottau.
Der Abschnitt zum „ 19. Jahrhundert" beginnt mit Beitragen zurjiidischen Geschichte
Hamburgs. Jutta Braden stellt dem Leser am konkreten Beispiel aus dem Jahr 1806 die
Problematik der Rekonversion zum Judentum vor, Arno Herzig charakterisiert das Le-
ben und Wirken des Immanuel Wohlwill (1799-1847), einflussreicher Vertreter des Re-
formjudentums. Frank Hatje untersucht am Beispiel der von 1792 bis 1848 gefuhrten Ta-
gebiicher von Ferdinand Beneke, Advokat und Oberaltensekretar in Hamburg, die Ent-
stehung und Entwicklung von Kommunikation und Netzwerken. Gerhard Ahrens
beschaftigt sich mit dem Schicksal des Nachlasses des Malers und Denkmalpflegers
Carl Julius Milde (1803-1875), und William Boehard untersucht die Entwicklung des ost-
lichen Umlands von Hamburg in der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts.
Der Abschnitt „Zeitgeschichte" umfasst Beitrage zum „Bierstreik" in Hamburg im
Jahr 1932 und damit zur Lage des selbststandigen Mittelstands in Hamburg wahrend der
Weltwirtschaftskrise (Ursula Biittner), zum Dienst-Alltag des Polizeibeamten Walter Ko-
pitzsch in der Endphase der Weimarer Republik anhand von kommentierten Tage-
buchausziigen (Wolfgang Kopitzsch), zu Biicherverbrennungen in Hamburg (Angela
Graf), zur Auf- und Ubernahme nationalsozialistischer Ideologic anhand des Briefwech-
sels zwischen dem Hamburger Altburgermeister Carl August Schroder und dem Pastor
Max Glage (Matthias Schmoock), zur Verfolgung und Verhaftung fiihrender Sozialde-
mokraten anlasslich der sogenannten „Echo-Versammlung" vom 15. Juni 1933 (Holger
Martens) , zur Gegnerschaft des Hamburger Kinderarztes Rudolf Degkwitz zum NS-Re-
gime (Joist Grolle); schlieBlich beschaftigt sich Axel Schildt mit dem spektakularen
Riicktritt Paul Nevermanns vom Amt des Hamburger Biirgermeisters im Jahr 1965 und
Norbert Fischer mit dem raumlichen Wandel des Hamburger Umlandes von 1950 bis
2000.
Die Beitrage machen in ihrer ganzen inhaltlichen und methodischen Vielfalt deut-
lich, dass Hamburgs Geschichte und Kultur vom spaten Mittelalter an bis heute weit
liber die Stadtgrenzen in den norddeutschen Raum hinauswirken. Das Schriftenver-
zeichnis von Franklin Kopitzsch dokumentiert die beeindruckende Anzahl von Verof-
fentlichungen des Jubilars. Eine umfangreiche „Tabula gratulatoria" und ein Autoren-
Allgemeines 433
verzeichnis umrahmen die vielseitigen Beitrage. Nicht unerwahnt bleiben soil die von
Trudl Wohlfeil 2007 gefertigte Collage mit dem Titel „Aufklarung", deren Abdruck den
Einband der Publikation ziert. Damit ist ,,rundum" - gestalterisch wie inhaltlich - eine
dem Jubilar angemessene Festschrift entstanden, die iiber den konkreten Anlass hinaus
auf breites Interesse stoBen und zu weiteren Forschungen anregen wird - ganz im Sinne
des Jubilars Franklin Kopitzsch!
Stade Beate-Christine Fiedler
Westfalisches aus achtjahrhunderten zwischen Siegen und Friesoythe - Meppen undReval. Fest-
schrift fur Alwin Hanschmidt zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Franz Bolsker und Joa-
chim Kuropka. Minister: Aschendorff 2007. 423 S. Abb. Geb. 39,- €.
Ein kurzer Blick in die historischen Fachzeitschriften, in die Programme wissenschaftli-
cher Verlage oder in die Veranstaltungsverzeichnisse unserer Universitaten geniigt, um
zu erkennen, dass die Geschichte des „Kleinen Raumes" in ihrer je eigentumlichen Aus-
pragung als Landes-, Regional-, oder auch als Heimatgeschichte wieder einmal Kon-
junktur hat. Das wissenschaftliche wie das offentliche Interesse an Region und Ge-
schichte wird dariiber hinaus dokumentiert durch die zahlreichen Aktivitaten in Schu-
len, Volkshochschulen, historischen Zirkeln, Heimatvereinen und deren publizistische
Ertrage. Region und Geschichte ist auch das Thema des von Franz Bolsker und Joachim
Kuropka herausgegebenen Sammelbandes „Westfalisches aus achtjahrhunderten. Zwi-
schen Siegen und Friesoythe - Meppen und Reval", der 2007 im Aschendorff Verlag als
Festschrift fur Alwin Hanschmidt zum 70. Geburtstag erschien.
Biicher fallen auf - oder auch nicht - durch ihren Titel und / oder ihre auBere Erschei-
nung. Die hier vorzustellende Festschrift bildet da keine Ausnahme. Schon der Titel
spielt mit der Phantasie und provoziert die Neugierde des den recht ansprechend gestal-
teten Einband priifenden Lesers, in dem er ihn gleichermaBen irritiert und informiert.
Irritiert insofern, als er ihm nicht sofort verrat, worum es denn eigentlich geht. „Westfali-
sches" bedeutet weniger, aber auch mehr als „Westfalen". Beides bezeichnet historisch-
politische Kultur, mentale Gestimmtheiten und alte Raume wie auch die Relativitat ih-
rer Grenzen. Auch der Untertitel bietet lediglich vage Information, bestatigt jedoch die
Vermutung, dass wir es hier nicht ausschlieBlich mit jenem Westfalen zu tun bekommen,
das in seiner Geschichte preuBische Provinz wurde und dann Nordrhein-Westfalen um-
schloss. Konkreter wird da schon die von den Herausgebern gebotene kurze Einfiih-
rung: „Immerhin hat es westfalische Burger in alle Welt und eben auch bis nach Reval
verschlagen" (S. 9). Westfalen nicht in territorial begrenzterPerspektive also,sondern im
kulturellen Sinne ist Gegenstand dieses Buches. Sein Aufbau bietet mit den Rubriken
Politik, Stadtwesen, Kloster, Schule und Bildungswesen vier inhaltliche Schwerpunkte,
die, wie wir der Einfiihrung entnehmen, mit denen des wissenschaftlichen Oeuvres des
Jubilars kompatibel sind. Um dem Buch nicht die Pointen und dem Leser nicht die Span-
nung zu nehmen, soil im Folgenden auf die einzelnen der insgesamt 17 Beitrage nur
knapp eingegangen werden.
Politisches im engeren Sinne bieten die ersten beiden Aufsatze. Wahrend Hans-Joa-
chim Behr iiber die Rolle und das Auftreten westfalischer Abgeordneter, iiber Debatten
und Antrage auf dem ersten „vereinigten Landtag PreuBens" von 1847 referiert, bietet
434 Besprechungen
Joachim Kuropka eine „Fallanalyse zum Umgang mit demokratischen Rechten zu Be-
ginn der WeimarerRepublik", deren Bezugspunkt die Wahl eines neuen Biirgermeisters
im Marz 1923 in der Landgemeinde Lohne ist.
Die fiinf Beitrage des zweiten Teils beinhalten stadtische Themen. So beschreibt und
erklart etwa Peter Sieve am Beispiel der kleinen, im Oldenburger Miinsterland gelege-
nen Ackerbiirgerstadt Friesoythe, die jahrhunderte lang anhaltende Abwanderung jun-
ger Biirgersohne in die Zentren des Handels und der Kultur und deren durchaus erfolg-
reiche Lebenswege in der Fremde. Hermann von Laers Augenmerk gilt der Armut und
Armenpolitik in den Amtern Cloppenburg und Vechta. Seine Untersuchung umspannt
den Zeitraum vom DreiBigjahrigen Krieg bis zum Beginn des 19. Jh. und hat neben der
Situation der Armen und deren Versorgung durch offentliche wie private Zuwendun-
gen, die Bedeutung der Armenkassen zum Thema. Varianten neuzeitlicher Stadtent-
wicklung in Westfalen vom spaten Mittelalter bis zum 1. Weltkrieg sind Gegenstand des
Aufsatzes von Franz Bolsker. Am Beispiel von Dortmund, Soest und Miinster zeigt er die
Zufalligkeit und Vielschichtigkeit historischer Entwicklung dreier Stadte auf, die in ihrer
Geschichte eine Fiille von Gemeinsamkeiten verband und die sich heute in ihrer GroBe,
ihrer Bedeutung und ihrem Charakter so sehr unterscheiden. Um den Wiederaufbau der
kriegszerstorten Zentren von Miinster, Paderborn und Osnabriickgeht es in dem Beitrag
von Verena Bolsker. Sie geht der Frage nach, ob und inwieweit beim Wiederaufbau die-
ser drei geschichtstrachtigen Stadte „der Wert historischer Architektur beriicksichtigt
und als fur die Identitat der Stadt unersetzlicher Bestandteil angesehen wurde" (S. 118).
Nachkriegsgeschichte ist auch das Thema Franz-Josef Jakobis, der sich hinsichtlich des
Musik- und Theaterlebens, insbesondere des Theaterneubaus von 1956, zum kulturellen
Neubeginn in Miinster nach 1945 auBert.
Den dritten Teil des Buches bestreiten zwei Kirchenhistoriker. Karl Hengsts Untersu-
chung iiber das „Ende der Kloster in Waldeck" uberschreitet die westfalische Grenze
und definiert sich als „ein erster Versuch, die Reformationsgeschichte Waldecks, beson-
ders aber die der Kloster neu zu schreiben"(S. 191). Ein Stuck Reformationsgeschichte
bietet auch der Aufsatz von Hans Jtirgen Brandt iiber das katholische Fraterhaus im pro-
testantischen Herford und die Frage nach seiner konfessionellen Kontinuitat.
Der vierte und umfangreichste Teil des Sammelbandes schlieBlich offeriert dem Le-
ser Einblicke in schul- und bildungspolitische Bereiche westfalischer Geschichte. Wah-
rend Gerd Steinwascher der Frage nach dem Einfluss von Schule und Bildung als Mittel
der Konfessionalisierung im Hochstift Osnabriick und im Niederstift Miinster nachgeht,
untersuchen Hans-Ulrich Musolff, Susanne Denningmann und Stephanie Bermges in
ihrer empirischen Studie den Prozess der Professionalisierung westfalischer Lehrer im
17. und 18. Jahrhundert am Beispiel der Gymnasien in Dortmund, Hamm, Soest und
Steinfurt. Protagonist des sich anschlieBenden Beitrags ist der 1754 geborene Bildungs-
reformer Bernard Overberg, mit dessen Wirken und Wirkung „in einer Zeit des geisti-
gen Umbruchs und der theologischen Neuorientierung" (S. 259) sich Karl Josef Lesch
beschaftigt. Das Erziehungs- und Bildungskonzept Bernard Overbergs und des miinster-
schen Staatsministers Franz v. Fiirstenberg ist, wie auch die Rezeption ihrer Elemen-
tarschulreformen im Emsland, das Thema von Maria Anna Zumholz. Um Dr. theol.
Gisbert Meistermann, einen streitbaren Priester und eifrigen Forderer der Gymnasial-
konvikte in Vechta geht es in der kritischen Wurdigung Willi Baumanns. Ein besonders
diisteres Kapitel nicht nur westfalischer Geschichte beleuchten die beiden folgenden
Aufsatze. Wahrend Rudolf Willenborg den Kampf der oldenburgischen Kirche unter
Allgemeine Geschichte und Landesgeschichte 435
der Fiihrung Bischof von Galens gegen die ,,nationalsozialistische Bekenntnisschule" Al-
fred Rosenbergs, des Chefideologen der NSDAP, reflektiert, erinnert Michael Hirsch-
feld in seinen biographischen Annaherungen an die „katholischen oldenburgischen
Lehrerinnen" und deren Konfliktfelder zur Zeit des Nationalsozialismus. „Burgund als
historische Erinnerungslandschaft" lautet der Titel des letzten Beitrages dieses Buches.
Er ist ein Erfahrungsbericht Bernd Mutters aus der historischen Erwachsenenbildung
anlasslich der Fahrt einer Reisegruppe der VHS und der Universitat Oldenburg nach
Burgund. Im Fokus seiner Ausfiihrungen steht die Frage nach dem Gegenwarts- und
Existenzbezug von Geschichte, wie nach der Moglichkeit aus ihr zu lernen.
Im Gegensatz zu anderen, vergleichbaren Publikationen basiert der vorliegende
Sammelband nicht auf den Resultaten einer Tagung. Wirklich gut getan hat ihm das
nicht. Trotz der Fulle der Einzelergebnisse und des zeitlich und thematisch beeindruk-
kenden Spektrums, konfigurieren sich die Beitrage fur den Leser nur bedingt zu einem
groBeren Gesamtbild. Zu unterschiedlich sind bei vielen Gemeinsamkeiten des Blick-
winkels doch die Ansatze und das methodische Repertoire, was bei 19 verschiedenen
Autoren kein Wunder ist, das Lesevergniigen aber triiben kann. Eine synthetisierende
Vernetzung der Befunde seitens der Herausgeber hatte hier Abhilfe schaffen konnen.
Nicht gelungen aus Sicht des Rezensenten sind zwei Beitrage. Zum einen handelt es
sich dabei um den Bericht Hans-Joachim Behrs, der eher auf akkurate, faktengesattigte
Deskription, denn auf Argumentations- und Analyseleistung setzt und Fragestellungen
erst gar nicht versucht, zum anderen um die Ausfiihrungen Franz-Josef Jakobis, die zu
sehr an der Oberflache verharren und z.T. hinter dem Stand der Forschung bleiben. Die
Rolle der britischen Militarregierung etwa, die fur den kulturellen Wiederaufbau Miins-
ters von kaum zu iiberschatzender Bedeutung war, wird so gut wie nicht kontextualisiert.
Beide Betrage sind Ausnahmen in einem Band, dessen Darstellungen sonst iiberzeugen.
Frei von akademischer Prosa, kultiviert geschrieben und wissenschaftlichen Standards
verpflichtet, richtet sich diese Publikation an ein breites Publikum, das es sicher errei-
chen wird.
Paderborn Peter Respondek
ALLGEMEINE GESCHICHTE UND
LANDESGESCHICHTE
Acta pads Westphalicae. Serie III Abt. AProtokolle. Bd. 3. Die Beratungen des Fiirstenra-
tes in Osnabriick. 4: 1646-1647. 5: Mai-Juni 1648. Bearb. von Maria-Elisabeth Bru-
nert. Minister: Aschendorff 2006. CXVI, 379 S. und XC, 531 S. Geb. 81,-; 93,- €.
Im 360. Jahr des Friedensschlusses zu Miinster und Osnabriick sind an dieser Stelle zwei
neue Bande derkritischen Edition der Akten dieses europaischen Friedenswerkes vorzu-
stellen. Zuvor ist vielleicht ein kurzer Blick auf das Gesamtunternehmen von Nutzen:
Das von Konrad Repgen in den 50erjahren des letztenjahrhunderts weitlaufig entwor-
436 Besprechungen
fene Editionskonzept besteht in drei groBen Serien: I. Instruktionen, II. Korresponden-
zen, III. Protokolle, Verhandlungsakten, Diarien, Varia, die jeweils (bis auf I.) wieder in
mehrere Abteilungen untergegliedert sind. Es hat bis heute seine Giiltigkeit behalten.
Nur in Hinsicht auf den tatsachlichen Umfang des zu bewaltigenden Quellenmaterials
mussten die Herausgeber - dem hoch verdienten Repgen folgte 2003 Maximilian Lan-
zinner, ebenfalls Professor in Bonn - die wohl keinem Editionsplaner ersparte Erfahrung
machen, dass die prognostizierte Bandezahl zu niedrig angesetzt war. Inzwischen sind
38 Bande bzw. Teilbande (mit Einschluss derbeiden vorliegenden) aus alien drei Serien
erschienen, mit Erwartung auf eine ungewisse, voraussichtlich hohere Zahl von noch
folgenden Banden. Ein langer Atem und nicht versiegende Geldquellen sind dem Unter-
nehmen und ihren Herausgebern unter diesen Umstanden sehr zu wiinschen.
Dieses Jahrbuch hat aus einleuchtenden Griinden nur beispielhaft vom Fortgang der
Edition Notiz nehmen konnen. Rez. sieht sich demzufolge in der Notwendigkeit, ge-
legentlich den hier nicht besprochenen Teilband 3/3 der Protokolle des Osnabriicker
Fiirstenrates wegen des Zusammenhanges mit unseren Teilbanden einzubeziehen. Mit
jenem Teilband namlich setzen die Hauptberatungen („haubtdeliberation") des Fiirsten-
rates zu Osnabriick uberhaupt erst ein, d.h. die zuvor unter sich tagenden evangelischen
fiirstlichen Gesandten zu Osnabriick (s. Nds. Jb. 72, 2000, S. 365) waren eher als Corpus
Evangelicorum anzusprechen, bevor sie sich am 3. Februar 1646 (Teilbd. 3/3 Nr. 95) mit
den katholischen zum Fiirstenrat Osnabriick (im folgenden „FRO") formierten (gemaB
einer Vereinbarung mit dem Fiirstenrat Munster vom September 1645).
Auch die Protokollfuhrung erfuhr seit dem 3. Februar 1646 insofern eine neue Rege-
lung, als die evangelischen fiirstlichen Gesandten ein Gemeinschaftsprotokoll mit ei-
gens dafiir zugelassenen Sekretaren einrichteten. Die Katholischen beteiligten sich dar-
an nicht. In diesem evangelischen Gemeinschaftsprotokoll wurden die Sitzungen des
FRO fortan als „sessiones publicae" von I bis LII fortgezahlt. Nach der 52. Session (1647
Sept. 30) unterbrach eine langere Pause die Sitzungstatigkeit des FRO. Als er am 6. Mai
1648 (Teilbd. 3/5 Nr. 145) erneut zusammentrat, nahm die evangelische Seite die ge-
meinschaftliche Protokollfuhrung nicht wieder auf. Den Teilbanden 3/3 und 3/4 der
Edition liegt das Gemeinschaftsprotokoll in seiner mehrfachen Uberlieferung auch zu-
grunde, naturlich mit Beriicksichtigung von wesentlichen Varianten und Erganzungen
aus anderen (vollstandigen oder groBeren Teil-)Protokollserien (die in jedem Teilband
detailliert beschrieben sind). Als Druckvorlage diente die Protokollserie des Fiirsten-
tums Calenberg (HStA Hannover Cal. Br. 11 Nr. 513). Fur den Teilband 3/5 fand die Be-
arbeiterin einen solchen quasi Gliicksfall der Uberlieferung nicht vor, immerhin lieB
sich das sachsen-altenburgische Protokoll zu einem ahnlich soliden Leittext durchgan-
gig benutzen. Es fallt auf, dass fur den Editionszeitraum dieses Teilbandes (1648 Mai-Ju-
ni) sich eine braunschweig-liineburgische Uberlieferung von Sitzungsprotokollen in den
zustandigen Archiven nicht hat ermitteln lassen.
In den beiden o.a. Teilbanden wird also einerseits die Sitzungsperiode des FRO von
Teilband 3/3 in zeitlich dichtem Abstand (1646 Mai 7 bis 1647 Sept. 30) fortgesetzt, an-
dererseits eine neue Sitzungsperiode von 1648 Mai 6 bisjuni 17 dokumentiert. Auch mit
dem Hinzutritt katholischer Reichsstande blieb der FRO zu jeder Zeit von den Prote-
stanten dominiert, die Zahl wie auch die konfessionelle Zusammensetzung der vertrete-
nen Reichsstande im einzelnen schwankten von Sitzung zu Sitzung durchaus, was darin
begriindet sein konnte, dass ein Reichsstand mal in Osnabriick, mal in Munster votierte
oder dass ein Gesandter sich gerade nicht oder nicht mehr am Kongressort aufhielt. So
Allgemeine Geschichte und Landesgeschichte 437
verlieB die bis dahin einflussreiche Magdeburger Gesandtschaft am Ende der Sitzungs-
periode im Sept. 1647 auf immer den Kongress. Einige Reichsstande wiederum hielten
fest zu dem Tagungsort Osnabriick, zu den eifrigsten Votanten im FRO gehorten bei den
evangelischen die sachsischen und die braunschweig-liineburgischen Gesandten, bei
den katholischen Salzburg, das alternierend mit Osterreich das Direktorium im FRO
fiihrte, spaterhin auch Bayern und Wurzburg. In der Mitte des Jahres 1647 verlegte der
FRO ausnahmsweise seine Sitzungen (Sessiones XLII bis XLV) voriibergehend ganz
nach Munster. Die zwecks Protokollierung mitgereisten Sekretare durften hierihrerge-
wohnten Verrichtung jedoch nicht nachgehen, ihnen wurde bedeutet, „daB solches sel-
ben ohrts nicht hergebracht, auch von denen evangelischen nie sey begeret worden",
was ihre Herren Prinzipalen „umb glimpfs willen" hinnahmen (Teilbd. 3/4 Nr. 137: No-
tiz der Protokollanten).
Nach einer intensiven Beratungstatigkeit des FRO, die mit der Ubergabe der Beden-
ken der drei Reichsrate zu den kaiserlichen, schwedischen und franzosischen Friedens-
vorschlagen am 27. Apr. 1646 an ein gewisses Ziel gelangt war (Teilbd. 3/3 Nr. 121), trat
das Gremium bis Ende Sept. 1647 in groBeren zeitlichen Abstanden zusammen. In den
22 Sitzungen (Teilbd. 3/4) standen nunmehr auf der Tagungsordnung einzelne, kaum zu-
sammenhangende Themen, die den FRO lediglich mit Teilproblemen von unterschied-
licher Bedeutung in den groBen Gang des Friedensgeschafts einbezog. Von den wichti-
geren seien hier genannt: Unterhalt des Reichskammergerichts und Sicherung seiner
Funktion in der von den Franzosen besetzten Stadt Speyer, Exemtion der Stadt Basel und
der Schweizerischen Eidgenossenschaft von derjurisdiktion des Reichskammergerichts
(sparer Art. VI IPO), franzosische Territorialsatisfaktion in Lothringen und im Elsass
(sparer §§ 70 und 73 IPM), kaiserliche und schwedische Entwiirfe iiber das Reichsverfas-
sungsrecht der Reichsstande (spater Art. VIII, 1-4 IPO), vor allem aber die pfalzische
Restitution (spater Art. IV, 2-19 IPO). Die „causa Palatina" implizierte zwei Kernfragen
von rechtlich und politisch hoher Tragweite: Bestatigung der Ubertragung der pfalzi-
schen Kur und der Oberpfalz auf Herzog Maximilian I. von Bayern und die Wilhelmini-
sche Linie der Wittelsbacher einerseits, Errichtung einer achten Kur fur und Restitution
der Unterpfalz an Pfalzgraf Karl Ludwig und die Rudolfische Linie andererseits. Die
weitlaufige, z.T auf schriftliche Voten gestiitzte Debatte im FRO (Teilbd. 3/4 Nr. 129 u.
131) fiihrte freilich nur zur Bejahung der abstrakten Frage, ob iiberhaupt eine achte Kur
zu errichten sei, wahrend die Ausgestaltung der „particularitaten" den weiteren Ver-
handlungen zwischen den Kaiserlichen und den Kronen Frankreich und Schweden zu-
geschoben wurde. Das aus den zeitgleichen Beschliissen der (Teil-)Kurien zu Osnabriick
und Munster formierte Reichsgutachten wurde durch eine Reichsdeputation am 10.
Apr. 1647 den Kaiserlichen und am 13. April den Schweden iibergeben, ob auch den
Franzosen, ist unklar. Die pfalzische Frage war jedenfalls, nachdem sich im August des-
selben Jahres die genannten Machte geeinigt hatten, fur den FRO kein Thema mehr.
Im letzten Kriegsjahrtrieben die aktuelle militarische Lage und das allgemeine Elend
in den vom Kriege heimgesuchten Territorien, „da Teutschland dreiBig iahr das thea-
trum dieses blutigen krieges gewesen" (Teilbd. 3/5 S. 506), die Reichsstande zu groBten
Anstrengungen, die noch offenen Streitpunkte in Verhandlungen beizulegen. Dies ge-
lang im Friihjahr 1648 in einer Reihe wichtiger Punkte durch Einzelvereinbarungen zwi-
schen Kaiserlichen, Schweden und Vertretern der Osnabriicker Reichsstande, so z.B.
iiber die schwedische Territorialsatisfaktion (Art. X, 1-16 IPO), die Gravamina ecclesia-
stica (Art. V IPO), die Entschadigung des Hauses Braunschweig-Liineburg (Art. XIII
438 Besprechungen
IPO) - Vereinbarungen, die nachher inhaltsgleich in das Osnabriicker Friedensinstru-
ment iibernommen wurden. Voraussetzung fiir diese hoffnungsvolle Entwicklung des
Friedensprozesses war das Ende 1647 sich anbahnende iiberkonfessionelle Zusammen-
wirken friedenswilliger und verstandigungsbereiter Reichsstande, zu denen Kurmainz,
Kurbayern, Bamberg, Wurzburg auf der einen, Kurbrandenburg, Kursachsen, Sachsen-
Altenburg und Braunschweig-Liineburg auf der anderen Seite gezahlt werden konnen.
Doch an den Fragen der Ausdehnung der allgemeinen Amnestie und Restitution (Art.
IV, 51 ff. IPO) auf die kaiserlichen Erblande (Stichwort fiirdiesen Betreff: § „Tandem om-
nes", = Anfang von Art. IV, 51 IPO) sowie der Entschadigungsforderungen der Schwe-
den furihrMilitar (Betreff: „satisfactio militiae") und derzeitlichen Reihenfolge ihrerEr-
ledigung schieden sich die kaiserliche und die schwedische Seite wieder unversohnlich
(23. Apr. 1648). Beide Fragen zugleich kamen deswegen auf Ansuchen des Corpus
Evangelicorum zur Beratung in die drei Reichskurien, und genau die Fragen sind es, die
uns als Beratungsgegenstande der in Teilband 3/5 dokumentierten, nicht mehr durchge-
zahlten Sitzungen des FRO, der daruber abgehaltenen Re- und Correlationen zwischen
den einzelnen Osnabriicker Reichskollegien (vgl. dazu unten) und den Plenarsitzungen
begegnen. Der Behandlung des §"Tandem omnes" durch die Reichskollegien hatte der
Kaiser schon im Vorfeld ihres Zusammentritts als Eingriff in seine "erbkoniglichen und
landesfiirstlichen iura" sein striktes Verbot entgegengesetzt und die der schwedischen
Militarsatisfaktion zu diesem Zeitpunkt abgelehnt. Seine am ersten Sitzungstag des FRO
am 6. Mai 1648 wiederholte Intervention war wie zuvor vergeblich. Das bereits am zwei-
ten Sitzungstag gefasste Conclusum der drei Osnabriicker Kurien (Teilbd. 3/5, Nr. 146)
konnte freilich keinerlei MaBigung in den kaiserlich-schwedischen Standpunkten erwir-
ken. Von nun an beherrschte das Thema der schwedischen Militarsatisfaktion und sei-
ner Spezialfragen (nachher Art. XVI, 8 IPO) , hierin eingeschlossen Fragen der Satisfak-
tionsforderungen fiir die kaiserliche und die bayerische Armeen (Art. XVI, 11 IPO), des
allgemeinen Truppenabzugs (Art. XVI, 13 ff. IPO) u.a. - die Komplexitat der Verhand-
lungsmaterien ist hier nicht darstellbar -, die dicht aufeinander folgenden Beratungen
und Beschlusse der Osnabriicker Reichsrate bis in den Juni 1648 hinein. Ohne Riick-
sicht auf die Teilkurien in Miinster verhandelten die Osnabriicker Reichsstande direkt
mit den schwedischen Gesandten Oxenstierna und Salvius, besonders angespannt iiber
die von den Schweden vorrangig und hartnackig verlangte Festlegung der Htihe der
schwedischen Militarsatisfaktion. Man einigte sich schlieBlich im gegenseitigen Nach-
geben und unter zahlreichen Kautelen auf die fiir die Reichsstande nur schwer akzepta-
ble Summe von 5 Millionen Reichstaler. Am Ende des Editionszeitraums kam als Ver-
mittlerin, aber auch mit ihren eigenen Forderungen die franzosische Seite ins Spiel, de-
ren Hauptverhandlungsort ja eigentlich Miinster war, wo sich allerdings acht Monate
lang nichts bewegt habe, wie sich der franzosische Gesandte Servien gegeniiber dem
Reichsdirektorium beklagte (Teilbd. 3/5 S. 467). Der Plan, die Verhandlungen nach Os-
nabriick zu Ziehen, scheiterte am Widerstand des Kaisers.
Der Fiirstenrat Osnabriick, wie er seit dem 3. Februar 1646 unter dem Direktorium
Osterreichs, alternativ Salzburgs tagte, hatte sich bei der Beschlussfassung sowohl mit
seiner zu Miinster versammelten Teilkurie wie mit den beiden anderen Reichskurien ab-
zustimmen. Fiir die Zusammenfuhrung der „Meinungen" derTeilrate zu Osnabriick und
Miinster, fiir die „Konformierung" der jeweiligen Beschlusse der drei Kurien unter ein-
ander in Re- und Correlationen und ihre Ausarbeitung zu einem „Reichsconclusum"
(„Reichsbedenken", „Reichsgutachten"), kurz: fiir den „modus consultandi" stand ein
Allgemeine Geschichte und Landesgeschichte 439
sehr formalisiertes, vom Reichstag iibernommenes Verfahren zur Verfiigung, das indes-
sen die Schwierigkeiten der Kommunikation und die widerstreitenden Interessen der
Parteiungen je langer je weniger beheben bzw. ausgleichen konnte. Es war Aufgabe des
Kurmainzer Reichsdirektoriums, die in Anwesenheit der Gesandten der betreffenden
Kurien oder ihrer Deputierten stattfindenden Re- und Correlationen zu leiten, die Be-
schliisse des Kurfiirstenrates zu referieren, die von den Fiirstenrats- und Stadteratsdirek-
torien vorgetragenen Korreferate anzuhoren und daraus ein Gesamtconclusum zu for-
mulieren. Insoweit unterscheiden sich diese an ein strenges Sessionsschema (abgebildet
in Teilbd. 3/3 S. CXXXI) gebundenen (Plenar-)Sitzungen von denen des FRO (Einzel-
voten der Gesandten) ; tatsachlich konnten die Gremien mehrmals an einem Sitzungstag
je nach Beratungsbedarf zusammentreffen und sich wieder von einander trennen. Wah-
rend im Teilband 3/4 lediglich eine Re- und Correlation, namlich die iiber die „causa Pa-
latina", dokumentiert ist, sind im Verhandlungszeitraum von Teilband 3/5 die Re- und
Correlationen sehr haufig auf der Tagesordnung - dies wiederum ein Beleg fur die in
1648 gewonnene Eigenstandigkeit des Handelns der Osnabriicker Reichsstande.
Wer die vorliegenden Protokolle nach ihrem Ertrag speziell fur die niedersachsische
Landesgeschichte durchmustert, wird vielleicht, vertrauend auf die Tatsache, dass die
welfischen Furstentiimer im FRO mit vier Stimmen vertreten waren, zu viel erwarten.
Mit den einschlagigen Territorialveranderungen: Erwerb der Herzogtiimer Bremen und
Verden durch Schweden, Entschadigung Braunschweig-Liineburgs mit der Osnabrii-
cker Alternation, ist der FRO jedenfalls in dem hier dokumentierten Zeitraum nicht
befasst worden. Allein, man darf nicht iibersehen, dass das Herzogtum Braunschweig-
Liineburg mit seinen drei tiichtigen und angesehenen Gesandten eine beachtliche Mei-
nungsmacht im FRO besaB, die wohl im Stande sein konnte, Gang und Ergebnisse der
Verhandlungen in der einen oder anderen Hinsicht zu beeinflussen. Belege hierfiir lie-
fern die vorliegenden Protokolle durchaus. Derletztlich relativbescheiden ausgefallene
braunschweig-luneburgische Territorialgewinn spricht wiederum fur eine andere Beur-
teilung, doch bedarf das sichernoch dergenauen Untersuchung. Der calenbergische Vi-
zekanzler Dr. Jakob Lampadius war von Beginn des Friedenskongresses an dabei, ver-
fiigte jetzt aber nicht mehr iiber die Stimmen der anderen welfischen Fiirstentumer, denn
seit 1646 votierten fur Celle samt Grubenhagen Dr. Heinrich Langenbeck und fur Wol-
fenbiittel Lampadius' Schwiegersohn Dr. Chrysostomus Coler, wobei das wechselseitige
Einvernehmen unter ihnen vermutlich enger war als das mit und zwischen anderen Ge-
sandten. Die in verschiedenen Lebensbildern (z.B. Braunschweigisches Biographisches
Lexikon, 8. bis 18. Jh.) ihnen nachgeriihmten besonderen Leistungen fur Land und Lan-
desherr auf dem Friedenskongress sind dem Rez. bei seiner kursorischen Durchsicht in
den vorliegenden Protokollen nicht besonders aufgefallen. Das Hochstift Hildesheim
votierte im FRO nur dreimal im Marz 1646 durch Dr. Joachim Stein, wahrend es sonst in
Munster von dem wegen auBergewohnlicher Stimmenkumulation umstrittenen Franz
Wilhelm von Wartenberg, Bischof von Osnabriick usw., vertreten wurde.
An der Einrichtung der Edition hat sich gegeniiber den Vorbanden nichts Wesentli-
ches geandert (vgl. daher Nds. Jb. 72, 2000, S. 366). Hinzugekommen sind (seit Teilbd.
3/4) ein Vorlaufiges Personenregister mit den Namen der vertretenen Reichsstande und
deren Gesandten sowie eine Ubersicht der Voten des FRO (seit Teilbd. 3/3). Hochst zu
loben ist aber erneut die editorische Leistung der Bearbeiterin Maria-Elisabeth Brunert.
Es sind nicht allein die Aufarbeitung und Ordnung eines immensen Quellenstoffs, abzu-
lesen an den am Kopf eines jeden Protokolls aufgefiihrten Quellennachweisen und den
440 Besprechungen
immer wieder beigefiigten Textvarianten aus Paralleliiberlieferungen, sondern auch die
bis in entlegene Zusammenhange gefiihrte inhaltliche ErschlieBung der nur schwer aus
sich selbst heraus verstandlichen Texte durch akribische Sachkommentierung in den
FuBnoten und durch die jeweils vorausgeschickte ausfiihrliche und fundierte Einleitung
der Bearbeiterin, die der Edition einen wohl nicht mehr zu iibertreffenden Qualitats-
stand verschaffen. Die historische Wissenschaft kann Band fur Band mit der Gewissheit
groBten Nutzens und mit dem groBten Dank entgegennehmen. Lediglich als kleine Nor-
gelei mochte es nach dieser Referenz der Rez. verstanden wissen, wenn er vermerkt, dass
in derUbersicht der Voten in Teilband 3/4 einige Protokolldaten falsch angegeben sind.
Nicht hiermit und auch nicht mit dem kleinen Lob am Rande, dass sich nunmehr
die hierzulande vertraute Schreibweise „Calenberg" durchgesetzt hat, will der Rez. en-
den, sondern mit der Information, dass die APW auch den Weg in die elektronische
Medienwelt gefunden haben: Eine vollstandige Textausgabe der Westfalischen Frie-
dens vertrage mit allein je vier deutschen Ubersetzungen, verschiedenen Registern,
Recherche-Moglichkeit pp. kann im Internet unter der Adresse www.apw.de aufgeru-
fen werden.
Wennigsen Christoph Gieschen
Baltic Connections. Archival Guide to the Maritime Relations of the Countries around the
Baltic Sea (including the Netherlands) 1450-1800. Hrsg. von Lennart Bes, Edda Fran-
kot und Hanno Brand. Leiden: Brill 2007. Bd. 1: Denmark, Estonia Finland, Ger-
many, XXXII, S. 1-783; Bd. 2: Latvia, Lithuania, the Netherlands, XXV, S. 784-1603;
Bd. 3: Poland, Russia, Sweden, XXV, 1604-2320 S. = The Northern World Bd. 36.
Geb. 315,- €.
Jeder, der sich mit den geopolitischen Veranderungen des 16. und 17. Jahrhunderts fur
Europa befassen und dabei den Niedergang der Hanse und den Aufstieg Spaniens, Eng-
lands und der Niederlande ins Auge fassen will, ist auf ein weitgespanntes Quellenstudi-
um angewiesen. Denn die Ostsee als nordosteuropaische Drehscheibe des Handels mit
den Rohstoffen und Halbfertigprodukten des Ostens und Nordens sowie dem basalen
Montangut Salz und den Fertigprodukten des Westens und Siidwestens macht insbeson-
dere seit Mitte des 15. Jahrhunderts eine betrachtlicher Wandlung durch, an der nicht
nur die Anrainerterritorien und -stadte beteiligt waren, sondern die ausgreifende Wir-
kungen auf viele Lander hatte. Insofern ist die Herstellung eines Hilfsmittels, das diese
Wandlungen quellenmaBig erfassen lasst, von groBer Bedeutung. Dass die Initiative da-
zu von niederlandischen Archivaren ausging, macht die Beriicksichtigung der nieder-
landischen Uberlieferung verstandlich, erklart jedoch nicht die Ausblendung Norwe-
gens,Englands und Schottlands aus dem Projekt; denn alle drei Lander hatte j a auch An-
ted am baltischen Handel und insofern an den „baltischen Verbindungen".
In dem Inventar sollen Bestande erfasst werden, die vor allem Schifffahrt, Kaufleute
und Handelshauser, Transaktionskosten und Handelsregulierungen erfassen lassen. Es
werden - nach Landern geordnet - einschlagige Bestande einzelner Archive kurz be-
schrieben, wobei der Bestand (record group), ein Kurzinhalt (abstract), wichtigster Ge-
halt (relevant contents), Zuganglichkeit (accessibility), Provenienz (record creator),
Uberlieferungsgeschichte (custodial history), verwandtes Material (related material)
Allgemeine Geschichte und Landesgeschichte 441
und einschlagige Veroffentlichungen (publications) angegeben werden. Die Liste der er-
fassten Archive und Bibliotheken ist beeindruckend: Danemark: 3; Estland: 6; Finn-
land: 12; Deutschland: 21; Lettland: 1; Litauen: 3; Niederlande: 37; Polen: 21; Russland:
6; Schweden: 17.
Dennoch werden mit dem Inventar selbstverstandlich nicht alle relevanten Archive
erfasst - was wohl auch ein Zeichen fiir unterschiedliche Bereitschalt ist, an dem Projekt
mitzuarbeiten. So bleiben die danischen Landesarchive z.B. in Aabenraa, Viborg oder
Odense unberiicksichtigt. Fiir Deutschland diirften die relevanten Archive erlasst sein -
ob jedoch alle einschlagigen Bestande tatsachlich beriicksichtigt wurden, bleibt unklar.
Das Staatsarchiv Hamburg, dessen Bestande ich ein wenig iibersehe, hat sieben Bestan-
de gemeldet, darunter aber nicht „Dispachewesen" (1796-1904), „Schonenlahrer" (1401-
1889) und „Bruderschalt der Schwarzenhaupter aus Reval" (1418-1961), die alle etwas
zum Thema des Inventars beizutragen hatten. Ebenso ware wohl auch die Reichskam-
mergerichtsiiberlieferung zu nennen gewesen, wie es bei Liibeck und Stade geschehen
ist (ubrigens mit unterschiedlichen Ubersetzungen ins Englische - „Imperial Court
Chamber" und „Supreme Court of the Reich"). Hierauf hat allerdings das Landesarchiv
in Schleswig auch nicht geachtet.
Die Absicht, einen moglichst guten und (bei der groBen Uberlieferung) moglichst
tiefen Uberblick iiber die einschlagigen Archivalien zum Thema zu bekommen, ist mit
diesem Inventar ziemlich gegliickt. Fiir jemanden, der nicht „aus der Gegend" stammt
und sich fiir seine diesbeziiglichen Forschungen mit viel Miihe in die vielfaltige Uber-
lieferung einarbeiten muss, stellt das Werk eine betrachtliche Hilfe dar. Dass im Detail
immer noch mal genauer nachgefragt werden muss, wird sich bei so angelegten Hilfs-
mitteln nie ganz vermeiden lassen - zu unterschiedlich sind die Herangehensweisen
der einzelnen Archivare und Archive. Fiir die Erforschung der maritimen Kontakte un-
terschiedlichster Art in der Ostsee-Region der Friihen Neuzeit konnte sich das Inventar
als sehr niitzliches Informationsmittel erweisen. Den Initiatoren, Mitarbeitern und
Herausgebern muss man fiir diese Arbeit Respekt zollen und den Dank der Forschung
aussprechen.
Hamburg Klaus-J. Lorenzen-Schmidt
Lorenz, Maren: Das Rad der Gewalt. Militar und Zivilbevolkerung in Norddeutschland
nach dem DreiBigjahrigen Krieg (1650-1700) . Koln: Bohlau Verlag 2007. VIII, 434 S.
Abb. Geb. 57,90 €.
Studien zum Verhaltnis von Soldaten und Zivilisten in der Friihen Neuzeit erfreuen sich
in den letzten Jahren zunehmender Beliebtheit innerhalb der Fachwelt. Dem „Quellen-
angebot" folgend sind dabei vor allem die Garnisonsstadte und vorgelagerten Orte der
Einquartierung ins Blickfeld der Friihneuzeit-Historiker geraten. Die bislang vor allem
auf dem Gebiet kulturhistorischer Studien hervorgetretene Privatdozentin der Universi-
tat Hamburg, Maren Lorenz, widmet sich nun in ihrer Habilitationsschrift einem Teil-
phanomen friihneuzeitlicher Gewaltproblematik.
Mit ihrer Studie, die gezielt auf den unmittelbaren, etwas mehr als eine Generation
umfassenden Zeitraum nach dem Ende des DreiBigjahrigen Krieges gerichtet ist,
schlieBt sie eine Liicke, deren Vorhandensein angesichts der Vielfaltbisheriger Arbeiten
442 Besprechungen
erstaunlich scheint. Den Ausgangspunkt der Untersuchung bildet die Annahme, „dafj
fortgesetztes (kollektives) gewaltsames Verhalten eine grundlegende Wirkung auf Moti-
vation und Handeln derBetroffenen (. . .) hat" (S.l). In diesem Sinne versteht Maren Lo-
renz ihre Arbeit als „Beitrag zur Kulturgeschichte der Gewalt" (S.ll). Diesen Vorausset-
zungen folgend untersucht die Autorin diverse mentalitats- und kulturgeschichtlich rele-
vante Aspekte im Verhaltnis von Zivilisten und Soldaten, eingegrenzt auf den
beschriebenen Zeitraum der zweiten Halfte des 17. Jahrhunderts mit einem auf die nord-
deutsch-schwedischen Territorien Bremen und Vorpommern fokussierten Blickwinkel.
Nach Einleitung und obligatorischem Blick auf die geopolitischen und sozio-militari-
schen Rahmenbedingungen, in denen Maren Lorenz ihre genaue Kenntnis von Litera-
tur- und Quellenlage sowie dem fiir ihren Ansatz relevanten Theoriehintergrund unter
Beweis stellt, widmet sie sich verschiedenen Fragestellungen, wie dem Zusammenhang
von Gewalt und Justiz, den unterschiedlichen Auspragungen physischer Gewalt sowie
dem eigentlich interessanten Grundproblem der Wahrnehmung von Gewalt in einer
Gesellschaft, deren historischer Nahbereich von Gewaltexzessen gepragt gewesen ist.
Die Untersuchung besticht dabei durch eine enorme Vielzahl von Quellenbeispielen,
diejeweils umfangreich zitiertund bisweilen mitzusatzlichen Bildbelegen dokumentiert
werden. Unklar bleibt indes, warum einige der Quellenbeispiele in den Anhang ver-
bannt wurden und nicht direkten Eingang in den Haupttext gefunden haben. Die Analy-
se der einzelnen Quellen hingegen ist sicher als beispielgebend fiir den Umgang mit ei-
nem an sich erkenntnistheoretisch problematischen Verfahren der Auswahl themenre-
levanter Quellen aus einer unbekannten Gesamtmenge des ehemals vorhandenen
Uberrests zu bewerten. So vermeidet die Autorin die Konzentration auf eine von der em-
pirischen Sozialwissenschaft entlehnte und auf quantitative Untersuchungsformen und
Statistiken gerichtete Analyse, wie sie in vielen neueren Studien unter Missachtung epi-
stemischer Probleme und historiographischer Standards in jungster Zeit - etwa in den
popularen Arbeiten Stefan Krolls - modern geworden ist. Vielmehr widmet sich Maren
Lorenz den einzelnen Quellen mit einem sehr genauen Blick fiir die Details der Zusam-
menhange und das jeweilige Entstehungsumfeld, wobei Sprache und Terminologie der
Aussagen ebenso Beachtung finden, wie das Schweigen der Quellen in bestimmten Ge-
waltzusammenhangen, wie etwa der Vergewaltigung mannlicher Opfer.
Es gelingt auf diese Art, dem Betrachter einen guten Einblick in die Ablaufe gewaltta-
tiger Vorgange der Friihen Neuzeit zu gewahren. Bemerkenswert dabei ist die Bandbrei-
te der ausgeiibten physischen Gewalt im Umfeld des Begegnungsraumes zwischen Sol-
daten und Zivilisten im Nachlauf eines Krieges, der nach 30-jahriger Dauer die gesell-
schaftlichen Bedingungen verandert hinterlassen hatte. Am umfanglich erhobenen
Quellenmaterial, das in Folge der breiten Darstellung auch fiir weitere Studien wertvoll
sein wird, zeigt Maren Lorenz, dass neben der - nahezu als „klassisch" anzusehenden -
ausgeiibten Repression einquartierter Soldaten gegeniiber ihren unfreiwilligen Gastge-
bern auch eher unerwartete Gewaltakte von Soldaten untereinander und von Zivilisten
gegeniiber Soldaten nachweisbar sind. Von besonderem Interesse mag hier die Rolle der
Frauen - sowohl in Form der zivilen Quartierbewohnerinnen als auch der Soldatenfrau-
en - erscheinen. Die Autorin weist anhand zahlreicher Protokolle nach, dass diesen eine
weit aktivere Rolle in den Konflikten zukam, als man sie bei einer oberflachlichen Be-
trachtung vermuten wiirde. Eskalierende und deeskalierende Verhaltensweisen wech-
selten dabei und hingen von den unterschiedlichsten Faktoren, etwa sozialem Status, Al-
koholeinfluss u.a. ab.
Allgemeine Geschichte und Landesgeschichte 443
Mitunter indes scheinen einige der vorgebrachten Folgerungen, insbesondere dort,
wo die Autorin von der dargestellten Quellenbasis abweicht, zu kurz gegriffen. Etwa
wenn die Tatsache, dass bei nordamerikanischen Indianern sexualisierte Gewalt im Zu-
sammenhang mit Kriegsziigen nicht vorkam, als ausreichende Widerlegung der Exi-
stenz einer anthropologischen Konstante in dieser Hinsicht gewertet wird (S. 208).
Eines der zentralen Ergebnisse der Untersuchung mag sicher auch in der Erkenntnis
liegen, dass an vielen ins Blickfeld genommenen Orten die Gewalt in den Nachkriegs-
jahren weit starker manifestiert war, als in den Zeiten des eigentlichen Kriegsgesche-
hens. Ob hierin jedoch ein Spezifikum dernorddeutsch-schwedischen Territorien zu se-
hen ist oder sich diese Ergebnisse auch in anderen Gebieten validieren lassen, konnte ei-
ne lohnenswerte Fragestellung fur weitere Studien sein. Insgesamt handelt es sich bei
der von Maren Lorenz vorgelegten Untersuchung um eine quellengesattigte und an Ein-
zelergebnissen reichhaltige Arbeit, deren Beweisgange anhand der dargestellten Quel-
len stets nachvollziehbar bleiben. Dahinter zuriick bleibt allerdings die vergleichende
und zusammenfuhrende Analyse der Teilergebnisse in kulturhistorischer Sicht und ihre
Einbindung in groBere historische Entwicklungen innerhalb einer „Kulturgeschichte
der Gewalt".
Hannover MarkFEUERLE
Die Personalunionen von Sachsen-Polen 1697-1763 und Hannover-England 1714-1837. Ein
Vergleich. Hrsg. von Rex Rexheuser. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2005. VII,
495 S. = Deutsches Historisches Institut Warschau Quellen und Studien Bd. 18. Geb.
78,- €.
Der vorliegende Sammelband umfasst 22 Beitrage, die bis auf eine Ausnahme auf eine
1997 in Dresden veranstaltete Konferenz zuriickgehen. Die 1697geschlossene Personal-
union zwischen Sachsen und Polen lieferte damals den Anlass fur Forschende aus GroB-
britannien, Polen, Deutschland und den USA, erneut iiber diese fruhneuzeitliche Form
dynastischer und herrschaftlicher Verbindung nachzudenken.
Der inhaltliche Schwerpunkt des Bandes liegt auf der Griindung beider Unionen so-
wie der Fortsetzung iiber einen Thronwechsel hinweg. Dies bedeutet, dass die Personal-
union zwischen Hannover und GroBbritannien nur bis zum Tode Georgs II. bearbeitet
wird und lediglich an einigen wenigen Stellen die Regierungszeit Georgs III. und der
nachfolgenden Welfen thematisiert werden. Grund dafiir ist u.a. der bereits im Titel an-
gefiihrte Vergleich. Die Herausgeber versuchen durch verschiedene Vorgaben, eine
komparative Herangehensweise fruchtbar zu machen. Neben der chronologischen Ein-
schrankung, die aufgrund der Vorgeschichte der Personalunion zwischen GroBbritanni-
en und Hannover und dertief greifenden Veranderungen nach derThronbesteigung Ge-
orgs III. nicht nur arbeitstechnisch sondern auch inhaltlich gerechtfertig werden kann,
sollen fiinf Leitthemen dafiir sorgen, dass sich Ahnlichkeiten und Unterschiede beider
Verbindungen deutlicher abzeichnen. Neben (I) der Thronbesteigung und dem Thron-
wechsel dienen (II) Institutionen und Prozeduren, (III) Interessen und Ziele, (IV) der
Hof als Schauplatz und Vermittler sowie (V) die Personalunion als Problem des Monar-
chen als Orientierungspunkte fur gemeinsame Fragestellungen. AuBerdem bietet der
Band neben zehn Grundlagenkapiteln zu Sachsen-Polen und acht Kapiteln zu Hanno-
444 Besprechungen
ver-GroBbritannien in einem dritten Teil vier Beitrage, die explizit vergleichen sollen.
Diese zuletzt genannten zumeist recht kurzen Beitrage kommen dem ambitionierten
Ziel der Herausgeber am nachsten. Wahrendjeremy Black beide Personalunionen in ei-
nen groBeren internationalen und chronologischen Kontext einordnet, veranschaulicht
Tim Blanning die Spielraume der Monarchen bei der Ausgestaltung des Hoflebens.
Heinz Duchhardt formuliert thesenhaft vier Aspekte, die fur den Erfolg oder Misserfolg
einer Personalunion entscheidend erscheinen: Die Konfessionsidentitat, bzw. -kongru-
enz, die Sensibilitat des Monarchen, die Vorbehalte des Staates gegenuber der dynasti-
schen Union sowie die geopolitische Position der betroffenen Staaten im internationa-
len Staatensystem. Der vergleichende Beitrag von Jerzy T. Lukowski zu den Institutio-
nen und Prozeduren verdeutlich allerdings ein Problem des Bandes, dass namlich die
politischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen nur auf einer sehr oberflachlichen
Ebene Analogien aufweisen. Ansonsten unterschieden sich sowohl die vier betroffenen
Staaten untereinander, als auch die Vorraussetzung und Umsetzung der jeweiligen Ver-
bindung so weitgehend, dass ein Vergleich alleine die Unterschiede sichtbarer macht.
Die Unterschiedlichkeit der beiden Personalunionen hat auch zur Folge, dass kaum
eines der achtzehn Grundlagenkapitel komparativ angelegt ist. Stattdessen wird der For-
schungsstand zu den Monarchen, den politischen Systemen und der Auswirkung der
Personalunionen fur Kunst und Architektur zusammengefasst und debattiert. Das Kapi-
tel von Graham C. Gibbs zur Thronbesteigung Georgs I. ist eines der besten und auch
heute noch lesenswert. Der Beitrag von Brendan Simms zur Bedeutung Hannovers fur
die britische AuBenpolitik liefert die originelle These von Hannover als strategischem
Vorteil fur GroBbritannien, die nicht nur in dem Beitrag vonjeremy Black heftig bestrit-
ten, sondern in den vergangenen Jahren auch ausfuhrlich diskutiert wurde. In den Kapi-
teln zur Union zwischen Sachsen und Polen zeichnen sich deutlich Unterschiede und
Kontroversen in den nationalen Interpretationen ab. Alina Zorawska-Witkowska
schreibt beispielsweise von einem gewaltigen „Hiatus" zwischen deutschen und polni-
schen Interpretation des Mazenatentums Augusts II. Aber nicht nur national gefarbte
Debatten konnen identifiziert werden. Die Erfolge und Misserfolge der Regierung Au-
gusts II. werden fiber die Landergrenzen hinaus unterschiedlich interpretiert und bilden
ein wesentlicher Bestandteil des Bandes. In diesem Sinne handelt es sich hier also weni-
ger um eine vergleichende Studie als um den Nachweis fur die Lebendigkeit der historio-
graphischen Debatten zu den beiden Personalunionen.
Die Konferenz schimmert an vielen Stellen noch deutlich aus dem Manuskript her-
vor. Aubrey Newmans Beitrag wurde beispielsweise ganzlich ohne Anmerkungen als
Vortragsmanuskript abgedruckt. Angefiihrt werden soil in diesem Zusammenhang auch
der lange Zeitraum, der von der Veranstaltung der Konferenz bis zum Erscheinen des
Bandes verging. Vier der Autoren haben ihre Thesen zur Personalunion mittlerweile in
umfangreichen Monografien ausgearbeitet, erweitert und veroffentlicht. Die Forschung
zu dynastischen Verbindungen, die bereits 1997 in vielem weiter war, hat unter dem
Schlagwort „composite statehood" zahlreiche neue Erkenntnisse gewonnen. Positiv ge-
wendet kann man argumentieren, dass die Konferenz in Dresden einen wichtigen Aus-
gangspunkt fur die weitere Forschung zu der Verbindung Sachsen-Polen und vor allem
Hannover-England/GroBbritannien darstellte, auch wenn die Ergebnisse der Konferenz
erst jetzt einer breiteren Offentlichkeit zuganglich gemacht werden.
Frankfurt Torsten Riotte
Allgemeine Geschichte und Landesgeschichte 445
Saile, Thomas: Slawen in Niedersachsen. Taix westlichen Peripherie der slawischen Oku-
mene vom 6. bis 12. Jahrhundert. Neumiinster: Wachholtz Verlag 2007. 295 S. Abb. =
Gottinger Schriften zur Vor- und Friihgeschichte Bd. 30. Geb. 50,- €.
Die als Gottinger Habilitationsschrift vorgelegte Untersuchung lenkt unsere Aufmerk-
samkeit nicht nur auf die landesgeschichtlich seit langem und immer wieder diskutierten
Fragen nach dem Anbeginn und der Verbreitung slawischer Siedlungstatigkeit sowie
nach deren fruhen politischen und verfassungsmaBigen Strukturen im Ostteil unseres
Bundeslandes. Auch ihre Thematik verheiBt lange vermisste archaologische Stellung-
nahmen auch zu weiteren Slavica, u.a. dem viel diskutierten Rundlingsproblem. Man
darf darauf gespannt sein, kiindigt Saile doch hoch angesetzte kritische MaBstabe an ge-
geniiber fruheren Arbeiten, denen er nicht immer die notwendige Stringenz, etwa hin-
sichtlich Trennung von gesichertem Wissen und MutmaBung, zusprechen zu konnen
vermeint.
Eingangs bemerkt der Leser eine Unstimmigkeit des im Titel bezeichneten Untersu-
chungsgebietes Niedersachsen. Weshalb wurde darin nicht der tatsachlich archaolo-
gisch behandelte Gesamtbereich bezeichnet, namlich auch rechtselbische Teile von
Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg sowie der Altmark in Sachsen-Anhalt,
sondern nur Niedersachen allgemein? Augenscheinlich deckt sich das vorgenommene
Arbeitsgebiet mit dem Forschungsfeld des seit 2004 betriebenen Forschungsprojekts
„Slawen an der unteren Mittelelbe". Damit bleiben jedoch tatsachlich auch von Slawen
sonst bewohnte Gegenden Niedersachsens unberiicksichtigt, vor allem der mit gleichar-
tigen Rundlingsdorfern und slawischem Namengut reichlich versehene Nordostbereich
von Kr. Gifhorn zwischen Ise und Ohre und ebenso ahnliche Vorkommen vor den To-
ren Braunschweigs. Verf. wird damit weder seiner geographischen Vorgabe ganz ge-
recht noch der Ankiindigung, dass sein Arbeitsgebiet auch raumlich nach dem „in den
relevanten Disziplinen (darunter u. a. Namenkunde und genetische Kulturlandschafts-
forschung, S. 43) erreichte(n) Kenntnisstand" festgelegt ist - anstatt anscheinend nach
der vorgefundenen archaologischen Fundverbreitung. Den Aussagewert seiner spateren
Diskurse um das Rundlingsproblem vermag dieses durchaus zu beeintrachtigen.
Es ist weiter anzumerken, dass diese aus archaologischer Blickrichtung erarbeitete
Untersuchung nicht genuin basiert auf womoglich neu entdeckten Fundstellen oder gar
iiber aktuelle Ausgrabungsergebnisse berichtet. Vielmehr setzt sie sich in einem ersten
Schritt die umfassende Bestandsaufnahme einschlagiger Forschungsergebnisse - basie-
rend auf Veroffentlichungen und Unterlagen aus der Archaologie selbst sowie auch aus
ihren Nachbarfachern, hier hauptsachlich Historie und Siedlungsgeographie, - zum
Ziel. Daraus erwachst eine zusammenschauende kritische Erorterung des vorliegenden
vielseitigen Forschungsstandes mit der augenscheinlichen Absicht, gleichsam bilanzie-
rend ein Bild der geschichtlichen Situation sowie der Siedlungslandschaft wahrend der
„slawischen Epoche" in der Region beiderseits der unteren Mittelelbe zu entwerfen.
Erganzend dazu werden dem Leser Beispiele von Magnetprospektionen als neueres
Verfahren zur zerstorungsfreien Vorerkundung grabungshoffigen Gelandes auf 16 aus-
gewahlten Fundplatzen anschaulich prasentiert. Konkrete Ergebnisse im Einzelnen
oder weiterfiihrende Erkenntnisse im Allgemeinen sind aus den den Magnetogrammen
jeweils beigefiigten Interpretationskommentaren weder herzuleiten noch zu Tage ge-
kommen. Freilich iiberzeugen diese als niitzliche Ansatze bei der Disposition womog-
lich spaterer Grabungen. Ebenfalls breiten Raum widmet Verf. theoretischen Analysen
446 Besprechungen
der Fundverhaltnisse an sich, u.a. dem zeitlichen Zustandekommen des Fundbildes in
Nordostniedersachsen, der Fundstellendichte, der Frage von Siedlungskontinuitaten
etc. Durchaus anregend und bedenkenswert erscheint grundsatzlich der Versuch, ein
am Geofaktorenbezug bekannter slawischer Siedlungsplatze orientiertes Prognosemo-
dell fiir die potenzielle Verbreitung bzw. Auffindung noch unbekannter Fundstellen zu
entwickeln. Wieweit allerdings die aufwendigen formalen auch rechnerischen Bemii-
hungen dabei wirklich bahnbrechende neue Perspektiven eroffnen oder in ihrer Ratio-
nalitat etwas fern der landschaftlichen Wirklichkeit nicht doch zu sehr ins Spekulative
ausufern konnten, ist hier noch nicht abzusehen.
Wahrend unter den Hauptkapiteln des abbildungsmaBig opulent ausgestatteten Ban-
des der Abschnitt 2 „Voriiberlegungen" mit iiberwiegend allgemein-fachlich gehalte-
nen Ausfiihrungen kaum zur konkreten Thematik beitragt, gilt die Aufmerksamkeit der
Landesgeschichte den Betrachtungen zum „Historischen Raumgeschehen" (Merowin-
ger- und Karolingerzeit bis zur Ostsiedlung des 12. Jahrhunderts) sowie zur Namenkun-
de und zur genetischen Kulturlandschaftsforschung im 3. Hauptkapitel „Quellen und
Datenbestand" wohl ganz besonders dem Abschnitt „Archaologischer Quellenbe-
stand". Werden hier doch als Resultat minutiosen Studiums von Grabungsberichten
und Veroffentlichungen die einzelnen Befundgattungen dargelegt, darunter insbeson-
dere die Ausgrabungen und Befunde von wendlandischen Burgplatzen unter Beifiigung
detaillierter Kartenaufnahmen - eine wahre Fundgrube nicht nur fiir den Regionalhis-
toriker! Hinsichtlich der Fundgattung alt- bis spatslawischer Siedlungen eroffnet deren
mit vier Ubersichtskarten (Abb. 37-40) veranschaulichte raumzeitlich differenzierte
Verbreitung neue aufschlussreiche Einblicke in die Siedlungslandschaft und ihre Ent-
wicklung vor der Ostkolonisation des 12. Jahrhunderts. Kontinuitaten von Siedlungs-
platzen werden erkennbar, und ebenfalls kartenmaBig belegt erscheinen die Bestat-
tungsplatze. Der beachtliche 422 archaologische Positionen im gesamten grenziiber-
schreitenden Untersuchungsgebiet umfassende Katalog im Anhang erschlieBt dazu als
wertvolles Bestandsinventarium all diese slawischen Fundplatze und ist als hilfreiche
Ausgangsbasis auch fiir fernere historische und siedlungskundliche Forschungen in der
Slavica hoch einzuschatzen.
Zu einer „Synopse der slawischen Epoche an der unteren Mittelelbe" (S. 176) fiihrt
den Leser das 4. Hauptkapitel „Strukturgeschichtliche Interpretation" mit den aus kri-
tisch vergleichenden Diskursen erwachsenden eigentlichen Resultaten des Verfassers.
Als von nahe liegendem historisch-landeskundlichem Interesse sei hier naher eingegan-
gen auf die drei zentralen Themenkomplexe Landnahme, Burgen und Siedlungen sowie
schlieBlich als vierten auf das als gesonderter Abschnitt 4.5 abgehandelte „Rundlings-
problem aus archaologischer Sicht".
Die Landnahme von Slawen bzw. das Einsetzen von deren Siedlungstatigkeit auf nie-
dersachsischem Boden westlich der Elbe meint Saile hier zuriickhaltend argumentie-
rend und iiberwiegend gestiitzt auf die zeitlich weitraumig vom spaten 7. bis ins letzte
Drittel des 9. Jahrhunderts problematisch zu datierende Sukower und Feldberger Sied-
lungskeramik „offenbar erst in denjahrzehnten um 800" (S. 117, 224) annehmen zu kon-
nen, d.h. in erheblicher Abweichung von B. Wachters bisheriger Einschatzung im 6./7.
Jahrhundert. Dementsprechend erteilt er der von onomastischer Seite auf Grund angeb-
lich alterer Ortsnamen gemutmaBten germanisch-slawischen Kontinuitat eine eindeuti-
ge Absage.
Fiir die nur acht als slawisch angesehenen Burgplatze des Wendlandes deuten sich un-
Allgemeine Geschichte und Landesgeschichte 447
einheitliche Verlaufe ihres Bestehens (z. T. bis in fruhdeutsche Zeit) an. Auch ihre nurzu
mutmaBenden Funktionen etwa als Zentren zugehoriger Siedlungskammern oder als
Stiitzpunkte an bedeutenden Altwegen sowie in Jeetzelnahe lassen sich kaum zu einem
allseitig schliissigen Bild zusammenfiigen. Am ehesten gibt es dafiir Ansatze bei der Ver-
dichtung slawischer Anlagen im elbnahen Gebiet gegeniiber Lenzen. Nicht ein flussque-
render Altweg allein wird dort allerdings dafiir Veranlassung gegeben haben, sondern
gleichermaBen eine damals wohl engere Raumbeziehung ins Transelbische. Noch um
800 umfloss ja einer der Elbarme siidlich den Hohbeck. Was die bekannte Weinberg-
burg bei Hitzacker betrifft, so ist zu fragen, ob die etwas iiberzogen wirkende Kritik des
Verf. an B. Wachters Ausgrabungen dort zwischen 1965 und 1975 sowie an seinen Be-
fundinterpretationen wirklich gipfeln muss in der Forderung nach „eine(r) erneute(n)
Untersuchung auf dieser wohl bedeutendsten slawischen Fundstelle Niedersachsens".
Ungewiss bleibt somit wohl die Zeit ihrer slawischen Anfange, deren friiher Ansatz
(nach Wachter) im 6./7. Jahrhundert von Saile nachdriicklich abgelehnt wird.
Weniger spektakular stellen sich die nur kleinteiligen landlichen slawischen Siedlun-
gen als Weiler und Einzelgehofte an sich dar. Wenn darunter auch ein relativ hoher An-
teil von mittelslawischen Platzen (ausgehendes 9. und 10 Jahrhundert) fur das Wendland
hervorgehoben wird, so beanspruchen demgegeniiber jene aus der spatslawischen Zeit
(11. und 12. Jahrhundert) schon deswegen besondere Aufmerksamkeit, weil sie zeitlich
an die fruhdeutsche Siedelbewegung des 12. Jahrhunderts heranreichen konnen und
quasi die vorkolonisatorische Siedlungslandschaft widerzuspiegeln vermogen. Schwer-
punktmaBig verbreitet findet man diese nur 64 Stellen auf den giinstigeren Boden im
siidlichen Wendland sowie amjeetzellauf und im nordostlichen Gebiet an der Elbe. Re-
gionale Kammerungen mit Orientierung auf Burgwalle werden nicht deutlich, mit Aus-
nahme vielleicht in der Hohbeckregion. Wachters friihere Vermutung einer slawischen
Aufsiedlung des siidlichen Wendlandes im 10. Jahrhundert bereits unter deutschem Ein-
fluss erscheint dadurch eher bestatigt als widerlegt.
Betrachtet man das weitschweifig angelegte Teilkapitel fiber das Rundlingsproblem
einmal nur unter archaologischen Belangen, so steht im Vordergrund die Frage einer sla-
wisch-deutschen Siedlungsplatzkontinuitat auf diesen Dorfstellen selbst. Verf. bestatigt
durchaus wiederholt, dass „aus den (. . .) Siedlungskernen der Rundlinge bis heute keine
slawischen Funde vor(liegen)" (S. 217). Diese bisher nirgendwo angetroffene ethnische
Kontinuitat - mit ein entscheidendes Argumentationsfaktum fur deren Neuanlage als
Plansiedlungen der friihen Ostkolonisation! - versucht er nun aber hartnackig herbeizu-
reden, mit nicht eben stringenten vagen MutmaBungen iiber vorgeblich erschwerte Zu-
ganglichkeit der fundverdachtigten tieferen Untergrundstratigraphie dieser Dorfer in
Folge von Aufschiittung, Uberbauung, ausstehender Ortsgrabungen u.a.m. Unverstand-
lich weiter, dass Saile hier ein seinen Annahmen entgegen stehendes wichtiges Faktum
ganzlich ignoriert, namlich das bei Oberflachenabsuchungen von zahlreichen Wiis-
tungsplatzen mit gesichert ehemaligem Rundlingsgrundriss bisher regelmaBige Aus-
bleiben slawischer Keramik - u.a. auch im wendlandischen Untersuchungsgebiet -
(vom Rez. erneut publiziert im Maxdorf-Buch 2006)! Diese Ergebnisse stellen die Wahr-
scheinlichkeit seiner unterstellten slawisch-deutschen Siedlungskontinuitat in Rundlin-
gen allerdings in hohem MaBe in Frage. Ihre Erwartung bleibt wohl Illusion, solange
nicht solide reale Befunde zu Tage kommen. Auch von Seiten der Archaologie wird man
dem Resultat emsiger Feldarbeit hier wohl mehr zu vertrauen haben als der spitzen Fe-
der des Diskurses.
448 Besprechungen
In Verbindung damit zeigt ein Blick auf die von der vorliegenden Untersuchung un-
beachtet gelassenen Gebiete von Rundlingen, slawischem Namengut etc. wie o.a. im Kr.
Gifhorn usw., dass diese Siedlungen dort mit exakt den gleichen auBeren Merkmalen
und inneren Strukturen wie an der unteren Mittelelbe auch ohne Anwesenheit vorkolo-
nisatorischer Slawenbevolkerung entstehen konnten. Vorkommen slawischer Keramik
sind allerdings im Gifhornschen bisher gar nicht zu Tage gekommen! So bleiben die seit
dem 12. Jahrhundert hier einsetzenden reichlichen Zeugnisse slawischen Volkstums in
diesen Gebieten weiterhin nur erklarbar durch das Eintreffen slawischer Menschen erst
im Zuge der Kolonisation und geben entsprechende Fingerzeige auch fiir die gleichzeiti-
gen Siedlungsvorgange im Wendland, wo Saile die Ansiedlung weiterer Slawen nach
den Wendenkriegen im Zuge der Rundlingsansiedlung mit deutscherseits zugefiihrten
weiteren slawischen Menschen in Abrede stellen mochte. Ob jedoch seine durch forma-
le Hochrechnung geschatzten noch ca. 260 unentdeckten slawischen Siedlungsstellen
im Wendland (S. 215) - als unterstelltes kryptes autochthones Bevolkerungspotential -
wirklich realistisch sind, scheint mehr als fraglich. Nach dem aktuellen Kenntnisstand
von 64 (Kleinsiedlungs-)Platzen kann deren Bevolkerung bei weitem nicht fiir die raum-
greifende dichte Aufsiedlung im 12. Jahrhundert ausgereicht haben. Migrationsprozes-
se werden also weiter zu erwagen sein.
Uberzeugend hingegen stellen sich angedeutete genetische Zusammenhange zwi-
schen alteren (auch nichtslawischen) Ansiedlungen in der Nachbarschaft von Rund-
lingsdorfern (Abb. 1 1 7 f . ) und deren Aufgehen darin im Zuge der Kolonisation des 12.
Jahrhunderts dar. Vergleichbare Beispielsfalle aus dem Gifhornschen (Weyhausen) so-
wie der Altmark legen nahe, dass im Umfeld bereits zuvor lebende Menschen (neben
den wahrscheinlichen Neuankommlingen) in das Bauernvolk der neuen Rundlinge mit
einbezogen worden sind. Ob es in jedem Falle Slawen gewesen sind, bleibt eine Frage
der auch nach Saile gegen Ende der slawischen Epoche immer schwerer werdenden Un-
terscheidbarkeit der Keramik von Slawen und Deutschen (S. 198). Im Untersuchungsge-
biet scheint sich ein solcher vergleichbarerFall bei dermagnetprospektierten Fundstelle
neben (nicht aufl) dem Sileitz-Flurstiick von Biilitz (S. 134 ff.) abzuzeichnen. Sehr ahnlich
namlich erweist sich die Ausgangssituation bei den aktuellen Grabungen im altmarki-
schen Hohendolsleben, wo nun jedoch die zuvor als slawisch angenommene Fundstelle
vor dem Dorf (Kat. Nr. 138) eher als deutsch eingeschatzt wird.
Zusammenfassend gesehen bilanziert die breit angelegte, engagiert kritik- und urteils-
freudig abgefasste Studie erstmalig den gesamten archaologischen Kenntnisstand der
Slavica grenziiberschreitend beiderseits der unteren Mittelelbe mit Fokussierung des
nordostlichen Niedersachsen, besonders des rundlingsreichen Wendlandes. Durch
Heranziehen vielseitiger nachbarfachlicher Forschungspositionen sowie in dem Bemii-
hen, diese in ein facherubergreifendes koharentes Gesamtbild vom archaologischen
Standpunkt aus einzuordnen, liefert die Arbeit vielfaltig anregenden Diskussionsstoff
und fordert so gleichermaBen zur Uberpriifung ihrer eigenen Resultate wie lange ver-
trauter anderweitiger Forschungsergebnisse heraus, z. B. des hier erneut aufgegriffenen
Rundlingsproblems. Mit umso groBerer Spannung konnen wir daher den Ergebnissen
des aktuellen landeriibergreifenden und DFG-geforderten gemeinsamen Forschungs-
projekts von Archaologie, Geschichte, Geowissenschaften und Biologie „Slawen an der
unteren Mittelelbe" entgegen sehen.
Braunschweig Wolfgang Meibeyer
Allgemeine Geschichte und Landesgeschichte 449
Schutz, Ernst: Die Gesandtschaft Grojibritanniens am Immerwahrenden Reichstag zu Regens-
burg und am Kur(pfalz-)bayerischen Hofzu Miinchen 1683-1806. Miinchen: Verlag C.H.
Beck 2007. LVII, 367 S. = Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte Bd. 154.
Geb. 32,-€.
Die lange Zeit geschmahte traditionelle Politik- und Diplomatiegeschichte, nach den
Worten Jacques Le Goffs „ein Kadaver, den man immer wieder toten muss", erfahrt seit
einigen Jahren eine Neubewertung. Angesichts der besonders in der Fruhneuzeitfor-
schung zu konstatierenden Vernachlassigung zentraler historischer Kategorien wie
Krieg und Frieden, Macht, Diplomatie und Volkerrecht durch eine „neuere" Sozial- und
Kulturgeschichte ist verstarkt die Behandlung dieser brachliegenden Felder angemahnt
worden, zuletzt pointiert von den Autoren eines 2007 erschienenen Sammelbandes .
Wie sehr die Politik- und Diplomatiegeschichte allerdings mit uberkommenen Klischees
behaftet ist, wird daran deutlich, dass ihre neuen Protagonisten mehr als einmal beto-
nen, ihr Themenspektrum nicht auf die „Haupt- und Staatsaktionen" reduzieren und -
in Zuriickweisung der polemischen Definition von G. M. Young - nicht referieren wol-
len, „what one clerk said to another clerk". Programmatisch integriert die mit neuem
Selbstbewusstsein auftretende Politikgeschichte in ihre Analyse des europaischen
Machtesystems der Friihen Neuzeit sozial-, mentalitats- und kulturgeschichtliche Ansat-
ze und sucht auf breiter Quellenbasis das Feld der internationalen Beziehungen multi-
perspektivisch in den Blick zu nehmen.
Dem Konzept einer hermeneutisch orientierten Perzeptionsforschung, die sich auch
fur die Wahrnehmung des Gastlandes durch die Diplomaten und die Rahmenbedingun-
gen ihrer Tatigkeit interessiert, ist die vorliegende, an der Universitat Eichstatt-In-
golstadt entstandene Dissertation verpflichtet, die am Beispiel der Gesandtschaften
GroBbritanniens am Reichstag in Regensburg und am bayerischen Hof in Miinchen ein
moglichst umfassendes Bild der Diplomatie und ihrer Akteure zeichnen und dabei „vor-
sichtig alte und neue Forschungsschwerpunkte miteinander verbinde[n]" (S. 17) will.
Urspriinglich unter Karl II. im Jahre 1683 nur als zeitlich begrenzte Vertretung bei
den Waffenstillstandsverhandlungen zwischen Frankreich und dem Reich in Regens-
burg gedacht, etablierte sich die englische Gesandtschaft seit 1684 dauerhaft beim
Reichstag. Die Vertretung in Regensburg hatte zwar nicht das gleiche Gewicht wie die
Gesandtschaften in den Hauptstadten der groBen europaischen Machte, bot aber die
Moglichkeit einer schnellen informellen Kontaktaufnahme mit einer Vielzahl europai-
scher Staaten. Nach der Glorious Revolution von 1688 betrieb die Vertretung vor allem
die Anerkennung Wilhelms III. im Konzert der europaischen Staatenwelt und trug ihren
Teil zur Aufdeckung jakobitischer Umsturzplane bei, iiber die am Reichstag als Nach-
richtenborse und Geriichtekiiche besonders viele Hinweise zusammenliefen. Insgesamt
spielte sie neben der niederlandischen Gesandtschaft, durch die der Oranier hauptsach-
lich agierte, allerdings nur eine untergeordnete Rolle. Dies anderte sich mit Beginn des
Spanischen Erbfolgekrieges, dem Thronwechsel zu Queen Anne und der sich abzeich-
nenden hannoverschen Sukzession. Stand bis zum Utrechter Frieden die Bundnispolitik
der antibourbonischen Allianz im Vordergrund, so war die Gesandtschaft nach 1714 vor
allem ein Instrument der Dynastiepolitik, bei der der Vertretung die Aufgabe zukam, der
1 Hans-Christof Kraus/ Thomas Nicklas (Hrsg.), Geschichte der Politik. Alte und neue
Wege, Miinchen 2007 (Beihefte der Historischen Zeitschrift, Neue Folge Bd. 44).
450 Besprechungen
neuen Rolle des hannoverschen Kurfiirsten als Konig von GroBbritannien Anerken-
nung zu verschaffen und erneuten Umsturzplanen der exilierten Stuarts entgegenzuwir-
ken. In der Regierungszeit Georgs I., besonders in denjahren 1724 bis 1727, erlebte die
britische Vertretung in Regensburg „eine Phase enormer Tatigkeitsentfaltung", mit der
sowohl globale Ziele der englischen Politik wie die balance ofpowerah auch religionspoli-
tische Anliegen, d. h. die Starkung des Protestantismus in Europa, verfolgt wurden. Un-
ter Georg II. ruhten die diplomatischen Beziehungen GroBbritanniens zum Reichstag
fast vollstandig, erst Georg III. reaktivierte die Gesandtschaft, nun jedoch in Form einer
Doppelvertretung in Regensburg und Munchen. Trotz des erweiterten Aufgabenspek-
trums und trotz der strittigen Frage der bayerischen Erbfolge stand die Doppelgesandt-
schaft nicht im Brennpunkt europaischer Politik, sodass sie in der Regel mit wenig erfah-
renen Botschaftern besetzt werden konnte, denen Gelegenheit gegeben wurde, dort ihre
Ausbildung quasi als learning by doingzu absolvieren. Angesichts fehlender Institutionen
fur die Diplomatenausbildung gewannen Regensburg und Munchen eine „Ausbildungs-
platzfunktion [. . .] fur die britische Diplomatic im 18. Jahrhundert" (S. 292). Die man-
gelnde Auslastung der Vertretung im Bereich zwischenstaatlicher Politik lieB den Ge-
sandten genugend Zeit, sich mit dem Gastland in den Bereichen Wirtschaft, Finanzen,
Kultur und Militar zu befassen. Die diesbeziiglichen Relationen erlauben einen differen-
zierten Einblick in die Wahrnehmung Bayerns und des Reichs durch die Gesandten, die
ihrem Gastland in einer „ausgepragten Negativhaltung" gegeniibertraten und als Vertre-
ter der protestantischen Weltmacht „ein quasi-missionarisches SendungsbewuBtsein"
vor allem gegeniiber dem als riickstandig betrachteten katholischen Teil Deutschlands
an den Tag legten. Im ubrigen zeigen die Relationen, dass von derbritischen Diplomatic
das Reich schon lange vor 1806 als ein Anachronismus betrachtet wurde und sein Ende
kaum iiberraschte, was der Verfasser zutreffenderweise als „kleinen Beitrag zur Relati-
vierung der Reichseuphorie" (S. 293) wertet, die in den letzten beiden Jahrzehnten in der
Historiographie zu konstatieren war.
Beachtung verdienen aus niedersachsischer Perspektive die von Ernst Schiitz aufge-
zeigten Besonderheiten, die sich aus der Doppelrolle des englischen Monarchen als Ko-
nig von GroBbritannien und Kurfiirst von Hannover ergaben. Sowohl das Kurfiirsten-
tum als auch GroBbritannien waren mit jeweils einer eigenen Gesandtschaft in Regens-
burg vertreten. Obwohl punktuell eine Zusammenarbeit stattfand, wurde peinlichst auf
eine strikte Trennung der beiden Vertretungen geachtet. Da reichsstandische und aus-
wartige Gesandtschaften am Reichstag unterschiedliche Wirkungsfelder und Zugangs-
moglichkeiten besaBen, sicherten sich die britischen Monarchen nicht nur ein breiteres
Informationsspektrum, sondern verschafften sich auch in ihrer Rolle als Kurfiirsten, die
exklusiv iiber die Deutsche Kanzlei ihre Relationen erhielten, einen Informationsvor-
sprung vor den Londoner Ministern. Zum anderen war die strikte Trennung auch des-
halb geboten, weil in der britischen Offentlichkeit (in der im ubrigen „eine geradezu ge-
harnischte Ignoranz gegeniiber den Kurlanden vorherrschte", S. 193) jeder Eindruck
vermieden werden sollte, die Konige hatten mehr ihre kontinentalen Interessen als
Reichsstand denn das Wohl des Empire im Blick.
Der detaillierten, trotz der zugrundeliegenden komplexen politischen Verstrickun-
gen gut lesbare diachronen Darstellung der britischen Doppelgesandtschaft bis zu ih-
rem Ende im Jahre 1806 folgt ein zweiter, ebenso umfangreicher Teil, der sich mit Orga-
nisation und Funktionsweise der Gesandtschaft befasst. Thematisiert werden Herkunft
und Berufswege der Diplomaten, das Personal in den diplomatischen Vertretungen,
Allgemeine Geschichte und Landesgeschichte 451
ihre rechtliche Stellung, Fragen der Haushaltsfiihrung und Finanzierung, Wege der In-
formationsbeschaffung und die Integration der Gesandten in die Gesellschaft vor Ort.
Ein abschlieBendes Kapitel befasst sich mit der Wahrnehmung des Gastlandes durch
die Diplomaten und mogliche Ansatze eines Kulturtransfers; letzterer lasst sich aller-
dings kaum nachweisen. Die Perzeption des Fremden war weitgehend von tief verwur-
zelten Nationalstereotypen gepragt, die teilweise - so bei der Beurteilung bayerischer
Trinksitten - noch von Beschreibungen der germanischen Volker durch Tacitus gepragt
waren.
Kurzbiographien derbritischen Gesandten, Sekretare, Charges d'affaires und Korres-
pondenten in Regensburg und Miinchen zwischen 1683 und 1806, der bayerischen und
kurpfalzer Gesandten in London, der Vertreter anderer auswartiger Machte am Reichs-
tag und am kurbayerischen Hof sowie der Abdruck mehrerer Instruktionen, Relationen
und Vertragsentwiirfe erganzen die griindliche Studie, die nicht zuletzt fur die Funkti-
onsweise der Personalunion zwischen Kurhannover und GroBbritannien wichtige Ein-
sichten vermittelt.
Hannover Gerd van den Heuvel
Schulze, Hans K.: Die Heiratsurkunde der Kaiserin Theophanu. Die griechische Kaiserin
und das romisch-deutsche Reich 972-991. Hannover: Verlag Hahnsche Buchhand-
lung 2007. 119 S. Abb. = Veroff. der Niedersachsischen Archivverwaltung Sonderbd.
Geb. 29,-€.
Die beruhmte Theophanu-Urkunde vom 14. April 972 ist das prachtvollste mittelalterli-
che Kaiserdiplom auf dem Boden des heutigen Bundeslandes Niedersachsen. Mehr als
140 cm misst der Pergamentrotulus in der Lange, fast 40 cm in der Breite: eindrucksvoll
schon durch seine bloBe GroBe. Mit goldener Tinte auf purpur- und indigoeingefarb-
tem Pergament ist der Text in einer kalligraphisch wirkenden Minuskel geschrieben: in
dieser Farbkombination ein Stuck von hochstem asthetischem Reiz. Die beiden Kaiser
Otto I. (936-973) und Otto II. (973-983, Mitkaiser seit 967) bestiitigen darin die Ausstat-
tung der Ehefrau Ottos II., der byzantinischen Prinzessin Theophanu, anlasslich beider
Vermahlung in Rom durch Papst Johannes XIII.: auch im Umfang der fur die Braut
vorgesehenen Giiter eine herausragende Beurkundung.
So nimmt es nicht Wunder, dass diese Urkunde nicht nur 2005 fur das UNESCO-
Weltkulturerbe nominiert wurde, sondern dass sie auch in den reichlich drei Jahrhun-
derten seit ihrer Entdeckung in der Forschung wieder und wieder behandelt worden ist.
Als ihr Entdecker, der Gandersheimer Stiftsbibliothekarjohann Georg Leuckfeld, 1707
den Erstdruck vorlegte, zog er das Interesse von Leibniz auf sich. Theodor Sickel, wohl
der bedeutendste Diplomatiker des 19. Jahrhunderts, legte 1862 eine lange Zeit hin-
durch als autoritativ geltende Bewertung der Urkunde vor, aber die Diskussion iiber das
Stuck hielt an, immer wieder auch durch AnstoBe aus Niedersachsen vorangebracht.
Rudolf Grieser, Hans Goetting, Dieter Matthes und Walter Deeters seien genannt, aber
auch der Byzantinist Werner Ohnsorge als ihr Gegenpart und der Diplomatiker Carlri-
chard Briihl mit seiner umfassenden Darstellung mittelalterlicher Purpururkunden
iiberhaupt. Die 1000. Wiederkehr des Todesjahres der Theophanu 1991 bot einen weite-
ren Anlass, sich einmal mehr mit diesem Stuck zu beschaftigen, das seit 1980 in einem
452 Besprechungen
prachtvollen Faksimile vorliegt und 1984 schon einmal Gegenstand einer Veroffentli-
chung der Niedersachsischen Archivverwaltung war.
Hans K. Schulze, emeritierter Mittelalterhistoriker der Universitat Marburg, und die
Hahnsche Buchhandlung als Verlag stehen also in einer wissenschaftsgeschichtlich be-
deutenden und langen Tradition. Der Autor des schmalen Bandes kann deswegen kaum
Neues beisteuern, was die Urkunde, ihre Entstehungsumstande und die Zeit ihrer Ent-
stehung angeht, aber das ist auch nicht sein Ziel. Stattdessen wiederholt er Gesichertes,
akzentuiert Diskussionen der Forschung und nimmt selbstbewusst zu Streitfragen Stel-
lung, alles das aus der souveranen Kenntnis und der aktiven Mitgestaltung der wieder so
lebhaft gewordenen Ottonenforschung und der Diplomatik des vergangenen Viertel-
jahrhunderts.
Schulze nimmt beide Teile des Buchtitels ernst: Er liefert ebenso eine Biographie der
Kaiserin einschlieBlich der Einordnung ihrer nur schemenhaft erkennbaren Herkunft
in die politischen Verhaltnisse der Jahre um 970, wie er sich zur Theophanu-Urkunde
selber auBert. Die Ausfuhrungen zur Urkunde bestechen durch die klare Sprache, die
umsichtige und einfuhlsame Beschreibung der Urkunde als eines Kunstwerkes der
(Buch-)Malerei des 10. Jahrhunderts, dem trotz lang anhaltender Suche keine Paralle-
len an die Seite gestellt werden konnen, und durch die klare Aussage, dass es sich eben
nicht, wie Sickel annahm, um eine nachtragliche Prunkabschrift handelt, sondern um
die urspriingliche Form der anlasslich der Heirat iibergebenen Urkunde (S. 39-41) : „Fiir
eine Anfertigung der Heiratsurkunde zu einem spateren Zeitpunkt gibt es kaum wirk-
lich iiberzeugende Argumente. Zu welchem Zweck und aus welchem herausragenden
Anlass sollte man von einer gewohnlichen Kanzleiausfertigung diese prunkvolle Ab-
schrift gemacht haben?" (S. 39) So einfach und so iiberzeugend lassen sich feinziselierte
und immer wieder ohne weiteren Erkenntniszuwachs diskutierte Argumente friiherer
Forschung beiseite schieben! Stattdessen wird deutlich hervorgehoben, was in friiheren
Jahren immer wieder schon einmal genannt worden war: die formale Orientierung an
Stil und Aussehen der byzantinischen kaiserlichen Auslandsschreiben (S. 35-38). Ein
letztes Wort wird es in dieser Kontroverse vermutlich nie geben, aber die Ausfuhrungen
Schulzes sind nicht nur abgewogen, sondern haben auch alle Wahrscheinlichkeit auf ih-
rer Seite.
Abgeschlossen wird der Text des Bandes durch ein ausfiihrliches Regest der Ur-
kunde, ihren Text und eine Ubersetzung (durch Dieter Matthes) (S. 89-95), durch eine
umfassende Dokumentation der reichen Forschungsliteratur zu diesem Themenkreis
(S. 97-113) sowie durch Stammtafeln, die auch die unterschiedlichen Ansichten iiber die
umstrittene Herkunft Theophanus wiedergeben (S. 114-117).
Besonders hervorzuheben ist die Gestaltung des Buches und seiner iiberwiegend far-
bigen Abbildungen. Die Schwierigkeiten dabei, die Theophanu-Urkunde in angemesse-
ner Weise farblich korrekt wiederzugeben, benennt ein knapper Hinweis des Verlagslei-
ters derHahnschen Buchhandlung, Oliver Waffender (S. 10). Die Ergebnisse derRepro-
duktionstechnik sind, das darf man ohne alle Einschrankung sagen, erstklassig, sowohl
in den Detailaufnahmen als auch in der Gesamtsicht, die sich als letzte Abbildung ganz
am Ende des Bandes befindet. So ist es einer der nicht gering zu schatzenden wesentli-
chen Effekte des Buches, dass eine der herausragenden mittelalterlichen Kaiserurkun-
den auch als Kunstwerk von herausragender Qualitat abgebildet werden konnte.
Osnabriick Thomas Vogtherr
Allgemeine Geschichte und Landesgeschichte 453
Wildt, Michael: Volksgemeinschaft als Selbstermachtigung. Gewalt gegen Juden in der deut-
schen Provinz 1919 bis 1939. Hamburg: Hamburger Edition 2007. 411 S. Abb. Geb.
28,- €.
In den letztenjahren hat sich die Forschung zurnationalsozialistischenjudenverfolgung
intensiv mit der Frage auseinandergesetzt, wie verbreitet die Kenntnis von den Verbre-
chen gegen die Juden unter der deutschen Bevolkerung gewesen ist und in wie weit
„ganz normale" Deutsche in sie verwickelt waren. Dabei stand die Zeit der Deportatio-
nen und des Massenmordes an der jiidischen Bevolkerung in den Kriegsjahren im Mit-
telpunkt des Interesses. Zu fragen ist allerdings auch nach den Gewaltakten, die sich
nicht wahrend des Krieges irgendwo „im Osten", sondern vor den Augen der deutschen
Offentlichkeit abgespielt haben: vom ,Judenboykott" am 1. April 1933 iiber die Gewalt-
orgien des Sommers 1935 bis zum Novemberpogrom 1938. Wie kamen die judenfeind-
lichen Ausschreitungen zustande? Wie hat die „ganz normale" Bevolkerung auf die
Vorfalle ,,vor ihrer Haustiir" reagiert? Wie stark war sie selbst involviert?
In vielen Darstellungen zur jiidischen Regional- und Lokalgeschichte konnte man zu
dieser Frage schon wichtige Informationen finden. Auch Michael Wildt hat zu diesem
Thema bereits einige Aufsatze veroffentlich und stellt nun seine Forschungsergebnisse
gebundelt vor. Im Zentrum seines Interesses steht die Judenverfolgung „von unten" in
den Jahren 1933 bis zum Kriegsbeginn 1939. Nicht nach Meinungen und Einstellungen
der Bevolkerung wird gefragt, sondern nach ihrem Verhalten in lokalen Gewaltaktionen
gegen Juden, ferner nach der Funktion dieser Gewaltaktionen fur die staatliche Judenpo-
litik und fur die Umwandlung der biirgerlichen Zivilgesellschaft in eine rassistische
„Volksgemeinschaft".
Wildt verkniipft in seiner Arbeit theoretisch-systematische Analysen mit einem chro-
nologischen Uberblick iiber die Entwicklung antisemitischer Gewalt vom Ende des Ers-
ten Weltkriegs bis 1939. Ausgangspunkt ist das gesellschaftliche Konzept der „Volksge-
meinschaft", wie es sich seit Beginn des Ersten Weltkriegs in Deutschland entwickelte,
und speziell seine volkisch-nationalsozialistische Ausformung als Gegenprinzip zur
rechtsstaatlichen Demokratie. Darauf folgt die Beschreibung derjudenfeindlichen Aus-
schreitungen in der Weimarer Republik sowie der Zasur des Jahres 1933 mit der Boykott-
aktion vom 1. April. Ein entscheidendes und bislang zu wenig beachtetes Aktionsfeld fiir
die Etablierung des NS-Konzepts der „Volksgemeinschaft" sieht Wildt in der deutschen
Provinz, wo die Boykotte auch nach ihrem offiziellen Ende weitergefiihrt wurden. In die-
sen und weiteren Gewaltaktionen habe sich den Nationalsozialisten eine „Politikarena"
geboten, auf der erfolgreich die politische Ordnung vor Ort umgewandelt werden konn-
te. Die „Rassenschande"-Umziige und Aktionen gegen „Judenfreunde" des Jahres 1935
beschreibt Wildt als Ausdruck des sich bereits im Vorgriff auf gesetzliche Regelungen
etablierenden rassistischen „Volksrechts". Im Pogromjahr 1938 sei endgiiltig die Rechts-
ordnung zugunsten einer Gewaltordnung zuriickgedrangt worden, die eine Vorausset-
zung fiir den geplanten Krieg um „Lebensraum" bildete.
Wildt will den Blick gezielt auf die Entwicklung in den vielen Dorfern und kleinen
Stadten abseits der urbanen Zentren richten. 1933 wohnte immerhin noch ein Fiinftel
der deutschen Juden in Gemeinden mit weniger als 20.000 Einwohnern. Hier lebten sie
in iiberschaubaren Verhaltnissen, waren als Juden allgemein bekannt und einer starken
sozialen Kontrolle ausgesetzt. Boykott- und Anprangerungsaktionen mussten sich unter
diesen Umstanden besonders gravierend auswirken und wurden zudem von auslandi-
454 Besprechungen
schen Beobachtern nicht so leicht bemerkt wie in den groBen Stadten. So war es kein
Wunder, dass viele jiidische Einwohner, vor allem die jiingeren, angesichts ihrer zuneh-
mend aussichtslosen Lage versuchten, in den deutschen GroBstadten „unterzutauchen",
wenn sie nicht gleich ins Ausland fliichteten.
Angesichts der iibersichtlicheren Verhaltnisse in der Provinz sieht Wildt die Moglich-
keit, hier die „Herstellung" der Volksgemeinschaft viel deutlicher zu erkennen als in den
GroBstadten. Erwill keine fur die deutsche Provinz representative Auswahl von Gewalt-
akten vorzustellen, sondern wahlt eine exemplarische Perspektive, die „Transformati-
onsprozesse und Gewaltpraktiken erhellen soil" (14) , ohne diesen Ansatz naher zu prazi-
sieren. Als regionale Schwerpunkte benennt er „moglichst unterschiedliche" Regionen
Deutschlands: das „protestantische" OstpreuBen, das „katholische" Rheinland, das „pe-
ripher gelegene" Ostfriesland, das „zentrale" Hessen, das „von der Arbeiterbewegung
gepragte" Ruhrgebiet und das „eher von der Kirche bestimmte" Bayern (22). Dies soil
verhindern, Besonderheiten einer Region zu verallgemeinern. Abgesehen von der pau-
schal-banalen Charakterisierung der Regionen stellt sich bei der weiteren Lektiire aber
heraus, dass fur die Auswahl der Beispiele offensichtlich weniger eine bewusste raumli-
che Schwerpunktsetzung bedeutend war, als das Vorfinden besonders eklatanter Falle
in der Literatur und dem herangezogenen Quellenmaterial. Regionen mit ausfuhrlich
vorgestellten Fallbeispielen sind Hessen und Ostfriesland (Emden, Norden, Jemgum).
Im Vergleich zu den ebenfalls quellengesattigten, aber doch eher summarischer Dar-
stellungen des judenfeindlichen Terrors „von unten" etwa bei Bankier und Longerich
geht Wildt ins Detail und verdeutlicht so das ganze AusmaB an barbarischem Verhalten
gegenuber den jiidischen Mitbiirgern. Er liefert dichte Beschreibungen, wie sie, aller-
dings verstreut, auch bereits in lokalen und regionalen Studien zur Geschichte derjuden
zu finden sind. Er wertet diese Literatur und Nachschlagewerke wie das neue „Histori-
sche Handbuch der jiidischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen" intensiv aus,
kann deren Ergebnisse aber durch Riickgriff auf den in den letzten Jahren stark erweiter-
ten Fundus verfiigbarer Quellen durchaus noch erganzen. So nutzt Wildt besonders die
Akten des Centralvereins deutscher Staatsbiirger jiidischen Glaubens mit zeitgenossi-
schen Darstellungen aus der Sicht der jiidischen Gewaltopfer, das von Otto Dov Kulka
und Eberhard Jakel editierte Quellenwerk „DieJuden in den geheimen NS-Stimmungs-
berichten" und die „Deutschland-Berichte" des Exilvorstands der SPD (SOPADE). Eine
wichtige Rolle spielt auch das uberlieferte Fotomaterial. Auf die Problematik des wis-
senschaftlichen Umgangs mit diesen Quellen geht Wildt nur kurz ein.
Unterbrochen wird die Darstellung der antisemitischen Gewaltwellen von Abschnit-
ten, in denen es um Begriffsklarung und historische Einordnung geht, wobei aber auch
viel Bekanntes referiert wird. So zu den Themen Boykott und Pogrom, zur Geschichte
der Ehrenstrafen, zum „Doppelstaat" Ernst Fraenkels usw. Das mag hilfreich fur den the-
matisch weniger informierten Leser sein; zur systematischen Ausarbeitung von Wildts
Ansatz zur Entwicklung und Bedeutung antisemitischer Gewalt im „Dritten Reich" tra-
gen diese Exkurse jedoch nur wenig bei.
Im Gegensatz zu anderen Darstellungen und auch zu den zeitgenossischen Stim-
mungsberichten stellt Wildt die grob polarisierende Einteilung in NS-Aktivisten und
„Bevolkerung" in Frage. Sie verhindere es, unterschiedliche Grade der Beteiligung an
den gewalttatigen Ubergriffen zu erkennen. Der Autor will zeigen, dass der Kreis der Ge-
waltakteure und ihrer offentlichen Unterstiitzer deutlich iiber den radikal-aktivistischen
Fliigel der NSDAP und ihrer Unterorganisationen hinaus ging. Er kann diese These aber
Allgemeine Geschichte und Landesgeschichte 455
anhand des von ihm verarbeiteten Quellenmaterials einschlieBlich der abgedruckten
Fotos nicht hinreichend erharten. Die von ihm vorgestellten Fallbeispiele sprechen viel-
mehr dafiir, dass Initiative und Durchfiihrung vor Ort doch durchweg in der Hand von
NS-Aktivisten lag.
Entscheidend fur die Wirkung der Gewaltaktionen war, dass sie in aller Offentlichkeit
stattfanden und alle Menschen, die damit in Bertihrung kamen, in das Geschehen ein-
bezogen. 1933 gab es noch vereinzelte offentliche Zuriickweisungen der Gewalt; in den
folgenden Jahren haben die Zuschauer durch ihr Gewahren lassen dem Rechtsbruch
erst zu seinem Erfolg verholfen. Ob sie das Geschehen distanziert (oder auch erschro-
cken?) betrachteten oder die Akteure feixend und klatschend antrieben - die Zuschauer
waren wesentlicher Bestandteil und damit letztlich Komplizen der offentlichen Insze-
nierungen. Dieser Argumentation ist grundsatzlich zuzustimmen, doch bleibt die Frage,
ob Wildt die Moglichkeit, nach 1933 in derartigen Situationen noch Widerspruch zu
leisten, nicht iiberschatzt, wenn er den Mangel an Zivilcourage beklagt und in merkwiir-
diger Formulierung von einem „Verneinen der eigenen moralischen Urteilsfahigkeit" so-
wie einer „erstaunliche(n) Unbekiimmertheit gegeniiber den Gefahrdungen der eigenen
personlichen Integritat" spricht (9 f.) . Man denke hier an den gegen „Judenfreunde" und
,Judenknechte" ausgeiibten Terror und an die parallel zu den judenfeindlichen Aktio-
nen laufenden Kampagnen gegen die konservativ-biirgerliche „Reaktion" und die ka-
tholische Kirche. So bleibt der bisherige Forschungsstand, dass zwar ein zunehmender
Teil der Bevolkerung gesetzliche Einschrankungen der Lebensbedingungen der Juden
forderte oder zu akzeptieren bereit war, die groBe Masse aber gewalttatige Ubergriffe
„von unten" ablehnte, von Wildts Argumentation unberiihrt.
Dennoch hatten die Gewaltaktionen eine erhebliche offentliche Wirkung. In ihnen
wurde die von den Akteuren erwartete Verscharfung der Judenpolitik schon praktisch
vorweg genommen und die rechtsstaatliche Ordnung immer deutlicher unterminiert.
Die Aktionen vergroBerten die soziale Distanz zu den jiidischen Mitbiirgern und stigma-
tisierten jegliche Solidaritat mit ihnen. Umstritten ist allerdings, in wie weit die nichtjii-
dischen Zeitgenossen noch zu Mitgefiihl gegeniiber den Opfern in der Lage waren oder
sich eher indifferent verhielten und nur das eigene Fortkommen und den eigenen Nut-
zen vor Augen hatten.
Wildt sieht es als Tatsache an, dass in den ortlichen Aktionen standig und eigen-
machtig der von der NS-Fiihrung gesteckte Rahmen iiberschritten wurde, und erkennt
darin eine „Selbstermachtigung" der Gewalttater. Sicherlich trifft es zu, dass die Mog-
lichkeit zur unsanktionierten offentlichen Gewaltausiibung gegen die wehrlosen Juden
und ihr Eigentum den Akteuren ein Gefiihl der Macht verlieh. Doch die Akteure han-
delten eben nicht aus eigener Starke, durch „Selbstermachtigung", sondern waren
durch Teile der NS-Fiihrung animiert und „ermachtigt" mit dem Ziel, durch den insze-
nierten „Volkszorn" eine weitere Verscharfung der judenfeindlichen Politik anzustoBen
und zu legitimieren. In diesem Zusammenhang kommt die anstiftende Rolle der NS-
Presse bei Wildt deutlich zu kurz. Die Akteure nutzten den Spielraum so weit aus, wie
es nach ihrer Ansicht dem „wahren" Willen der Parteifiihrung entsprach, aber vorlaufig
- vor allem aus auBenpolitischen Riicksichtnahmen - offiziell von ihr nicht vertreten
werden konnte.
Wildt spricht dagegen (Longerich kritisierend) von einer kurzsichtigen Annahme der
Regimefiihrung, die Kontrolle fiber die Aktionen behalten und sie nach Belieben ein-
und wieder ausschalten zu konnen. Dieser Trugschluss habe ein „Dilemma der eigenen
456 Besprechungen
Gewaltpolitik" (281) herbeigefiihrt. Das Dilemma staatlicher Instanzen angesichts der
Infragestellung ihres Gewaltmonopols ist offensichtlich, wie die Klagen iiber den Auto-
ritatsverlust der Polizei in den Gestapo-Berichten zeigen. Aber handelte es sich auch um
ein Dilemma der Parteifiihrung, eine Gefahr fur das Regime? Auch Wildts zentrale The-
se, dass in den antijudischen Gewaltaktionen die „Volksgemeinschaft" Gestalt angenom-
men habe oder die Aktionen zumindest die „Wirklichkeit der Volksgemeinschaft, wenn
auch zeitlich und raumlich begrenzt", vorweggenommen hatten (374), wird von ihm
nicht stringent entwickelt. Zutreffend ist wohl eher die Auffassung, dass der Antisemitis-
mus zwar fur die Parteianhangerschaft eine integrative Funktion gehabt habe, nicht aber
fur das Gros der Bevolkerung. Von einer „Selbstermachtigung" der „Volksgemeinschaft"
bzw. einer „Volksgemeinschaft als Selbstermachtigung" kann keine Rede sein, erst recht
nicht von einem imaginaren „nationalsozialistischen Volk", dass sich in Gewaltaktionen
gegen Juden als „politischer Souveran"(!) realisierte (374). Die Neigung des Autors zu
flott formulierten Schlagzeilen ohne eigentliche Substanz mindert leider den Wert der
sonst anspruchsvollen Untersuchung. Die Lektiire ist dennoch auBerordentlich anre-
gend und fordert zu weiterer Beschaftigung mit dem Thema heraus.
Wardenburg Werner Meiners
RECHTS-, VERFASSUNGS- UND
VERWALTUNGSGESCHICHTE
Beer, Peter: Hexenprozesse im Kloster und Klostergebiet Loccum. Gottingen: V&R unipress
2007. 178 S. = Studien zur Kirchengeschichte Niedersachsens Bd. 41. Geb. 38,90 €.
Trotz des nach wie vor ungebrochenen Interesses an Hexenprozessen haben Arbeiten,
die dieses Phanomen der friihen Neuzeit aus spezifisch rechtsgeschichtlicher Sicht un-
tersuchen, mittlerweile Seltenheitswert. Die beiden letzten groBeren einschlagigen Mo-
nografien, Peter Oestmanns imjahre 1997 erschienene Gottinger Dissertation iiber „He-
xenprozesse am Reichskammergericht" und Giinterjerouscheks hannoversche Habili-
tationsschrift aus dem Jahre 1992, liegen namlich mittlerweile mehr als zehn bzw. sogar
fiinfzehn Jahre zuriick. In Anbetracht dieser Tatsache gebiihrt einer neuen Untersu-
chung zum Thema aus rechtshistorischer Perspektive besondere Aufmerksamkeit.
Wenn sie auBerdem, wie die hier anzuzeigende Studie von Peter Beer die „Hexenprozes-
se im Kloster und Klostergebiet Loccum" thematisiert, darf sie sich dariiber hinaus des
Interesses auch der niedersachsischen Landesgeschichte sicher sein.
Betreut wurde die an der Juristischen Fakultat der Georgia Augusta vorgelegte und
angenommene Dissertation von dem Gottinger Emeritus fur Deutsche Rechtsgeschichte
1 Giinter Jerouschek, Die Hexen und ihr Prozess. Die Hexenverfolgung in der Reichs-
stadt Esslingen, Esslingen 1992.
Rechts-, Verfassungs-, Verwaltungsgeschichte 457
Wolfgang Sellert, der vor allem in den 80er und 90erjahren des 20. Jahrhunderts die
Strafrechtsgeschichte zu einem seiner Forschungsschwerpunkte gemacht hatte. Unter-
suchen mochte sein Schiiler denn auch nicht iiberraschenderweise „die im 16. und 17.
Jahrhundert im Kloster und Klostergebiet Loccum durchgefiihrten Hexenprozesse un-
ter rechtshistorischenGesichtspunkten" (Einleitung, S. 11). Diese waren bereits Anfang des
19. Jahrhunderts erstmals erforscht worden und haben in neuerer Zeit unter anderem
das wissenschaftliche Interesse des gegenwartigen Abtes von Loccum, des ehemaligen
hannoverschen Landesbischofs Hirschler, gefunden. Alle bisherigen Arbeiten gestat-
ten allerdings - so Beer - „nur kleine Einblicke in die reiche Quellenlage des Klosterar-
chivs" (S. 11), dessen Bestande er erstmals umfassend auswertet. Dadurch mochte er
„zeigen, wie die Loccumer Hexenverfahren formell durchgefuhrt wurden und welche
materiellen Grundlagen sie hatten" (S. 11). Dariiber hinaus geht es ihm darum, „lokale
Besonderheiten (herauszuarbeiten)", „einen Einblick in die Ausubung klosterlicher Kri-
minalgerichtsbarkeit (zu geben)" sowie „am Beispiel der Loccumer Hexenverfahren
auch ein(en) Teil der allgemeinen Entwicklungsgeschichte des Strafprozesses auf(zu)zei-
gen"(S. 11-12).
Im ersten von insgesamt vier Hauptteilen seiner Arbeit steckt Peter Beer erst einmal
den Rahmen der Untersuchung ab. Zunachst gibt er einen Uberblick iiber die „Ge-
schichte des Klosters und Klostergebietes Loccum" (S. 13-20), das lange Zeit reichsun-
mittelbar gewesen, dann aberEnde des 16. Jahrhunderts unter calenbergische Oberho-
heit geraten war. Die voile Kriminalgerichtsbarkeit iiber die Bewohner des Stiftsgebietes
hatte es gleichwohl auch danach behaupten konnen. AnschlieBend skizziert der Verfas-
ser das Phanomen der „Hexenverfolgungen in Deutschland" (S. 22-30) und konzentriert
sich in diesem Zusammenhang vor allem auf die Entwicklung der Hexerei zu einem
Straftatbestand.
Im zweiten Teil seiner Arbeit (S. 31-38) gibt er sodann einen Uberblick iiber die Chro-
nologie der „Hexenverfolgungen im Loccumer Klostergebiet", die mit dem letzten Ver-
fahren im Jahre 1661 und einem endgiiltigen Verbot der Hexenprozesse durch Abt Mo-
lanus imjahre 1696 endete (S. 140-143) . Deren Schwerpunkt lag allerdings, wie auch bis-
her schon bekannt war, in den Jahren 1628 bis 1638. In diesem Zusammenhang kann
Beer indessen erstmals zeigen, dass auch schon weitaus friiher, namlich zuerst 1581, ge-
richtliche Hexenverfolgungen in Loccum stattgefunden haben.
Der dritte Teil der Studie (S. 39-66) tragt die Uberschrift „Die Loccumer Hexenverfol-
ger und ihre Opfer", wobei zu ersteren neben der Klosterobrigkeit als Gerichtsherr und
den die Verfahren durchfiihrenden Beamten auch die ortliche Geistlichkeit gehorte.
Insbesondere der zur Zeit der Hauptverfolgungswelle im loccumischen Stiftsdorf Wie-
densahl als Pastor wirkende Heinrich Rimphoff , der in seinen Predigten den in der ortli-
chen Bevolkerung ohnehin herrschenden Hexenglauben noch bestarkte, spielte in die-
sem Zusammenhang eine maBgebliche Rolle. In seiner Eigenschaft als vehementer Ver-
fechter der Hexenlehre verfasste er sogar ein Buch zur Thematik, in dem er unter
anderem dezidiert die zu dieserZeit schon bekannten hexenkritischen Thesen desjesui-
tenpaters Friedrich Spee von Langenfeld angriff. Die Rolle der Opfer der Loccumer He-
xenverfolgungen behandelt der Verfasser leider nur relativ knapp, kann aber insoweit
immerhin das interessante Ergebnis prasentieren, dass es sich bei diesen im Gegensatz
2 Horst Hirschler, Hexenprozesse, in: Ders. /Ernst Berneburg (Hg.), Geschichten aus
dem Kloster Loccum, 2. Aufl. Hannover 1982, S. 175-184.
458 Besprechungen
zur landlaufigen These von den unverheirateten Frauen ganz iiberwiegend um verheira-
tete Frauen gehandelt hat (S. 63).
Im vierten und umfangreichsten Teil seiner Dissertation, der mit fast 80 Seiten knapp
die Halfte des gesamten Buches ausmacht, thematisiert Peter Beer dann ausfiihrlich die
Rechtsgeschichte der „Hexenprozesse vor dem Stiftsgericht Loccum" (S. 67-143) und
zwar vor allem den Gang des Verfahrens von dessen Einleitung bis zum Urteil und des-
sen Vollstreckung sowie der Kostenentscheidung. Dieser wird minutios geschildert, wo-
bei Beer immer wieder treffend und uberzeugend die Beziige zum friihneuzeitlichen
Strafprozess im Allgemeinen herstellt, denn Verfahren in Hexensachen waren nun ein-
mal - ungeachtet gewisser ihnen eigentumlicher Spezialregeln - prozessrechtlich gese-
hen Strafverfahren.
Als Gesamtergebnis kann der Verfasser in seiner „Schlussbetrachtung" zunachst fest-
halten, dass „die Loccumer Hexenprozesse . . . sich in das allgemeine Bild derim Heili-
gen Romischen Reich deutscher Nation zwischen dem 16. und 17. Jahrhundert durch-
gefiihrten Hexenverfahren (fiigen und) sich hinsichtlich der Verfahrenseinleitung und
-fiihrung nicht von den auch in anderen Regionen festzustellenden Verfahren (unter-
scheiden)" (S. 145). Dariiber hinaus konstatiert er, dass zwar die Verfolgungsinitiative
„weniger von der Klosterobrigkeit als vielmehr der Bevolkerung des Stiftsgebiets aus-
ging", es aber erstere war, die schlieBlich fiir das „im Unterschied zu anderen Teilen des
Heiligen Romischen Reiches deutscher Nation" relativ friihzeitige Ende der Hexenpro-
zesse in Loccum sorgte (S. 147).
Der Hauptertrag von Peter Beers Studie liegt in der heutzutage seiten gewordenen
prononciert rechtshistorischen Schwerpunktbildung bei der Behandlung seines The-
mas, die man als gelungen bezeichnen kann. Sie mag von Vertretern andererDisziplinen
bedauert werden, ist aber vor dem Hintergrund des zunehmenden Ruckzugs der Rechts-
geschichte aus der akademischen Hexenforschung bewusst so gewahlt worden und inso-
weit legitim. Von der sorgfaltigen und umfassenden Quellenauswertung insbesondere
der Materialien aus dem Loccumer Klosterarchiv, von denen einige im Anhang wieder-
gegeben werden (S. 149-157), sowie der ebenfalls im Anhang enthaltenen auBerordent-
lich niitzlichen tabellarischen „Auflistung der Loccumer Hexenverfahren" (S. 158-164)
vermag jedoch auch die Landes- und Regionalgeschichte zu profitieren.
In jedem Falle ist davon auszugehen, dass Peter Beer mit seiner - in ansprechender
Aufmachung in einer angesehenen Schriftenreihe erschienenen - Dissertation fiir lange
Zeit das Standardwerk zu den Loccumer Hexenprozessen vorgelegt hat. Insbesondere
hebt sich seine gediegene, griindliche und sachliche Behandlung der Materie wohltuend
von gerade im Bereich der Hexenliteratur nach wie vor kursierenden reiBerischen und
pseudowissenschaftlichen Darstellungen ab.
Kiel Thomas Krause
3 Vgl. als neuestes einschlagiges Beispiel dieser Gattung etwa Joachim Lehrmann, He-
xenverfolgung in Hannover -Calenberg, Lehrte/ Hannover 2005 (ebd. S. 160-176 werden die
Loccumer Hexenprozesse thematisiert).
Rechts-, Verfassungs-, Verwaltungsgeschichte 459
Gerichtslandschaft Altes Reich. Hochste Gerichtsbarkeit und territoriale Rechtsprechung.
Hrsg. von Anja Amend, Anette Baumann, Stephan Wendehorst und Siegfrid West-
phal. Koln: Bohlau Verlag2007. 172 S. = Quellen und Forschungen zurhochsten Ge-
richtsbarkeit im Alten Reich Bd. 52. Geb. 24,90 €.
Bei den in dieser Publikation zusammengefuhrten Beitragen handelt es sich um die pu-
blizierten Ergebnisse einerNachwuchstagung des Netzwerks Reichsgerichtsbarkeit, das
seit 1998 eng mit der Gesellschaft fur Reichskammergerichtsforschung e. V. Wetzlar ko-
operiert. Das Netzwerk hat seit 1999 in regelmaBigen Abstanden Nachwuchstagungen
veranstaltet, die schon wichtige Bande zum Themenkreis hervorgebracht haben. Diese
weitere Publikation befasst sich im reprasentativen Querschnitt mit dem Zusammen-
spiel der beiden obersten Reichsgerichte, also des Reichskammergerichts und des
Reichshofrats, mit den territorialen Gremien und Gerichten. Die Beitrage gehen der
Frage nach, in wie weit die hochsten Gerichte im Alten Reich als Klammer und damit als
reichsweit friedensstiftendes Element dienen konnten.
Im Beitrag von Anja Amend „Gerichtslandschaft Altes Reich im Spiegel einer Wech-
selbiirgschaft" (S. 7-15) erscheint diese Harmonie gestort, denn in einer vom Frankfurter
Schoffenrat entschiedenen Streitsache sind von Seiten des Klagers und des Beklagten
Appellationen beim Reichshofrat und beim Reichskammergericht betrieben worden,
die entgegen dem Grundsatz der Verfahrenspravention zu einander rivalisierenden Ur-
teilen der beiden Reichsgerichte gefiihrt haben. Eva Ortlieb kiindigt in ihrem Beitrag
„Die Formierung des Reichshofrats (1519-1564). Ein Projekt der Kommission fur
Rechtsgeschichte Osterreichs in der Osterreichischen Akademie der Wissenschaften in
Zusammenarbeit mit dem Haus-, Hof- und Staatsarchiv" (S. 17-25) ein neues For-
schungsvorhaben an, das insoweit besonders spannend ist, als das Nebeneinander des
Hofrats Kaiser Karls V. und des aus erblandischen Wurzeln erwachsenen (Reichs)hof-
rats Ferdinands I. (seit 1530 romischer Konig) noch unzureichend geklart ist. Der Bei-
trag von Markus Senn „Der Reichshofrat als oberstes Justizorgan unter Karl V. und
Ferdinand I. (1519-1564)" (S. 27-39) beleuchtet die kaiserliche Rechtsaufsicht auch und
gerade gegeniiber dem Reichskammergericht, an das Promotorialschreiben gesandt
wurden. Zum Problem der Wirksamkeit solcher Schreiben werden weitere Recherchen
in den Akten des Reichshofrats und des Reichskammergerichts fur erforderlich gehal-
ten. Der Beitrag von Christian Wieland „Adel zwischen territorialstaatlicher Integrati-
on und dem Drang nach Speyer. Bayern und die Reichsgerichtsbarkeit im 16. Jahrhun-
dert" (S. 41-57) gipfelt in der interessanten Feststellung, dass trotz des Erfolges der Wit-
telsbacher bei der Beschrankung der Appellationen im 16. Jahrhundert zeitgleich die
unmittelbare Nutzung der Reichsgerichte durch den bayerischen Adel massiv angestie-
gen sei, wodurch dieser eine Art von friedlichem Widerstand gegen die Territorialisie-
rungsversuche seiner Dynastie praktiziert hatte. Der Beitrag von Volker Friedrich
Drecktrah „Anton Gerlach von Schwarzenfels als Justizrat in Stade" (S. 59-68) beleuch-
tet adlige Herkunft, Studium und Vorkarriere eines Reichskammergerichtsassessors,
der schon mit 32 Jahren diese Position erreichte, doch im Alter von 40 Jahren starb. Der
Beitrag von Steffen Wunderlich „Das private Protokollbuch des Mathias Alber (RKG-
Assessor 1532/33) - Innenansichten der Konturierung des ,Rechtsraums Altes Reich'
durch Rechtsprechung" (S. 69-107) misst den als Editionsvorhaben betreuten Aufzeich-
nungen eine hohe Bedeutung zu, da sie im Hinblick auf die fehlende Begrundung der
Urteile nach auBen einen seltenen Einblick in die Interna des Reichskammergerichts
460 Besprechungen
im friihen 16. Jahrhundert gewahren und zeigen, wie ein zeitgenossischer Vertreter der
hochsten Gerichtsbarkeit das Alte Reich als Rechtsraum, bzw. Rechtsraume im Alten
Reich wahrnahm und mitgestaltete. In Ludolf Pelizaeus' Aufsatz „Des Kaisers, aber
nicht der kaiserlichen Kammergericht. Zustandigkeitskonflikte in den Vorlanden in der
ersten Halfte des 16. Jahrhunderts" (S. 109-126) wird untersucht, wie sich die Exemtion
der habsburgischen Erblande von den hochsten Reichsgerichten auf den Prozess der
Verrechtlichung auf der Ebene des Territoriums und der Instanzen am Anfang des
16. Jahrhunderts auswirkte. Matthias Schnettgers Beitrag „Kooperation und Konflikt.
Der Reichshofrat und die kaiserliche Plenipotenz in Italien" (S. 127-149) beleuchtet ein
wenig bekanntes Amt in Oberitalien, das der Wahrung kaiserlicher und reichischer In-
teressen diente und daher auch in einem gewissen Konkurrenzverhaltnis zum Reichs-
hofrat stand. Edgar Liebmann zeigt in seinem Beitrag „Reichs- und Territorialgerichts-
barkeit im Spiegel der Forschung" (S. 151-172) in einer Riickschau, welche Bewertung
die Hochstgerichtsbarkeit des Alten Reiches in der Historiographie seit 1866 erfahren
hat. Ingesamt sieht er eine Entwicklung, welche diese sukzessive in ein positiveres Licht
riickt. Dieser Richtung werden zukiinftige Autoren treu bleiben, die die wertvollen Lite-
ratur- und Quellenhinweise samtlicher Autoren aufgreifen.
Marburg RainerPoLLEY
Kannowski, Bernd: Die Umgestaltung des Sachsenspiegelrechts (Lurch die Buch'sche Glosse.
Hannover: Hahnsche Buchhandlung 2007. XLVI, 655 S. = Monumenta Germaniae
Historica Schriften Bd. 56. Geb. 75,- €.
Die von Gerhard Dilcher angeregte Frankfurter Habilitationsschrift (angenommen im
Wintersemester 2004/05) beschaftigt sich als erste Untersuchung systematisch und tief-
griindig mit der beriihmten Glosse des Johann von Buch zum Sachsenspiegel-Landrecht
(Buch'sche Glosse) . Ihre Relevanz fur die niedersachsische Landesgeschichte ergibt sich
allein schon aus der Verbreitung des Sachsenspiegels in Niedersachsen (vgl. dazu nur K.
Kroeschell: recht unde unrecht der sassen. Rechtsgeschichte Niedersachsens, Gottingen
2005, S. 89 ff.) und der Abfassung der Buch'schen Glosse in Mittelniederdeutsch.
Erst seit 2002 ist dieser fur die deutsche und europaische Rechtsgeschichte iiberaus
wichtige Text in Form einer von der Sachsischen Akademie der Wissenschaften zu Leip-
zig fur die MGH besorgten kritischen Edition offentlich zuganglich (Frank-Michael
Kaufmann [Hg.]: MGH. Fontes iuris germanici antiqui, nova series VII, Glossen zum
Sachsenspiegel-Landrecht, Buch'sche Glosse, 3 Teile, Hannover 2002) . Bernd Kannows-
ki wurde seitens der Sachsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig schon Jahre
vor der Edition Einblick in den Text gewahrt, so dass die vorgelegte Habilitationsschrift
zeitnah zur Edition erarbeitet werden konnte.
Die Buch'sche Glosse, welche wohl kurz nach 1325 entstand, verbindet den Text des
Sachsenspiegel-Landrechts Eikes von Repgow (zwischen 1220 und 1235) mit dem ro-
mischen und kanonischen Recht des friihen 14. Jh. Ihr Verfasser,Johann von Buch, des-
sen Familie sich nach dem Dorf Buch bei Tangermunde (Altmark) nannte, ist 1305 als
Student der Rechte in Bologna nachweisbar. Nach Absolvierung des juristischen Studi-
ums wandte er die dort erlernten und geiibten Methoden des Umgangs mit dem romi-
schen und kanonischen Recht auf das Recht seiner Heimat an. Zu diesem Werk soil ihn
Rechts-, Verfassungs-, Verwaltungsgeschichte 461
Herzog Otto II. von Braunschweig (1318-1344) veranlasst haben, womit ein weiterer Be-
zug zu Niedersachsen gegeben ist. Die alteste erhaltene Handschrilt stammt aus den
Jahren 1365/67. Der Leipziger Edition liegt jedoch der sog. Codex Hecht aus dem frii-
hen 15. Jh. (zw. 1405 u. 1415?) zugrunde, der Iriiheste Textstufen der Buch'schen Glosse
reprasentiert.
Kannowski gliedert seine umlangreiche Darstellung in acht groBe Kapitel: I. Grund-
lagen, II. Prozess, III. Konigtum, IV. Freiheit, Leibeigenschaft und naturlik recht, V Un-
rechtsausgleich und offentliches Strafrecht, VI. Privatrecht, VII. Uber den Gedanken-
gang des Glossators, (ohne Ordnungsziffer) Schluss.
Auf sicherer Quellengrundlage, die weit uber die edierte Buch'sche Glosse hinaus-
geht, zeigt er an ausgewahlten Regelungskomplexen akribisch und iiberzeugend die
Veranderungen, welche das Landrecht des Sachsenspiegels aus dem 13. Jh. durch Jo-
hann von Buch erlahren hat. Dabei werden die der Umgestaltung zugrunde liegenden
Allegationen aus dem romischen und kanonischen Recht, der Bibel sowie Regeln eines
allgemeinen christlichen Rechtsdenkens deutlich herausgearbeitet und mit dem recht-
lich-theologisch-philosophischen Gedankengebaude derZeit im allgemeinen sowie des
Johann von Buch im besonderen in Verbindung gebracht. Von daher bringt Kannows-
kis Analyse erstmals wirklich neue Erkenntnisse zu verschiedenen Komplexen des
sachsischen Rechts und seiner Entwicklung, die wegen der bekannten Verbreitung des
Sachsenspiegels weit uber das sachsische Rechtsgebiet hinaus Relevanz besitzen. Die
Arbeit besticht generell durch ihre Quellennahe und vielen wortlichen Belege, welchen
Kannowski gelegentlich anspruchsvolle eigene Ubersetzungen in das Neuhochdeutsche
beigibt.
Besonders eindrucksvolle Passagen enthalten die Abschnitte iiber die Rechtsstellung
des Konigs, einschlieBlich Reichsinsignien und Kronungszeremoniell (S. 247-285), die
Umgestaltung des Beweisrechts (S. 180-246), die Veranderungen in der richterlichen
Uberprufung von Urteilen (Appellation) sowie das Richterbild (S. 107-151), die Freiheit
und Unlreiheit (S. 286-331), die allmahliche Ablosung des alteren Akkusationsverfah-
rens durch das neuere Inquisitionsverlahren sowie die damit verbundene Umgestal-
tung der Sanktionen auf dem Gebiet des „Strafrechts" (S. 332-408). Der Forschung wer-
den hier erstmals viele neue Prinzipien und Einzelheiten sowie weitere DenkanstoBe
offeriert, die bei zukiinftigen Untersuchungen zu Charakter und Wirkungen des Sach-
senspiegels im Kontext unterschiedlichster Fragestellungen gewiss Beriicksichtigung
finden miissen. Zudem erleichtern gediegen und ausfiihrlich gearbeitete Register den
zielgerichteten Zugriff auf das inhaltsreiche Werk: Namen (S. 599-604), Sachen (S. 605-
616), Quellen (mit konkreten Fundstellen) : Bibel, Corpus iuris civilis, Corpus iuris
canonici, Sachsenspiegel-Landrecht, Buch'sche Glosse, iibrige Glossen zum Sachsen-
spiegel-Landrecht, Sachsenspiegel-Lehnrecht, Glossen zum Sachsenspiegel-Lehnrecht,
sonstige Rechtsquellen, iibrige Quellen (S. 617-648), Handschriften und Primardrucke
(S. 649-655).
Die notwendige Auswahl derbehandelten Regelungskomplexe will jedoch nicht ganz
vollkommen zum Titel des Werkes passen. Einerseits besteht das „Sachsenspiegelrecht"
nicht nur aus Landrecht, sondern auch aus Lehnrecht. Das letztere lasst Kannowski aus
guten Grunden ausdrucklich beiseite (S. 3f., S. 182, Fn. 447). Andererseits wird auch das
Landrecht nicht vollstandig, jedenfalls nicht gleich tief und ausfiihrlich, im Spiegel sei-
ner Glossierung behandelt, sondern eben nur ausgewahlte Materien des Landrechts, die
dem Autor besonders wichtig und aussagekraftig erschienen. So meint der weit ausho-
462 Besprechungen
lende Buchtitel des Werkes in Anbetracht des notwendig gesetzten Untersuchungsrah-
mens letztlich die Umgestaltung ausgewahlter Regelungskomplexe des Sachsenspie-
gel Zanrfrechts durch die Buch'sche Glosse. SchlieBlich evoziert die Aussage Kannowskis,
dass es ihm „um das Rechtsdenken des Glossators", nicht jedoch „um die Frage, inwie-
fern das, was er niederschrieb, tatsachlich gait", gehe (S. 11), zu einer weiteren Uberle-
gung. Das (auch durch „Umgestaltung" veranderte) „Sachsenspiegelrecht" gait jeden-
falls - wo und in welchen Variationen auch immer. Warum davon die „Umgestaltung"
abgetrennt und auf das „Rechtsdenken des Glossators" jenseits der rechtlichen Gel-
tungskraft reduziert wird, erschlieBt sich dem interessierten Leser kaum.
Inhaltlich problematisch ist die Qualifizierung Eikes von Repgow als „der sachsische
Schoffe" (S. 1). Dafiir gibt es keine Belege. In den sechs Urkunden, in denen Eike zwi-
schen 1209 und 1233 genannt wird, fungiert er eindeutig und ausschlieBlich als Zeuge
von Giiterubertragungen im Gericht. Hier hatte gewiss ein Blick auf einschlagige For-
schungen zu Eikes Person, die durch den Neuansatz von P. Landau (Der Entstehungsort
des Sachsenspiegels. Eike von Repgow, Altzelle und die anglo-normannische Kanoni-
stik, in: DA 61, 2005, S. 73-101) keineswegs gegenstandslos geworden sind, gelohnt (etwa
R. Lieberwirth: Entstehung des Sachsenspiegels und Landesgeschichte, in: R. Schmidt-
Wiegand [Hg.] : Die Wolfenbiitteler Bilderhandschrift des Sachsenspiegels. Aufsatze und
Untersuchungen . . ., Berlin 1993, S. 43-61).
Einige kleinere Fehlerund Unzulanglichkeiten haben sich in den wissenschaftlichen
Apparat eingeschlichen: Die Abkiirzung „Phil.-hist." fur „Philosophisch-historische"
(S. XII) ist in bezug auf die „Phil.-hist." Klasse der Sachsischen Akademie nicht zutref-
fend (vgl. S. XXVII, XXXVI), denn diese heiBt „Philologisch-historische Klasse". Die
offizielle Bezeichnung der mit „SLUB" abgekurzten Bibliothek lautet: „Sachsische Lan-
desbibliothek - Staats- und Universitatsbibliothek Dresden" (unvollstandig S. XIII).
Band 1 1 des „Handbuchs der historischen Statten Deutschlands" tragt den Titel „Provinz
Sachsen/Anhalt" (S. XXIX). Der Schragstrich ist nicht unwesentlich, macht er doch
deutlich, dass es um die Gebiete der ehemaligen preuBischen Provinz Sachsen und des
ehemaligen Freistaates Anhalt geht - und eben nicht um die Provinz oder das Land
„Sachsen-Anhalt". In den bibliographischen Angaben zu R. Lieberwirth „Die geplanten
Editionen . . ." (S. XXXVI) werden Band und Heft der Reihe (Abhandlungen) verwech-
selt. Das von M. Stolleis herausgegebene Werk „Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhun-
dert" (S. XXXVII) liegt unter dem Titel „Staatsdenker in der friihen Neuzeit . . ." in einer
neueren Auflage (3. Aufl., 1995) vor. Die Namen derHg. Egbert Koolman und Friedrich
Scheele (S. XL) sind fehlerhaft wiedergegeben. Die unter Schmidt-Wiegand/Hupper
genannte Schriftenreihe heiBt richtig: „Germanistische Arbeiten zu Sprache und Kul-
turgeschichte" (anders S. XLI). ( Johann August) Roderich von Stintzing wird iiblicher-
weise unter dem Vornamen „Roderich" zitiert (anders S. XLIV).
Dessen ungeachtet kann Kannowskis griindliche Analyse als fulminanter Auftakt zur
Erforschung der Glossen zum Sachsenspiegel, auch jener zum Sachsenspiegel-Lehn-
recht, gelten. Mit ihr wurde inhaltlich, quellenkundlich wie methodologisch ein sicheres
Fundament fur weitere Untersuchungen sowie fur die kritische Uberpriifung und Relati-
vierung bislang als gesichert geltender Aussagen iiber den Sachsenspiegel und die Re-
zeption des romisch-kanonischen Rechts im sachsischen Rechtsgebiet gelegt.
Halle an der Saale Heiner Luck
Rechts-, Verfassungs-, Verwaltungsgeschichte 463
Schuster, Jochen: Freimaurer undjustiz in Norddeutschland unter dem Nationahozialismus.
Die beruflichen Folgen der Mitgliedschaft in Logen fur Richter und Staatsanwalte.
Frankfurt: Peter Lang 2007. 182 S. = Europaische Hochschulschriften R. II, Bd. 4516.
Kart. 39,- €.
Die Arbeit wurde im Sommersemester 2006 an der Universitat Kiel als juristische Dis-
sertation angenommen, sie beschaftigt sich faktisch mit dem beruflichen Alltag von
Richtern und Staatsanwalten, die nicht „gleichgeschaltet" waren. Vor dem Hintergrund
der Veranderungen in derjustiz nach 1933 und der Tatsache, dass die Freimaurerei zu
den ideologischen Gegnern des NS-Systems erklart wurde, zeigt Schuster die Folgen fur
die Betroffenen: Auf den Seiten 132 bis 159 beschaftigt er sich mit 18 Personen, die in
norddeutschen Freimaurerlogen als Mitglieder verzeichnet und in derjustiz als Richter
oder Staatsanwalte tatig waren. Erst hier wird das Thema der Arbeit im engeren Sinne
bearbeitet.
Zuvor holt Schuster sehr weit aus, indem er in einem ersten Teil das Verhaltnis von
„Nationalsozialismus undjustiz" darstellt. Hier werden die nationalsozialistischen Vor-
stellungen vom Recht sowie die ab 1934 erfolgte „Gleichschaltung" derjustiz ausgebrei-
tet und zudem das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" vom April
1933 betrachtet. Danach folgt der zweite Teil „Nationalsozialismus und Freimaurerei",
in dem im Kern der Inhalt eines „Internationalen Freimaurerlexikons" referiert wird, je-
denfalls wird es auf den 50 Seiten dieses Teils in 33 FuBnoten zitiert. Zu erkennen ist ins-
gesamt, dass der Verfasser mit den Inhalten und Formalien der Freimaurerei vertraut zu
sein scheint, wenn er z. B. von „Johannisgraden" schreibt, ohne deren Inhalt zuvor er-
klart zu haben oder wenn im Text vor einem Namen ein „Br." erscheint, was wohl „Bru-
der" heiBen soil, ohne dass dieses Kiirzel im Abkiirzungsverzeichnis aufgelistet ist. Dass
er in diesem Kapitel zu viele Informationen zur Freimaurerei untergebracht hat, scheint
Schuster bemerkt zu haben, wenn er an zwei Stellen, namlich in FuBnote 189 und auf Sei-
te 57 ausfiihrt, dass diese von ihm ausfuhrlich vorgenommene Differenzierung fiir die
weitere Untersuchung „nicht von Bedeutung" sei. Dann ware es fiir die Leser besser ge-
wesen, diesen Teil zu straffen, zumal Helmut Neuberger mit seinen Arbeiten „Freimau-
rerei und Nationalsozialismus" von 1980 und „WinkelmaB und Hakenkreuz" von 2000
hierzu grundlegende Forschungen vorgelegt hat. Ein Erkenntnisgewinn ist dieser Ab-
schnitt des Buches nicht.
Die „MaBnahmen gegen die Freimaurerei" zeigen im dritten Teil der Arbeit das „Auf-
spiiren" der Betroffenen in derjustiz. Hier hat Schuster den alien Beam ten, zu denen da-
mals auch die Richter zahlten, ubersandten Fragebogen als Anhang beigefiigt, bei dem
Angaben zu Tatigkeiten in Logen zu erfolgen hatten. Zudem werden die verschiedenen
MaBnahmen zur Auflosung der Logenorganisationen sowie konkrete Regelungen des
Reichsjustizministers gegen freimaurerisch tatige oder tatig gewesene Richter und
Staatsanwalte dargestellt.
SchlieBlich zeigt Schuster im vierten Teil die „Folgen der Logenzugehorigkeit fiirjus-
tizjuristen". Von etwa 120 Logen des Untersuchungsgebietes konnte er bei circa 80% die
Mitgliederverzeichnisse einsehen. Schuster geht von rund 6.000 Mitgliedern aus und
hat 49 Personen ausfindig gemacht, die als Richter oder Staatsanwalte Freimaurer wa-
ren. Weil von diesen nach 1933 einige zu alt oder die Personalakten nicht mehr auffind-
bar waren, blieben 18 Personen zur naheren Untersuchung. Letztlich konnte bei einem
Richter festgestellt werden, dass er wegen seiner friiheren Freimaurerzugehorigkeit
464 Besprechungen
nicht befordert worden war und dass die Richter, die bisher ein Strafdezernat bearbeitet
hatten, in ein Zivildezernat versetzt wurden. Demgegeniiber erhielten sieben friihere
Logenmitglieder sogar das fur Zivilisten vorbehaltene Treuedienstehrenzeichen verlie-
hen. Bemerkenswert ist zudem, dass ein Logenmitglied Richter am Volksgerichtshof
war und mit einer Sondergenehmigung Hitlers in diesem Amt bleiben konnte sowie ein
Amtsgerichtsrat, der an den Reichsanwalt beim Volksgerichtshof abgeordnet war und
im Amt blieb.
Sehr storend ist beim Lesen die Vielzahl der Druckfehler sowie die sprachlichen Fehl-
griffe, z. B. der wiederholte Gebrauch der Floskeln „wie gesagt" oder „meines Erachtens
nach" und schlieBlich der „praktische Pragmatismus". Soweit in den FuBnoten nahere
Angaben zu im Text benannten Personen gegeben werden, fallt es gelegentlich schwer,
ernst zu bleiben. Dies z. B. dann, wenn zu Kant erlautert wird „Kant, Immanuel, Philo-
soph, 1742-1804" oder beim Text „Herzog von Montagu" die FuBnote die weitere Er-
kenntnis bereithalt „Montagu, John, 1690-1749, Herzog." Befremdlich ist es, in einer
FuBnote (Fn. 408) zu einer Verfiigung des Reichsjustizministers von 1935 als Hinweis zu
finden „Sign. ZS a 9350" ohne nahere Erklarung, was auch immer das bedeuten mag,
noch befremdlicher ist es, dass Reinhard Heydrich, der Chef des „Reichssicherheits-
hauptamtes", als „Reichsfuhrer SS und Chef der Deutschen Polizei" benannt und also
mit Heinrich Himmler verwechselt wird (S. 108).
Insgesamt stellt Schuster zwar die verbalen Angriffe der NS-Ideologen auf die Frei-
maurerei mit denen gegen die Juden auf eine Stufe, aber die Folgen fur die betroffenen
Menschen waren bei den friiheren Logenmitgliedern auch nicht ansatzweise von ahnli-
cher Art.
Stade VolkerFriedrich Drecktrah
Vom Ursprung der anwaltlichen Selbstverwaltung. Justus Moser und die Advokatur. Hrsg.
von Karl H. L. Welker. Gottingen: V&Runipress 2007. 77 S. Abb. Geb. 24,90 €.
Unter dem Titel „Vom Ursprung der anwaltlichen Selbstverwaltung" hat Karl H. L. Wel-
ker als Herausgeber einen Vortrag und zwei Aufsatze zu Justus Moser zusammengestellt,
die sich im Schwerpunkt mit dessen Verstandnis der Advokatur beschaftigen. Aufgewer-
tet wird die Sammlung durch groBziigig eingefiigte Farbtafeln. Neben Bildnissen Justus
Mosers ist hier besonders der Abdruck der Quellen hervorzuheben, die dem Leser den
Einblick in die Originale ohne langes Suchen ermoglichen.
Inhaltlich handelt es sich um kurzweilige Lektiire. Den ersten Beitrag hat der Frank-
furter Historiker Michael Maaser unter dem Titel „Justus Mosers Werk als biirgerliches
Bildungsgut" beigesteuert. Obschon sich im Detail Einiges diskutieren lieBe, handelt es
sich um einen gelungenen Einstieg in die Zeit und das Denken Justus Mosers. Sowohl
Kenner als auch Neuforschende sollten hier die eine oder andere Anregung finden. Der
Autor zeichnet das Leben Justus Mosers nicht nur anhand dessen praktischen und
schriftstellerischen Wirkens nach, sondern stellt auch Beziige zu bedeutenden Zeitge-
nossen (Goethe, Kant, Savigny) her. Interessant fur den Rechtshistoriker ist etwa ein
Verweis auf Savigny, der Moser als „unziinftig" bezeichnet haben soil (S. 28), wobei der
Autor zu unterstellen scheint, dass diese Wortwahl Kritik beinhalte. Angesichts des
schlechten Rufs, den die „Zunft" der Advokaten speziell im 18. Jahrhundert genossen
hat, ist fraglich, ob diese AuBerung Savignys tatsachlich negativ ausgelegt werden muss.
Rechts-, Verfassungs-, Verwaltungsgeschichte 465
Dass Savigny die Arbeiten Mosers kannte und schatzte, lasst sich immerhin einer ganzen
Reihe von Belegen entnehmen (z.B. Vom Beruf unsererZeit fur Gesetzgebung und Wis-
senschaft, 1814, S. 114, 128).
Fur Philologen diirfte ferner die Bezugnahme auf Goethe anregend sein, der die
Schriften Mosers rezipiert hat. Zu Recht raumt Maaser allerdings ein, dass die bisher
vorhandene Literatur starker von der Moser- als von der Goetheforschung gepragt ist
(S. 23, Fn. 49) . Wie nachhaltig der Einfluss Mosers auf Goethe also tatsachlich war, diirf-
te weiter zu erforschen sein. Etwas neben der Intention des Autors liegt vielleicht die Be-
zugnahme auf Kant. Moser soil als „Weltbiirger" gezeigt werden. Dass er das gerade in
seiner bewussten Provinzialitat ist, arbeitet Maaser im Abschluss seines Beitrages auch
treffend heraus (S. 34). Wenn erjedoch auf S. 22 Kants Pramissen zum Vergleich heran-
zieht, wird kaum noch deutlich, dass Moser die Idee der Provinzialitat bewusst favori-
siert hat. Vielmehr wirken Mosers AuBerungen vor diesem starken Kontrast so provinzi-
ell, wie der Autor sie sicher nicht verstanden wissen wollte.
Wichtige Anregungen fur den Rechtshistoriker finden sich vor allem in den nachfol-
genden Aufsatzen des renommierten Moser-Forschers Karl H. L. Welker. Hier wird
auch offenbar, mit welcher Berechtigung der Band seinen Titel tragt. Im ersten Beitrag
„M6sers , Vorschlag zu einem besondern Advocatencollegio'" widmet sich der Autor der
Frage, ob die heute - scheinbar selbstverstandliche - anwaltliche Selbstverwaltung auf
Gedanken Mosers zuruckzufiihren ist. Dabei stellt er die Situation der Advokatur im
18. Jahrhundert auf anschauliche Weise dar. Hier verspricht die Lektiire nicht nur den
Moser-Forschern Erkenntnisgewinne, sondern vor allem auch denjenigen, die sich fur
die Geschichte der Anwaltschaft interessieren. Gut gelungen sind zudem die schon fast
sprachwissenschaftlichen Analysen von Mosers Rhetorik in den zitierten Quellen
(S. 37f.). Zwar ist (fast) jede Auslegung auch einer anderen Interpretation zuganglich.
Die Schlussfolgerungen des Verfassers sind aber durchaus iiberzeugend herausgearbei-
tet und vor dem Kontext der damaligen Zeit stimmig. Welker beweist jedenfalls Gespiir
fur den sprachlichen Duktus Mosers und vermag der Quelle mehr abzugewinnen, als auf
den ersten Blick zu erwarten ware. Damit gelingt es ihm, dem Leser Moser nicht nur in
seinen abstrakten Ansichten iiber die Advokatur, sondern auch direkt als praktisch tati-
gen Advokaten naher zu bringen. Denn gerade die Rhetorik verrat viel iiber das erfolg-
reiche Wirken eines Anwalts, und bereits dieser Aspekt macht den Beitrag interessant.
Offen muss dagegen die Frage bleiben, wie weit nun die heutigen Rechtsanwaltskam-
mern, die Anwaltsgerichtsbarkeit und das Versorgungswerk tatsachlich auf den Vor-
schlagen Mosers beruhen (S. 54). Ein direkter Zusammenhang wird sich (noch?) nicht
nachweisen lassen. Aber schon die vom Verfasser aufgezeigten Parallelen in der Vorstel-
lung bieten interessante und wichtige Anregungen fur die weitere Forschung. In seinem
zweiten Beitrag „Die Advokatur als ,Pflanzschule des Staates'" setzt der Verfasser erfolg-
reich fort, was sich bereits im vorherigen Aufsatz angekiindigt hat: Mithilfe einer ge-
lungenen Analyse der Argumentationslinien Mosers und seiner anwaltlichen Rhetorik
zeichnet er dessen berufsstandisches Selbstbild nach (S. 60 ff.) . Durch den Fokus auf die
Advokatur gliickt dem Autor eine besonders plastische Illustration von Mosers Wirken,
die nicht zuletzt den Reiz der anwaltlichen Freiheit angemessen wiirdigt (S. 76).
Insgesamt ist so ein ansehnliches Bandchen entstanden, das auch optisch elegant ge-
staltet ist. Es diirfte ein schemes Geschenk nicht nur fur den Moser-Freund darstellen.
Hannover AndreaJ. Czelk
466 Besprechungen
Zagolla, Robert: Folter und Hexenprozess. Die strafrechtliche Spruchpraxis derjuristen-
fakultat Rostock im 17. Jahrhundert. Bielefeld: Verlag fur Regionalgeschichte 2007.
527 S. = Hexenforschung Bd. 11. Geb. 39,- €.
Die Hexenverfolgungen der friihen Neuzeit gehoren inzwischen zu den gut erforschten
Phanomenen der deutschen Geschichte. Dennoch gibt es hier offene Forschungsfelder,
die keineswegs nur Randphanomene, sondern auch Kernbereiche der Verfolgungen be-
treffen. Ein solches Desiderat ist die Rolle der Folter im Hexenprozess. Im Anschluss an
die Meinung der zeitgenossischen Verfolgungskritik gilt die Folter noch heute als inte-
graler Bestandteil der Hexenprozesse, deren hemmungsloser Gebrauch Gestandnisse
erpresst und damit maBgeblich zur Ausbreitung der Verfolgungen beigetragen habe.
Ob die Folter tatsachlich „Seele" und Motor der Hexenprozesse war, fragt Robert Za-
golla in der vorliegenden Studie, die im Rahmen des von Wolfgang Behringer (Saarbrii-
cken), Wolfgang Schildt (Bielefeld) und Sonke Lorenz (Tubingen) geleiteten For-
schungsprojekts „Recht und Verhalten in der Hexenverfolgung: Hexengesetzgebung
und Hexenprozess" entstanden ist. Die Arbeit wurde im Sommersemester 2004 von der
Geschichtswissenschaftlichen Fakultat der Eberhard-Karls-Universitat Tubingen als
Dissertation angenommen und 2005 mit dem Dr. Leopold-Lucas-Nachwuchswissen-
schaftler-Preis der Universitat Tubingen ausgezeichnet.
In Kombination von rechtsgeschichtlichen Fragestellungen und sozialhistorischen
Methoden, wie sie heute v. a. die Historische Kriminalitatsforschung bereithalt, betrach-
tet Zagolla die Rolle der Folter im Hexenprozess erstmals nicht isoliert, sondern verglei-
chend im Kontext ihrer Verwendung auch in anderen fruhneuzeitlichen Strafverfahren.
Er vergleicht die Hexenprozesse nicht nur mit den strafprozessualen Normen ihrer Zeit,
sondern nimmt v. a. die bislang vernachlassigte Verfahrensrealitat in den Blick. Dabei
wird dem Gerichtsverfahren eine „Scharnierfunktion" zwischen Rechtsnorm und Delikt
zuerkannt. Als Quellengrundlage hat Zagolla die seit 1570 liickenlos iiberlieferten
Rechtsbelehrungen der Rostockerjuristenfakultat herangezogen. Vor dem Hintergrund
des reichsrechtlich fixierten Instituts der Aktenversendung, das den Gerichtsinstanzen
vor Ort in Strafverfahren die Einholung einer Rechtsbelehrung von Juristenfakultaten
oder Schoffenstuhlen vorschrieb und damit ihre Prozesstatigkeit einer gewissen Kon-
trolle durch Vertreter des gelehrten Rechts unterwarf, bildeten die Juristenfakultaten im
Alten Reich eine Schnittstelle zwischen gelehrterjurisprudenz und Gerichtspraxis. So
hat auch die Rostocker Fakultat im Rahmen ihrer juristischen Spruchpraxis in verschie-
denen Strafverfahren Recht gesprochen und Urteile gefallt. Die Spruchtatigkeit der Fa-
kultat bezog sich auf den gesamten norddeutschen Raum. Zwar waren die meisten Kon-
sulenten in Mecklenburg, Pommern, Schleswig-Holstein und Brandenburg ansassig,
doch stammte ein kleinererTeil auch aus dem Gebiet des heutigen Niedersachsens. Auf-
grund der groBen Menge der vorhandenen Uberlieferung hat Zagolla nicht die gesam-
ten Rechtsbelehrungen des 17. Jahrhunderts untersucht, sondern drei Zeitabschnitte
von jeweils 15Jahren (1595-1610, 1645-1660, 1685-1700) ausgewahlt, die mit entschei-
denden Phasen der Entwicklung der Hexenprozesse zusammenfallen.
Zagolla gliedert seine Arbeit in fiinf Teile, die verschiedene Aspekte der Folter im
fruhneuzeitlichen Strafverfahren beleuchten. In seiner Einleitung bietet er unter Bezug
auf die zeitgenossische Strafrechtstheorie und in Auseinandersetzung mit verschiede-
nen Forschungsmeinungen eine Definition der Folter, die diese in erster Linie als
Rechtsmittel zurErlangung eines Gestandnisses begreift. Des Weiteren diskutiert erhier
Rechts-, Verfassungs-, Verwaltungsgeschichte 467
die bereits von der zeitgenossischen Prozesskritik geauBerte und von der Hexenfor-
schung breit rezipierte These von der Hexerei als Sonderverbrechen (crimen exceptum),
bei dessen Verfolgung alle sonst iiblichen Verfahrensregeln auBer Kraft gesetzt worden
seien. Zagolla stellt demgegeniiber fest, dass sich diese Lehre bei den deutschen Juristen,
die stets die Verfahrensvorschriften der reichsweit geltenden Peinlichen Halsgerichtsord-
nung Kaiser Karls V. (Constitutio Criminalis Carolina) von 1532 zugrunde legten, nicht
durchsetzen konnte. Im zweiten Teil beschreibt er die Rostocker Juristenfakultat als
Spruchkorper. Zunachst erlautert er die Bedeutung des Institut der Aktenversendung fur
die Rostocker Fakultat, bevor er anschlieBend die Recht suchenden Konsulenten, die
verhandelten Prozessgegenstande, die Mitglieder der Rostocker Juristenfakultat in den
untersuchten Zeitabschnitten sowie die von ihnen herangezogenen Rechtsquellen vor-
stellt.
Orientiert am Verfahrensverlauf der Carolina wird anschlieBend die Verfahrensreali-
tat der verschiedenen Strafverfahren, mit denen die Fakultat konfrontiert wurde, unter-
sucht und insbesondere der Foltergebrauch in Hexenprozessen mit dem in anderen
Strafverfahren verglichen. Die weitere Gliederung der Arbeit (Teile 3 bis 5) wird durch
drei Abschnitte bestimmt: vor der Folter, bei der Folter und nach der Folter. Der dritte
Teil ist dem Verfahren vor der Folter gewidmet, wobei zunachst einige grundlegende Be-
merkungen zur Prozessform gemacht werden. Es folgt die der Folter vorausgehende giit-
liche Inquisition, die sich auf die Untersuchung der Tat und die Ermittlung des Taters
richtet. Des Weiteren werden die nach zeitgenossischer Auffassung zur Folter hinrei-
chenden Indizien vorgestellt, wobei insbesondere auf das umstrittene Indiz der Be-
sagung sowie auf die in der Carolina nicht genannten und nicht minder umstrittenen
Indizien aus dem deutschrechtlichen Kontext, insbesondere die weit verbreitete Was-
serprobe, eingegangen wird. SchlieBlich werden noch die Rechte und Verteidigungs-
moglichkeiten der Angeklagten erortert. Der vierte Teil stellt das Verfahren wahrend der
Folter in den Mittelpunkt. Dabei werden nicht nur gangige Foltermethoden und die in
der zeitgenossischen Rechtstheorie verbreiteten Foltergrade sowie ihre Umsetzung in
der Rostocker Spruchpraxis untersucht, sondern es werden auch Angaben zu den Gefol-
terten und zum Folterpersonal gemacht. Zudem wird auf den Rahmen der Folter (Orte,
Termine und Dauer), den Verhorverlauf, das sog. Indiz der Schmerzlosigkeit unter der
Folter sowie auf die in der fruhneuzeitlichen Verfahrenspraxis nicht uniiblichen Fol-
terexzesse eingegangen. Der fiinfte Teil konzentriert sich schlieBlich auf das Verfahren
nach der Folter. Die Voraussetzungen fur die Gultigkeit eines Gestandnisses werden hier
ebenso diskutiert wie die Indizien, die zu einer Wiederholung der Folter hinreichend er-
achtet wurden. Am Schluss wird auf die rechtlichen Wirkungen der Folter wie auch auf
die Rechte der Angeklagten nach der Urteilsverkiindung hingewiesen und die Frage
nach den Gerichtskosten gestellt.
Zusammenfassend gelangt Zagolla zu dem Ergebnis, dass sich die von der Rostocker
Juristenfakultat begutachteten norddeutschen Hexenprozesse im Hinblick auf die Ver-
fahrensfiihrung und insbesondere die Folteranwendung nicht wesentlich von anderen
Strafverfahren unterschieden. Vielmehr konstatiert er grundsatzliche strukturelle
Schwachen des auf die Erlangung eines Gestandnisses fixierten fruhneuzeitlichen Straf-
verfahrens, die die Umsetzung der von der Rechtstheorie entwickelten Verfahrens-
grundsatze in der Gerichtspraxis erschwerten und sich bei schweren und zugleich
schwer nachweisbaren Delikten wie Hexerei besonders deutlich bemerkbar machten.
Vor dem Hintergrund der intensiven zeitgenossischen Kritik an der Verfahrensfuhrung
468 Besprechungen
in Hexenprozessen, die sich im Wesentlichen auf die Folter konzentrierte, legte die
Rostockerjuristenfakultat gerade bei der strafrechtlichen Verfolgung der Hexerei stren-
gere MaBstabe an, so dass die Tortur hier insgesamt seltener und umsichtiger verhangt
wurde als in anderen Strafverfahren.
Allerdings hatte die gerade in Hexenprozessen geiibte scharfe Kritik an der Folter kei-
nen grundsatzlichen Einfluss auf den zeitgenossischen Strafprozess, der sich bis zum En-
de des Alten Reiches kaum veranderte. Auch wenn das friihneuzeitliche Strafprozess-
recht die Grundlage fur die Durchfuhrung von Hexenprozessen bot und noch im 18.
Jahrhundert einzelne Prozesse moglich waren, begreift Zagolla Hexenverfolgungen
nicht primar als eine Folge strafrechtlicher Entwicklungen. In einem zutreffenden Bild
beschreibt er das fruhneuzeitliche Prozessrecht vielmehr als „Korsett, das je nach Grad
seiner Schniirung Hexenprozesse erleichtern oder eindammen konnte". Somit sind auch
die Ursachen fur den Riickgang der Hexenprozesse auBerhalb des Strafrechts zu suchen.
Erst als sich seit dem Ende des 17. Jahrhunderts im Zuge der beginnenden Aufklarung
zunehmende Zweifel an der Realitat und an der Beweisbarkeit des Hexereidelikts mani-
festierten, gait die Verwendung der Folter in Hexenprozessen zunehmend als gefahrlich.
Im Ubrigen hielt sich der Glaube an die Folter als Beweismethode in ganz Deutschland
bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts, so dass sie in anderen Strafverfahren, etwa in Fal-
len von Kindsmord oder bei der Verfolgung von Rauberbanden, noch langer eine frag-
wiirdige Rolle spielte. Denn es ist davon auszugehen, dass die Folter nicht nur in Hexen-
prozessen, sondern auch bei der strafrechtlichen Verfolgung anderer Delikte zu einer
Vielzahl von Fehlurteilen gefiihrt hat. Die Folter war somit also nicht nur die „Seele" des
Hexenprozesses, sondern auch vieler anderer Strafverfahren.
Insgesamt handelt es sich bei der vorliegenden Arbeit um eine gelungene, metho-
disch und thematisch innovative Studie, die in Kombination rechtshistorischerund sozi-
alhistorischer Ansatze einmal mehr den Wert interdisziplinarer Forschung zeigt und
deutlich macht, dass selbst im Bereich der expandierenden Hexenforschung langst noch
nicht alle Themenfelder erschlossen sind. Es bleibt zu hoffen, dass die Arbeit weitere
Studien anregt, die trotz der grundsatzlich schwierigen Quellenlage die bislang vernach-
lassigte lokale Gerichtspraxis in den Blick nehmen.
Hannover Claudia Kauertz
Pfannenschmid, Yvonne: LudolfHugo (1632-1704). Friiher Bundesstaatstheoretiker and
kurhannoverscher Staatsmann. Baden-Baden: Nomos 2005. 251 S. Abb. = Hannover-
sches Forum der Rechtswissenschaften Bd. 7. Kart. 48,- €.
Mit der vorliegenden, im Sommersemester 2005 von der Juristischen Fakultat der Uni-
versitat Hannover angenommenen Dissertation soil laut Vorwort „das Augenmerk auf
einen groBen Staatsmann der hannoverschen Geschichte gerichtet werden, der bislang
den meisten verfassungsgeschichtlichen Arbeiten nur ein paar Zeilen oder eine FuBnote
Gemeint ist Ludolf Hugo, der seit 1665 zunachst als Hof- und Kanzleirat
1 Vgl. allerdings neuerdings Thomas Vielhaber, Reformperspektiven zur Reichsverfas-
sung im Jahrhundert nach dem Westfalischen Frieden, Diss. jur. Bonn 2008, der Hugo immer-
hin sieben Seiten widmet (S. 78-84).
Rechts-, Verfassungs-, Verwaltungsgeschichte 469
und sodann von 1677 bis zu seinem Tode im Jahre 1704 als Geheimer Rat, Vizekanzler
und Direktor der Justizkanzlei Hannover in calenbergischen bzw. kurhannoverschen
Diensten tatig war. Empfohlen hatte er sich dafiir mit seinem wissenschaftlichen Haupt-
werk, der unter der Agide des Universalgelehrten Hermann Conring entstandenen
Helmstedter juristischen Dissertation „De Statu Regionum Germaniae et Regimine
Principorum" aus dem Jahre 1661. Sie erregte groBe Aufmerksamkeit und zahlte mit
nicht weniger als sechs weiteren Auflagen zu den erfolgreichsten der Fakultat. Die ver-
gleichsweise geringe Beachtung, die Hugos Schrift gleichwohl in neuerer Zeit fand,
fuhrt die Autorin nicht zuletzt auf die Tatsache zuriick, dass sie bisher nicht ins Deut-
sche iibersetzt wurde. Urn diesem Manko abzuhelfen, beschlieBt sie „deshalb, erst ein-
mal Hugos Dissertation zu iibersetzen"(S. 17, Fn. 2) und veroffentlicht ihre Ubertragung
separat, aber zeitgleich mit ihrer Promotionsschrift ebenfalls im Jahre 2005. Allein die-
se Ubersetzung stellt, wie ihr Doktorvater, der renommierte hannoversche Verfassungs-
historikerJorg-Detlef Kiihne, in seinem dazu verfassten Vorwort mit Recht feststellt, be-
reits eine beachtliche Leistung dar.
Ins Zentrum ihrer Dissertation stellt die Verfasserin, wie der Titel schon andeutet, die
Analyse der von Hugo in seiner Schrift entwickelten Bundesstaatstheorie (Zweiter Teil:
S. 103-180) sowie ihre Einordnung in den Gesamtzusammenhang der zeitgenossischen
Reichspublizistik, iiber die vorher ein ausfuhrlicher Uberblickgegeben wird (S. 62-102).
Obwohl er selbst den Begriff „Bundesstaat" noch nicht benutzt, sieht Ludolf Hugo das
Heilige Romische Reich deutscher Nation namlich nicht als Staatenbund an, sondern
geht von einer Doppelstaatlichkeit aus, bei der „der Kaiser die Schutzhoheit iiber das
Reich (hat), den Reichsstanden dagegen . . . das ius territoriale samt Landeshoheit zuer-
kannt (wird)" (S. 231) . Im Vergleich zu den seinerzeit dominierenden Positionen der sog.
Caesarianer und Fiirsterianer, die entweder dem Kaiser oder den Territorialfursten eine
dominante Position zuschrieben, nahm Hugo damit eine vermittelnde Position ein. Die-
se vermochte sich allerdings, wie die Verfasserin im dritten Teil ihrer Arbeit im einzel-
nen ausfiihrt (S. 181-236), zu Unrecht in der Folge nicht durchzusetzen, obwohl unter an-
derem Leibniz ahnliche Ansichten vertrat. Dominant wurde stattdessen bis zum Ende
des alten Reiches bekanntermaBen die Auffassung Pufendorfs, der dieses - aus seiner
Sicht unbefriedigenderweise - als „Monstrum" und „Staatenbund" ansah. Aufmerksam-
keit fand die Bundesstaatstheorie dann erst weitaus sparer in der Paulskirchenverfas-
sung, bei der Reichsgriindung 1871 und nicht zuletzt im Grundgesetz. Als Fazit halt die
Autorin fest, dass „auch der moderne Bundesstaatsbegriff Hugo verpflichtet (bleibt)"
(S. 231), sein Werk aber gleichzeitig „den politischen Verhaltnissen (seiner Zeit) . . . ent-
spricht" (S. 236).
Auch wenn der Schwerpunkt ihrer Dissertation legitimerweise ein verfassungsge-
schichtlicher ist, so erortert Yvonne Pfannenschmid in deren ersten Teil „Leben und
Wirken" immerhin recht ausfuhrlich auch die von der bisherigen Literatur ebenfalls
weitgehend vernachlassigte Biografie und amtliche Tatigkeit Ludolf Hugos (S. 19-61).
Mit Hilfe einer akribischen Auswertung des sparlichen einschlagigen Quellenmaterials
2 Yvonne Pfannenschmid (Ubers.), Ludolf Hugo: Zur Rechtsstellung der Gebietsherr-
schaften in Deutschland, Minister 2005.
3 Sogar in dem einschlagigen biografischen Referenzwerk „Niedersachsische Juristen" aus
dem Jahre 2003 (hg. von Joachim Ruckert u. Thomas Vortmann) ist Hugo lediglich ein knap-
per Kurzbeitrag gewidmet (S. 365).
470 Besprechungen
bringt sie in diesem Zusammenhang zum Beispiel Licht in die Diskussion um sein Ge-
burtsjahr, das sie nunmehr endgiiltig mit ,,1632" ansetzt (S. 19-20). Auch im Bezug auf
Hugos Ausbildungsgang fordert die Verfasserin neue Erkenntnisse zu Tage und zwar
hinsichtlich seiner Studienzeit, die er nicht - wie bisher angenommen - zwischen 1649
und 1652 ausschlieBlich in Helmstedt verbrachte, sondern anschlieBend zwei weitere
Jahre lang an der seinerzeit europaweit beruhmten Rechtsfakultat im niederlandischen
Leiden (S. 21). Diese Tatsache ist, worauf Frau Pfannenschmid mit Recht hinweist, vor
allem insofern von Interesse, als Ludolf Hugo in den Vereinigten Niederlanden den da-
maligen Prototyp eines Staatenbundes vorfand und kennenlernte, den er spater fur seine
Heimat ablehnen sollte (S. 45 ff.).
Was seine juristische und amtliche Tatigkeit in calenbergischen bzw. kurhanno-
verschen Diensten betrifft, so bestatigt und verstarkt sich durch die Pfannenschmidsche
Dissertation im wesentlichen das schon bekannte Bild Hugos als eines hervorragenden
Juristen und einflussreichen, aber immer loyalen Staatsmannes. Einzelne neue Facetten
werden aber auch hier prasentiert, indem die Autorin etwa zeigen kann, dass seine Mit-
wirkung beim Erwerb der Kurwiirde durch Hannover wohl groBer war als bisher ange-
nommen (S. 51). Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang schlieBlich, was sie
liber das Verhaltnis zwischen Hugo und dem ihm als Hof- und Kanzleirat dienstlich un-
terstellten Leibniz zu sagen hat (S. 29-33). Wie im Einzelnen dargelegt wird, war dieses
zwar stets hoflich, korrekt und von gegenseitigem Respekt fureinander gepragt, aber
trotzdem personlich schwierig, was in Anbetracht der vollig verschiedenen Charaktere
der beiden Personen nicht uberrascht. Im Gegensatz zum „genialen Leibniz" hatte nam-
lich Hugo - so das Resumee der Autorin - „keine Freude am Wissen um des Wissens wil-
len", sondern setzte „seine ausgepragten juristischen Fahigkeiten und seinen scharfen
Verstand (ausschlieBlich) . . . zweckbestimmt . . . fur die Interessen seines Landesherrn
(ein)". Gerade dies macht ihn aber, wie Frau Pfannenschmid eindrucksvoll zeigen kann,
zu einem der bedeutendsten Staatsmanner, die Kurhannover hervorgebracht hat.
Trotz der verfassungshistorischen Schwerpunktsetzung, die Hugos bisher unter-
schatzte Bedeutung fur die Verfassungsgeschichte auf iiberzeugende Weise neu ins Be-
wusstsein riickt, bietet gerade diese Erkenntnis ihrer Arbeit einen wesentlichen Ertrag
auch fur die niedersachsische bzw. hannoversche Landesgeschichte. Dafiir ist der Auto-
rin zu danken.
Kiel Thomas Krause
Schnakenberg, Ulrich: Democracy-building. Britische Einwirkungen auf die Entstehung
der Verfassungen Nordwestdeutschlands 1945-1952. Hannover: Verlag Hahnsche
Buchhandlung 2007. 296 S. Abb. = Veroff. der Historischen Kommission fur Nieder-
sachsen und Bremen Bd. 237. Geb. 26,- €.
Mit seiner in Kassel bei Horst Dippel entstandenen historischen Dissertation legt Ulrich
Schnakenberg erstmals eine Gesamtbetrachtung britischer Verfassungspolitik in den
Landern in Deutschland wahrend der Besatzungszeit vor. Der Titel bringt deutlich zum
Ausdruck, dass die Arbeit sich vornehmlich fur die britische Perspektive der Verfas-
sungsgebung in den deutschen Landern der Nachkriegszeit interessiert. Diese Perspekti-
ve und die Gesamtbetrachtung aller Lander der britischen Besatzungszone sind neu. Zur
Rechts-, Verfassungs-, Verwaltungsgeschichte 471
Entstehung der Landesverfassungen gab es auch bislang schon Einzeldarstellungen, die
sich von der Arbeit Schnakenbergs aber auch dadurch unterscheiden, dass sie den Focus
der Betrachtung eher auf die Entwicklungen auf deutscher Seite legen. Hier ist allerdings
aus niedersachsischer Sicht, aus der die Arbeit betrachtet werden soil, ein erster Kritik-
punkt anzubringen. Die bislang umfangreichste Monographie zur Entstehung der Nie-
dersachsischen Landesverfassung von 1951 wertet Schnakenberg nicht aus. Sie istje-
doch in dem von Schnakenberg herangezogenen Werk von Korte/Rebe, Verfassung
und Verwaltung des Landes Niedersachsen (2. Aufl. 1986), nachgewiesen. Schnaken-
berg stellt hingegen auf S. 24 fest, fur Niedersachsen sei bislang keine Monographie zur
Entstehungsgeschichte der niedersachsischen Nachkriegsverfassung erschienen. Im
gleichen Zusammenhang zeigt sich exemplarisch auch ein etwas stiefmiitterlicher Um-
gang mit der einschlagigen juristischen Literatur. Das eben genannte breit angelegte
Handbuch von Korte/Rebe, bezeichnet er als Kommentar, der nur in der Einfiihrung
wenige Anhaltspunkte zur Entstehungsgeschichte der niedersachsischen Nachkriegs-
verfassung biete (S. 24, FN 34) ?
Die Arbeit selbst gliedert sich in drei Hauptteile: „Voraussetzungen britischer Verfas-
sungspolitik" (Teil A), „Organisation und Phasen britischer Verfassungspolitik" (Teil B)
und „Landerstudien zur britischen Verfassungspolitik" (Teil C) . Diese Gliederung ist ge-
gliickt. Sie bietet dem Leser zunachst in den Teilen A und B einen Gesamtuberblick, be-
vor sie auf die Entwicklungen in den einzelnen Landern eingeht. Damit scharft sie den
Blick fur ubergreifende Fragen und erleichtert das Verstandnis der Einzeldarstellungen,
auf denen insgesamt der Schwerpunkt der Arbeit liegt. Im Anhang sind ein Personenre-
gister und eine Zeitleiste der einschlagigen wie allgemein bedeutender Ereignisse fur die
Jahre 1945 bis 1955 beigefiigt, die den Uberblick erleichtern sollen.
Innerhalb der Hauptteile arbeitet sich Schnakenberg abschichtend vor, in dem er in
Teil A zunachst die britische Deutschlandpolitik im Gesamtzusammenhang, dann Pra-
missen britischer Besatzungspolitik und schlieBlich die staatsrechtliche Lage Nordwest-
deutschlands darstellt. Aus juristischer Sicht ist allerdings anzumerken, dass beim letz-
ten Punkt nicht in eigentlich staatsrechtliche Fragestellungen eingestiegen wird. Die
eher deskriptive Darstellung des Faktischen reicht aber fur den Zweck des Kapitels aus.
In Teil B beleuchtet Schnakenberg die Verantwortlichkeiten in der britischen Deutsch-
land-/ Verfassungspolitik und die Phasen derselben.
In die Landerdarstellung reiht Schnakenberg auch Bremen und Berlin ein, obgleich
die britische Besatzungsmacht hier nicht alleinverantwortlich agierte, da Berlin bekannt-
lich seinerseits in Besatzungszonen aufgeteilt war und Bremen 1947unter amerikanische
Besatzungshoheit gestellt wurde. Dieses Vorgehen ist sinnvoll, weil ohne eine Betrach-
tung Bremens und Berlins nicht der Gesamtuberblick iiber die britische Verfassungspo-
1 Heidemarie Gummert, Die Entstehung der Niedersachsischen Landesverfassung vom
13. April 1951, 1982 (Magisterarbeit Heidelberg; die Arbeit ist zwar nur vereinzelt in Bibliothe-
ken zu finden, ware aber durchaus greifbar gewesen) .
2 Seinem breiten Ansatz folgend bietet das Werk durchaus eine ausfuhrlichere Darstel-
lung. Auf den S. 77-111 werden dort die Punkte behandelt, welche Schnakenberg in seiner Lan-
derstudie Niedersachsen auf den S. 175-195 abhandelt. Auch das von Schnakenberg in dersel-
ben FuBnote ebenfalls als Kommentar bezeichnete Werk von Hans-Peter Ipsen, Hamburgs
Verfassung und Verwaltung, 1956, ist breit angelegt.
472 Besprechungen
litik hatte erreicht werden konnen. Die Landerdarstellungen schlieBt Schnakenberg mit
einem kurzen Blick auf die Verfassungsentwicklung in den anderen Zonen ab. Der Auf-
bau der Landerstudien folgt im Allgemeinen der Chronologie . Teilweise geht Schnaken-
berg aber auch thematisch vor, wenn er z.B. zur Frage der Grundrechte (etwa zu
Hamburg, S. 127) und einer moglichen Bodenreform (zu NRW, S. 166) eigene Abschnit-
te bildet. Dies wird der Bedeutung der angesprochenen Fragen in der Nachkriegszeit
gerecht.
Die niedersachsische Entwicklung zeichnet Schnakenberg auf den S. 171-194 nach.
Nach einleitenden Bemerkungen zur Landesgriindung und den beteiligten Personen
geht Schnakenberg folgerichtig zuerst auf das „Gesetz iiber die vorlaufige Ordnung der
niedersachsischen Landesgewalt" ein (S. 175 ff.) . Die Darstellung hatte an dieser Stelle
gewonnen, wenn die Daten aller Einzelschritte (Uberweisung an Verfassungsausschuss,
1., 2. und 3. Lesung) genannt worden waren. So bleibt sie etwas untibersichtlich. Auch
ein Blick auf die Zeitleiste im Anhang klart die Abfolge nicht. Schnakenberg hatte inso-
weit auf die vorliegenden Darstellungen verweisen konnen. Konsequenterweise richtet
Schnakenberg auch hier sein Hauptaugenmerk auf britische Einfliisse, wird aber etwas
spekulativ. So vermutet er hinter der ziigigen Beratung im Landtag (1. Lesung: 10. De-
zember 1946; 2. und 3. Lesung 11. Dezember 1946) britische Einwirkung. Dass dies
nicht so recht zu der Tatsache passt, dass die Briten umgehend einige Anderungen ver-
langten, ist Schnakenberg wohl auch selbst klar (S. 176). Andere Erklarungsmoglichkei-
ten fur die schnelle Beratung erwagt er gleichwohl nicht. Dabei hatte bereits Gummert
(S. 65) vor 25 Jahren eine ebenso naheliegende Erklarungsvariante vertreten. Fur sie
hing die ziigige Beratung damit zusammen, dass es sich um ein besonders regelungsar-
mes Gesetz handelte, dass zudem nur iibergangsweise gelten und bald durch eine Voll-
verfassung abgelost werden sollte. Auch im deutschen politischen Raum diirfte damals
vielen Verantwortlichen klar gewesen sein, dass die schwierigen Aufgaben, deren Bewal-
tigung anstand, ein MindestmaB an politischer Handlungsfahigkeit voraussetzten. Ange-
sichts der Liickenhaftigkeit und Vorlaufigkeit konnte man politisch in diesem Stadium
noch nicht viel verlieren, was die Bereitschaft zu einer schnellen Zustimmung erhoht ha-
ben diirfte. Gummerts Erklarung ist daher mindestens so wahrscheinlich wie die von
Schnakenberg. Letzterer bringt auch keine neuen Fakten, die seinen Standpunkt unter-
mauern konnten. Dieser Mangel hangt auch damit zusammen, dass Schnakenberg die
Arbeit von Gummert nicht einbezogen hat (s.o.), ebenso wenig wie die Darstellung von
C. Franke zum ersten Ansatz einer niedersachsischen Verfassungsgebung in der Besat-
zungszeit. Im Zusammenhang mit der provisorischen Konstituierung der Landesgewalt
hatte Schnakenberg noch das Landeswahlgesetz vom 31. Marz 1947 und das Gesetz iiber
den Landtag vom 14. April 1947 untersuchen konnen, da es sich um materielles Verfas-
sungsrecht handelt und der von Schnakenberg gewahlte Untersuchungsbereich somit ei-
ne Einbeziehung gerechtfertigt hatte.
Schnakenbergs Arbeit gewinnt aber wieder an Kontur, wenn er im Anschluss iiber die
Einschatzung der deutschen Politik durch die britische Besatzungsmacht berichtet
3 C. Franke, Die Niedersachsische Notverfassung von 1947, in: F.J. Duwell/T. Vorn-
baum (Hrsg.), Themen juristischer Zeitgeschichte, Bd. 3, Baden-Baden 1999, S. 119-145; auch
nachgewiesen bei J.-D. Kiihne, Die Entstehung des Landes Niedersachsen und seiner Verfas-
sung, in E. Brandt/M.-C. Schinkel, Staats- und Verwaltungsrecht fiir Niedersachsen, Baden-
Baden 2002, S. 23-63, den Schnakenberg durchaus heranzieht.
Rechts-, Verfassungs-, Verwaltungsgeschichte 473
(S. 177 bis 180) . Dieser britische Blickwinkel ist in der Literatur bislang nicht so deutlich
herausgestellt worden. Gleiches gilt fur die Darstellung der Arbeiten an einer Vollverfas-
sung (S. 181 f f . ) . Auch hier sind die Passagen am ertragreichsten, welche die britische
Sichtweise naher beleuchten (S. 186-189; aber auch schon 183-186) . Hier wird auch deut-
lich, von welchen unterschiedlichen Grundpositionen Deutsche und Briten ausgingen
und dass dies zu gegenseitigem Missverstehen fiihrte, etwa bei der Einrichtung eines
Staatsgerichtshofes (S. 187). Der Gedanke verfassungsgerichtlicher Pruning von Geset-
zen blieb den Briten bis in die jiingste Vergangenheit hin fremd, da eine britische staats-
rechtliche Grunddoktrin die voile Souveranitat des Parlaments als Vertreter des Volkes
ist. Wenn Schnakenberg abschlieBend (S. 194 f.) die britischen Einfliisse zusammenfasst
und bleibende britische Einfliisse auch auf die heutige niedersachsische Verfassungsla-
ge in Form des Traditionsartikels (heute Art. 72 Abs. 1 NV) zugunsten der ehemaligen
Lander Braunschweig, Oldenburg und Schaumburg-Lippe feststellt, ist ihm zuzustim-
men. Insbesondere derEinfluss auf die Traditionsklausel wird auch im aktuellen juristi-
schen Schrifttum benannt. Schnakenbergs Aussage, die Forschung habe die Einfliisse
bislang „weitestgehend iibersehen" (S. 194) , erscheint somit iiberzogen. Zudem lasst sich
die Tragweite des britischen Einflusses anhand Schnakenbergs Darstellung nur schwer
beurteilen, weil dieser zwar einen schwindenden Einfluss der Briten auf die Arbeiten an
der Vollverfassung konstatiert (S. 192) , aber die im gleichen MaB bedeutender werden-
den unterschiedlichen deutschen Ansatze nicht ausfiihrlich beleuchtet. So wird zur Voll-
verfassung nicht auf die Behandlung der strittigen Fragen im Landtag und auf fachliche
Einfliisse auf den Landtag von auBerhalb, etwa durch die gutachterlichen Stellungnah-
men Werner Webers und Wolfgang Abendroths eingegangen. Immerhin wird der
Landtag diesen beiden bedeutenden niedersachsischen Staatsrechtslehren auch einige
Aufmerksamkeit geschenkt haben (ausfiihrlich zum Ganzen Gummert, S. 100-122) Bei-
de hatten sich etwa zur Einrichtung einer 2. Kammer entschieden negativ geauBert
(Gummert, S. 121). Ein differenziertes Bild der deutschen wie der britischen Seite ist da-
her - jedenfalls fur Niedersachsen - nur im Zusammenhang mit den bereits vorhande-
nen Darstellungen zu gewinnen. Schnakenberg selbst relativiert im abschlieBenden Fa-
zit, dass die Briten ab etwa 1947 „nur noch eine „Lobbyistengruppe" unter vielen" gewe-
sen seien (S. 258).
Insgesamt bereichert die Arbeit die vorhandenen Darstellungen durch ihren spezifi-
schen Blick auf die britische Sichtweise und ermoglicht durch ihren die gesamte briti-
sche Besatzungszone umfassenden Ansatz einen genaueren Uberblick und Vergleich.
Hannover Peter Armbrust
4 Heinzgeorg Neumann, Die Niedersachsische Verfassung, Handkommentar, 3. Aufl.
2000, Art. 72, RdNr. 1.
5 Die Stellungnahmen finden sich bei den Landtagsdrucksachen; auch die weiteren Bei-
trage Werner Webers zum Thema werden nicht herangezogen (Nachweise bei Korte/Rebe,
S. 140).
474 Besprechungen
Die NS-Gaue. Regionale Mittelinstanzen im zentralistischen „Fiihrerstaat"? Hrsg. von
JiirgenJoHN, Horst Moller und Thomas Sohaarschmidt. Miinchen: R. Oldenbourg
Verlag 2007. 483 S. = Schriftenreihe der Vierteljahrshefte fur Zeitgeschichte - Son-
dernummer. Kart. 69,80 €.
Im September 2005 trafen sich in der Berliner Dependance des Instituts fur Zeitge-
schichte ,alte Hasen' der NS-Forschung und jiingere Wissenschaftler zu einer Tagung,
auf der eine erste Bilanz der Ertrage der Forschung iiber NS-Gaue als besondere Herr-
schaftsagenturen gezogen wurde, denen vermittelnde Funktionen in dem vielfach von
Dualismus, Konkurrenz und unklaren Kompetenzzuweisungen gepragten Mit-, Neben-
und Gegeneinander des nationalsozialistischen „Normen-„ und „Ma6nahmenstaates"
zufielen. Die bei dieser Tagung in fiinf Sektionen gehaltenen Vortrage, in denen von un-
terschiedlichen theoretischen und methodischen Pramissen ausgehend grundsatzliche
Probleme und spezifische Aspekte der Gauforschung erortert wurden, sowie die zusam-
menfassenden Kommentare der Sektionsleiter sind in diesem Band auf 400 Seiten abge-
druckt; ein mehr als 60 Seiten starker Anhang, der neben einem Abkiirzungsverzeichnis,
einer Liste derReferenten/Autoren und einem Personenregister ein umfangreiches Ver-
zeichnis der in den Beitragen zitierten Forschungsliteratur und Quellenpublikationen
sowie vier Karten, drei ausfuhrliche Tabellen und drei Schaubilder enthalt, beschlieBt
den Band.
Die erste Sektion ist „Grundfragen" der Gauforschung gewidmet, die erst kiirzlich als
spezifischer Forschungsansatz identifiziert worden ist, der die bisherige regional- und
kulturgeschichtliche Forschung zur nationalsozialistischen Herrschaft integrieren und
die tradierten theoretischen und methodischen Zugriffe wesentlich erweitern konne.
Dies legen Thomas Schaarschmidt (Potsdam) und Jiirgen John (Jena), die zusammen
mit Horst Moller, dem Direktor des Instituts fur Zeitgeschichte, die Tagung organisier-
ten und auch als Herausgeber dieses Bandes verantwortlich zeichnen, mit einer Skizze
des Forschungsstandes zum Thema „Regionalitat im Nationalsozialismus" (S. 13-21) so-
wie einem Uberblick zur Funktion der Gaue im NS-System und dem bislang defizitaren
Forschungsstand sowohl zu den Gauleitungen als auch zu den Gauleitern (S. 22-55) dar.
AnschlieBend entwickelt Rudiger Hachtmann (Potsdam) das theoretisch anspruchsvolle
Konzept einer „neuen Staatlichkeit" als Interpretationsrahmen fur die Funktion und Be-
deutung der Gaue im NS-Herrschaftssystem (S. 56-79), wahrend Bernhard Gotto (Miin-
chen) unter der Fragestellung „Dem Gauleiter entgegen arbeiten?" die Reichweite eines
solchen neuen Deutungsmusters kritisch, aber insgesamt positiv ausleuchtet (S. 80-99).
Mit der gleichen Tendenz fasst Michael Ruck (Flensburg) die Beitrage dieser Sektion
in seinem Kommentar zusammen, pladiert allerdings dafiir, auf den „ambitionierten
Terminus ,neue Staatlichkeit', dessen heuristischer Nutzen noch durchaus fragwiirdig
ist", solange zu verzichten, „bis eine empirisch fundierte Begriffsbildung moglich ist"
(S. 103).
In den zwei folgenden Sektionen geht es zum einen um die Rolle und Bedeutung der
Gaue bei der Durchsetzung der NS-Rassenpolitik und der „Euthanasie" (S. 105-140) so-
wie zum anderen in den Bereichen „Wissenschaft", „Bildung" und „Kultur" (S. 141-198).
Vier der insgesamt fiinf Beitrage in diesen beiden Sektionen folgen dabei einem genera-
lisierenden oder zumindest mehrere Gaue vergleichenden Forschungsansatz, der fiinfte
konzentriert sich zwar auf ein Gau, betrachtet die dortigen Gegebenheiten aber dezi-
diert als „Sonderfall und Musterbeispiel" ebenfalls in vergleichender Perspektive.
Wirtschafts- und Sozialgeschichte 475
Dem Bemiihen, Grundlagen fiir eine Typologisierung der Gaue und Gauverwaltun-
gen im „Altreich" sowie der nach dem „Anschluss" Osterreichs und nach Beginn des
Zweiten Weltkriegs gebildeten „Reichsgaue" zu legen, sind schlieBlich die insgesamt 12
Beitrage der letzen beiden Sektionen gewidmet, denen zwei Impulsreferate von Armin
Nolzen (Wiirzburg) „Die Gaue als Verwaltungseinheiten der NSDAP. Entwicklungen
und Tendenzen in derNS-Zeit" (S. 199-217) und Gerhard Kratzsch (Miinster) „Das wirt-
schaftspolitische Gauamt: der Gauwirtschaftsberater" (S. 218-233) vorangestellt sind.
Aus niedersachsischer Sicht von besonderem Interesse ist dabei der Beitrag von Detlef
Schmiechen-Ackermann (Hannover), der am Beispiel der drei niedersachsischen NS-
Gaue Sud-Hannover-Braunschweig, Osthannover und Weser-Ems „Voriiberlegungen
fiir eine Typologie von NS-Gauen und ihren Gauleitern" anstellt, um „das Potential der
Komparatistik fiir die NS-Regionalforschung" aufzuzeigen (S. 234-253). Dabei bezieht
er sich vor allem auf statistische MessgroBen sowie in den Tagebiichern von Joseph
Goebbels festgehaltene personliche Beurteilungen der Gauleiter, wahrend die inzwi-
schen doch recht zahlreichen lokal- und regionalgeschichtlichen Forschungsarbeiten
zur nationalsozialistischen Herrschaft im Bereich des heutigen Landes Niedersachen -
den Nachweisen in den Anmerkungen zufolge - weitgehend unberiicksichtigt bleiben.
Das auf dieser Grundlage entworfene Bild der NS-Gaue und ihrer Gauleiter, das eine
vergleichende Analyse ohne Frage erleichtert, entspricht jedoch nur bedingt spezifi-
schen regionalen Gegebenheiten, zumindest im ehemaligen Land Oldenburg und eini-
gen angrenzenden Gebieten.
Der Rezensent war sich nach der Lektiire diese Bandes unschliissig, ob die Gaufor-
schung sowohl von der theoretischen Fundierung als auch von ihrem praktischen Ertrag
her wirklich wesentlich neue Erkenntnisse zur Struktur und zum „Funktionieren" der na-
tionalsozialistischen Herrschaft erwarten lasst, oder ob es sich dabei nicht nur zu einem
guten Teil um alten Wein in neuen Schlauchen bzw. die vielzitierte „Sau" handelt, die
mit festem Blick auf den Zeitgeist und die zunehmenden Schwierigkeiten bei der Ein-
werbung dringend erforderlicher Mittel zur Finanzierung geschichtswissenschaftlicher
Forschung durchs Dorf getrieben wird.
Lilienthal Karl-LudwigSoMMER
WIRTSCHAFTS- UND SOZIALGESCHICHTE
Die Deutsche Bank in Hannover. Hrsg. von der Historischen Gesellschaft der Deutschen
Bank. Munchen: Piper 2007. 148 S. Abb. = Serie Piper 4777. Kart. 7,90 €.
Der vorliegende sorgfaltig gemachte kleine Band bildet einen weiteren Beitrag zu der im
Piperverlag in unregelmaBiger Folge erscheinenden Reihe „Die Deutsche Bank in Ein-
zelbanden", die 1996 mit einem historischen Riickblick iiber 125 Jahre Deutsche Bank in
Bremen ihren Anfang genommen hat. Ahnliche Taschenbucher iiber die ortlichen Ent-
wicklungen des genannten Bankinstitutes in London, Stuttgart, Leipzig, Mannheim,
476 Besprechungen
Frankfurt a.M. und Liibeckfolgten - zumeist anlasslich eines Jubilaums. Ein solcher An-
lass ergab sich auch fiir die Niederlassung in Hannover, deren Vorlauferin, die Hanno-
versche Bank, am 2. Januar 1857 - also vor 150Jahren - ihren Geschaftsbetrieb aufge-
nommen hat.
Der Band besteht aus einem rund 130 Seiten umfassenden historischen Teil und ei-
nem zehnseitigen knappen Uberblick iiber die heutige Position der hannoverschen Filia-
le im Markt und ihre moderne Ausrichtung. Der geschichtliche Riickblick stammt aus
der Feder von Martin L. Miiller, seit 2006 Leiter des Historischen Institutes der Deut-
schen Bank, wahrend der aktuelle Part von der hannoverschen Geschaftsleitung verfasst
wurde. Diesen letztgenannten Seiten kann ein gewisser Marketingcharakter nicht abge-
sprochen werden, der aber im Rahmen einer Jubilaumsveroffentlichung durchaus ak-
zeptabel und legitim ist. Angefugt sind dem Ganzen eine Liste derleitenden Personlich-
keiten der Hannoverschen Bank und ihrer Nachfolgeinstitute sowie ein Verzeichnis der
Quellen und der verwendeten Literatur.
Der historische Uberblick ist in sechs Kapitel mit zum Teil etlichen Unterabschnitten
gegliedert, von denen das Erste dem Umfeld der Grundung der Hannoverschen Bank,
dem Konigreich Hannover und seiner Wirtschaft, gewidmet ist. Die iibrigen Teile be-
schreiben zunachst die Griindungsgeschichte der Hannoverschen Bank als Aktienge-
sellschaft inklusive der in diesem Rahmen aufgetretenen nicht unerheblichen Wider-
stande und die Rolle derselben als Notenbank des Konigreiches. Daran anschlieBend
werden die strukturellen Veranderungen geschildert, denen das Institut unterworfen
war, die unter anderem die Aufgabe des Notenemissionsprivilegs 1889 nach sich zogen
und die von der vollstandigen Selbstandigkeit bis hin zur immer starkeren Einbindung in
einen wachsenden Bankenapparat und schlieBlich zur Fusion mit der Deutschen Bank
im Jahr 1920 fuhrten. Des Weiteren werden in den Kapiteln die Rolle der Hanno-
verschen Bank als Filialbank und Kreditinstitut der heimischen Wirtschaft sowie die
wachsende Bedeutung des Bankplatzes Hannover im Laufe des 20. Jahrhunderts vor
dem jeweiligen wirtschaftlichen und politischen Hintergrund sowie die Stellung des In-
stitutes in diesem Rahmen dargestellt. Sehr detailliert wird die Entwicklung der Perso-
nal- wie der Kapitalstruktur beschrieben, die unter Einwirkung der beiden Weltkriege,
der Inflationsjahre und der groBen Wirtschafts- und Bankenkrise sowie des Nationalso-
zialismus und der politischen und wirtschaftlichen Neuformierung nach 1945 mit der
Zerschlagung der GroBbanken zu verzeichnen war. Der sechste Abschnitt der geschicht-
lichen Darstellungen enthalt die Wandlungen und Anpassungsprobleme, die die 1957
aus Nachfolgeinstituten wie der in Hannover ansassigen Nordwestbank bzw. Norddeut-
schen Bank A.G. wieder entstandene Deutsche Bank als Filialinstitut an dem Messeplatz
Hannover mit seiner wachsenden Bedeutung erfahren hat.
Der allerletzte kurze Unterabschnitt in diesem Teil ist einem Schatz gewidmet, der
seine Existenz dem kulturellen und finanziellen Engagement der Deutschen Bank ver-
dankt, dem unter Leitung des bekannten Numismatikers Reiner Cunz stehenden
Niedersachsischen Miinzkabinett. Diese umfangreichen historischen Sammlungen von
Zahlungsmitteln aus aller Welt stammen aus dem Besitz des Welfenhauses, und die
Deutsche Bank hat dankenswerter Weise deren Zerschlagung im Rahmen von Versteige-
rungen verhindert.
An diesen Hinweis anschlieBend sei einem an der Geld- und Wahrungsgeschichte
interessierten Wirtschaftshistoriker auch eine kritische Anmerkung zu dem vorliegen-
den ansonsten hervorragend gemachten Band erlaubt: Die im Laufe der aufgeblatterten
Wirtschafts- und Sozialgeschichte 477
150 Jahre Bankengeschichte zu verzeichnenden sieben Wahrungsumstellungen finden -
wenn iiberhaupt - nur eine sehr knappe, ihrer Bedeutung fiir den Bankensektor wohl
kaum entsprechende eher beilaufige Erwahnung. Dies ist bedauerlich, denn die Zah-
lungsmittel in ihrer substanziellen und rechtlichen Auspragung bilden schlieBlich das
zentrale Medium des Bankengeschafts, und die zum Teil wirklich grundlegenden Um-
stellungen in diesem Bereich angefangen bei der Wahrungsunion der Wiener Konventi-
on von 1857 mit dem Ubergang vom friihneuzeitlichen Miinzwesen zu einer modernen
Gestaltung des Wahrungswesens bis hin zur Einfuhrung des Euro konnen nicht ohne
zum Teil erhebliche Auswirkungen im Bankenwesen geblieben sein. Hierhatte der eine
oder andere kurze Kommentar zu diesen Wahrungsreformen eine wertvolle Erganzung
zu der institutionengeschichtlichen Ausrichtung des Bandes bilden konnen.
Hardegsen Hans-Jiirgen Gerhard
Gerhard, Hans-Jiirgen, Alexander Engel: Preisgeschichte der vorindustriellen Zeit. Ein
Kompendium auf Basis ausgewahlter Hamburger Materialien. Stuttgart: Franz Stei-
ner Verlag 2006. 358 S. Tab. = Studien zur Gewerbe- und Handelsgeschichte der vor-
industriellen Zeit Bd. 26. Kart. 49,- €.
1990 und 2001 gaben H.-J. Gerhard und K.-H. Kaufhold als Resultat eines Forschungs-
projektes Materialbande mit „Preisen im vor- und friihindustriellen Deutschland"
(Grundnahrungsmittel, Getranke, Gewiirze, Rohstoffe und Gewerbeprodukte) heraus.
Nun legt Herr Gerhard (gemeinsam mit seinem Mitarbeiter A. Engel) ein kurzes Vade-
mecum zur Preisgeschichte vor (S. 20-100) und schlieBt daran die Publikation hamburgi-
schen preisgeschichtlichen Materials von 1443-1821 an, das im Rahmen derErhebungen
des „International Scientific Commitee on Price History" in den 1920erund 1930erjah-
ren ermittelt wurde (S. 101-313). Das Vademecum liefert zunachst eine kurze Geschichte
der historischen Preisforschung (S. 19-39) und geht dann auf quellenkundliche und me-
thodische Fragen dieser Disziplin ein. Es werden Uberlegungen zum Geld als histori-
sches Phanomen und zu Wertvergleichen zwischen Vergangenheit und Gegenwart an-
gestellt; die Probleme bei der Beurteilung von Warenpreisen und Lohnen/Gehaltern
werden ausgebreitet; die Aussagekraft von Preisdaten wird kritisch hinterfragt. Spezielle
Uberlegungen richten sich auf das Hamburger Preismaterial, das im Wesentlichen aus
der Uberlieferung des St. Georgs- und des St. Hiobs-Hospitals stammt. Gegen die Uber-
legungen ist im allgemeinen wenig einzuwenden, es fallt nur auf, dass andere als die der
Gottinger Forschungsgeschichte verbundenen preisgeschichtlichen Arbeiten (z.B. von
Dirlmeier, Metz, North, Witthoft) wie auch regionale Preisstudien aus Deutschland,
die zum Teil Anlass zu heftigen wissenschaftlichen Kontroversen boten, hier gar nicht
berucksichtigt worden sind (Waschinski und die um sein Werk entbrannte Debatte,
Hausschildt, Koppe, um nur einige zu nennen). Insofern wurde auch die von W. Koppe
gestellte Frage nach der jahreszeitlichen Preisschwankung insbesondere von ernteab-
hangigen Agrarwaren gar nicht weiter behandelt: Der auf das Jahr berechnete Durch-
schnittspreis soil es tun (egal, ob die zu diesem Durchschnitt herangezogenen Preise
iiberwiegend aus der Zeitspanne vor Ernte und Drusch oder danach stammen). Ich bin
da skeptisch, wie ich aus eigenen Forschungen lernen durfte.
Im zweiten, weitaus groBeren Teil des Buches werden die Hamburger Preisdaten fiir
478 Besprechungen
Getreide (1443-1821), Getreideprodukte und weitere pflanzliche Grundnahrungsmittel
(1445-1779), Fisch (1443-1785), Fleisch, Tiere und tierische Produkte (1443-1801), Fette
und Ole (1443-1802), Geschmacks- und Genussmittel (1443-1806), Bier, Hopfen und
Malz (1443-1792), Haute, Tuche und Gespinste (1445-1804), Seifen, Brenn- und Leucht-
stoffe (1445-1811) und Bau- und Werkstoffe, Heu (1443-1800) sowie Lohne und Gehalter
(1444-1798) in tabellarischer Form geboten. Ein kleiner Anhang bietet eine Ubersicht
liber die in Hamburg gebrauchlichen MaBe und Gewichte, iiber das Rechengeld und die
Geldkurse in der Hansestadt sowie eine Liste chronikalischer Nachrichten zum Umfeld
der Preisgestaltungen. Fur die Lokal- und Regionalforschung sind solche auf lokalen
Markten ermittelten Preise von groBer Bedeutung, bieten sie doch erwiinschtes Material
fur die Beantwortung der immer wieder auftretenden Fragen nach der Kaufkraft von
Lohnen oder Vermogen oder aber fur die Ermittlung konjunktureller Wirtschaftsverlau-
fe. Was das Hamburger Material auf nationaler oder dariiber hinausgehender Ebene fiir
einen Wert hat, deuten die Bearbeiter zwar auf S. 86-100 an, konnen damit aber - trotz
ihres stochastischen Instrumentariums - nicht ganz iiberzeugen, weil eben in vorindu-
strieller Zeit nur relativ kleinraumige Preisgestaltungen feststellbar sind.
Hamburg Klaus-J. Lorenzen-Schmidt
RoTTMANN,Rainer: Die Beckeroder Eisenhiitte. Geschichte eines derersten Industriebetrie-
be im Osnabriicker Land 1836 - 1903. Hagen: Heimatverein Hagen 2006. 336 S.
Abb., graph. Darst. Geb. 13,- €.
In der Gemeinde Hagen a.T.W. lag im 19. Jahrhundert die Beckeroder Eisenhiitte, von
der heute kaum noch Spuren vorhanden sind. Rainer Rottmann, ehem. Vorsitzender des
Heimatvereins Hagen, hat es sich zur Aufgabe gemacht, die fast vergessene Geschichte
dieser Vorgangerin der spateren Georgs-Marien-Hiitte aufzuarbeiten. Diese Beckerode
Eisenhiitte war mit der erste Industriebetrieb in Nordwestdeutschland. Seine Entste-
hung und Entwicklung legen Zeugnis ab vom „friihkapitalistischen Pioniergeist einzel-
ner Unternehmer" und von der „rasanten technischen Entwicklung im Montanbereich
im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts".
In der Umgebung von Hagen (Natruper Berg = Silberberg) wurden bereits im Mittel-
alter und dann von 1722 bis 1726 intensive Bergbauversuche auf Silbererze unternom-
men. Eisenerz (sog. Bergerz) wurde am Hiiggel und Heidhorn bei Hagen abgebaut und
verhiittet. Erst mit der Griindung der „Beckeroder Eisenhiitte" 1836/37 wurde der Berg-
bau intensiviert. Durchjahrhunderte hindurch musste das Osnabriicker Land Eisenwa-
ren aus dem Ausland beziehen: Sauerland und Lippe-Gebiet. Im ersten Drittel des 19.
Jh. lieferten vor allem die Eisenhiitten des benachbarten PreuBen Roheisen und Gussei-
sen (Gutehoffnungshiitte, Isselburger Hiitte, die Altenbekener Eisenhiitte und die Gra-
venhorster Eisenhiitte) . Stahl und Stabeisen kamen aus Schweden und GroBbritannien.
1823 griindete der Eisenfabrikant H. Kronenberg eine EisengieBerei auf Gut Sand-
fort bei Osnabriick, diejedoch in derMitte des 19. Jh. nach Norden/Ostfriesland verlegt
wurde. Eine weitere GieBerei des Kaufmanns C. Weymann wurde 1836 „auf dem Colo-
nate Spiegelburg in Nahne" errichtet, aber bereits 1850 in Osnabriick angesiedelt. Griin-
der der Beckeroder Eisenhiitte war der aus Osnabriick gebiirtige Johan Carl Forster. Auf
anderen Hiitten sammelte er geniigend Erfahrungen und hatte Kontakte zu fiihrenden
Wirtschafts- und Sozialgeschichte 479
Eisenhiittenleuten, so zu Hiitteninspektor Zintgraff. Eisenerz, Holzkohle, Steinkohle,
Wasser (der Goldbach mit zwei Stauteichen und Hiittengraben) standen zur Verfiigung.
Die von Forster aufgebrachten finanziellen Mittel waren jedoch bald erschopft, so dass
erum die Wende 1837/1838 die im Aufbau befindliche Anlage an PostmeisterJ.F.Chr.
Meyer aus Bohmte verkaufte. Dieser wiederum nahm den Kaufmann D.W. Meyer als
Teilhaber mit auf, um gemeinsam das Werk zu vollenden. Im Oktober 1839 konnte der
Hochofen angeblasen werden - der erste im Osnabriicker Land. Eine Dampfmaschine
trieb das Zylindergeblase fur den Hochofen an.
Rottmann beschreibt sehr ausfuhrlich in verschiedenen Kapiteln die einzelnen tech-
nischen Anlagen (Hochofen, Geblase, Dampfmaschine und Nutzung der Gichtgase
durch Winderhitzer, Wasserrader). Interessant ist, dass das Geblase des Beckeroder
Hochofens sowohl mit Wasserkraft iiber Wasserrader als auch durch eine Dampfmaschi-
ne angetrieben wurde. Anhand vieler Zahlen und Fakten erklart Verfasser den Hoch-
ofenbetrieb der Eisenhutte, so die Hochofenkampagnen, den Betriebsablauf und die Be-
triebsergebnisse des Hochofens. Zwei Kupolofen dienten in der Hiitte zur Herstellung
von Gusseisen. Diese wurden damals schon mit Koks beheizt. Nachdem der GieBereibe-
trieb zur Georgs-Marien-Hiitte verlagert worden war, wurden die beiden Kupolofen um
1860/1861 abgerissen. Verfasser stellt danach die weiteren Gebaude vor und gibt zum
Teil ausfuhrliche Informationen dazu: zum Kohlenschuppen, zum Magazingebaude,
zum Werkstattgebaude, zum Dampfkesselgebaude, zur Faktorenwohnung, der Platz-
meisterwohnung, zum Badehaus und dem Kalkofen.
1842 wurde der Sohn des Postmeisters, Julius Meyer, mit in die Sozietat aufgenom-
men. Vier Jahre spater kam es zur Versteigerung des Hiittenwerkes. Der neue Besitzer
war der bisherige Teilhaber Julius Meyer. Unter seiner „Stabfuhrung" kam es 1846/1847
zum Bau eines Herrenhauses, 1850 zum Ausbau der mechanischen Werkstatt, um nun
selbst auch Maschinen- und Maschinenteile fur den Verkauf an Dritte produzieren zu
konnen. In diesem Jahr wurde auch ein Stahl- und Walzwerk errichtet. Damit hatte Mey-
er die technische Moglichkeit zur Herstellung von diversen maBhaltigen Profilstaben
und Blechen. Ein Musterbuch der Hiitte fiihrt 212 Produkte auf. In den weiteren Kapi-
teln dieser Arbeit beschreibt Rainer Rottmann den Kundenkreis, die Vermarktung und
das Absatzgebiet. Hierbei profitierte das Werk auch vom Eisenbahnbau im damaligen
Konigreich Hannover.
Sehr ausfuhrlich behandelt Verf. die Frage nach der Material- und Rohstoffversor-
gung, so vor allem die Erzlagerstatten mit der Erzaufbereitung, das Holzkohlenwesen,
die Steinkohle, den Koks, die Zuschlagstoffe (Kalku. Kiesel). Das Transportwesen wird
ebenso sehrgenau vorgestellt. Breiten Raum nehmen die Unterlagen zum Thema Mitar-
beiter der Eisenhutte. Unter ihnen befanden sich Angestellte und Arbeiter aus den ver-
schiedensten Regionen, auch vom Harz. Damit kamen erstmals evangelische „Fremdar-
beiter" in ein fast rein katholisches Gebiet, das vor allem durch den Aufbau der neuge-
griindeten Georgs-Marien-Hiitte ab 1856 zu groBen Problemen mit der einheimischen
Bevolkerung fiihrte. Die Beckeroder Eisenhutte hatte in dieser Zeit (1855) insgesamt ei-
ne Belegschaft von 166 Mann, zusammen mit den Fuhrleuten fur die Holzkohle, Stein-
kohle und Eisensteine erhohte sich diese Zahl auf 322 Personen. Damit war diese Hiitte
damals der groBte Industriebetrieb im Osnabriicker Land. Sehr ausfuhrlich geht Verf.
auf die Arbeits- und Lebensbedingungen sowie die soziale Absicherung der Angestell-
ten und Arbeiter ein. Es wiirde den Rahmen dieser Rezension sprengen, hier auf Einzel-
heiten einzugehen. Wichtig ist, dass auf Initiative des Julius Meyer 1844 eine „Kranken-
480 Besprechungen
casse der Eisenhiitte zu Beckerode" gegriindet wurde, ideelle Vorlauferin des auf der Ge-
orgs-Marien-Hiitte erst Ende 1859 gegriindeten Knappschaftsvereins und der heutigen
Betriebskasse BKKin der Stadt Georgsmarienhiitte.
Der Besitzer der Eisenhiitte, Julius Meyer (1817-1863), wurde als Sohn eines Postmeis-
ters in Bohmte geboren, heiratete 1838 eine Kaufmannstochter und wurde von seinem
Schwiegervater mit dem Aufbau einer Eisenhiitte in Holte beauftragt, die 1842 ihren
Betrieb aufnahm. In dieser Zeit gehorte Julius Meyer zum „Rhedaer Kreis wahrer Sozia-
listen". In der Zeitschrift „Weser-Dampfboot" (ab 1844), einer „zur auBersten Linken"
tendierenden Veroffentlichung, erschienen von ihm einige programmatische Aufsatze.
Ab 1846 wurde die Beckeroder Eisenhiitte und die Eisenhiitte in SchloB Holte Treff-
punkt und Zufluchtsort vieler Oppositioneller aus dem demokratischen und sozialisti-
schen Lager. 1848/49 hielt er auf Versammlungen freiheitliche Reden. Meyer gait da-
mals als ein „schrecklicher Freiheitsmann".
Rainer Rottmann befasst sich dann mit den Auswirkungen der Eisenhiitte auf das Ge-
meindeleben (soziale Auswirkungen, sprachliche und wirtschaftliche). 1854-1856 kam
es zum Verkauf der Beckeroder Eisenhiitte. Meyer selbst hatte zu wenig Kapital, um in
der Hiitte durch die standige Anforderung nach Modernisierung geniigend investieren
zu konnen. 1851 iibertrug er die Hiitte einer neu entstandenen Gewerkschaft, an denen
er selbst, die „Erben Meyer" und sein Schwiegervater beteiligt waren. Zahe Verhandlun-
gen zur Ubernahme mit preuBischen Investoren scheiterten am Einspruch der Regie-
rung in Hannover. Nach griindlichen Untersuchungen der Situation „vor Ort" lenkte
Hannover ein. So kam es 1856 zur Griindung einer Aktiengesellschaft und zum Ankauf
der Beckeroder Eisenhiitte und der Bergbaukonzessionen. Konig Georg V. von Hanno-
ver gestattete „unter Bezeugung seines lebhaften Interesses an dem Zustandekommen
und Gedeihen des beabsichtigten selbstandigen und vom Ausland ganz unabhangigen
vaterlandischen Unternehmens", dass die neue Aktiengesellschaft den Namen des K6-
nigspaares erhalten kann: „Georgs-Marien-Bergwerks- und Hiittenvereins". Der Konig
wollte selbst „das Prospectorat" iiber die Gesellschaft iibernehmen. Nach nur 19 Jahren
seit der Griindung der Beckeroder Eisenhiitte war sie in das Eigentum eines iiberwie-
gend in Hannover ansassigen Kapitalkonsortiums gekommen. Julius Meyer hielt mit
50.000 Talern einen kleinen Anteil am Gesamt-Aktienkapital. Bald war er mit der Lei-
tung des GMBHV vollig zerstritten. Die Aktien sanken damals im Wert und die neue
Georgs-Marien-Hiitte stand kurz vor dem Konkurs. Meyer wohnte eine gewisse Zeit in
Hannover. Dann erwarb er 1856 das in Belm gelegene Rittergut Astrup, wo er bis 1858
fur sich und seine Familie ein neues Wohnhaus im Stil eines Schlosses erbauen lieB. Im
Alter von 45 Jahren verstarb dieser Fabrikant und Revolutionar Julius Meyer im Fruhjahr
1863. Bereits im Herbst wurde der Beckeroder Hochofen und das Stahl- und Walzwerk
abgerissen. Damit endete eine kurze Episode eines Eisenhiittenwerkes im Osnabriicker
Raum. Lediglich die Kesselschmiede verblieb und wurde bis 1903 weitergefiihrt.
Rainer Rottmann hat mit seiner Hiittenchronik ein viel beachtetes Werk vorgelegt,
das auch fur AuBenstehende sehr viele Informationen enthalt. Uberhaupt hat Verfasser
akribisch alle verfiigbaren Akten und Unterlagen ausgewertet. Mit aussagekraftigen Ab-
bildungen, vor allem von der Neuen Hiitte in Schmalkalden und von der Louisenhiitte in
Wocklum/Balve, illustriert Verfasser sehr eindrucksvoll seine Ausfuhrungen zur Becke-
roder Eisenhiitte, von der kaum Bildmaterial vorliegt.
Gottingen Hans-Heinrich Hillegeist
Wirtschafts- und Sozialgeschichte 481
Bramer, Andreas: Leistung und Gegenleistung. Taix Geschichte jiidischer Religions- und
Elementarlehrer in PreuBen 1823/24 bis 1872. Gottingen: Wallstein Verlag 2006.
550 S. = Hamburger Beitrage zur Geschichte derdeutschenJudenBd. 30. Geb. 42,- €.
In der groBen Zahl von Untersuchungen, die zur deutschen Erziehungs- und Bildungsge-
schichte vorliegen, kommt der jiidische Aspekt fast iiberhaupt nicht vor. Dagegen hat
sich die deutsch-jiidische Geschichtsschreibung in den letzten Jahren verstarkt mit Fra-
gen der Bildung, Erziehung und des jiidischen Schulwesen beschaftigt und u. a. die Ge-
schichte jiidischer Lehrerseminare erforscht. Ein bisheriges Forschungsdesiderat, die
Geschichte der jiidischen Lehrer, wird nun durch eine umfangreiche Untersuchung von
Andreas Bramer, seit 2005 stellvertretender Direktor des Hamburger Instituts fur die Ge-
schichte der deutschen Juden, ausgefiillt.
Mit der iiberarbeiteten Fassung seiner 2004 am Historischen Institut der Universitat
Hamburg eingereichten Habilitationsschrift legt Bramer die erste detaillierte Untersu-
chung zur Geschichte der jiidischen Elementar- und Religionslehrer in PreuBen vor. Er
beschreibt ihren Verberuflichungs- und Professionalisierungsprozess vor dem Hinter-
grund der Geschichte des jiidischen und nichtjiidischen niederen Schulwesens im
rechtlichen, sozialen und religios-kulturellen Kontext. Beriicksichtigt werden Lehrer an
offentlichen und privaten Elementarschulen der jiidischen Gemeinden, sowie Privat-
lehrer in jiidischen Haushalten, nicht jedoch jiidische Lehrer an Mittel- und hoheren
Schulen. Bis in die 1870erjahre handelte es sich dabei um eine fast rein mannliche Do-
mane. Bramer schreibt den Lehrern eine zentrale Rolle im „Projekt der modernisieren-
den Transformation und Verbiirgerlichung der deutschen Juden" zu, die es erlaube, ih-
re Geschichte als „Indikator fiir den Erfolg der kulturellen Integrationsleistungen" (31)
heranzuziehen.
Derthematisch adaquate Zeitrahmen umfasst ein halbesJahrhundertEmanzipations-
und Akkulturationsgeschichte der deutschen Juden: Erbeginnt mit den preuBischen Mi-
nisterialerlassen der Jahre 1823/24, in denen erste Bemiihungen zur Durchsetzung der
allgemeinen Schulpflicht fiir jiidische Kinder und - zumindest im Ansatz - auch zur Ver-
besserung der Unterrichtsqualitat an jiidischen Schulen sichtbar werden. Am Ende ste-
hen die „Allgemeinen Bestimmungen, betreffend das Volksschul-, Praparanden- und
Seminar-Wesen" vom Oktober 1872, mit denen eine Hebung des allgemeinen Lernni-
veaus, eine partielle Entkonfessionalisierung der Volksschule und die Verbesserung der
Lehrerbildung angestrebt wurde. Damit begann eine neue Phase preuBischer Bildungs-
politik, in der endlich auch die jiidischen Bildungseinrichtungen und Lehrkrafte in den
Reformprozess einbezogen waren.
Das Untersuchungsgebiet umschlieBt den gesamten preuBischen Staat einschlieBlich
seiner territorialen Neuerwerbungen, wobei bei letzteren auch die vorpreuBische Ent-
wicklung skizziert wird. Bramer stellt in diesem Zusammenhang z.B. fiir Hannover er-
hebliche Unterschiede heraus, die auch nach der Annexion weiter Bestand hatten. Er
kann sich auf eine weit gefacherte Literatur stiitzen, die von lokal- und regionalge-
schichtlichen Untersuchungen fiber zeitgenossische standespolitische Schriften jiidi-
scher Lehrer bis zur Berichterstattung in der jiidischen Presse reicht. Zudem war der
Riickgriff auf ein umfangreiches Quellenmaterial moglich, darunter besonders Verwal-
tungsakten zum jiidischen Schul- und Unterrichtswesen in den preuBischen Provinzen
sowie Akten der jiidischen Gemeinden und jiidischen Verbande.
Im ersten der fiinf Hauptkapitel umreiBt Bramer die Ausgangssituation Anfang des
482 Besprechungen
19. Jahrhunderts. Zu dieser Zeit nahm erst ein kleiner Teil der jiidischen Schiller am Un-
terricht der allgemeinen (christlichen) Schulen teil. Die Masse besuchte noch die tradi-
tionellen Gemeindeschulen oder wurde durch Hauslehrer unterrichtet. Der Unterricht
beschrankte sich auf die iiberkommenen religiosen Themenfelder und wurde oft noch
in jiddischer Sprache gehalten. Fur die Kinderlehrer, die in PreuBen (und ganz Nord-
deutschland) hauptsachlich aus dem polnischen Judentum stammten, gab es weder eine
geregelte Ausbildung noch eine Uberpriifung ihrer beruflichen Eignung. Sie wurden -
besonders in Kleingemeinden und von Privatleuten - jeweils nur fur kurze Fristen einge-
stellt und schlecht entlohnt. Neben dem Unterricht waren sie zugleich als Vorsanger
(Kantoren) und Schachter tatig. Der preuBische Staat nahm noch keinen Einfluss auf die
jiidische Erziehung. ReformanstoBe aus dem Kreis der jiidischen Aufklarer fanden nur
wenig Resonanz.
Im zweiten Kapitel beschreibt Bramer die Entwicklung der rechtlichen Rahmenbe-
dingungen der Arbeitswelt der jiidischen Lehrer. Deutlich wird dabei, welch weiter Weg
zuriickzulegen war, bis ersten bildungspolitischen Postulaten auch Taten folgten. Der
preuBische Staat war nicht bereit, sich effektiv fur eine bessere Qualifikation der jiidi-
schen Lehrer zu engagieren; konnten und sollten die jiidischen Schulkinder doch die all-
gemeinen Volksschulen besuchen. Jiidische Lehrer blieben gegeniiber ihren christli-
chen „Kollegen" deutlich diskriminiert. Erhebliche Widerstande gegen Neuerungen
gab es zudem in den jiidischen Gemeinden, die die traditionellen Organisationsmuster
des jiidischen Bildungssystems gefahrdet sahen. Vielfach waren es die Bezirksbehorden,
die erste Initiativen entwickelten. Erst in den 1860erjahren sei der Stand erreicht wor-
den, dass annahernd alle jiidischen Lehrer iiber die padagogischen Mindestqualifikatio-
nen verfiigten.
Im dritten Kapitel geht es um die Bemiihungen zur Verbesserung der jiidischen Leh-
rerausbildung. Bramer stellt die Griindungsgeschichte und weitere Entwicklung der jii-
dischen Lehrerseminare in Berlin, Breslau, Miinster, Hannover, Kassel, Bad Ems und
Diisseldorf/Koln mit ihren unterschiedlichen Ausbildungskonzeptionen vor und ver-
weist auf erhebliche finanzielle, personelle und Qualitatsprobleme. Die Initiative zur
Griindung kam einzig aus padagogisch engagierten jiidischen Kreisen. Von Seiten des
Staates gab es weder Steuermittel noch andere Anreize zur Griindung, auch blieb den jii-
dischen Ausbildungsstatten die staatliche Anerkennung als priifungsberechtigte Haupt-
seminare versagt. Eine relativ privilegierte Stellung genossen die Seminare in Hannover
und Kassel.
Das vierte Kapitel beschaftigt sich detailliert mit der soziookonomischen Lage der
jiidischen Lehrer, die sich zwar nach und nach verbesserte, ohne jedoch eine Gleichstel-
lung mit den christlichen Kollegen zu erreichen. Die Lehrer blieben haufig auf Neben-
tatigkeiten zur Existenzsicherung angewiesen. Ihr wachsendes Selbstbewusstsein als
padagogische Experten und ihr Anspruch auf soziale Anerkennung kollidierten mit
einer weiterhin inferioren Stellung in der jiidischen Gemeinde. Uber die gesellschaftli-
che Wirkung der Lehrer iiber die Gemeinden hinaus kann Bramer nur wenig mitteilen.
Hier ware eine Auswertung der Lokal- und Regionalpresse sicherlich sinnvoll.
Die Diskrepanz zwischen eigenem Anspruch und soziookonomischer Lebenslage
war auch fur jiidische Lehrer der Stimulus zur berufsstandischen Solidarisierung. Das
fiinfte Kapitel beschreibt die miihevollen und von vielen Riickschlagen gekennzeichne-
ten Versuche zur beruflichen Selbstorganisation und Selbsthilfe durch Griindung von
Provinzialvereinen, einer spezifischen jiidischen Lehrerpresse und Unterstiitzungskas-
Wirtschafts- und Sozialgeschichte 483
sen. Eine flachendeckende Ausbreitung wurde nicht erreicht; weder entstand ein preu-
Bischer Landesverein noch eine deutschlandweite Verbindung. Zwar entwickelte sich
ein verstarktes Zusammengehorigkeitsgefiihl, aber nach auBen hatte man nur wenig Er-
folg in der Interessenvertretung zu verzeichnen.
In seinen Schlussbemerkungen fasst der Autor die Entwicklung bis zum Beginn des
Kaiserreichs noch einmal pragnant zusammen. Seine Bilanz: Im Prozess der Verbiirger-
lichung der deutschen Juden erfiillten die jiidischen Volksschullehrer „als Agenten des
administrativ verordneten Bildungsprojekts eine Vermittlungsfunktion, deren Bedeu-
tung nicht zu unterschatzen ist" (439 f.). Der Besuch der jiidischen Elementarschulen
nahm im Verlauf des 19.Jahrhunderts allerdings immer weiter ab, so dass diese um 1901
nur noch 12 % der jiidischen Schiiler in PreuBen beschulten. Uberproportional stieg
dagegen der Anteil judischer Schiiler an Mittel- und an hoheren Schulen. Bramers Ein-
schatzung, die jiidischen Elementarschullehrer seien „als Wegbereiter der Akkumula-
tion zu Opfern ihres eigenen Erfolges" geworden (442), wird durch diese Tatsachen re-
lativiert.
Bramer dokumentiert das von ihm erfasste Datenmaterial in 50 (!) Tabellen und legt
ein detailliertes Literatur- und Quellenverzeichnis vor. Die Register beriicksichtigen lei-
der nicht die FuBnoten, die u. a. viele noch weiter auszuwertende Hinweise auf einzelne
jiidische Lehrer und ihre wechselnden Wirkungsstatten enthalten.
Auch wenn in dieser Arbeit die rein preuBische Perspektive durch Einbeziehung der
neu erworbenen Provinzen durchbrochen wird, besteht bei ihrer Rezeption die Gefahr,
dass - ebenso wie bei vielen anderen Aspekten der deutsch-jiidischen Geschichte - zu
schnell von den preuBischen auf die gesamtdeutschen Verhaltnisse geschlossen wird. Es
gibt also fur die vergleichende Forschung noch viel zu tun. Dies gilt auch fur die vom Au-
tor bereits partiell angesprochene hannoversche Entwicklung, zu der noch viele Quellen
in niedersachsischen Archiven ihrer Auswertung harren. Andreas Bramer hat mit seiner
gehaltvollen Untersuchung hohe MaBstabe fur die weitere Forschung gesetzt!
Wardenburg Werner Meiners
Herges, Catherine: Aufklarung durch Preisausschreiben? Die okonomischen Preisfragen
der Koniglichen Societat der Wissenschaften zu Gottingen 1752-1852. Bielefeld: Ver-
lag fur Regionalgeschichte 2007. 270 S. Abb., graph. Darst. = Gottinger Forschungen
zur Landesgeschichte Bd. 11. Kart. 24,- €.
Die Verfasserin hat in ihrer Dissertation einen hochinteressanten Uberlieferungsstrang
untersucht, der es erlaubt, das wirtschaftliche und soziale Veranderungsdenken im Kur-
fiirstentum und Konigreich Hannover wahrend der entscheidenden Umbruchszeit von
1750 bis 1850 in den Blick zu nehmen und relativ haufig auch mit dem tatsachlich ablau-
fenden Modernisierungsgeschehen zusammenzusehen. Es handelt sich um im weiteren
Sinne okonomische Preisfragen, die ein Jahrhundert lang in der Regel zweimal im Jahr
in den Gottinger Gelehrten Anzeigen, dem Rezensionsorgan der Sozietat der Wissen-
schaften zu Gottingen, ausgeschrieben und deren daraufhin eingegangene Antworten
ebendort diskutiert und beurteilt sowie im Falle der Preiswiirdigkeit in der Wochenzeit-
schrift „Hannoversches Magazin" oder auch selbstandig veroffentlicht wurden.
Frau Herges hat zunachst anhand bisher kaum genutzter Quellen und daher auch mit
484 Besprechungen
neuen Ergebnissen die Umstande, in denen das Institut der okonomischen Preisfragen
entstanden ist und in der letzten Halfte des 18. sowie in der ersten des 19. Jahrhunderts
existiert hat, geklart: Kurz nach der Griindung der Sozietat der Wissenschaften zu Got-
tingen im Jahre 1750 und ganz ihrem Forschungsauftrag entsprechend hat der inner-
halb der Calenbergischen Landschaft in zahlreichen Funktionen, zuletzt als Landsyndi-
cus, tatige Albrecht Christoph von Wiillen die okonomischen Preisfragen dadurch ins
Leben gerufen, dass er, der das hannoversche Intelligenzkontor auf Pachtbasis betrieb
und also die Hannoverschen Anzeigen, die offiziose hannoversche Zeitung, und ihrwo-
chentliches Beiblatt, das Hannoversche Magazin, herausgab, aus seinem Vermogen den
Preis im Wert von zweimal jahrlich 12 Dukaten gestiftet und fur die Publikation der po-
sitiv bewerteten Antwortschriften gesorgt hat. Die Entscheidung iiber die Fragestellun-
gen und die Beurteilung der eingereichten Schriften lag dann jedoch bei der Sozietat
der Wissenschaften, die iiber beides in ihrem bereits genannten renommierten Publika-
tionsorgan berichtete und damit den Preisfragen weite Aufmerksamkeit in der wissen-
schaftlichen Welt und einen groBeren Kreis von Personen, der sich durch sie angespro-
chen fiihlen konnten, sicherte. In eigentumlicher Weise verbanden sich mithin in die-
sem Preisgeschehen private, politische und wissenschaftliche Impulse und Interessen,
die im verflochtenen hannoverschen Personennetzwerk bestanden. Sie haben schlieB-
lich auch darauf eingewirkt, dass sich fur das Unternehmen schnell feste Formen ausbil-
deten: Da namlich nicht nur die Sozietatsmitglieder, sondern auch A. v. Wiillen selbst
sowie namhafte andere Privatpersonen Vorschlage fur Fragen unterbreiten konnten,
waren diese haufig auf die Ltisung aktueller wirtschaftlicher und sozialer Probleme aus-
gerichtet, hatten also durchaus gemeinnutzige Absichten. Und dem entsprechend soil-
ten die nach einem bestimmten System anonym einzureichenden Antworten dann in
deutscher Sprache und aus pragmatischer Grundhaltung abgefasst sowie knapp und
konkret formuliert sein.
Schon aufgrund dieser Gegebenheiten bejaht die Verfasserin entschieden ihre
Grundfrage, ob das Institut der okonomischen Preisfragen einen Beitrag zur Aufklarung
geleistet habe. Sie scheint dann aber zu Recht doch daran zu zweifeln, dass die in der
Spataufklarung angestrebte Wirkung auf breitere Volksschichten, Volksaufklarung also,
auf dem Weg iiber die Beantwortung derartiger Preisfragen zu erreichen gewesen ist.
Und schlieBlich schieBt sie nach Auffassung des Rez. dann doch iiber das Begriindbare
betrachtlich hinaus und weist den okonomischen Preisfragen eine zu groBe Wirkung
und Bedeutung zu, wenn sie diese mehrfach als Schritt in die Ausbildung eines „burgerli-
chen Staates" und in die „Umformung seiner gesellschaftlichen Basis" (S. 94) bewertet.
Die lange Zeit bestehende Anfangskonstellation geriet dann aber mit dem Tode v.
Wiillens im Jahre 1789 in Bedrangnis. Und erst nach einer schwierigen Ubergangszeit
konnte mit der Ubernahme des Intelligenzkontors und seiner Publikationen in staatliche
Regie ab 1792 auch der finanzielle und verfahrensmaBige Fortbestand der Preisstiftung
als gesichert gelten. Indessen ist, wie Frau Herges nachweisen kann, seit 1815/16, mit
dem Aufbau des Konigreichs Hannover also, in den Fragestellungen ein bezeichnender
Wandel eingetreten. Kaum mehr standen sie namlich jetzt noch im Zusammenhang mit
den groBen wirtschaftlichen und sozialen Reform themen der Zeit, zunehmend zogen sie
sich vielmehr auf die Suche nach iiberzeugenden technisch-naturwissenschaftlichen
Losungen spezieller Fertigungs- oder Nutzungsverfahren zuriick. Und in der Mitte des
19. Jahrhunderts wurde das okonomische Preisausschreiben schlieBlich mit der Begriin-
dung ganz eingestellt, an der Gottinger Universitat bestunde jetzt auf den hauptsachlich
Wirtschafts- und Sozialgeschichte 485
in den Preisfragen angesprochenen Gebieten, im Bereich der Agrarokonomie und der
Volkswirtschaft, ausreichende Sachkompetenz und Forschungskapazitat und daher be-
diirfe es nicht mehr des Weges, iiber Preisfragen praktische Erkenntnisse und Erfahrun-
gen zu gewinnen.
Diesem institutionen- und personengeschichtlich ausgerichteten ersten Teil ihrer
Dissertation hat Frau Herges dann einen breite Kenntnis der wirtschaftliche und sozia-
len Probleme voraussetzenden zweiten folgen lassen, in dem sie die gestellten Fragen
und die auf sie ergangenen Antworten mit dem wirklichen Reformgeschehen im hanno-
verschen Staat konfrontiert und zusammengefuhrt hat. Da jedoch die Vielfalt des Frage-
und Antwortmaterials insbesondere auch angesichts des noch immer unbefriedigenden
wirtschaftsgeschichtlichen Forschungsstandes keineswegs ausgeschopft werden konnte,
hat sie sich zurecht schwerpunktmaBig auf das Veranderungsgeschehen im Bereich der
Landwirtschaft und auf den Wandel konzentriert, der auf dem sozialen Sektor vor sich
gegangen ist. Wie schwer der Verfasserin dann aber selbst die Bewaltigung dieser einge-
schrankten Untersuchungsfelder gefallen ist, zeigt ihre manchmal unsystematische Vor-
gehensweise, die nicht selten zudem die bereits eingeschrankte Thematik auch wieder
verlasst.
Was zunachst den Bereich der landwirtschaftlichen Neuerungen anbelangt, so hat
Frau Herges zu Anfang der 1760erjahre einen Fragenkomplex festgestellt, der um das
Gemeinheitsteilungs- und Verkoppelungsthema kreiste, jedoch bei der Beurteilung der
Antworten damals noch kein eindeutiges Ergebnis hervorgebracht hat. In den Missern-
te- und Teuerungsjahren 1771 bis 1773 wurde dann in mehreren Varianten die Frage ge-
stellt, ob freiem Kornhandel oder einer rechtzeitigen Kornmagazinierung nach preuBi-
schem Vorbild der Vorzug zu geben sei. Diese prinzipiell zugunsten des freien Kornhan-
dels entschiedene Frage stand dabei ganz konkret mit einem umstrittenen Kornankauf
der Calenbergischen Landschaft zum Zweck der Aufrechterhaltung des Branntwein-
brennens und des Geldzuflusses in die entsprechende landschaftliche Kasse in Verbin-
dung. 1772 gewann des Weiteren Westfeld die Preisfrage, ob es dem Staat Vorteile
brachte, wenn die Frondienste abgeschafft wiirden. Und tatsachlich sind daraufhin die
von den Bauern auf den hannoverschen Domanen in natura zu leistenden Herrendiens-
te zwischen 1774 und 1790 sukzessive in Geldzahlungen umgewandelt worden. Gegen
Ende des 18. Jahrhunderts machte schlieBlich eine Reihe wiederholter, nicht beantwor-
teter Fragen auf das Fehlen ausreichender statistischer Kenntnisse iiber Land und Leute
im Kurfiirstentum aufmerksam. Hier ist es dann der Verfasserin entgangen, dass es in
den 96 vom Kommerzkollegium 1786 gestellten Fragen durchaus ein Verfahren gege-
ben hat, durch das die wirtschaftlichen und sozialen Zustande auf der Ebene der Magi-
strate, Amter und Gerichte sehr detailliert fixiert worden sind. Und um dann vor allem
deutlich zu machen, dass sich die Sozietat der Wissenschaften zu Gottingen wederunter
franzosischer Herrschaft noch im Konigreich Hannover staatlichem Druck gebeugt hat,
hat Frau Herges auch nicht gezogert, ihre Betrachtung des Zusammenhangs zwischen
landwirtschaftlichem Reformdenken und -geschehen bald wieder zu verlassen, und fur
diese Zeit vor allem auf kritische Preisfragen wie die nach einer zweckmaBigen Modifi-
zierung der Zunftverfassung hingewiesen.
Auch ihr zweiter, den „sozialpolitischen" Neuerungen gewidmeter Teil des Versuchs,
Konzeptentwiirfe und konkretes Umsetzen zusammenzubringen, hat selten Zusammen-
hangendes und wenig Einheitliches ergeben: Hier erkennt sie ausgangs des 18. Jahrhun-
derts zwar eine Reihe detaillierter Fragen, die darauf abzielen, die Armenfiirsorge in
486 Besprechungen
Stadt und Land zu verbessern. Mit Ausnahme der vom Superintendenten Wagemann in
Gottingen initiierten Industrieschulbewegung vermag sie dann aber, da die sozialge-
schichtliche Erforschung des Kurfiirstentums noch sehr zuriickhangt, keine entspre-
chenden tatsachlichen Reformvorgange zu benennen. Dagegen diirfte die auf Credit der
Calenbergischen Landschaft 1766 begriindete Witwenverpflegungskasse und ihre wech-
selvolle Geschichte u. a. direkt auf eine Frage nach Vorschlagen zur Anlegung guter
Witwenkassen aus demjahre 1764 zuriickgehen. Und schlieBlich scheint auch konkreter
Wandel im lokalen Feuerloschwesen mit Klarungen in Verbindung zu stehen, welche die
Preisfragen der Jahre 1773 und 1774 hinsichtlich der Verbesserung der Feuerloschan-
stalten in den kleinen Stadten und auf dem Lande erbracht haben.
Frau Herges hat am Ende ihres Werkes in einem mehr als 40seitigen Anhang die oko-
nomischen Preisfragen und ihre Preistrager sowie die Veroffentlichungsstellen der Fra-
gen und der Berichte iiber die Beurteilungen und Preisverleihungen aufgelistet. Sie hat
damit der Forschung ein Material an die Hand gegeben, das iiber ihre Feststellungen
hinaus Aufschluss iiber vielfaltigen weiteren Wandel im Kurfiirstentum und Konigreich
Hannover, beispielsweise auf dem gewerblichen und technischen Sektor, zu geben ver-
spricht. Mit Recht und Entschiedenheit hat sie zudem im Verlauf ihrer Arbeit immer
wieder gegeniiber der alteren Forschung die Reformfahigkeit Hannovers betont. Diese
von der Verfasserin aufbereitete Quelle sollte kiinftig genutzt werden, um gerade diese
Thematik weiterzubehandeln und auf dem Weg der Zusammenfassung der einzelnen
Bausteine einer neueren Gesamtbeurteilung zuzufiihren.
Hannover Otto Merker
Hollandgang im Spiegel der Reiseberichte evangelischer Geistlicher. Quellen zur saisonalen Ar-
beitswanderung in der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts. Hrsg. von Albin Gladen,
Antje Kraus, Piet LouRENS,Jan Lucassen, Peter Schram, Helmut Talazko und Gerda
van Asselt. Minister: Aschendorff 2007. 2 Bde. XXXIII, 1225 S. Abb., Kt. = Ge-
schichtliche Arbeiten zur westfalischen Landesforschung: Wirtschafts- und sozialge-
schichtliche Gruppe Bd. 17. Geb. 98,- €.
Die Quellenedition der deutsch-niederlandischen Forschergruppe um die Historiker Al-
bin Gladen, Piet Lourens und Jan Lucassen gibt einen auBergewohnlichen Einblick in
ein spezifisches Migrationsphanomen - die Hollandgangerei. Diese besondere Form
saisonaler Arbeitsmigration hatte sich im 17. Jahrhundert aufgrund divergenter okono-
mischer Verhaltnisse in den Niederlanden und in den im Nordosten angrenzenden deut-
schen Gegenden herausgebildet. Prosperierende niederlandischen Stadte wie Amster-
dam, Rotterdam und Den Haag lockten mit einer boomenden Wirtschaft und guten Ver-
diensten und losten bei groBen Teilen der niederlandischen Landbevolkerung eine
Abwanderung aus den ruralen Regionen in die urbanen Zentren aus. Die entstandene
Liicke in der Landarbeiterschaft musste durch den Zuzug von nicht ortsansassigen Per-
sonen geschlossen werden. Diese Arbeitskrafte stammten aus grenznahen deutschen
Gebieten wie dem Miinsterland, Ostfriesland, dem Osnabriicker Raum oder dem Lip-
perland, aus Regionen, in denen der heimische Arbeitsmarkt iiberbesetzt war. Von Haus
aus mit landwirtschaftlichen und handwerklichen Tatigkeiten vertraut, zogen die Wan-
derarbeiter wahrend der Sommermonate iiber die Grenze, um in der niederlandischen
Wirtschafts- und Sozialgeschichte 487
Landwirtschaft zu arbeiten, die gute Erwerbsmoglichkeiten bot. Das Hauptziel der deut-
schen Wanderarbeiter - die Provinz Holland - gab dieser Migrationsbewegung den
Namen. Bis zum 19. Jahrhundert hatte sich zwischen den deutschen Herkunfts- und den
niederlandischen Arbeitsregionen ein ausgepragtes Informations- und Kommunikati-
onsnetzwerk herausgebildet. Die Hollandgangerei war fur viele Familien in den grenz-
nahen deutschen Gebieten zu einem entscheidenden okonomischen Faktor geworden,
da die Saisonarbeit in den Niederlanden einen wesentlichen Beitrag zum jahrlichen
Einkommen beitrug.
(Selbst-)Zeugnisse, die einen tiefgehenden Einblick in die Dynamik eines Wande-
rungsgeschehens geben, sind naturgemaB selten und meist nur durch zeitintensive Re-
cherche zu erschlieBen. Daher ist diese Quellenedition, die 129 Berichte evangelischer
Geistlicher chronologisch von 1849 bis 1893 zusammenfuhrt, besonders wertvoll. Die
Reiseberichte der Geistlichen, die sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts der religiosen
Betreuung der Hollandganger widmeten und ihre Mitteilungen an den Zentralausschuss
der Inneren Mission sandten, bilden nicht nur die Reisetatigkeit und den seelsorgeri-
schen Alltag ab und sind nicht nur aus kirchen- und frommigkeitsgeschichtlicher Per-
spektive (Erweckungsbewegung/Innere Mission) interessant. Ungeachtet ihrer geistli-
chen Pragung, beinhalten die Aufzeichnungen Informationen iiber die allgemeine Le-
benssituation der Migranten, mit denen die Seelsorger gemeinsam Andachten abhielten
und fur die sie wichtige Verbindungsglieder zwischen dem Arbeitsplatz in den Nieder-
landen und der Heimat in den deutschen Regionen darstellten. Sie berichten sowohl
iiber politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Zustande und Entwicklungen in
den Niederlanden als auch iiber Alltaglichkeiten wie das Wetter oder die Versorgungssi-
tuation der Wanderarbeiter. In migrationsgeschichtlicherHinsicht eroffnen die Berichte
einen seltenen detaillierten sozial- und alltagsgeschichtlichen Einblick in das regionale
wie internationale Migrationsgeschehen der Hollandgangerei.
Die Edition zeichnet sich durch einen sorgfaltigen Umgang mit dem Quellenmaterial
aus. Zwar ist das sprachliche Erscheinungsbild der Berichte behutsam aktualisiert, Wort-
und Satzbild sind dagegen beibehalten. Niederlandische Texte finden sich sowohl im
Original als auch in der deutschen Ubersetzung. Der umfangreiche Anhang gibt Infor-
mationen iiber die Verfasser der Quellen und ermoglicht auch dem theologisch unsiche-
ren Leser durch die Auflistung von Bibelzitaten, geistlicher Lieder und Festtagen einen
erweiterten Zugang zu den Reiseberichten. Karten, Bilder und Ortsregister vervollstan-
digen diese nicht nur fur die historische Migrationswissenschaft oder die Regional- und
Landesgeschichte gewinnbringende Edition, die in erster Linie einen neuen und diffe-
renzierten Blick auf einen bereits gut erforschten Ausschnitt deutscher Migrationsge-
schichte bietet. Sie verfiigt jedoch zusatzlich iiber eine hohe Aktualitat. Angesichts der
gegenwartig nicht nur in Deutschland und Europa hohen Zahlen von Arbeitsmigranten,
der anhaltenden Diskussion iiber Pendlerpauschale und Mobilitat von Arbeitskraften
und die wiederholt geauBerte Notwendigkeit zur nachhaltigen Flexibilitat auf dem Ar-
beitsmarkt, kann das Beispiel der Hollandganger im Spiegel der Reiseberichte evangeli-
scher Geistlicher die Gelegenheit eroffnen, an einem historischen Fall aktuellen gesell-
schaftsokonomischen Fragestellungen nachzugehen.
Gottingen Sabine Heerwart
488 Besprechungen
Schroder, Ulrich: Rotes Band am Hammerand. Geschichte der Arbeiterbewegung im
Landkreis Osterholz von den Anfangen bis 1933. Bremen: Donat-Verlag 2007. 479 S.
Abb., graph. Darst, Kt. Geb. 32,- €.
Die Geschichte der Arbeiterbewegung in landlichen Regionen ist von der Geschichts-
wissenschaft in den letzten Jahren und Jahrzehnten eher stiefmiitterlich behandelt wor-
den. Umso bemerkenswerter ist deshalb die Studie „Rotes Band am Hammerand", in
der die Entwickhmg der lokalen und iiberortlichen Gliederungen der Arbeiterparteien
und der Gewerkschaften sowie die Lebensumstande und besondere Alltagsprobleme
der Arbeiterschaft im nordostlich an die Hansestadt Bremen angrenzenden Landkreis
Osterholz seit dem Beginn der Industrialisierung in diesem Gebiet in den 1860erjahren
bis zur nationalsozialistischen Machtiibernahme im Jahre 1933 nachgezeichnet werden.
Sie iiberzeugt nicht nur inhaltlich als materialgesattigte, akribisch recherchierte Unter-
suchung, sondern auch stilistisch als durchweg leserfreundliche, iiber weite Strecken
spannend geschriebene Darstellung, in der sich die padagogische und didaktische Kom-
petenz des Autors widerspiegelt, der seit Ende der 1970erjahre als Geschichtslehrer an
den berulsbildenden Schulen in Osterholz-Scharmbeck tatig ist und 2006 fiir die Betreu-
ung regionalgeschichtlicher Schiilerprojekte mit dem ersten Preis der Henning von
Burgsdorff - Stiftung ausgezeichnet wurde.
In seiner Studie, fiir die er eine Fiille von Materialien unterschiedlicher Provenienz
(vom Protokollbuch des Osterholzer Gewerkschaftskartells iiber amtliches Schriftgut
und private Deposita im Kreisarchiv Osterholz und den Staatsarchiven in Stade, Hanno-
ver und Bremen, die einschlagigen Jahrgange ortlicher und regionaler Tages- , Partei-
und Gewerkschaftszeitungen bis hin zu Unterlagen aus Privatbesitz und Zeitzeugenin-
terviews) herangezogen hat, begniigt sich Ulrich Schroder nicht damit, wesentliche
Etappen und besondere Ereignisse in der Geschichte der Osterholzer Arbeiterbewe-
gung zu schildern. Er ordnet diese vielmehr in die regionalen und iiberregionalen politi-
schen Ablaufe ein und den fiir den Zeitraum seit Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Un-
tergang der Weimarer Republik pragenden Tendenzen der wirtschaftlichen und gesell-
schaftlichen Entwicklung zu. Auf diese Weise kann er iiberzeugend herausarbeiten, wie
sich die „groBen" Geschichte auf ortliche Ablaufe auswirkte bzw. wie entsprechende
Vorgange und Ereignisse vor Ort „verarbeitet" wurden. Dabei erweist sich der Kreis
Osterholz vor allem aus zwei Griinden als ein besonderes, aber auch besonders interes-
santes Untersuchungsfeld: Zum einen waren viele Osterholzer Arbeiter auf den Werften
und in anderen Industriebetrieben im benachbarten Bremen beschaftigt, wo fiihrende
Vertreter der „radikalen Linken" wahrend des Ersten Weltkriegs eine Mehrheit der orga-
nisierten Arbeiterschaft hinter sich versammeln konnten und nach Kriegsende die Bre-
mer Raterepublik errichteten, die Anfang Februar 1919 von Truppen der Reichswehr
und Freikorpsverbanden mit Waffengewalt liquidiert wurde. Zum anderen bildete sich
auf dem Barkenhoff in Worpswede eine kommunistische Zelle besonderer Art, deren
Existenz vor allem in den ersten Wochen und Monaten nach Ende des Ersten Weltkriegs
nicht zuletzt wegen Heinrich Vogelers Tatigkeit als Pressekommissar des Osterholzer
Arbeiter- und Soldatenrates1 auf das Kreisgebiet ausstrahlte.
1 Vgl. Ulrich Schroder: Heinrich Vogeler als Pressekommissar des Arbeiter- und Solda-
tenrats Kreis Osterholz. Dokumentation einer Artikelserie vomjanuar 1919, in: Arbeiterbewe-
gung und Sozialgeschichte, H. 18/Dezember 2006, S. 91 ff.
Wirtschafts- und Sozialgeschichte 489
Ulrich Schroder hat seine Studie grundsatzlich chronologisch strukturiert: Einem
kompakten Abriss zur Formierung und Entwicklung der sozialdemokratischen Arbeiter-
bewegung im Kreis Osterholz wahrend des Kaiserreichs bis zum Beginn des Ersten
Weltkriegs (S. 21-34) folgt eine ausfiihrlichere Skizze zur organisatorischen Entwicklung
der Arbeiterbewegung und zu den alltaglichen Lebensbedingungen der Arbeiterschaft
wahrend des Ersten Weltkriegs (S. 35-69) . AnschlieBend werden in drei Kapiteln, die zu-
sammen gut drei Viertel des Gesamtumfangs der Darstellung ausmachen, der Zeitraum
von der Novemberrevolution 1918 bis zur „relativen Stabilisierung" der Weimarer Repu-
blik im Fruhjahr 1924 (S. 70-206) , die Jahre der „relativen Stabilisierung" bis Ende 1929
(S. 207-263) und die letzten Krisenjahre der Republik bis zu ihrem Untergang im Fruh-
jahr 1933 einschlieBlich eines kurzen Ausblicks auf die Zerschlagung und Verfolgung
der organisierten Arbeiterbewegung und deren sich formierenden Widerstand gegen
die nationalsozialistischen Machthaber (S. 264-343) abgehandelt. Jedes dieser Kapitel
ist systematisch untergliedert, indem dem sozialdemokratischen und dem kommunisti-
schen Lager sowie den Gewerkschaften eigene Abschnitte gewidmet sind, die durch in
sich geschlossene Ausfiihrungen zu besonderen Sachthemen, z.B. „Politischer Protest,
soziale Bewegungen und immer wieder die Kleinarbeit" (S. 168-206) oder „Soziale Ver-
elendung und politische Polarisierung in der Wirtschaftskrise" (S. 264-278) erganzt wer-
den. Jeden dieser Abschnitte beschlieBen kompakte Zusammenfassungen, die es nicht
nur einem ,fluchtigen' Leser erlauben, sich schnell iiber die wesentliche Ergebnisse von
Schroders Untersuchung zu informieren, sondern auch fur ,ausfuhrliche' Leser eine will-
kommene Hilfestellungbieten, angesichts der Vielzahl von Personen undje spezifischen
Vorgange in den einzelnen Ortschaften, die zwangslaufig in dieser Studie Erwahnung
finden mussten, den Uberblick iiber die „groBen Linien" der Entwicklung zu behalten.
Ein gut 80 Seiten starker Anmerkungsapparat sowie ein ausfiihrlicher Anhang mit 24 Ta-
bellen und 4 Grafiken zu partei- und sozialstatistischen Daten, dem obligatorischen Ab-
kiirzungs-, Quellen- und Literaturverzeichnis sowie einem Personen- und einem Ortsre-
gisterkomplettieren diesen Band, der mit insgesamt 27Fotografien und Faksimiles leider
etwas „sparsam" illustriert ist.
In seinem Geleitwort (S. 16f.) stellt der friihere niedersachsische Kultusminister Rolf
Wernstedt zutreffend heraus, dass Ulrich Schroder „ein wichtiges Stuck deutscher Ge-
schichte am Beispiel einer Region fabelhaft aufgearbeitet und durchschaubar gemacht"
habe. Seine Studie sei eine „historische Fundgrube: kein antiquiertes Geschichtsbuch,
sondern ein Angebot zu verstehen, warum die Geschichte so verlaufen ist wie geschehen
und warum es auch auf die sogenannten ,kleinen Leute' ankommt." Dem hat der Rezen-
sent nichts hinzuzufiigen auBer dem Wunsch, dass dieser Band nicht nur im Kreis Oster-
holz, in Bremen und in den an den Kreis Osterholz angrenzenden Landstrichen des El-
be-Weser-Dreiecks, sondern auch uberregional viele Leser findet, die sich „ausfiihrlich"
auf Ulrich Schroders beeindruckende Studie einlassen.
Lilienthal Karl-LudwigSoMMER
490 Besprechungen
Siedburger, Giinther: Zwangsarbeit im Landkreis Gottingen 1939-1945. Hrsg. vom Land-
kreis Gottingen. Duderstadt: Mecke-Druck 2005. 571 S. Abb. Geb. 29,95 €.
Drei Jahre, nachdem Giinther Siedbiirger nach 18monatiger Bearbeitungszeit (S. 5) -
mit dem Besuch von 40 Archiven und 14 Gesprachspartnern, der Erfassung von ca.
14.700 Namen (S. 14) und der Versendung von Fragebogen (S. 15) - dem Auftraggeber
Landkreis Gottingen 2002 das Ergebnis seiner Arbeit vorgelegt hatte, erschien ein sei-
tenstarkes Buch.
Unter dem Thema „Zwangsarbeit" ist in dem knapp bemessenen Bearbeitungszeit-
raum eine Art Dokumentation iiber im - heutigen - Landkreis Gottingen eingesetzte
Zivilarbeiter entstanden. Auf fast jeder Seite wird aus Akten und Berichten zitiert, in die
zuvor eingefiihrt wird und die danach wieder kommentiert werden. (Bereits Uberschrif-
ten der Abschnitte und Unterabschnitte werden mit einem Zitat eingeleitet.) Nach
einem Blick auf die rechtliche Situation auslandischer Arbeiterinnen und Arbeiter
(S. 19-33) und deren Weg iiber Anwerbung oder Deportation nach Siidniedersachsen
(S. 34-69) ist der Arbeitseinsatz der Zivilarbeiterinnen und Zivilarbeiter in den Altkrei-
sen Gottingen, Miinden und Duderstadt nach Wirtschaftsbereichen (S. 70-362) geglie-
dert: 1. Landwirtschaft (unterteilt nach Beispielen aus kleinen Betrieben, einem groBen
Betrieb und Landwirtschaftslagern in Duderstadt), 2. Forstwirtschaft (getrennt nach
Dauer- und Saisonbeschaftigung), 3. Steinbriiche, 4. Handwerk (mit der Thematisie-
rung von Arbeitskraftemangel und Arbeitskrafteverschiebung, materielle und psychi-
sche Situation, Verbindung zum Widerstand und einem „Beschaftigungsmodell", der
Schuhreparaturwerkstatt), 5. Hauswirtschaft, 6. Industrie (anhand von Beispielen aus
Miinden, Duderstadt und 19 Landgemeinden) und 7. der Eisenbahnbereich (mit Bei-
spielen aus Ausbesserungswerken und Einsatzstellen, aber auch zu Arbeitsvertragsbrii-
chen und zum Leben in einem Lager). Es schlieBt eine kurz gehaltene Darlegung der
Gesundheitssituation an (S. 363-383), bevor die Dokumentation zu Bedrohung und
Verfolgung breiteren Raum einnimmt (S. 384-510) und von Kontrolle, Einschrankun-
gen, Dauerrepressalien, Bedrohung, Misshandlung - mit mehr als 50 Seiten zum „Fall
Himmingerode" (bis zur Einstellung wegen Verjahrung 1954) -, Fluchtversuchen, BuB-
geldern, Haft in Polizei- und Gerichtsgefangnissen, Arbeitserziehungslagern (AEL Brei-
tenau, Lager 21, Liebenau, Lahde) und KZ, Hinrichtungen sowie Bestrafung von Ein-
heimischen, besonders wegen „verbotenem Umgangs", berichtet; abschlieBend wird
knapp die Befreiung belegt (S. 511-517).
Im 14seitigen „Uberblick: Zwangsarbeit auf dem Gebiet des heutigen Landkreises
Gottingen" (S. 70-83) finden sich Diagramme zu Herkunftslandern, Geschlecht, Einsatz-
bzw. Arbeitsbereich, Altersstruktur, Ankunft und Aufenthaltsort. Wahrend im Abschnitt
zum „Weg nach Siidniedersachsen" auf Arbeitskrafte aus vier Landern (Polen, Ostarbei-
ter, Niederlander und Italiener) eingegangen wird, zeigen die Diagramme auch die wei-
teren Herkunftslander oder Nationalitaten; warum in einigen UdSSR und Ukraine oder
auch Jugoslawien: Serbien und Slowenien gesondert in den Diagrammen erscheinen,
bleibt unerklart.
In der 16seitigen „Ubersicht iiber Lager von auslandischen Zivilarbeitern auf dem
Gebiet des heutigen Landkreises Gottingen 1939-1945" (S. 84-98) sind die Orte aufge-
listet, in denen sich Zivilarbeiterlager befanden, mit Angaben zu Standort, Belegung und
Arbeitseinsatz; unter Bemerkungen finden sich diverse weitere Informationen und in
der letzten Spalte die Quellenbelege; nicht beriicksichtigt wurde die Zeit des Bestehens
Wirtschafts- und Sozialgeschichte 491
bzw. gleichzeitige oder auf einander folgende Belegung des Lagers. Eine zweite, vier-
spaltige Ubersicht (S. 154-159) erfasst „gro6e landwirtschaftliche Betriebe in der Re-
gion", aul denen „zehn oder mehr auslandische zivile Zwangsarbeiter" beschaftigt und
auch untergebracht waren. Am Ende des Buches (S. 550-571) sind in einer Liste die wah-
rend ihres Zwangsarbeitseinsatzes im Bereich des heutigen Landkreises Gottingen Ver-
storbenen genannt, geordnet nach Sterbetag/4. Spalte mit ausliihrlichen Angaben in
insgesamt neun Spalten.
Im Anhang gibt es diverse, iibliche Verzeichnisse, wobei im Quellenverzeichnis nur
die ungedruckten zu finden sind, die gedruckten hingegen im Literaturverzeichnis, und
ein Ortsregister. AuBer20 Diagrammen enthalt das Buch 120 Abbildungen, Dokumente
wie Fotos, darunter personliche und Passlotos, die Menschen wie du und ich zeigen,
wenn sie nicht mit P- und Ost- Abzeichen gebrandmarkt waren.
Wenn im Vorwort auf das mit diesem Buch bekannt gewordenes bislangjedoch unge-
kanntes AusmaB der Zwangsarbeit im Landkreis Gottingen (S. 5) gewiesen wird, ist dies
eher in ein verdrangtes AusmaB umzuwandeln. Wenn auch Ortsgeschichten lange die
NS-Zeit weitgehend ausblendeten, nicht aberbei Kriegsende plotzlich pliindernde Aus-
lander (und diese Diskrepanz unerklart blieb) und sich dies erst seit den 1980erjahren
anderte, so gibt es doch Veroffentlichungen, die auf Zwangsarbeiterlager auch in Siid-
niedersachsen hinweisen, wie den „Catalogue of Camps and Prisons in Germany an
German-occupied Territories 1939-1945", den Martin Weinmann als „Das national-
sozialistische Lagersystem" 1990 herausgegeben hat oder die beiden Niedersachsen
betreffende Bande des „Heimatgeschichtlichen Wegweisers zu den Statten des Wider-
standes und der Verfolgung 1933-1945" (1984, 1986), aber auch die Zwangsarbeiterlager
enthaltene Karte „Niedersachsen 1933-1945" im Geschichtlichen Handatlas von Nie-
dersachsen (1989). Diese drei, die nicht im Literaturverzeichnis erscheinen, deuten
schon an, dass wahrend des 2. Weltkrieges fast in jedem Dorf auslandische Arbeitskrafte
zwangsweise eingesetzt waren.
Die vorgelegte Veroffentlichung gibt zum einen den Opfern - 29 und 15, deren Be-
richte von dritter Seite zur Verfugung gestellt worden sind, kommen zu Wort (S. 531 f.) -
nicht nur ihre Stimme zuriick (S. 5), sondern macht in einer Art Gedenken ihr lange vor
Ort verdrangtes Leiden offentlich, zum anderen macht sie der Forschung Dokumente
zur weiteren Auswertung zuganglich.
Bovenden Gudrun Pischke
KIRCHEN-, GEISTES- UND KULTURGESCHICHTE
Fiegert, Monika und Karl-Heinz Ziessow: „. . . die ganze Schopfung auszuspahen . . .".
Evangelische Gemeinden im Osnabriicker Land aus der Sicht ihrer Seelsorger am Be-
ginn einer neuen Zeit (1801-1808). Osnabriick: Verein fiir Geschichte und Landes-
kunde Osnabriick 2007. 287 S. Abb. = Osnabriicker Geschichtsquellen und Forschun-
gen Bd. 49. Geb. 22,- €.
Im Abstand von genau zweihundert Jahren erfreut sich die napoleonische Epoche der-
zeit groBer Aufmerksamkeit. Eine zunachst entlegen erscheinende, aber aufschluss-
reiche und sogar unterhaltsam zu lesende Quelle haben kiirzlich Monika Fiegert, Er-
ziehungswissenschafderin an der Universitat Osnabriick, und Karl-Heinz Ziessow,
Historiker und Kustos am Museumsdorf Cloppenburg, ediert. Dabei handelt es sich um
Pfarrberichte an das evangelische Konsistorium in Osnabriick, verfasst in den Jahren
1804 bis 1808, aus den Kirchengemeinden im Osnabriicker Land (ohne die Stadt Os-
nabriick, aber einschlieBlich der wegen des Amtes Reckenberg abhangigen Pfarren Gii-
tersloh und Friedrichsdorf). Die Originalschreiben sind im Staatsarchiv Osnabriick
erhalten.
Veranlasst wurden die Berichte durch eine Rundverfiigung des evangelischen Kon-
sistoriums aus demjanuar 1804 (S. 47f.), wonach die Pastoren jahrlich eine „historische
Nachricht von den wichtigsten Begebenheiten, welche in ihrer Gemeinde und in der
Nachbarschaft derselben vorgefallen sind", einzusenden hatten. Das erste Schreiben
sollte die Ereignisse seit 1801 umfassen. Leider sind nur aus einem Teil der Gemeinden
wirklich jahrliche Schreiben eingegangen, aus anderen sporadisch oder gar nicht. Der
anscheinend vollstandigen Uberlieferung zufolge haben zehn Pfarrer die zusatzliche
Dienstaufgabe ganz ignoriert, so dass aus deren Gemeinden keine Berichte vorliegen
(Barkhausen, Bippen, Buer, (Bad) Essen, Fiirstenau, Hilter, Ippenburg, Lintorf, Neuen-
kirchen/Vorden, Oldendorf) und die dortige Lokalforschung auf diese Quelle verzich-
ten muss.
Mit Hilfe der Pfarrberichte wollte sich die vorgesetzte Kirchenbehorde eine „vollstan-
dige Ubersicht von den Angelegenheiten der Kirche und Gemeinde" verschaffen und
nicht zuletzt Verbesserungsvorschlage fiir „niitzliche Einrichtungen und Anstalten" er-
halten. Statt die anzusprechenden Themen in Form eines Fragebogens vorzugeben, ent-
hielt das Reskript nur einige recht vage Angaben fiber die gewiinschten Inhalte: die Per-
sonen, die sich um Kirche, Schule und Gemeinde verdient gemacht haben, „Fortschritte
in niitzlichen Kenntnissen", „mindere oder mehrere Cultur und Moralitat", „vermehrte
oder verminderte Population" sowie allgemein die Forderung von Religion und Chris-
tentum sowie der christlichen Tugenden, insbesondere bei der Erziehung der Jugend.
Dementsprechend sind die Berichte je nach Neigung der Pfarrer unterschiedlich ausge-
fallen und lassen iiberhaupt neben den Sachinformationen die personliche Sicht der Be-
richterstatter deutlich hervortreten.
Einzelne Geistliche freuten sich offenbar fiber die Gelegenheit, ihre Beobachtungen
und Meinungen ausfiihrlich auBern zu konnen. Der Pastor in Vorden fiigte sogar eine
Kirchen-, Geistes- und Kulturgeschichte 493
„nahere Characteristic der einzelnen Haushaltungen" bei, in denen er Mann und Frau -
gottlob anonym - hinsichtlich ihrer „guten und schlimmen Eigenschaften", der eheli-
chen Vertraglichkeit, der Kinderzucht und des Vermogensstandes einer schonungslosen
Beurteilung unterzog (S. 149-161) . Demgegeniiber bequemte sich der Menslager Pfarrer
erst auf Nachfrage zu einem durchweg sarkastisch gehaltenen Bericht, in dem er einlei-
tend auf die zahlreichen Bogen schon geleisteter Berichterstattung in den verschieden-
sten Angelegenheiten verwies. Daher wisse er nicht, was er „erhebliches und lesenswiir-
diges von einem so kleinen Puncte der Erde, wie Badbergen ist, ferner schreiben soll(e) "
(S. 263).
Doch fiel es den meisten Kollegen anscheinend weniger schwer, die Seiten zu fiillen:
In aller Regel wird ein breites Themenspektrum abgehandelt, das iiber das im engeren
Sinn kirchliche und schulische Leben hinaus wesentliche weltgeschichtliche Ereignisse
und das gesamte aufklarerische Programm des gerade vergangenen 18. Jahrhunderts
spiegelt. Die Fiille der Einzelheiten sei hier nur mit einigen Stichworten umrissen:
Durchzug franzosischer Truppen, Teuerung, Armenwesen, Bettelei, Markenteilungen,
Witterung, Ungliicksfalle, Krankheiten und Impfungen, Bevolkerungsstatistik, verdien-
te Verstorbene aus der Gemeinde, Kirchhofe, konfessionelle Streitigkeiten, notwendige
Bau- und ReparaturmaBnahmen, Kirchen- und Schulbesuch, Bildungsstand, „Morali-
tat" und „Luxus" der Landbevolkerung.
In erster Linie kommen die Berichterstatter also in ihrer Rolle als Angehorige der
schmalen Bildungsschicht auf dem Lande zu Wort, als mehr oder weniger iiberzeugte
Volksaufklarer, die sich fur das fortschreitende Wohlergehen ihrer Gemeindemitglieder
in einem umfassenden Sinn mitverantwortlich fiihlen. Dem Studium und Beruf der Ver-
fasser entsprechend, lassen die Texte aber auch theologische Positionen und die damals
vorherrschenden Denkstromungen und Schlagworte erkennen. Wahrend sich Pastor
Block in Bramsche freut, „Kopfhangerey und Pietismus" aus friiheren Zeiten „ganz ver-
schwunden" zu sehen, so dass jeder „als Christ und rechtschaffener Mensch die Freuden
des Lebens genieBen diirfe" (S. 79), und Pastor Meyer in Neuenkirchen bei Melle die
„dumpfe Stille" beklagt, die dort von der „pietistische(n) Stimmung" noch verbreitet
werde (S. 119), kann deren Kollege Hambach in Hoyel, aus dem benachbarten Minden-
Ravensberg stammend, seine tiefe Verwurzelung in der dort besonders verbreiteten
Erweckungsbewegung keineswegs verleugnen.
Den edierten Texten sind, nach einer kurzen Erlauterung der Formalien, ungewohn-
licherweise zwei voneinander unabhangige einfiihrende Aufsatze der Bearbeiter voran-
gestellt, die schwerpunktmaBig die Spiegelung der aufklarerischen Inhalte in der Eigen-
art der Quelle (Fiegert) bzw. die Rahmenbedingungen der Existenz von Pfarrern und
Lehrern in ihren Kirchspielen (Ziessow) in den Blick nehmen. Uber die politik- und
verwaltungsgeschichtlichen Zeitumstande informiert zusatzlich das Vorwort von Birgit
Kehne, der Vorsitzenden des Vereins fur Geschichte und Landeskunde von Osnabriick,
in dessen Veroffentlichungsreihe die Edition erschienen ist. Ein Pastorenverzeichnis so-
wie ein Oris-, Personen- und Sachindex am Ende tragen zur leichten Benutzbarkeit des
Werkes bei.
Osnabriick Nicolas Rugge
494 Besprechungen
Frommigkeit oder Theologie. Johann Arndt und die „Vier Biicher vom wahren Christen-
tum". Hrsg. von Hans Otte und Hans Schneider. Gottingen: V&R unipress 2007.
435 S. Abb. = Studien zur Kirchengeschichte Niedersachsens Bd. 40. Geb. 56,- €.
Der 450. Geburtstag Johann Arndts, des popularsten Erbauungsschriftstellers des deut-
schen Protestantismus, und die 400. Wiederkehr des Erscheinens des ersten Bandes sei-
nes bedeutendsten Werks, der „Vier Biicher von wahrem Christentum", waren 2005
Anlass zu mehreren Tagungen sowie einigen Publikationen. Als Frucht eines Wolfen-
biitteler Kolloquiums, zu dem sich 2005 viele versammelt hatten, die in den vergange-
nen Jahren, teilweise sogarjahrzehnten mit eigenen Arndt- Forschungen hervorgetreten
sind, ist 2007 ein theologisch und kirchengeschichtlich ausgerichteter Sammelband er-
schienen, der schon durch seine Titelformulierung zum Nachdenken anregt: „From-
migkeit oder Theologie". Verbreitet in der protestantischen Literaturproduktion
Deutschlands sind Titel wie „Frommigkeit und Theologie" sowie „Theologie und From-
migkeit". Die Gegeniiberstellung der beiden Stichworte ist auBergewohnlich und weist
auf unterschiedliche Perspektiven der Arndt-Betrachtung hin: Ist er als Erbauungs-
schriftsteller zu betrachten oder als Theologe? Nur sekundar von Gewicht ist in diesem
Zusammenhang die Tatsache, dass Arndt kein abgeschlossenes Theologiestudium vor-
zuweisen hatte (vgl. 15), denn das war damals nicht untypisch. Auch Melanchthon,
Zwingli und Calvin waren Theologen ohne abgeschlossenes oder sogar ganz ohne
Theologiestudium.
Freilich wird mit dem Begriffspaar und der Gegeniiberstellung eine Alternative mar-
kiert, die es in Wirklichkeit nicht gibt. Theologie und Frommigkeit gehoren untrennbar
zusammen, in der Gegenwart ebenso wie in der Zeit des Johann Arndt. Zwar hielt Arndt
Theologen seiner Zeit Defizite im Bereich der Frommigkeit vor, und der spatere, sich auf
Arndt berufende Pietismus schuf das Klischee einer fur das orthodoxe Zeitalter angeb-
lich charakteristischen frommigkeitsfernen Theologie, doch die Wirklichkeit sah anders
aus. Dass die orthodoxen Theologen, die Arndt-Feinde ebenso wie die Pietismus-Geg-
ner, durchweg fromme Menschen waren, wird heute niemand mehr bestreiten. Die Fra-
ge lautet nicht: Frommigkeit oder Theologie?, sondern: Welche Frommigkeit und wel-
che Theologie? Und dariiber wurde auf dem Wolfenbiitteler Kolloquium auch tatsach-
lich gestritten.
Es gibt keine Theologie ohne Frommigkeit und es gibt keine Frommigkeit ohne Theo-
logie. Die Theologie griindet immer auf religiosen Erfahrungen und somit auf Frommig-
keit. Eine Theologie ohne Bezug zur Frommigkeit ware keine Theologie, sondern Religi-
onsphilosophie. Gleichzeitig beeinflusst und verandert die Theologie aber auch die
Frommigkeit, wirkt auf diese zuriick. Eine vollig von Theologie geloste Frommigkeit ist
- im Christentum zumindest - nicht denkbar, weil es das Christentum von seinen
Grundlagen her immer mit dem gesprochenen und geschriebenen Wort zu tun hat und
somit mit Sprache, Verstand und Intellektualitat.
Dass es Arndt um die Pragung und Forderung der Frommigkeit ging, ist unstrittig.
Unstrittig sollte auch sein, dass er als Theologe anzusehen und ernst zu nehmen ist. Strit-
tig ist die Frage, auf welcher Grundlage und im Rahmen welcher Theologie Arndt sein
Frommigkeitsprogramm entwickelt hat. Stand er voll und ganz und ohne Abstriche auf
der Basis der Reformation Luthers und der im Anschluss an Luther entwickelten protes-
tantischen Theologie, oder war er in Wirklichkeit in der vor- und auBerreformatorischen
Theologie der Mystik und des Spiritualismus verankert? Die unterschiedlichen Sicht-
Kirchen-, Geistes- und Kulturgeschichte 495
weisen der Arndtschen Theologie kamen schon zu Lebzeiten Arndts auf und reichen
durch die Geschichte hindurch bis in die Gegenwart. Sie finden sich auch in dem zu be-
sprechenden Sammelband wieder.
Ein Teil der Autoren bietet eine lutherisch-orthodoxe, ein Teil eine spiritualistisch-he-
terodoxe Interpretation des zuletzt (1611-1621) in Celle und in kirchenleitender Funkti-
on wirkenden Arndt. Da die meisten Autoren einen hermeneutischen Zugriff wahlen
und ihre jeweilige Position aus der Interpretation von Arndt-Texten folgern, steht letzt-
lich Aussage gegen Aussage, Argument gegen Argument und Interpretation gegen In-
terpretation, und als Erkenntnisgewinn bleibt dem Leser: Man kann Arndt mit guten
Grunden so oder so interpretieren, sein schriftliches Werk hat offenbar einen schillern-
den, einen mehrdeutigen Charakter. Uber dieses interpretatorische Patt hinaus fiihrt ei-
gentlich nur ein einziger Aufsatz: Carlos Gillys beinahe vierzig Seiten zahlende Ab-
handlung iiber den „philosophische[n] Hintergrund von Johann Arndts Friihschrift ,De
antiqua philosophia et divina veterum Magorum Sapientia recuperanda' " von ca. 1596,
vom Verfasser, einem an der Universitat Basel wirkenden Historiker, mit der Alternative
„Hermes oder Luther" iiberschrieben. Gilly interpretiert nicht einfach nur die bekann-
ten Arndt-Texte, sondern sucht, und das mit Erfolg, die Quellengrundlage der Arndtfor-
schungzu erweitern. Die Einbeziehung der ungedruckten Fruhschriften in die Interpre-
tation Arndts zeigt, dass Heterodoxes in Arndts Denken schon lange vor dem Erschei-
nen des „Wahren Christentums" angelegt war. Urn Gillys Position zu untermauern,
miisste freilich - wie er selbst deutlich macht - in den Handschriftenbestanden deut-
scher Bibliotheken und Archive nach weiteren, hinsichtlich ihrer Existenz belegten, aber
leider verschollenen Fruhschriften Arndts gesucht werden. Gilly argumentiert ferner
mit dem Baseler Studienaufenthalt Arndts, der nicht nur, wie die gangigen biografischen
Darstellungen iiber Arndt ausgeben, das Jahr 1579 umfasste, sondern den Zeitraum
1579-1581. Hier wurde Arndt von dem MedizinerTheodorZwinger d.A., einem Paracel-
sus-Anhanger, beeinflusst und hierin wurzelt der fur Arndt bezeichnende theologische
Empirismus, die Anwendung der „Methode der Erfahrung und Induktion" auf die Theo-
logie (184) . Ferner macht Gilly eine direkte Verbindung Arndts mit Weigel wahrschein-
lich (187). Der spannend zu lesende Aufsatz bietet der Arndt-Interpretation neue For-
schungsergebnisse und weiterfuhrende DenkanstoBe. Hierzu gehort auch der am Rande
angesprochene „Antijudaismus" Arndts (175), der in Vertreibungsforderungen gipfelte,
die Arndt mit Luther teilte.
Der heterodoxen Arndt-Interpretation folgt auch Hermann Geyer im Anschluss an
seine 2001 erschienene dreibandige, in Marburg bei Hans Schneider verfasste theologi-
sche Dissertation. Sein Beitrag wendet sich gezielt der Buchmetaphorik Arndts zu. Er
zeigt, welche Bedeutung fur Arndt - im Kontext des spiritualistischen Denkens des 16.
und 17. Jahrhunderts - die Rede von „Biichern" hat und die nicht zufallige, sondern be-
deutungsvolle Presentation von vier Biichern: „Die Vierzahl ebenso wie die jeweilige
Thematik der einzelnen (realen) Biicher sind abgeleitet von den , Biichern', die Gott
selbst den Menschen zu seiner ,Erkenntnis' geoffenbart hat" (133) . Geyer verortet Arndt
im Kontext von Theosophie, Spiritualismus und Hermetik und vertritt die Auffassung,
dass Arndt „im Kern [...] eine Theologie des innerenWortes" vertreten habe (157). Auch
Inge Mager, emeritierte Kirchenhistorikerin in Hamburg, kommt in ihrer Analyse der
verschiedenen Vorreden zum ersten Buch des „Wahren Christentums", bei der sie sich
vor allem fur das Thema BuBe interessiert, zu einer allerdings vergleichsweise vorsichtig
formulierten Einordnung Arndts in die Heterodoxie. Aktualisierend und wertend
496 Besprechungen
spricht sie von „nach wie vor berechtigten dogmatischen Vorbehalten" (229) gegen
Arndts „Wahres Christentum".
Eine orthodoxe Arndt-Interpretation findet sich bei Wolfgang Sommer, emeritierter
Kirchenhistoriker aus Neuendettelsau, und seiner Analyse des Arndtschen Predigt-
werks. Von Arndt gibt es mehr als 900 Predigten. Zu Recht weist Sommer darauf hin,
dass diese bei der Interpretation Arndts und der Frage nach der Orthodoxie oder Hete-
rodoxie seines Denkens einbezogen werden miissen. Auch Athina Lexutt, Kirchenhisto-
rikerin in GieBen, iiberrascht mit einer orthodoxen Interpretation Arndts, obwohl man
gerade bei ihr, wegen ihrer in ihrer Dissertation vorgelegten melanchthonkritischen In-
terpretation der Regensburger Kompromissformel zur Rechtfertigung von 1541 das Ge-
genteil erwartet hatte. Lexutt bietet einen Extrakt aus ihrer bereits 1999/2000 fertig ge-
stellten, aber bislang nicht gedruckten Bonner Habilitationsschrift, auf deren Veroffent-
lichung die Arndt-Forschung mit Spannung wartet, die aber angesichts der neueren
Entwicklungen in der Arndt-Forschung bereits schon iiberholt sein konnte. Die Autorin
teilt mit, sie werde „demnachst" erscheinen (114). Fur Arndts partielles Abweichen von
eindeutig orthodoxen Positionen fiihrt Lexutt „seelsorgerliche und paranetische Griin-
de" an (125) und macht auch die „apologetische Situation" geltend (126), in die Arndt ge-
kommen war.
Ohne klare eigene Positionierung setzt sich Johann Anselm Steiger mit Arndt ausein-
ander, indem er die bekannte Kritik Lukas Osianders referiert und diskutiert sowie die
weniger bekannte Arndt-Apologie von Heinrich Varenius. Steiger arbeitet die Berechti-
gung beider Sichtweisen heraus und flankiert seine Darlegungen durch Ausblicke auf
den immer wieder lobend erwahnten Johann Gerhard.
Die mit der Arndt-Interpretation eng zusammenhangende Arndt-Rezeption ist auch
das Thema von Martin Brecht, dem Senior der Arndt-Forschung unter den Mitwirken-
den, der sich allgemeiner und umfassender als Steiger mit der Rezeption von Arndts
„Btichern" im deutschen Luthertum beschaftigt. Brecht stellt und beantwortet die Frage,
wie sich der heterodoxe Arndt im orthodoxen Luthertum durchsetzen konnte, und ver-
gleicht ihn mit dem „trojanische[n] Pferd" (231). Klar ist, dass Arndt, wie neben Brecht
auch Steiger und Schneider herausarbeiten, im Luthertum nur in „domestizierte[r]
Form" (25) Wirkung entfaltete und dass bei der „Umgestaltung der Arndtschen Konzep-
tion" (24) und der Etablierung einer „verkirchlichten Arndt-Deutung" (25) Johann Ger-
hard eine wichtige, ja entscheidende Rolle spielte.
Speners Arndt-Rezeption gilt ein Beitrag Johannes Wallmanns, der zeigt, dass sich
der Vater des Pietismus nicht aus zufalligen Griinden mit Arndts viertem Buch nicht so
intensiv beschaftigt hat wie mit den anderen drei. Wallmann zeigt, dass Spener die tradi-
tionelle, auch von Arndt geteilte Sicht der Kometen als Boten des Unheils und BuBrufe
Gottes nicht mehr geteilt hat, sondern an diesem Punkt bereits modern, naturwissen-
schaftlich dachte. Freilich handelt Buch 4 ja nicht nur von den Kometen, und es stellt
sich die Frage, ob Spener wirklich nur wegen dieses Punktes eine Distanz zu Arndts Na-
turbetrachtung eingenommen hat. Neben Spener schatzte auch Zinzendorf Arndt und
plante und verwirklichte deshalb eine franzosische Arndt-Ausgabe, die vor allem fur die
Jansenisten gedacht war. Tobias Kaiser schildert dieses Projekt und seine Realisierung,
aber auch seinen letztlichen „vollkommene[n]" Fehlschlag: Kein einziges Exemplar die-
ser Arndt-Ausgabe, die 1723 in Wittenberg gedruckt wurde, ist wirklich nach Frankreich
gelangt. Erfolgreicher verlief die Arndt-Rezeption in Russland. Die Briicke bildete der
hallesche Pietismus. Stefan Reichelt macht mit diesem unbekannten Kapitel eines inter-
Kirchen-, Geistes- und Kulturgeschichte 497
kulturellen und iiberkonfessionellen Austausches bekannt. Die Arndt-Rezeption hatte
auch bislang nur wenig beachtete kunstgeschichtliche Aspekte. Reinhard Lieske macht
mit Kirchenausmalungen Nord- und Siiddeutschlands bekannt, die Motive der 1679 in
Riga erstmals gedruckten bebilderten Arndt-Ausgabe aufgreifen.
Die Theologie Arndts und die Rezeptionsgeschichte bilden den Schwerpunkt des
Sammelbands. Hinzu kommen ein einleitender, auf einen Vortrag in Braunschweig zu-
riick gehender Aufsatz von Hans Schneider, der einen schonen, erneut die mystisch-spi-
ritualistische Interpretation Arndts stiitzenden Uberblick iiber Arndts „Leben auf dem
Hintergrund der deutschen Kirchengeschichte 1555-1621" gibt, wobei erbesonders her-
ausarbeitet, wie sehr Arndt „polarisierte" (13) , sowie drei Beitrage, die sich mit spezielle-
ren, mehr historischen Fragestellungen befassen: Markus Matthias diskutiert in theti-
scher Form - den Sachverhalt verneinend und den Begriff ablehnend - den von Win-
fried Zeller 1952 eingefiihrten und mit dem Jahr 1600 in Verbindung gebrachten Begriff
der „Frommigkeitskrise", und Ernst Koch behandelt die Tatigkeit Arndts in Eisleben
(1609-1611). Der kurze Beitrag bietet viel zu Eisleben, aber im Grunde wenig zum Ver-
standnis Arndts, wofiir aber nicht der Autor, sondern die Quellenlage verantwortlich ist.
Wolfgang Breul behandelt Arndt im Kontext der konfessionellen Entwicklung Anhalts,
wobei an einer brisanten Stelle und vom Autor urspriinglich nicht intendiert wieder die
Kernfrage der Arndt-Interpretation aufblitzt. Breul schildert die Standhaftigkeit Arndts
bei der Verteidigung des in Anhalt mehr und mehr in Frage gestellten Taufexorzismus
und interpretiert diese Positionierung als Ausdruck lutherisch-orthodoxer Gesinnung.
In der Diskussion gab Gilly allerdings zu bedenken, dass gerade das Festhalten am Tau-
fexorzismus auch als Konsequenz einer paracelsischen Orientierung verstanden werden
kann (67, Anm. 85).
Wenn also alles in allem mehr fiir eine heterodoxe als fur eine orthodoxe Arndt-Inter-
pretation spricht, bleibt am Schluss die Frage nach dem Selbstverstandnis dieses Mari-
nes, der sein Leben lang lutherischer Pfarrer, ja sogar in kirchenleitenden Amtern war.
Lebte er ahnlich wie Weigel eine gespaltene Existenz (vgl. 109)? Oder benutzte er die
Kirche nur aus taktischen Griinden als Basis zur Verbreitung seiner Lieblingsideen (vgl.
198)? Oder lebte er voll und ganz in der Uberzeugung, sein Herzensanliegen stehe im
Einklang mit der Reformation und dem nachreformatorischen Luthertum (vgl. 228)?
Wahrscheinlich ist von Letzterem auszugehen, zumal eine Definition dessen, was Lu-
thertum oder was Orthodoxie ausmacht, nicht ganz einfach sein diirfte und von Theolo-
gen, Historikern und Kulturgeschichtlern jeweils unterschiedlich formuliert wiirde.
Der Sammelband ist mit einem Personen und einem (ab ca. S. 400, vermutlich wegen
einer Veranderung im Seitenumbruch) leider sehr fehlerhaften Ortsregister ausgestattet.
Auf Informationen iiber die Autoren und ihr wissenschaftliches Profil wurde leider ver-
zichtet. Nicht einbezogen wurden leider auch die wegen der kontroversen Theme-
naspekte sicherlich spannenden Wolfenbiitteler Diskussionen, wenn man von einigen
Hinweisen in den Anmerkungen einmal absieht. In den Anmerkungen wurde von
einzelnen Autoren auch ein Kleinkrieg gegen Hermann Geyer untergebracht (vgl. 85,
Anm. 75; 169, Anm. 15; 194, Anm. 59; 295, Anm. 3), dessen groBes, schon erwahntes
Arndt-Werk wohl nicht frei von handwerklichen Mangeln und kleineren und groBeren
Missverstandnissen ist, wodurch sich einzelne Autoren regelrecht beleidigt fiihlen und
von „Blindaugigkeit" und „horrenden Fehlinformationen" sprechen (295, Anm. 3).
Nicht einleuchtend ist, dass die Herausgeber bei der Formulierung des Untertitels des
Sammelbandes modernisierend von den Biichern „vom wahren Christentum" sprechen,
498 Besprechungen
wahrend in den Texten selbst, schon in der Einleitung der beiden Herausgeber mit bei-
nahe penetranter Konsequenz die altertiimliche Form „von wahrem Christentum" be-
nutzt wird.
Nebenbei fallt dem Leser auf: Die Arndt-Forschung wird von (iiberwiegend emeri-
tierten) Kirchenhistorikern dominiert. Die spannenden und weiterfiihrenden Impulse
kommen aus der Geschichtswissenschaft und (leider, bemerkt der Kirchenhistoriker)
nicht aus der Theologie. Aber der Kirchenhistoriker studiert das Buch mit Gewinn, und
auch der landesgeschichtlich oder allgemein historisch Interessierte wird einige interes-
sante Dinge in ihm finden.
Osnabriick Martin H.Jung
Gottes Wort ins Leben verwandeln. Perspektiven der (nord-)deutschen Kirchengeschichte.
Festschrift fur Inge Mager zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Rainer Hering, Hans Otte
und Johann Anselm Steiger. Hannover: Landeskirchliches Archiv 2005. 500 S. =
Jahrbuch der Gesellschaft fur niedersachsische Kirchengeschichte Beiheft 12. Kart.
32,- €.
„Gottes Wort [zu schmecken und] ins Leben verwandeln" - unter dieser Kernaussage Jo-
hann Arndtscher Frommigkeit versammeln sich 19 lesenswerte Beitrage zu Ehren Inge
Magers. Anlasslich ihres 65. Geburtstags wiirdigen die Herausgeber, Autorinnen und
Autoren mit dieser Festschrift das umfang- und facettenreiche wissenschaftliche Werk
der Kirchenhistorikerin. Der Breite und Vielfalt ihrer Forschungsinteressen entspre-
chend, spannen die Beitrage einen zeitlichen Bogen vom 4. bis zum 20. Jahrhundert und
einen inhaltlichen Bogen iiber die mittelalterliche, friihneuzeitliche und neuzeitliche
Theologie und Frommigkeit, norddeutsche Kirchengeschichte, Frauen- und Kirchen-
musikforschung. Eine gesonderte Wurdigung durch einzelne Autoren erfahren auch die
methodischen und forschungsstrategischen Verdienste Magers. So weist Hans Otte dar-
auf hin, dass sie Territorialkirchengeschichte und deutsche Kirchengeschichte stets zu-
gleich im Blick behielt. Rainer Hering wiirdigt ihre frauengeschichtlichen Forschungen
als wichtigen AnstoB zur Sicherung des Anteils kirchlich aktiver Frauen am kollektiven
kirchlichen Gedachtnis. Besondere Beachtung verdient die Anzahl von gegenwartsbe-
zogenen Beitragen, in denen die Bedeutung kirchengeschichtlicher Fragestellungen fur
heutiges Handeln und Tun gepriift wird.
1. Heinrich Holze deckt mit Hilfe der lange tabuisierten Frage nach religioser Erfah-
rung eine nicht unmittelbar ins Auge fallende Traditionslinie von der undogmatischen,
auf Selbsterfahrung und Vorleben bezogenen Lehrweisheit der agyptischen Anachore-
ten des 4. Jahrhunderts iiber den von Bernhard von Clairvaux formulierten Erfahrungs-
zusammenhang zwischen Selbsterkenntnis, Sundenerkenntnis und Gotteserkenntnis
zur Erfahrungstheologie Martin Luthers auf. Obwohl Luther zwischen Glaube und Er-
fahrung unterschied, setzte auch er auf die Notwendigkeit der geistlichen Erfahrung,
verstanden als Erfahrung der Verborgenheit Gottes, der Anfechtung, des Zweifels, mit-
hin des Widerspruchs zwischen Glaube und Erfahrung. Hieraus entwickelte er den
Vorrang der gelebten Glaubenspraxis vor demjenigen der aus bloBem Wissen gewon-
nenen Lehre.
2. Im Beitrag von Wolfgang Petke werden mittelalterliche Niederkirchenstiftungen
im Gebiet des heutigen Niedersachsens und Harburgs in den Blick genommen. Auf der
Kirchen-, Geistes- und Kulturgeschichte 499
Grundlage von Quellenbefunden aus Regionen mit einerdichteren und alteren Uberlie-
ferung sowie der gut bekannten spatmittelalterlichen kirchlichen Stiftungspraxis entwi-
ckelt der Autor im Analogieschlussverfahren die Annahme, dass es auch in Sachsen ein
ausgepragtes Eigenkirchenwesen als Motor der Errichtung von Pfarreien im sachsischen
Missionsgeschehen des 8. und beginnenden 9. Jahrhunderts gegeben habe. Dieser we-
nig bekannte Zusammenhang zwischen Grundherrschaft und Niederkirchenwesen wird
anhand zahlreicher Stiftungsvorgange von adeligen, bischoflichen, klosterlichen, genos-
senschaftlichen und herrschaftlichen Eigenkirchen beschrieben.
3. Jens-Martin Kruse beschreibt die aus der Kreuzestheologie Martin Luthers er-
wachsene Deutung der evangelischen Martyrer als Christuszeugen und ihre Bedeutung
fur die Verbreitung der evangelischen Lehre. Das Kreuz Christi vergegenwartige sich in
dem Kreuz, das Christen in der Nachfolgejesu zu erleiden hatten (S. 76). Evangelisches
Martyrium kniipfe in der lutherischen Deutung an fruhchristliches Martyrium an und
sei gleichermaBen Zeichen fur die Gegenwart Gottes wie fur die Wahrheit des Evangeli-
ums und damit Kennzeichen der wahren Kirche Jesu Christi. Heilige wurden nun nicht
mehr als Mittler der Fiirbitte, sondern als besonders auserwahlte Zeugen gottlichen Wir-
kens und gottlicher Barmherzigkeit verehrt.
4. Mit Luthers Anleitung zur evangelischen Spiritualitat nach der Trias „meditatio,
tentatio, oratio" als regelmaBige Ubung religioser Praxis durch standige Anrufung Got-
tes und Vertiefung in die Heilige Schrift in Gebet und Meditation setzt sich Uwe Rieske
auseinander.
5. Hans Schneider berichtet iiber eine bislang unbekannte Etappe im Leben des er-
sten Goslarer Superintendenten Johannes Amandus, der sich 1527 als Wanderprediger
in Marburg und Umgebung betatigt haben soil, bevor er im April 1528 durch den Gosla-
rer Reformator von Amsdorf an die Marktkirche berufen wurde.
6. Rolf Schafer begrundet seine kommentierte, als Synopse zweier Textfassungen ge-
staltete Edition eines Teils der „Pars prima historiae ecclesiasticae renati euangelii per
Inferiorem Saxoniam et Westphaliam" mit dem Quellenwert dieser 1586 erschienenen
Reformationsgeschichte Hermann Hamelmanns, die zugleich Zeugnis der Bewusst-
seinsbildung der sich konsolidierenden lutherischen Orthodoxie sei. Im Textvergleich
mit dem wenig bekannten eigenhandigen Entwurf Hamelmanns erwachst ein erhebli-
cher Informationsgewinn iiber die Anfange der Reformation im Jeverland.
7. Das dichterische Werk Caspar Fiigers d. A. stellt Ernst Koch vor. 1580 verfasste der
Dresdener Diakon eine Darstellung zur Formula Concordiae, der auch ein lateinisches
Loblied auf Kurfiirst August aus der Feder des Dresdener Konsistorialsekretars Caspar
Schall beigegeben ist. Das theologische Anliegen Fiigers, der selbst als Korrektor am
Konkordienwerk mitgewirkt hatte, sei in der Verknupfung von Werklob mit Fiirstenlob
zu sehen. Diese doppelte Zielrichtung fand weiteren Ausdruck in einer Dichtung Fiigers,
die anlasslich der EheschlieBung zwischen Kurprinz Christian von Sachsen mit Mark-
grafin Sophia von Brandenburg entstand. Hier wird die Entstehung des Konkordien-
werks mittels eines fiktiven Gespraches der fiirstlichen Ahnen des Brautpaares im Him-
mel in die Geschichte der albertinisch-wettinischen Dynastie eingebettet und dieser da-
mit eine von Gott gewollte Rolle im Ringen um die Kircheneinheit zugewiesen.
8. Johann Anselm Steiger vergleicht in seinem Beitrag Versuchung - orthodox und
heterodox die Auffassung von der „tentatio" in der Theologie Martin Luthers und derje-
nigen des mystischen Spiritualisten Christian Hoburg. Wahrend Luther sich besonders
mit der satanischen gegen den Glauben und Gott gerichteten innerlichen Versuchung
500 Besprechungen
auseinander setzte, stehen im heterodoxen Verstandnis auBerliche Anfechtungen im
Vordergrund: „Hoburg zufolge wird der Satan erfahrbar als Welt-Geist und ist identisch
mit ihm." (S. 223) Eine weitere Scharfung erfahrt die Vorstellung des heterodoxen Kon-
zeptes Hoburgs in Abgrenzung zu seinen zumeist spiritualistischen Quellen und zu ei-
ner spateren Spielart in der liberalen Theologie Adolf von Harnacks.
9. Eine Episode der Calenberger Kirchengeschichte schildert Manfred von Boetticher
in seinem Beitrag fiber Hannover unter dem katholischen Herzogjohann Friedrich. Der
calixtinisch gepragte Herzog habe die katholische Konfession nach seinem 1665 erfolg-
ten Regierungsantritt in Hannover durch den Aufbau kirchlicher Organisationsstruktu-
ren und die Ansiedelung missionarisch tatiger Kapuzinermonche gefordert. Seinen
evangelischen Untertanen kam der Herzog unter anderem durch den Bau der Neustadter
Kirche in Hannover entgegen; das Toleranzedikt vom 7. September 1691 sollte das fried-
liche Zusammenleben der Konfessionen garantieren. Verhaltene Kritik an der gestiege-
nen Anzahl von Konversionen auBerte Generalissimus-Superintendent Gesenius 1669
in der Schrift „Warum wilt du nicht Romisch-Catholisch werden, wie deine Vorfahren
waren". Dass die dauerhafte Verfestigung der katholischen Religion in Hannover nach
Johann Friedrichs Tod eines katholisch erzogenen Nachfolgers bedurft hatte, verdeut-
licht von Botticher abschlieBend am Vergleich mit dem Fiirstentum Pfalz-Sulzbach.
10. Als Kluft zwischen den pietistischen Vorstellungen fiber die Verantwortung und
die Pflicht einer christlichen Obrigkeit und dem Selbstverstandnis des frfihabsolutisti-
schen Herrschers beschreibt Wolfgang Sommer den Konflikt zwischen Philipp Jakob
Spenerund dem sachsischen Kurfiirstjohann GeorgIII.,derin einer Freigabe des inUn-
gnade geratenen Dresdener Oberhofpredigers an den Brandenburgischen Hof endete.
11. Angesichts dergegenwartigen kritischen Prufung diakonischer Aufgaben und Or-
ganisationsformen wahltUdo Krolzikin seinem Aufsatz „Beitragzum sozialen Frieden -
Bollwerk gegen die Not" den historischen Riickgriff, um zu zeigen, dass anwaltschaftliche
und unternehmerische Wurzeln der Diakonie im 19. Jahrhundert von ihrem Anfang her
zusammen gehorten und ihre Starke ausmachten. Gegen die aus der Erweckungs-
bewegung entstandenen ersten diakonischen Ansatze setzt er das Wichernsche Projekt
des Rauhen Hauses ab, das die Vision einer Verchristlichung der Gesellschaft mit einer
gezielten Aussendungsstrategie der Mitarbeiter in alle sozialen Bereiche, mit dem Famili-
enprinzip als Fiihrungskonzept und den Polen Freiheit und Aufsicht als Erziehungskon-
zept verbunden habe. Ein auBerhalb der Kirche aktives Christentum organisierte sich in
Vereinen und trug damit dem zeittypischen biirgerlichen Autonomiestreben Rechnung.
Hatten diese neben dem Verwaltungsstaat zunachst nur subsidiare Funktion, erweiterten
sie ihren Handlungsspielraum zunehmend auf eigenverantwortliche Aktivitaten zur
Bekampfung sozialer Notstande. Die Griindung des „Central-Ausschusses fiir Innere
Mission" als erstem Wohlfahrtsverband diente der Professionalisierung der Fiirsorge und
sozialen Arbeit. Rettungshauser und ahnliche Institutionen entstanden wie moderne
Selbsthilfegruppen als Assoziationen derBediirftigenund Reichen. Mit der Vereinsform
etablierte sich die Diakonie als eigene kirchliche Rechtsform zwischen Kirche und Staat,
die ihre Beziehungen zu Staat und Wirtschaft frei gestalten und Menschen zu Spenden
und Arbeitseinsatz motivieren konnte. Aus dieser Darstellung zieht Krolzik zusammen-
fassend Konsequenzen fiir die gegenwartige Diakoniedebatte: Es gab und gibt keinen
Widerspruch zwischen christlich motivierter Nachstenliebe und unternehmerischem
Handeln; Praktikabiliat und Effektivitat bestimmen die zu wahlende Rechtsform. Fiir
die Aufgaben der Diakonie muss analog zur Vorgehensweise Wicherns eine klare Vision
Kirchen-, Geistes- und Kulturgeschichte 501
entwickelt werden. Die Selbststandigkeit der Verbandsdiakonie und ihre Zwischenstel-
lung zwischen Staat und Kirche miissen erhalten bleiben.
12. Mitpraktischen Projekten derlnneren Mission, die im familiaren Umfeld derGra-
fen Schimmelmann in Ahrensburg initiiert wurden, befasst sich der Beitrag von Ruth Al-
brecht. Auf der Grundlage autobiographischer Quellen beschreibt sie das Grafenpaar
Ernst und Adelaide Schimmelmann, weitere Verwandter und die mit der Familie in Kon-
takt stehenden Wegbereiter der Inneren Mission Johann Heinrich Wichern und Elise
Averdieck mit ihren jeweiligen sozialen Aktivitaten und in ihrem Verhaltnis zueinander.
Das von der Grafin gegriindete Ahrensburger Gutskrankenhaus Siloah wurde iiber 37
Jahre mit wechselhaftem Erfolg durch Altonaer, Danziger und Stettiner Diakonissen be-
trieben, ebenso eine Sonntags- und eine Warteschule. Aus der Darstellung Albrechts
wird deutlich, wie durch gezielte Kontaktpflege zu Vertreterinnen und Vertretern der
Inneren Mission diakonische Projekte der adeligen Familie realisiert werden konnten.
Die aus der Erweckungsbewegung aufgegriffenen Impulse wurden dabei von den Fami-
lienmitgliedern auf jeweils eigene Weise umgesetzt, ohne dass sie ihre adelige Herkunft
und entsprechende Lebensfiihrung vollstandig aufgaben. Ein Zentrum der Erwek-
kungsbewegung wurde Schloss Ahrensburg nicht; Albrecht hebt jedoch hervor, dass die
vielfaltige Partizipation der Familienmitglieder als eigenstandiger Reflex zur „Akzep-
tanz der frommen Neuausrichtung im 19. Jahrhundert" (S. 343) beigetragen habe.
13. Der Beitrag von Hannelore Erhart schildert den im Fahrwasser der preuBischen
Annexion des Konigreichs Hannover als Folge des preuBisch-osterreichischen Krieges
von 1866 entstandenen erfolgreichen Kampf um die Eigenstandigkeit der neu konstitu-
ierten evangelischen Landeskirche Hannovers. Unter dem Zeichen der Unionsfurcht
stand die erste hannoversche Landessynode vom 3. November bis 13. Dezember 1869
gleichwohl. Ihre von Ludwig August Briiel gelenkten Bemiihungen, auch die Unterord-
nung unter das preuBische Kultusministerium zu beseitigen, blieben vergeblich. Neben
der Bekenntnisfrage trennte ihr sehr verschieden ausgepragtes Verhaltnis zum Staat die
hannoversche und preuBische Landeskirche. Leider nur angedeutet wird dieser Um-
stand durch den Hinweis auf das kirchliche Organisationskonzept fur die neuen Landes-
teile vom 27. Juli 1867, in dem der preuBische Kultusminister Heinrich von Muhler die
Ubertragung der Ehegerichtsbarkeit vom Konsistorium auf die Gerichte und der
Schulaufsicht auf neu einzurichtende Regierungen vorgeschlagen hatte (S. 351).
14. Die Entwicklung und Aufnahme der „Erweiterten Gottesdienstordnung" von 1901
in Oldenburg stehen im Blickpunkt des Beitrags von Udo Schulze. Die in der Kirchen-
verfassung von 1849 vorgesehene gleichformige Ordnung fur alle Gemeinden wurde
1859 zunachst durch eine an der badischen Gottesdienstordnung orientierte schlichte
Form realisiert. In der Folgezeit mehrten sich die Forderungen nach einer reicheren Li-
turgie. Auf die 1899 erfolgte Initiative des Generalpredigerverein erarbeitete ein syn-
odaler Ausschuss eine der altpreuBischen Ordnung ahnelnde, am 11. Marz 1901 einge-
fiihrte Form. Diese enthielt weiterhin kein Glaubensbekenntnis und keine Aussage iiber
die Gestaltung der Abendmahlsfeier. Ablehnung und Zustimmung hielten sich die Waa-
ge; den Verweigerern begegnete man mit Toleranz. So kam es im Verlauf des 20. Jahr-
hunderts zwar zu einer Verbreitung, zugleich aber zu vielen Abweichungen. Dennoch
habe sich die „preuBische Agende" trotz neuer liturgischer Impulse noch bis in die
1970erjahre vielerorts gehalten; insbesondere in Heimatvertriebenenkreisen sei sie als
schlesische Liturgie gefeiert worden.
15. Uber den Versuch einer eigenstandigen Schulpolitik der hannoverschen Landes-
502 Besprechungen
kirche in der Weimarer Republik berichtet Hans Otte. Ihre wichtigsten Anliegen waren
die Beibehaltung der Bekenntnisschulen, die Einf lussnahme auf den Religionsunterricht
und die Durchsetzung des Elternrechtes in Bezug auf die Erziehung ihrer Kinder. Unter
Riickgriff auf einen Schriftwechsel des Landeskirchenamtes mit dem ehemaligen Vorsit-
zenden des Hannoverschen Provinzial-Lehrervereins Wilhelm Brunotte schildert Otte
ausfiihrlich die schulpolitischen Strategien des konfessionellen Lutheraners und landes-
kirchlichen Schuldezernenten Paul Fleisch. Dieserhatte die kirchlichen Schulinteressen
nicht nur gegenuber dem eigenen Landeskirchenausschuss und der organisierten Religi-
onslehrerschaft, sondern auch gegenuber den preuBischen kirchlichen Behorden und
der Berliner Ministerialbiirokratie zu vertreten. Er war uberzeugt, dass der Staat keine
MaBstabe fur die Entscheidung besitze, ob der Religionsunterricht mit den kirchlichen
Grundsatzen ubereinstimme, und warnte mit Blick auf die Nationalsozialisten ab 1928
vor unerwiinschten staatlichen Einflussen auf das kirchliche Bekenntnis und das Gewis-
sen der Religionslehrer. Die geplante Erneuerung des Visitationsgesetzes fachte Ende
desjahres 1927 den Widerstand der Lehrer gegen jeder Form der geistlichen Schulauf-
sicht erneut an, da sich die Visitation weiterhin auf den schulischen Religionsunterricht
erstrecken sollte. Nach dem Scheitern des geplanten Reichsschulgesetzes im Februar
1928 betonte Fleisch aus taktischem Kalkiil die alten kirchlichen Rechte und damit die
geistliche Schulaufsicht, die de facto jedoch nicht ausgeiibt wurde. Nach schwierigen
Verhandlungen gelang es Fleisch 1932, einen Religionsunterrichtsbeirat beim Landes-
kirchenamt zu etablieren, dem neben kirchlichen Vertretern auch Lehrerinnen und
Lehrer angehorten. Er begutachtete Lehrplane, befasste sich kritisch mit der Padagogik
und Jugendarbeit der volkischen Gruppen und Nationalsozialisten und begleitete die
evangelischen Schulrate, die nun im Auftrag der Kirche den Religionsunterricht begut-
achten sollten. In der Weimarer Zeit waren einer eigenstandigen Schulpolitik der hanno-
verschen Landeskirche in PreuBen viele Grenzen gezogen; ein dauerhafter Konsens mit
den Lehrern gelang ungeachtet dieses kurzfristigen Teilerfolgs noch nicht. Nach 1945
gab der hannoversche Schuldezernent im Landeskirchenamt folgerichtig das Festhalten
an der Konfessionsschule auf.
16. Als Kontrapunkt gegen das lange Zeit fast ausschlieBlich mannlich gepragte kol-
lektive Gedachtnis der christlichen Kirchen versteht Rainer Hering sein ausfiihrliches
Portrat der Hamburger Theologin Katharina Gombert. An ihrem Beispiel wird die
schwierige Situation von Theologinnen im 20. Jahrhundert vor Einfuhrung der Frau-
enordination verdeutlicht. Zwarkonnten sie ab Beginn desjahrhunderts das erste theo-
logische Examen erlangen, hatten jedoch wenig kirchliche Arbeitsmoglichkeiten. Gom-
bert engagierte sich im Verband Evangelischer Theologinnen Deutschlands schon friih
und selbstbewusst fur das Recht der Frauen, als Pastorinnen in der Kirche zu wirken. Seit
1930 arbeitete sie als Gemeindehelferin in Fuhlsbuttel unter der Aufsicht eines Geistli-
chen. Die „Z6libatsklausel" (S. 417) fur weibliche Gemeindehelferinnen und die Vorent-
haltung von Predigt und Sakramentsverwaltung gehorten zu den diskriminierenden Ele-
menten im Alltag der ersten Theologinnen. Mit der Leitung der Evangelischen Frauen-
hilfe und des Evangelischen Frauenwerks in Hamburg erweiterten sich die Befugnisse
Gomberts. Das Abendmahl durfte sie ab 1949 austeilen, 1952 wurde sie Krankenhaus-
seelsorgerin. Die Ordination wurde ihr erst im Ruhestand zuteil, nachdem 1969 das Pa-
storinnengesetz verabschiedet worden war.
17. Thomas Jan Kiick liefert mit seiner biografischen Skizze iiber die Tatigkeit des Su-
perintendenten von Bremervorde Johannes Schulze einen wichtigen Beitrag zurlokalen
Kirchen-, Geistes- und Kulturgeschichte 503
Kirchengeschichte der NS-Zeit. Am Beispiel der Unterwanderung des Bremervordi-
schen Kirchenvorstandes wird das nationalsozialistische Bestreben dertotalen innerge-
sellschaftlichen Gleichschaltung ebenso verdeutlicht wie der Handlungsspielraum eines
Geistlichen der Bekenntnisgemeinschaft. Gegen die Berufung Schulzes als Nachfolger
des verstorbenen Deutschen Christen Bauer in Bremervorde hatte sich erfolglos Wider-
stand unter den Nationalsozialisten im Kirchenvorstand erhoben. Dem Superintenden-
ten gelang eine personelle Umbildung des Gremiums nach kirchlichen Kriterien, bald
wurden regelmaBige Veranstaltungen der Bekenntnisgemeinschaft durchgefiihrt. Eine
Gestapo-Uberwachung Schulzes blieb folgenlos. Offenen Widerstand gegen die Zersto-
rung und Deportierung der jiidischen Gemeinde leistete er nicht. Insgesamt wertet Kiick
sein kirchliches Handeln als „AuBerung gegen den Nationalsozialismus" (S. 453).
18. Die Entwicklung des Singens in der evangelischen Kirche seit 1949 beschreibt
Hans Christian Brandy auf der Grundlage evangelischer Gesangbiicher und zahlreicher
Liederhefte fur die Kirchentage. In derNachkriegszeitbot vor allem derreformatorische
Choral Orientierung, ab 1960 suchte man nach zeitgemaBen musikalischen Ausdrucks-
formen. Christliche Schlager entstanden, heftig umstrittene Impulse boten Popmusik,
Jazz und Spiritual. Im Bemiihen um mehr Qualitat verschoben die gesellschaftlichen
Konfliktthemen die Akzente. Inhaltlich wurde in dem neuen geistlichen Lied der Erfah-
rungsbezug entscheidend. Weitere Impulse brachte die Friedensbewegung, so etwa in
Hannover 1983. Die Kategorien Politik, Ethik, Umkehr, Handeln und Verantwortung
pragten die teilweise stark moralisierenden Kirchenlieder. Das neue Evangelische Ge-
sangbuch von 1993/94 trage den neuen geistlichen Liedern Rechnung, indem es eine
„breite Pluralitat des Singens" abbilde. Der unbefriedigende Kompromisscharakter vie-
ler zwischen klassischem Kirchenlied und popularer Gegenwartskultur angesiedelter
Lieder habe jedoch inzwischen zu einer nachlassenden Kenntnis der neuen „01dies" ge-
fiihrt. Neben der Gospelwelle brachte die 2005 gestartete Initiative fur ein neues Kirchen-
tagsliederbuch mit der Aufnahme etlicher aus der Okumene stammender sowie „from-
merer" Lieder und einer groBen Breite von Musikstilen neue Ansatze. Bleibende Heraus-
forderung fiir die Lieddichter sei es, Grundfragen des Lebens und Glaubens zeitgemaB
zur Sprache zu bringen, heute ginge es dabei in erster Linie um neue Sprache und Gewiss-
heit angesichts weitgehender Erosion an Glaubenstradition und Sprache.
19. Im letzten Beitrag prasentiert Martin Cordes als Beispiel fiir kirchenhistorisches
Lernen in einem modular strukturierten Studium zu Praxis und Theorie der Diakonie
den Entwurf einer Lehrveranstaltung iiber sozialdiakonische Arbeit im Spannungsver-
haltnis von professionellem Beruf und ehrenamtlicher Tatigkeit. Geschichtsdidaktische
Ziele, Bausteine fiir die Lehrveranstaltung und zahlreiche Themenfelder werden vorge-
stellt. Das Lehrangebot konne auch in anderen Modulen und Studiengangen unterge-
bracht werden, denn im Zentrum der kirchenhistorisch prasentierten Thematik stehe
die Verhaltnisbestimmung von freiwilligem Engagement und professionellem Handeln
als bleibende gesellschaftliche, nicht nur berufspolitische Aufgabe. Damit wird der ge-
wachsenen Bedeutung des freiwilligen Ehrenamtes in der heutigen Diakonie und Sozia-
len Arbeit Rechnung getragen. Sie entstehe jedoch nicht aus Sparzwangen, sondern aus
dem Verstandnis des Ehrenamtes als Gabe und Aufgabe freier Christenmenschen und
sei in diesem Sinn eine Grundkonstante des kirchlichen Selbstverstandnisses und „ein
Kontinuum ihrer Geschichte" (S. 481).
Wolfenbiittel Birgit Hoffmann
504 Besprechungen
Jager, Helmut: „Wohl tobet um die Mauern der Sturm wilder Wut . . ." Das Bistum Osna-
briick zwischen Sakularisation und Modernisierung 1802-1858. Osnabriick: Dom
Dombuchhandlung 2007. 447 S. Abb. = Das Bistum Osnabriick Bd. 7. Geb. 29,- €.
Die von Joachim Kuropka, Vechta, betreute Dissertation Helmut Jagers behandelt eine
besonders wichtige und kritische Phase in der Geschichte der Diozese Osnabriick. Die
Sakularisation im Jahr 1802/03 beendete die Existenz des geistlichen Fiirstentums, des
Hochstiftes, belieB aber einstweilen den Kirchensprengel, die Diozese, bestehen. 1857
erfolgte die Dotation des durch die Zirkumskriptionsbulle „Impensa Romanorum Pon-
tificum" von 1824 auf den westlich der Weser gelegenen Teil des Konigreichs Hannover
ausgedehnten neuen Bistums, was 1858 zur Ernennung Paulus Melchers' zum ersten Di-
ozesanbischof nach der Sakularisation fiihrte. Die Bulle hatte zwar an der Existenz des
Bistums Osnabriick festgehalten, seine Dotation, die Fundierung der Diozesaneinrich-
tungen, wie Bischof, Domkapitel, Generalvikariat, Priesterseminar, der Initiative der
hannoverschen Regierung iiberlassen, die die endgiiltige Erledigung dieser Angelegen-
heit bis nach der Jahrhundertmitte hinauszogerte. Der Zustand des Bistums zwischen
1802 und 1858, als die Weihbischofe Karl Klemens Reichsfreiherr von Gruben
(1795-1827) und Karl Anton Liipke (1827-1855) die Diozesanleitung wahrnahmen, kann
somit als eine Art „Provisorium" bezeichnet werden. Einzelaspekte dieses Zeitraumes
sind bereits in einer Reihe wissenschaftlicher Untersuchungen bearbeitet worden, so in
Hans-Georg Aschoff, „Das Verhaltnis von Staat und katholischer Kirche im Konigreich
Hannover", 1976, wo vor allem kirchenpolitische und staatskirchenrechtliche Probleme
beriicksichtigt werden, und im Werk von Engelbert Bucholtz, „Die Einwirkungen des
Reichsdeputationshauptschlusses zu Regensburg im Jahre 1803 und der Bulle ,Impensa
Romanorum Pontificum' auf das Bistum Osnabriick . . .", 1930, das die Auswirkungen der
Sakularisation behandelt.
Jager legt den Schwerpunkt seiner Dissertation auf den inneren Ausbau der Diozese.
Er charakterisiert Gruben und Liipke und sieht im ersten einen Vertreter der alten
Reichskirche, der sich gegeniiber staatskirchlichen Bestrebungen pragmatisch verhielt,
wahrend derbiirgerliche Liipke einen neuen Bischofstyp darstellte und wegen seines en-
gen Anschlusses an Papst und Kurie sowie seiner energischen Verteidigung kirchlicher
Rechte eine „ultramontane" Orientierung aufwies. Ein Verdienst beider Weihbischofe
bestand in ihren Bemiihungen um Erhaltung bzw. Dotierung der Diozese Osnabriick. In
uberzeugender Weise legt der Verfasser dar, wie vor allem Liipke durch vollendete Tat-
sachen sein Bistum als eigenstandige GroBe erscheinen lassen wollte, obwohl es formal-
rechtlich dem Hildesheimer Bischof als Administrator unterstand. Dazu gehorten nicht
zuletzt Reformen im diozesanen Verwaltungsbereich, die nach Jager erheblich zur Ver-
einheitlichung des Diozesangebietes beitrugen und eine „tragfahigen Bistumsidentitat"
(S. 382) schufen.
Von den vielfaltigen Aspekten und MaBnahmen im Sinne einer Modernisierung
des Bistums sind die Ausfiihrungen iiber das Katholische Konsistorium in Osnabriick
(S. 217-268) und iiber den Pfarrklerus (S. 273-334) besonders aufschlussreich. Jager
macht deutlich, wie das Konsistorium, eine staatliche Behorde zur Wahrnehmung der
Rechte der staatlichen Kirchenhoheit gegeniiber der Katholischen Kirche, nicht zuletzt
durch die Besetzung mit kirchentreuen Beamten, wie August Ludwig Vezin, Heinrich
August Vezin und Ludwig Windthorst, und durch enge Verbindungen zum Osnabru-
cker Generalvikariat konfliktentscharfend wirkte. In seinen Aussagen iiber die Geistli-
Kirchen-, Geistes- und Kulturgeschichte 505
chen gelingt es dem Verfasser, durch Hinweise u. a. auf die Klerikerausbildung und die
Besoldung, die priesterlichen Tatigkeiten ein Sozialprofil des Osnabrticker Diozesan-
klerus zu erstellen. Bemerkenswert sind auch die Ausfiihrungen iiber die Kirchenge-
meinden, die sich trotz aller Zentralisierungsbestrebungen des Generalvikariats relative
Selbstandigkeit bewahren konnten und deren religioses Leben stark vom Engagement
des Seelsorgeklerus abhing.
Jagers Arbeit beruht auf einer guten Quellengrundlage. Diese umfasst unveroffent-
lichtes Schriftgut aus staatlichen Archiven (Niedersachsisches Hauptstaatsarchiv Han-
nover; Niedersachsisches Staatsarchiv Osnabriick) sowie aus kirchlichen Archiven
(Diozesanarchive von Osnabriick, Hildesheim und Miinster; etliche Dekanats- und
Pfarrarchive). Insgesamt sind die Ergebnisse der Arbeit iiberzeugend. Vielleicht hatte
ein distanzierterer Haupttitel gewahlt werden konnen. Zu fragen ist auch, ob der Unterti-
tel in sich schliissig ist; sind „Sakularisation" und „Modernisierung" als Gegensatze oder
als Zeitangaben zu verstehen? Beides trifft wohl nicht zu. Einige kleine Ungenauigkeiten
- Maximilian Franz von Osterreich war erst seit 1784 Kurfiirst, nicht seit 1774 (S. 33); der
SekretarderKonsistorialkongregation hieB Raffaele Mazio, nicht Mazi (S. 71) - mindern
nicht den Wert der Arbeit, die einen verdienstvollen Beitrag zur regionalen Kirchenge-
schichte leistet.
Hannover Hans-Georg Aschoff
Orden und Kloster im Zeitalter von Reformation und katholischer Reform 1500-1700, Bd. 3.
Hrsg. von Friedhelm Jurgensmeier und Regina Elisabeth Schwerdtfeger. Miinster:
Aschendorff 2007. 240 S. Kt. = Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter
der Glaubensspaltung Bd. 67. Kart. 22,80 €.
„Ordensgeschichtliche Fragestellungen und Forschungen sind wieder aktuell", mit die-
sem optimistischen Satz beginnen die Herausgeber des anzuzeigenden Bandes ihr Vor-
wort. Verbindet man mit Ordensgeschichte meistens eine religiose Erscheinung des
Mittelalters, so ist demgegeniiberzu konstatieren, dass Orden und Kloster auch ein Pha-
nomen der Neuzeit sind, das bis in die Gegenwart reicht und Auswirkungen hat. Zwar
erlitten viele Orden und Kloster durch die Reformation, ausgelost durch den Augusti-
nermonch Martin Luther und dessen radikale Infragestellung der monastischen Lebens-
weise, einen herben Einbruch, doch kam es sogar im 16. Jahrhundert zu neuen Griin-
dungen und Hochzeiten einiger Orden.
Im Rahmen der Schriftenreihe „Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter
der Glaubensspaltung" (KLK) ist nun der abschlieBende von drei Banden zur Rekon-
struktion der Geschichte der Ordensgemeinschaften des deutschen Sprachraumes in
der Zeit von 1500 bis 1700 erschienen. Die Wahl des Zeitraumes ermoglicht eine Langs-
schnittuntersuchung der Reformbemiihungen am Vorabend der Reformation, der Aus-
einandersetzungen mit den Anfechtungen der reformatorischen Theologie und Politik
und schlieBlich der Konsolidierung im Zeitalter der Konfessionalisierung.
Insgesamt bietet das dreibandige Handbuch nun 31 Beitrage von 27 Autoren auf rund
720 Seiten zur Geschichte der Orden und Kloster im deutschsprachigen Raum zu Be-
ginn derFriihen Neuzeit. Es sei darauf hingewiesen, dass alle Artikel nach dem gleichen
Schema aufgebaut sind, beginnend mit statistischen Angaben iiber Personalstarke, Aus-
506 Besprechungen
bildungsorte und bedeutende Personlichkeiten. Besonders erfreulich sind die 34 auf der
gleichen Grundkarte basierenden graphischen Darstellungen, die alle Niederlassungen
derjeweiligen Ordensgemeinschaft im deutschen Sprachraum abbilden. Unterschiedli-
che Symbole verdeutlichen, welche Konvente vor der Reformation entstanden sind, wel-
che im Zuge der Reformation aufgelost wurden und welche spater neu gegriindet wor-
den sind. Eine alphabetische Tabelle zu jeder Karte listet die einzelnen Konvente mit
dem Zeitraum ihres Bestehens auf. Nach dieser Ubersicht folgt ein Abschnitt zur Situa-
tion der Gemeinschaft im Ubergang vom Spatmittelalter zur Reformation, wobei auf
Reformbemuhungen und Verfallserscheinungen groBes Gewicht gelegt wird. Anschlie-
Bend wird das Verhaltnis der Kloster zur Reformation sowie ihre Situation wahrend der
Reformation dargestellt, die meistens mit enormen Verlusten einherging. AbschlieBend
werden die Auswirkungen von Konfessionalisierung und Tridentinum geschildert. Am
Ende jedes Beitrages findet sich eine Bibliographie.
Der dritte Band behandelt die aus der regulierten Chorherrenbewegung im 12. und
13. Jahrhundert hervorgegangenen Pramonstratenser und Pramonstratenserinnen (Jo-
hannes Meier) sowie die Augustiner-Chorherren (Franz Brendle) und Augustiner-Chor-
frauen (Annette von Boetticher), dann als Zweige des Franziskanerordens die Franziska-
ner-Konventualen und Martinianer (Christian Plath), die Franziskaner-Observanten
(Walter Ziegler) und die im 16. Jahrhundert entstandenen Kapuziner (Matthias Ilg) und
schlieBlich die aus der Eremitenbewegung hervorgegangenen und von den Bettelorden
beeinflussten Wilhelmiten (Friedhelm Jiirgensmeier), die benediktinisch-eremitisch
ausgerichteten Colestiner (Karl Borchardt) und die im Hospitalwesen tatigen Antoniter
(Adalbert Mischlewski). Es fehlt leider ein Beitrag iiber die Dominikanerinnen.
Da es im Rahmen der Rezension nicht moglich ist, alle Beitrage zu besprechen, seien
nur einige Schlaglichter gesetzt: Der Beitrag zu den Pramonstratenserinnen und Pra-
monstratensern hebt - zu Recht - sehr stark auf die Reformbemuhungen innerhalb die-
ses Ordens wahrend des gesamten Untersuchungszeitraumes ab. Damit konnen zum ei-
nen Kontinuitaten und Briiche verdeutlicht, zum anderen kann der groBe Einfluss in der
Barockzeit erklart werden (Johannes Meier). Gegenteiliges wird von dem Eremitenor-
den der Wilhelmiten ausgesagt, der seinen Hohepunkt um die Mitte des 13. Jahrhun-
derts erreicht hatte und aufgrund langfristiger Reformunfahigkeit bereits um die Mitte
des 14. Jahrhunderts begonnen hatte, zu verfallen. Mit dem Verlust des streng eremiti-
schen monastischen Ideals setzte der Zerfall des Ordens schon lange vor der Reformati-
on ein (Friedhelm Jiirgensmeier). Demgegeniiber ist der Einbruch des Antoniterordens
eher externen Ursachen zu verdanken, wie Adalbert Mischlewski aufzeigt. Hier war es
ein Konglomerat von papstlicher Pfriindenpolitik, fehlenden Visitationen und einer
Verbesserung der Ernahrung, die zu einem Riickgang des Antoniusfeuers fiihrte - und
somit dem Antoniusorden seine Existenzberechtigung entzog, was dazu fiihrte, dass ein
hoch angesehener und in ganz Europa verbreiteter Hospitalorden innerhalb weniger
Jahrzehnte vollig verschwand. Sehr aufschlussreich sind auch die Ausfiihrungen zu den
Zweigen des Franziskanerordens, werden doch hier die Sprengkraft der Armutsfrage
und die mit ihr verbundenen Konsequenzen besonders deutlich. Neben dieser theologi-
schen Diskussion konnen auch die politischen Interessen der Landesherren offengelegt
werden, die sich von der Einfuhrung der Observanz groBere Einflussmoglichkeiten und
finanzielle Vorteile versprachen (Christian Plath, Walter Ziegler).
Das Ziel des Handbuches ist es, in erster Linie fur vergleichende historische Studien
„eine wissenschaftlich fundierte und inhaltlich kompakte Ubersicht zur Verfugung zu
Kirchen-, Geistes- und Kulturgeschichte 507
stellen" (7). Dieses Ziel ist, so wird man urteilen diirfen, weitestgehend erreicht worden.
Dazu tragen zum einen die Bandbreite der vorgestellten Orden und Kloster, zum ande-
ren die Spannweite des zeitlichen Horizonts und schlieBlich die prazisen Karten bei.
Moglicherweise werden die drei Hefte sogar dank der in den Artikeln aufgezeigten zahl-
reichen Forschungsdesiderata zu neuen Forschungen anregen und AnstoB geben. Es wa-
re der Ordenshistoriographie zu wiinschen. Damit bietet das Handbuch einen guten
Uberblick zu ordensgeschichtlichen Fragestellungen in der Friihen Neuzeit. Dennoch
sei ein Desideratum angemerkt: AuBerst hilfreich ware ein gemeinsames Register fiir die
drei Bande gewesen, wo schon die Einzelbande ein solches vermissen lassen. Ein schnel-
ler Uberblick zu Akteuren und Orten ware somit moglich gewesen und hatte gerade in
komparationshistorischer Sicht das Durchforsten der einzelnen Beitrage nach gleichen
Personen oder Ortschaften eriibrigt. So waren in dem angezeigten Zeitraum der Einfluss
und der Gestaltungswille der Landesherren sowohl vorreformatorisch als auch (gegen-)
reformatorisch kaum zu iiberschatzen, was ein Register leicht fiir die verschiedenen Or-
den und Kloster hatte aufzeigen konnen. Inhaltlich wiinschenswert ware eine starkere
Ausarbeitung der jeweiligen Frommigkeit gewesen, wie dies in einigen wenigen Artikeln
geschehen ist, was aber, teilweise schon aufgrund fehlender Literatur zu diesem Thema,
kaum realisierbar ist.
Trotz dieses Wermutstropfens ist den Herausgebern und insbesondere den Autoren
fiir das vorliegende Handbuch zu danken, das als eine Bereicherung der ordensge-
schichtlichen Literatur anzusehen ist. Es fasst zahlreiche Einzel- und Spezialunter-
suchungen zusammen, bringt sie in eine einheitliche Form und bietet damit fiir den
Bereich der fruhneuzeitlichen Ordensgeschichte eine solide und empfehlenswerte Ein-
fiihrung.
Hannover Rajah Soheepers
Die Rundschreiben der Deutschen Christen Hannovers 1934 -1940 im Landeskirchlichen Archiv
Hannover. Bearb. von Giinter Goldbach unter Mitarb. von Britta Perkams. Hannover:
Lutherisches Verlagshaus 2006. 576 S. Kart. 69,90 €.
Mit der vorliegenden Quellensammlung wird die Kirchenkampfforschung um einen ge-
wichtigen Aspekt bereichert, denn es handelt sich um die erste kritische Edition einer
geschlossenen Sammlung von Rundschreiben deutschchristlicher Herkunft. Erstmals
ist es somit moglich, anhand von Quellen die Entwicklung dieser den deutschen Protes-
tantismus substantiell bedrohenden kirchenpolitischen Gruppierung der NS-Zeit in ei-
ner Landeskirche nachzuvollziehen. Man mag einwenden, fiber die Deutschen Christen
sei doch alles Wesentliche bekannt und die nahere Beschaftigung mit diesem etwas un-
appetitlichen Forschungsgegenstand sowieso unerquicklich, und wird dennoch nicht
abstreiten konnen, dass eine wenn auch nur kurzzeitig so einflussreiche Gruppierung
wie die Deutschen Christen in der bisherigen Editionsarbeit zum Kirchenkampf eindeu-
tig unterreprasentiert ist. Diesem Mangel hilft der vorliegende Band fiir den Bereich der
hannoverschen Landeskirche ab.
Mit Hilfe der im Landeskirchlichen Archiv Hannover vorfindlichen Rundschreiben
von 1934 bis 1940 wird der Weg der Deutschen Christen Hannovers in deren eigener
Sicht nachvollziehbar - mit alien seinen Ungereimtheiten, theologisch-kirchlichen Un-
508 Besprechungen
moglichkeiten, peinlichen Anbiederungen an den NS-Staat und mitunter auch naiven
Hilflosigkeiten. Enttauschung iiber die eben doch nicht vollendete Ubernahme und
Gleichschaltung der Landeskirche stent unvermittelt neben der Hetze gegen die Beken-
nende Kirche; der Hoffnung auf den lange schwankenden Landesbischof Marahrens
folgt abrupt die harte Kritik an seinem Kurs, als klar wurde, dass er der deutschchristli-
chen Ubernahme der Macht in Hannover dann doch nicht den Weg ebnen wollte. Sehr
klartritt auch die Vielgestaltigkeit derDeutschen Christen zutage, deren Protagonisten -
unabhangig von ihrer Einigkeit in der Agitation gegen die Bekennende Kirche - doch
von durchaus unterschiedlichen Motivationen geleitet waren. Subjektiv ehrliches Be-
miihen um Volksmission, dem die Enttauschung iiber den „Unwillen" bekenntniskirchli-
cher Kreise anzumerken ist, steht neben plumpem Machtstreben, dem die Feme zu jeder
Art theologischen Denkens ebenso anzumerken ist.
Der Nutzen einer solchen Edition vor allem fur die landeskirchengeschichtliche For-
schung ist unbestreitbar, auch wenn wirklich „Neues" nicht enthiillt wird. Die Genese
bestimmter Entscheidungen und die Rolle einzelner Funktionstrager sind einfach besser
zu rekonstruieren, wenn sie einmal auch aus der Sicht der Handelnden selbst betrachtet
werden konnen. Nutzlich fur auch iiber den engeren hannoverschen Bereich am Kir-
chenkampf Interessierte ist zudem, dass in den Rundschreiben sehr viele „sekundare"
Dokumente aus der Bekennenden Kirche wie aus anderen deutschchristlichen Richtun-
gen (Thiiringen!) abgedruckt wurden, die sonst nur schwer zuganglich sind (ein Ver-
zeichnis dieser Dokumente im Anhang hatte diese Niitzlichkeit erheblich verstarkt, fehlt
aber leider) . Die Dokumente sind - von wenigen bei einer solchen Arbeit wohl nicht zu
vermeidenden kleinen Fehlern abgesehen - sorgfaltig ediert; die dem Personenregister
beigefiigten Biogramme diirften iiber die Lekture dieser Edition hinaus hilfreich sein.
Leider kann man das von der der Edition vorangestellten Einleitung nicht in gleichem
MaBe behaupten. Sie beschreibt den „zeitgeschichtlichen Kontext", stellt die fiihrenden
Reprasentanten der Deutschen Christen Hannovers vor und skizziert abschlieBend - be-
sonders auf die Rundschreiben Bezug nehmend - ihr ,,kirchenpolitisches Konzept" und
ihre „Theologie". Peinlicher schon als die kleinen Fehler in der Edition erscheint es,
wenn die Berufung August Jagers zum Staatskommissar fur die preuBischen Kirchen auf
den 17. Juni datiert wird (S. 17), richtig ist der 23. Juni (in den bewegtenJuni-Tagen 1933
ein nicht unwichtiger Unterschied). Inhaltlich spannend wird es, wenn die Einsetzung
des Kapler- Ausschusses (Loccumer Verhandlungen), dem auch der hannoversche Lan-
desbischof Marahrens angehorte und der die Verfassung einer einheitlichen deutschen
evangelischen Kirche beraten sollte, in einen direkten Zusammenhang mit einem ent-
sprechenden Verlangen der Nationalsozialisten gebracht wird (S. 16) ; bei diesem Schritt
- durch die radikalen Forderungen der Deutschen Christen sicher begiinstigt und be-
schleunigt - hat es sich doch eher um die Aufnahme weit verbreiteter Gedanken und um
vorauseilenden Gehorsam gehandelt, aber zu diesem Zeitpunkt sicher nicht um die Re-
aktion auf staatlichen konkreten Druck.
An der Bewertung der schon genannten Abdrucke von „sekundaren" Dokumenten in
den Rundschreiben entziindet sich dann ein grundsatzliches Problem: Der Verfasser der
Einleitung unternimmt es namlich, anhand von Vergleichen der vor allem in den zitier-
ten Dokumenten der Thiiringer Deutschen Christen zutage tretenden theologischen An-
sichten mit Aussagen von hannoverschen Deutschen Christen zu konstatieren, letztere
hatten eine „gemaBigte" Theologie vertreten, seien im Vergleich mit jenen also wohl
deutlich „harmloser" gewesen. Dies verwundert umso mehr, als nicht kaschiert werden
Kirchen-, Geistes- und Kulturgeschichte 509
kann, dass nach dem offenkundigen Scheitern der Bemiihungen in Hannover eine Hin-
wendung des iiberwiegenden Teiles der Deutschen Christen Hannovers zuerst nach Bre-
men, dann abernach Thiiringen festzustellen ist. Das Fehlenjeder Art von Quellenkritik
springt spatestens bei solchen Interpretationen ins Auge. Kann man wirklich aus einem
Vergleich der in den Rundschreiben der Deutschen Christen Hannovers zustimmend
abgedruckten Beitrage Thiiringer Deutschen Christen mit genuin „hannoverschen"
Hervorbringungen ableiten, diese seien im Vergleich zu jenen „gemaBigt"? Muss man
nicht vielmehr gerade im Blick auf die weitere Entwicklung fragen, warum solche Beitra-
ge dann iiberhaupt in diesem Tenor abgedruckt wurden? Und konnte man nicht auch in
Erwagung Ziehen, dass vielleicht gerade die in Hannover lange „unentschiedene" Situa-
tion viele AuBerungen dahingehend beeinflusste, dass sie nun eben nicht explizit „radi-
kal" argumentierten? Im Zusammenhang damit fallt ebenfalls auf, dass bei der Darstel-
lung des „kirchenpolitischen Konzeptes" und der „Theologie" der Deutschen Christen
Hannovers die Darstellung Kurt Meiers, der diese sehr kritisch bewertet und den Kon-
nex zu Thiiringen hervorhebt, gar nicht auftaucht, wiewohl sie sonst verwendet wird.
Sollen hier die Deutschen Christen Hannovers bewusst „harmlos" dargestellt werden,
um eine Begriindung dafiir zu liefern, warum die hannoversche Kirchenleitung und spe-
ziell Landesbischof Marahrens sich nicht zu einer wirklich eindeutigen Haltung ihnen
gegeniiber durchringen konnten? Oder wie hat man es zu verstehen, wenn einer Weih-
nachtsbotschaft des Landesleiters Gerhard Hahn konzediert wird, sie enthalte eine „to-
tale Rezeption traditionell-kirchlicher Sprache und Vorstellungen"? Wenn man von
jeder AuBerung, auch einer solchen anlasslich des Weihnachtsfestes, erwartet, sie miisse
das komplette deutsch-christliche Gedankengut enthalten, mag das iiberraschen - aber
wer erwartet das? Dass es innerhalb der Deutschen Christen durchaus Abstufungen hin-
sichtlich ihrer Gebundenheit an „traditionelle Kirchlichkeit" gegeben hat, ist doch nicht
wirklich aufregend. Zu fragen ist aber gerade dann, wie es zu bewerten ist, dass solche
Vertreter der Deutschen Christen sich von ihren wesentlich radikaleren Gesinnungsge-
nossen eben nicht abgrenzten, sondern deren pseudotheologische Ergiisse zustimmend
abdruckten!
Es erscheint ein wenig bedauerlich, dass die vorliegende Edition, deren eigener Wert
dadurch keineswegs bestritten sein soil, durch solche vorgegebenen Interpretationen in
den Verdacht gerat, den umstrittenen Kurs von Landesbischof Marahrens, auf den in
der Einleitung (S. 14 f.) dezidiert hingewiesen wird, zu rechtfertigen. Sicherlich wird die
Frage nach der Rolle des Landesbischofs in der NS-Zeit wohl weiter ein Thema der For-
schung bleiben und innerhalb der hannoverschen Landeskirche vielleicht sogar ein kon-
trovers diskutiertes. Bestimmt aber gibt es spannendere Fragen in Zusammenhang mit
den Deutschen Christen, etwa die, inwieweit es sich bei ihnen um eine „moderne" theo-
logische Bewegung handelte (erinnert sei nur an das Stichwort „kontextuelle Theolo-
gie"). Gerade anhand solcher regionaler Quellen, die eine gewisse Breite des Materials
gewahrleisten, kann hervorragend untersucht werden, welche auch „traditionell-kirchli-
chen" Vorstellungen und Stromungen sich in dieser Bewegung zusammenfanden und
wie diese dort bedient wurden. Forderungen wie etwa die nach mehr Nahe zu den Men-
schen und ihrer Situation, nach weniger theologischer Fachsimpelei und mehr prakti-
scher Umsetzung des Evangeliums, nach weniger theologischem Streit und mehr Einmii-
tigkeit, nach groBerer Sichtbarkeit von Kirche usw. sind ja nicht allein dem Programm
einiger Nazi-Theologen von Vorgestern entsprungen, sondern stutzten und stiitzen sich
auf weitverbreitete Ansichten und Einstellungen gegeniiber der evangelischen Kirche,
510 Besprechungen
deren vordergriindige Plausibilitat nicht vor groBen Vereinfachungen und Irrtiimern
schiitzt.
Korrigenda: Unschon ist, wenn in der Einleitung ein „Wortfiihrer" der Deutschen
Christen mit einem Beitrag auf deren erster Reichstagung zitiert wird, ohne dass dieses
Zitat belegt wird (S. 25). In Anm. 47 wird auf den Aufsatz von Detlef Schmiechen-
Ackermann mit der Seitenangabe „S. 248" verwiesen; bei der erstmaligen Erwahnung
in Anm. 1 steht als Seitenangabe fur den ganzen Aufsatz jedoch „S. 460 ff." In einem
Dokument aus der Bekennenden Kirche ist in einer Reihe mit Hans Freiherr von Soden
(fehlt im Personenregister!) und Wilhelm Flor sicher von Eberhard Fiedler, nicht von
Georg Fiedler die Rede (S. 327); auf Letzteren wird aberim Personenregister verwiesen
(S. 546).
Miinster PeterZocHER
WESSELS,Bernhard: Die katholische Mission Bremerhaven. Geschichte derkatholischen Kir-
che an der Unterweser von 1850 bis 1911. Bremerhaven: Stadtarchiv Bremerhaven
2007. 408 S. Abb., Kt. = Veroff. des Stadtarchivs Bremerhaven Bd. 17. Geb. 22,50 €.
Das 1827 als bremische Exklave gegriindete Bremerhaven erlebte als Auswandererha-
fen und aufgrund einer rasant wachsenden Werftindustrie einen bemerkenswerten Auf-
schwung, der sich auch auf die benachbarten hannoverschen, rein protestantischen Ort-
schaften Lehe und Geestemunde auswirkte. Unter den zugewanderten Bau- und Ffafen-
arbeitern, Kaufleuten und unter den Auswanderern befand sich eine groBere Anzahl
von Katholiken, die seelsorglich betreut werden mussten. Dies geschah ab 1850 von Bre-
men aus. Der Antrag auf Errichtung einer katholischen Missionsstation wurde zweijah-
re spater genehmigt. Jedoch musste der vom Bischof von Hildesheim entsandte erste
Seelsorger Friedrich Karl August Goltermann, der noch der Bremer St.-Johannis-Ge-
meinde unterstand, einstweilen seinen Wohnsitz in Bremen nehmen, weil ihm nur fiir
einige Tage eine Aufenthaltsgenehmigung fiir Bremerhaven erteilt wurde. Erst die Dra-
ining, diese die Seelsorge beeintrachtigende MaBnahme einer weiteren Offentlichkeit in
Deutschland und Osterreich bekannt zu machen, bewog den zustandigen Amtmann,
Goltermann einen Dauerwohnsitz in Bremerhaven einzuraumen. Die Furcht vor einem
Riickgang der Auswandererzahlen veranlasste auch in den folgenden Jahren den Bre-
mer Senat, der prinzipiell an den aus der staatlichen Kirchenhoheit flieBenden Rechten
festhielt, den Katholiken Zugestandnisse zu machen.
Nachdem das Bremerhavener Auswandererhaus fiir den katholischen Gottesdienst
nicht mehr genutzt werden konnte, wurde dieser in eine provisorische Kapelle verlegt.
Das Wachstum der katholischen Gemeinde, die 1862 ca. 500 Glaubige zahlte, machte
den Bau einer Kirche notwendig. Antrage bei den Regierungsstellen auf Genehmigung
zum Kirchenbau und kostenlose Uberlassung eines Bauplatzes hatten schlieBlich Er-
folg; 1867 konnte die St.-Marien-Kirche konsekriert werden. Sie blieb einstweilen Filial-
kirche von St. Johann in Bremen. Von St. Marien in Bremerhaven, das kirchlich zum
Apostolischen Vikariat der Norddeutschen Missionen gehorte, wurden auch die Katho-
liken in den hannoverschen, der Diozese Hildesheim zugeordneten Gemeinden Gee-
stemunde und Lehe betreut. Goltermanns Nachfolger setzten nach 1867 den inneren
Ausbau der Bremerhavener Gemeinde zielstrebig fort, die 1909 mit Zustimmung des
Kirchen-, Geistes- und Kulturgeschichte 511
Bremer Senates die voile Selbstandigkeit einschlieBlich Steuererhebungsrecht erhielt.
Zur gleichen Zeit hatten sich in Geestemiinde und Lehe eigenstandige Kirchengemein-
den gebildet, so dass diese Orte nicht mehr von Bremerhaven aus versorgt wurden.
Bernhard Wessels stellt in seiner von Franklin Kopitzsch, Bremen, betreuten, auf
breiter Quellengrundlage basierenden Dissertation, nach den leitenden Seelsorgern ge-
gliedert, diese Entwicklung der katholischen Kirchengemeinde in Bremerhaven dar.
Der Endtermin derUntersuchung, dasjahr 1911, Iasst sich mit dem Entstehen rechtsfahi-
ger Kirchengemeinden in den drei Unterweserorten rechtfertigen. Aufschlussreich sind
Wessels Ausfuhrungen iiber die Beziehungen der Gemeinde zur protestantischen Um-
welt, die sich im Laufe der Zeit erheblich verbesserten, iiber das katholische Schulwesen,
das sich wegen der unterschiedlichen staatskirchenrechtlichen Situation in Bremerha-
ven in kirchlicher, im hannoverschen Teil in kommunaler Tragerschaft befand, und iiber
den Ausbau des katholischen Vereinswesens und der karitativen Einrichtungen, die wie
das St.-Joseph-Krankenhaus vornehmlich in der Hand der Franziskanerinnen zu St.
Mauritz bei Miinster lagen. Alle diese Aktivitaten sollten zur Sicherung der konfessio-
nellen Identitat in einer extremen Diasporasituation beitragen. Trotzdem erlitt die ka-
tholische Gemeinde nicht zuletzt infolge der hohen Anzahl konfessionsverschiedener
Ehen und der daraus resultierenden akatholischen Kindererziehung betrachtliche Ver-
luste, wie Wessels anhand etlicher Tabellen iiber den katholischen Bevolkerungsanteil,
Taufen, Trauungen, Beerdigungen, Kirchenbesuch etc. verdeutlichen kann. Insgesamt
zeichnet der Verfasser in einer gut lesbaren Form ein iiberzeugendes Bild einer katholi-
schen Diasporagemeinde in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg mit all ihren
Schwierigkeiten und Chancen.
Hannover Hans-Georg Aschoff
Das deutsche Archivwesen und der Nationalsozialismus. 75. Deutscher Archivtag 2005 in
Stuttgart. Redaktion: Robert Kretzsohmar in Verbindung mit Astrid M. Eckert,
Heiner Schmitt, Dieter Speck und Klaus Wisotzky. Essen. Klartext Verlag 2007.
539 S. Abb., graph. Darst. Geb. 32,- €.
Spater als andere Berufsgruppen haben sich die deutschen Archivare mit der Geschich-
te ihrer Zunft im Dritten Reich auseinandergesetzt. Die Zeit von 1933 bis 1945 wurde bis
in die 1990erjahre hinein iiblicherweise nicht unter dem Gesichtspunkt der Einbindung
der Archive und der an ihnen tatigen Archivare in das Herrschaftssystem des National-
sozialismus, sondern vor dem Hintergrund der durch Kriegseinwirkung eingetretenen
Gebaudeschaden und Archivalienverluste betrachtet. Wesentliche AnstoBe zur Aufar-
beitung der Geschichte des deutschen Archivwesens im Dritten Reich sind erst jungeren
Forschungen zu verdanken. Die Beschaftigung mit diesem Thema im Rahmen des Deut-
schen Archivtags in Stuttgart 2005 erschien also mehr als iiberlallig. Die Beitrage des
Stuttgarter Archivtags liegen nunmehr mit dem hier zu besprechenden Tagungsband im
Druck vor.
Der erste der sechs Themenkreise, in welche der Band gegliedert ist, nimmt Aspekte
nationalsozialistischer Archivpolitik in den Blick und beschaftigt sich mit der Nutzung
archivischer Instrumente im Sinne des Nationalsozialismus, mit der Uberlielerungsbil-
dung im Dritten Reich und in der unmittelbaren Nachkriegszeit, mit den gescheiterten
512 Besprechungen
Bestrebungen einer reichseinheitlichen Archivgesetzgebung in jener Zeit, mit Arbeitsta-
gungen der deutschen Archivverwaltungen und mit nationalsozialistischen Archivbau-
ten, wobei angemerkt sei, dass dieser Beitrag sich mangels Masse ausschlieBlich mit dem
Reprasentationsbau des Staatsarchivs Marburg und dem Magazingebaude des Staatsar-
chivs Miinster beschaftigt. Die 1936/38 schon weit fortgeschrittenen Planungen eines
neuen Dienstgebaudes fiir das Staatsarchiv Hannover sollten schlieBlich militarischen
BaumaBnahmen zum Opfer fallen.
Im zweiten Abschnitt zur Geschichte geraubter, beschlagnahmter und missbrauchter
Archive finden sich - hier kompositorisch sicherlich nicht gliicklich vereint - einerseits
Aufsatze iiber das Schicksal des Internationalen Archivs der Frauenbewegung in Am-
sterdam, des Archivs der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und des Archivs
der jiidischen Gemeinde zu Worms, andererseits Darstellungen iiber die Beschaffung
von „Ariernachweisen" in bayerischen Pfarrarchiven, iiber die im gleichen Kontext ste-
hende angedrohte Enteignung der Kirchenbiicher durch den Staat sowie iiber die Meck-
lenburgische Sippenkanzlei. Der dritte Block hat die „Deutsche Archivpolitikim besetz-
ten Ausland" zum Gegenstand. Der Beitrag von Stefan Lehr beschaftigt sich mit den in
das Generalgouvernement abgeordneten deutschen Archivaren (S. 166-174), wahrend
andere, starker auf die Biographie einzelner Personen ausgerichtete Beitrage die Tatig-
keit deutscher Archivare im besetzten Frankreich, im Elsass, in Belgien und in den Nie-
derlanden in den Blick nehmen. Die im Tagungsband noch angekiindigte, sehr lesens-
werte Dissertation Lehrs iiber den Einsatz deutscher Archivare im Generalgouverne-
ment und im Reichskommissariat Ukraine liegt inzwischen im Druck vor.
Der vierte Abschnitt zur Geschichte der staatlichen Archive im Dritten Reich besteht
aus biographischen Beitragen iiber Eckart Kehr, den Neffen des ehemaligen Generaldi-
rektors der preuBischen Staatsarchive Paul Fridolin Kehr und iiber den Schweriner
Staatsarchivar Georg Tessin sowie aus Darstellungen zur Geschichte der staatlichen Ar-
chive in Wien, in der Rheinpfalz, im Saargebiet, im Moseldepartement und in Wiirttem-
berg. Der fiinfte Block zur Geschichte kommunaler Archive wartet mit Beitragen zu rhei-
nischen und westfalischen Stadtarchiven sowie zu den Stadtarchiven Frankfurt/M., Eger
und Amberg, Hof, Saarbriicken und Stuttgart auf. Aus niedersachsischer Perspektive ist
das Fehlen entsprechender Fallstudien fiir den Bereich des heutigen Bundeslandes sehr
zu bedauern.
Der sechste Abschnitt zum Thema „Kontinuitat und Vergangenheitsbewaltigung
nach 1945" schlagt den Bogen von der NS-Zeit nahezu bis in die Gegenwart. Das Kern-
stiick dieses Blockes - der Beitrag von Astrid M. Eckert, „Im Fegefeuer der Entbrau-
nung" - vermag allein schon aufzuzeigen, weshalb die Aufarbeitung der eigenen Ge-
schichte wahrend des Dritten Reiches durch den Archivarsstand erst rund 50 Jahre nach
Kriegsende eingesetzt hat: Der Generaldirektor der preuBischen Staatsarchive, Ernst
Zipfel, war gleichsam das Bauernopfer, welches das deutsche Archivwesen im Rahmen
der Entnazifizierung bringen musste. Fast alle anderen Archivare waren iiber kurz oder
lang wieder im Amt und pragten das bundesrepublikanische Archivwesen iiber Jahr-
zehnte. Weitere Beitrage dieser Sektion beschaftigen sich mit dem Sudwestdeutschen
Archivtag von 1946, mit personellen Briichen und Kontinuitaten im deutschen Wirt-
schaftsarchivwesen und mit dem Umgang mit der NS-Vergangenheit im zentralen Ar-
chivwesen der DDR. SchlieBlich sei auch das informative Protokoll der engagiert, aber
sachlich gefiihrten Podiumsdiskussion zur Lekture sehr empfohlen.
Kirchen-, Geistes- und Kulturgeschichte 513
Fur die Geschichte des staatlichen Archivwesens in Niedersachsen sind die Beitrage
des Bandes unter vielfaltigen Gesichtspunkten interessant. Die iiberwiegende Mehrzahl
der zwischen 1933 und 1945 an den staatlichen Archiven im Bereich des heutigen Bun-
deslandes Niedersachsen tatigen Archivare wurde wahrend des Zweiten Weltkriegs zur
Wehrmacht eingezogen. Auslandseinsatze als Archivare sind nur fur den Osnabrucker
Staatsarchivrat Ernst Beins und den hannoverschen Archivdirektor Georg Schnath zu
verzeichnen. Eine entsprechende Tatigkeit des als Soldat in Griechenland stationierten
oldenburgischen Archivleiters Hermann Lubbing wurde 1944 nicht genehmigt.
Somit fallt aus niedersachsischer Perspektive der Blick in erster Linie auf den Beitrag
von Wolfgang Hans Stein iiber „Georg Schnath und die franzosischen Archive unter
deutscher Besatzungsverwaltung" (S. 175-194). Der langjahrige Leiter des Staatsarchivs
Hannover war von August 1940 bis Marz 1944 Leiter der „Gruppe Archivwesen" beim
Militarbefehlshaber Frankreich in Paris. Gestiitzt v. a. auf Schnaths Tagebuchaufzeich-
nungen zeichnet Stein den Archivarsalltag in der Hauptstadt des besetzten Frankreich
nach. In Schnaths Tagebuchern zeigt sich - so bilanziert Stein - ,,insgesamt doch eine
eher geringe Distanz zum Nationalsozialismus" (S. 179). Es finden sich aber auch niich-
terne Betrachtungen der Aktivitaten der franzosischen Resistance, fur die Schnath ein
gewisses Verstandnis aufbringt, Bemerkungen iiber den „krampfhaften Optimismus"
der deutschen Propaganda (S. 180) und - immerhin schon am 1. September 1941 - ernst-
hafte Zweifel am deutschen „Endsieg".
Nach dem Zweiten Weltkrieg fanden zahlreiche Archivare, die vor 1945 entweder in
den von Deutschland besetzten Gebieten oder in den deutschen Gebieten ostlich von El-
be und Saale zum Einsatz gekommen waren, in den staatlichen Archiven des sich konsti-
tuierenden Landes Niedersachsen Aufnahme. Der damalige Leiter der niedersachsi-
schen Archivverwaltung, der unbelastete und personlich vollig untadelige Rudolf Grie-
ser, hatte selbst der Versuchung widerstanden, aus Karrieregrunden der Partei
beizutreten,und dafiirberufliche Nachteile in Kauf genommen. Ersahjedoch Kollegen,
deren groBe fachliche Kompetenz er schatzte, Parteizugehorigkeit und bis zu einem ge-
wissen Grad auch Verstrickung in das NS-System durchaus nach; zweifellos ist hier
noch ein unmittelbares Nachwirken des im preuBischen Archivbeamtentum herrschen-
den Korpsgeists deutlich spiirbar. Fur viele der geflohenen und heimatvertriebenen Ar-
chivare blieb die Beschaftigung in Niedersachsen nur eine Episode in ihrer Karriere, in-
dem es sie in erster Linie an das 1952 neugegrundete Bundesarchiv weiterzog.
Kein Ruhmesblatt fur die junge niedersachsische Archivverwaltung war die Beschaf-
tigung des ehemaligen Schweriner Archivars Georg Tessin, mit dessen Biographie sich
Matthias Manke beschaftigt (S. 281-312). Nur kurze Zeit - von April bis Dezember 1954
- am Staatsarchiv Wolfenbiittel und im Staatlichen Archivlager in Gottingen tatig,
machte Tessin spater am Bundesarchiv aus seiner unverbesserlichen braunen Gesin-
nung keinen Hehl. Er verschwieg in Publikationen vorsatzlich den Massenmord an den
europaischen Juden, beschonigte die NS-Herrschaft und drohte sogar einem jiingeren
Kollegen am Bundesarchiv offen, dieser miisse sich - „wenn wir wieder an die Macht
kommen" [sic!] - eine neue Stelle suchen (S. 310f. und S. 492).
Andere ostvertriebene Archivare sollten zu festen GroBen der niedersachsischen Ar-
chivverwaltung werden, so etwa der erste Leiter des Staatsarchivs Biickeburg, Franz
Engel, und der Griindungsdirektor des Staatsarchivs Stade, Erich Weise. Gerade an der
Biographie Weises lasst sich die ganze Ambivalenz derHaltung deutscher Archivare vor
514 Besprechungen
dem Hintergrund der nationalsozialistischen Weltanschauung aufzeigen. Uber sein Aus-
scheiden aus dem Dienst durch Erreichen der Altersgrenze 1960 hinaus als Archivar
von groBer Arbeitskraft geschatzt, finden heute befremdlich wirkende AuBerungen wie
auf dem Deutschen Archivtag in Konigsberg im September 1933, als Weise den Archiva-
ren in den deutschen Ostgebieten eine wichtige Aufgabe bei der Abwehr v. a. polnischer
Anspriiche zuwies (S. 14 und S. 509), nach 1945 ihre Fortsetzung in revisionistischen
Forschungen mit deutlich antipolnischer Tendenz.
Der Ertrag des Bandes fur die niedersachsischen Kommunalarchive ist leider denkbar
gering. Erwahnung findet die kurzzeitige Tatigkeit des Griindungsdirektors des Bundes-
archivs, Georg Winter, als Stadtarchivar in Liineburg 1946 bis 1952 (S. 433). Auch dem
Stadtarchiv Goslar bescherte die Unterbringung ostvertriebener Archivare mit dem ehe-
maligen Kattowitzer Archivdirektor Karl Gustav Bruchmann von 1948 bis 1960 einen
prominenten Stelleninhaber. Der ehemalige Stader Stadtarchivar Martin Granzin, der
von November 1941 bis Mai 1943 fur den Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg in der
Ukraine tatig gewesen war, wurde imjuli 1945 von der sowjetischen Geheimpolizei ver-
haftet und zunachst fiinf Jahre lang in Sachsenhausen inhaftiert, um 1950 in Waldheim
verurteilt und erst 1952 wieder freigelassen zu werden (S. 283, S. 431 und S. 482).
Die Erforschung der Geschichte des deutschen Archivwesens im Dritten Reich kann
mit dem vorliegenden Band sicherlich noch nicht als abgeschlossen gelten. Interessante
Informationen und wichtige Anregungen zur weiteren Beschaftigung mit diesem Thema
stellen die Tagungsbeitrage jedoch in groBer Fiille zur Verfugung. Fur biographische
Studien zu den deutschen Archivaren jener Zeit sei abschlieBend auf die fur solche
Zwecke noch viel zu wenig genutzten Entnazifizierungsakten hingewiesen. Diese Quel-
lengattung verschweigt sicherlich vieles, was den jeweiligen Antragsteller hatte belasten
konnen, und bauscht banale Reibereien mit Parteidienststellen zum Widerstand auf. Bei
Auswertung unter quellenkritischen Gesichtspunkten allerdings haben diese Akten
zweifellos eine groBere Aussagekraft als panegyrische Nachrufe in landesgeschichtli-
chen und archivischen Fachzeitschriften.
Hannover Christian Hoffmann
Crusius, Gabriele: Aufkldrung und Bibliophilie. Der Hannoveraner Sammler Georg Fried-
rich Brandes und seine Bibliothek. Heidelberg: Universitatsverlag Winter 2008. 219
S. Abb. = Beihefte zum Euphorion H. 54. Geb. 34,- €.
Um es vorweg zu nehmen, mit Aufkldrung und Bibliophilie stellt Gabriele Crusius ein
sehr interessantes und lesenswertes Buch vor, das zudem noch uber den Vorzug verfiigt,
lesbar zu sein. In konsequent schnorkelloser Sprache, die fur jedermann verstandlich ist
und dennoch dem anspruchsvollen Gegenstand gerecht wird, geht Crusius ihr Thema
an. Dieses Thema mit nur einer Aussage zu fassen fallt schwer, behandelt sie doch um
den Hannoveraner Sammler Georg Friedrich Brandes herum eine Vielzahl von Ge-
sichtspunkten, die, jeder fur sich genommen, neue Erkenntnisse versprechen und lie-
fern. Ausgehend von der Person des Georg Friedrich Brandes, dem Vater des weit be-
kannteren Ernst Brandes, beschaftigt sie sich mit dessen ausgepragten Sammelleiden-
schaften fur Biicher und Kupferstiche. Zentral geht es ihr um die Bibliothek Brandes',
die als Griindungsbestand der Oldenburgischen Landesbibliothek die Zeit als geschlos-
Kirchen-, Geistes- und Kulturgeschichte 515
senes Ensemble iiberdauert hat, doch wirft sie mehr als nur ein Schlaglicht auf die be-
deutende Kupferstichsammlung, die Brandes im Laufe seines Lebens zusammengetra-
gen hat. Urn die Sammelleidenschaft Brandes' ansatzweise zu verstehen, ist es notwen-
dig, mehr als nur dessen uberlieferte Bibliothek zu betrachten und zu analysieren, auch
der Blick auf die zerschlagene Kupferstichsammlung, die zu ihrer Zeit zu den bedeu-
tendsten ihrer Art in Deutschland zahlte, fiihrt zu wichtigen Erkenntnissen. Notwendig
ist es ebenfalls, die Person Brandes' aus den vorliegenden Quellen heraus darzustellen
und deren Charakterziige herauszuarbeiten. FuBend auf einer offensichtlich exzellen-
ten Kenntnis der Buchbestande und der listenmaBig bekannten Kupferstichbestande
ebenso wie auf intensiver Quellenarbeit, besonders der im Cod. Ms. Heyne in der
Staats- und Universitatsbibliothek Gottingen iiberlieferten ca. 1.500 Briefe Brandes' an
seinen Freund und spateren Schwiegersohn Christian Gottlob Heyne, vermag sie ein
Bild der Person Brandes' und seiner Sammlungen sowie seiner Sammeltatigkeit heraus-
zuarbeiten. Dabei entsteht weit mehr als nur das Bild eines Mannes und seiner Eigen-
heiten sowie ihrer Ergebnisse, es entsteht gleichfalls eine Vorstellung davon, welche
Funktion das Sammeln und die Presentation der Ergebnisse zu jener Zeit hatte. Auf ei-
nem soliden theoretischen Fundament und eingebettet in das historische Umfeld von
Zeit und Ort, bietet Crusius weit mehr als nur eine Bibliotheksgeschichte. Sie liefert ei-
ne Analyse biirgerlichen Sammelns, biirgerlicher Bibliotheken, biirgerlichen Lesens im
achtzehnten Jahrhundert in Norddeutschland, wie sie bisher noch nicht bekannt sind.
Somit bedient dieses Buch neben bibliothekshistorischen Fragestellungen auch Fragen
zur Sozialgeschichte allgemein, zur Bildungsgeschichte, zur Wirtschaftsgeschichte, be-
sonders der Buchhandelsgeschichte, und naturlich zur Kulturgeschichte jener Zeit.
In einer bemerkenswerten Analyse des Buchbestandes zeigt Crusius auf, wie Brandes
den Bestand zusammengetragen hat, welche Schwerpunkte er dabei gesetzt hat. Dem
Leser wird vor Augen gefiihrt, dass Brandes mit seinem Bestand in seinem Umfeld ganz
erheblichen Einfluss auf das Leseverhalten nahm und damit pragend fur die Wahrneh-
mung der intellektuellen und teils auch politischen Stromungen wurde. Besonders
schon gelingt dies Crusius, wenn sie die Reflexe der englischen Literatur in Brandes' Bi-
bliothek und deren Rezeption durch sein Umfeld analysiert. Gut gelungen ist auch die
Darstellung der Stromungen, deren Rezeption Brandes nicht mehr gelang. So zeigt sich
an Brandes' Bibliothek, aber auch in seiner Korrespondenz an Heyne, wie das aufstre-
bende Biirgertum mittels Bildung seinen Platz in der Gesellschaft neu definiert.
Neben allem Lob tauchen naturlich auch kritische Anmerkungen auf. Ungefragt
bleibt, warum Brandes nach einem Leben des Sammelns zum Ende seines Lebens hin
selbst die Entscheidung fallte, seine Bestande zu verauBern und diese fur seine Biicher-
sammlung auch praktisch umsetzte und fiir seine Kupferstichsammlung einleitete. War
es die nachlassende Gesundheit Brandes', waren es Geldverlegenheiten, war es man-
gelndes Interesse seines Sohnes an der Fortfuhrung der Sammlungen, waren es Erban-
spriiche der Kinder, war es eine allgemeine Sammelmudigkeit? Crusius' Hinweise auf
Brandes nachlassende Gesundheit (S. 40, 49), auf seine Vermogensverhaltnisse (S. 40-
45) , ein mangelndes Interesse seines Sohnes Ernst (S. 10) , auf Erbanspriiche (S. 54) oder
auch ihr Brandeszitat, „dass auf einen Sammler ein Zerstreuer folgen muss" (S. 55) , las-
sen keinen definitiven Riickschluss auf die Griinde fiir die Auflosung der Sammlungen
1 z.B. der Gottineer Ha
516 Besprechungen
zu. Wenn das Quellenmaterial keine Aussage hierzu erlaubt, ware auch diese Aussage
fiir den Leser hilfreich gewesen.
Verwunderlich ist ebenfalls, dass die Konigliche Bibliothek in Hannover in Crusius
Uberlegungen eine derart untergeordnete Rolle spielt. Sicher war sie zu Brandes Zeit
nicht mehr das Haus mit iiberregionaler Strahlkraft, das sie zu Leibniz' Zeiten gewesen
war. Andererseits verfiigte sie iiber einen fiir ihre Zeit bemerkenswert guten Altbestand,
der einen Sammler wie Brandes bestimmt bei seiner eigenen bibliophilen Sammeltatig-
keit angeregt hat. Als hoher Staatsbeamter in Hannover verfiigte er zudem iiber einen
ungehinderten Zugang zur Bibliothek. Auch fallt in seine Amtszeit als Universitatsdezer-
nent fiir die Universitat Gottingen beispielsweise auch die Abgabe der knapp 2000 Stii-
cke umfassenden Sammlung medizinischer Handschriften an die Universitatsbibliothek
Gottingen. Ebenso fehlen Hinweise auf die ebenfalls bedeutende Ratsbibliothek in
Hannover, die heutige Stadtbibliothek. Auch das Literaturverzeichnis gibt keinerlei
Hinweis darauf, dass Titel zur Geschichte dieser Bibliothek konsultiert wurden.
Als nachteilig erweist sich auBerdem, dass Crusius nur ein Register der genannten
Personen beigefiigt hat. Weder Institutionen noch Sachbegriffe sind gezielt suchbar.
Zum Schluss bleibt noch, darauf hinzuweisen, dass eine Anzahl von Druckfehlern, wie
man sie beim Universitatsverlag Winter aus Heidelberg nicht erwartet, das Lesevergnii-
gen ein wenig stort. Insgesamt ist festzuhalten, dass Crusius, einigen blinden Flecken
zum Trotz, ein wichtiges Buch zur Bibliotheks-, Bildungs- und Kulturgeschichte Nord-
deutschlands im 18. Jahrhundert geschrieben hat.
Melle Friedrich Hulsmann
Quellen zur Geschichte der Welfen und die Chronik Burchards von Ursberg. Hrsg. und libers, von
Matthias Beoher unter Mitarbeit von Florian Hartmann und Alheydis Plassmann.
Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2007. 328 S. = Ausgewahlte Quellen
zur deutschen Geschichte des Mittelalters Bd. 18b. Geb. 99,90 €.
Matthias Becherund seine Mitarbeiter legten 2007 in derbekannten Reihe „ Ausgewahl-
te Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters" einen Band mit „Quellen zur Ge-
schichte der Welfen" vor. Dieser, entsprechend den Reihenrichtlinien, zweisprachige
Band (lateinisch-deutsch) versammelt die aus welfischer Umgebung stammenden Quel-
len: ,Genealogia Welforum', ,Anhang IV der sachsischen Weltchronik', ,Historia Welfo-
rum cum continuatione Steingademensi', ,Die welfischen Annalen aus Weingarten',
, Aus der Weingartner Fortsetzung der Chronik des Hugo von St. Viktor' sowie - quasi als
auBenstehende Erganzung - ,Die Chronik des Propstes Burchard von Ursberg'. Damit
2 Weimann, Karl-Heinz, Dreihundert Jahre staatliche Bibliothek in Hannover, in: Die Nieder-
sachsische Landesbibliothek in Hannover, hg. v. Wilhelm Totok und Karl-Heinz Weimann,
Frankfurt /M., 1976, S. 30. Zur Geschichte der Koniglichen Bibliothek taucht allein ein Titel
auf: Ohnsorge, Werner, Zweihundert Jahre Geschichte der Koniglichen Bibliothek zu Hanno-
ver (1665-1865). Gottingen, 1962.
3 z.B. Busch, Jiirgen, Die Ratsbibliothek in Hannover. Beitrage zur Geschichte der Stadt-
bibliothek vom 15. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Hannover, 1957.
Kirchen-, Geistes- und Kulturgeschichte 517
dient der Band einerseits der akademischen Lehre, kann aber andererseits auch dem des
Lateins nicht geiibten Leser, Laie oder Fachmann, bei der Beschaftigung mit den Quel-
len zur Geschichte der Welfen niitzen.
Einen Einstiegin die „ Quellen zur Geschichte der Welfen" bietet eine kurze, aberpra-
gnante Einleitung, die die Quellen einzeln vorstellt, ihre Uberlieferung und die bisheri-
gen Editionen darlegt und die mit einem ausfiihrlichen und aktuellen Quellen- und Lite-
raturverzeichnis erganzt wird. Ein detailliertes Orts- und Personenregister beschlieBt
die Ausgabe.
Die Welfen-Quellen des 12. Jahrhunderts blicken zuriick auf eine Familie, die bereits
seit der karolingischen Zeit belegt ist. Allerdings zeigen sie auch deutlich, dass im 12.
Jahrhundert die Kenntnis iiber die Vorfahren nur noch schwammig vorhanden war. Si-
cher werden die Berichte erst relativ zeitnah, etwa ab derzweiten Halfte des 11. Jahrhun-
derts. Die Erinnerung an die Vorfahren musste also im Auftrag der Welfen rekonstruiert
werden, was in diesen Texten gezeigt wird. Gleichzeit wird dadurch das welfische Selbst-
verstandnis verdeutlicht. Darin liegt die Bedeutung dieser Texte, da sie zu den friihesten
Quellen gehoren, die sich ausschlieBlich einer Familie widmen.
Der Reihe entsprechend liegt in dem Band aber keine Neuedition der Quellen vor.
Die welfischen Quellen beruhen auf der Edition von Erich Konig (Historia Welforum.
Neu herausgegeben, iibersetzt und erlautert. Stuttgart/ Berlin 1938; ND Sigmaringen
1978), da er die altere Altomunsteraner-Handschrift edierte, anders als die MGH-Editi-
on von Georg Waitz, der diese Handschrift noch nicht kannte. Burchard von Ursberg be-
ruht auf der MGH-Ausgabe (Die Chronik des Propstes Burchard von Ursberg. Hrsg. von
Oswald Holder-Egger, Bernhard von Simson. Hannover 1916). Alle Quellen wurden
neu iibersetzt, Burchard sogar erstmalig. Erganzt wird die Edition durch knappe, aber
weiterfuhrende Kommentare zu den in den Texten genannten Personen und Orten.
Die ,Genealogia Welforum', die alteste der Welfen-Quellen, entstand vor 1126 in
welfischer Umgebung. Zeitnah folgt dann die verlorene sogenannte ,sachsische Welfen-
quelle', die zwischen 1132 und 1137 wahrscheinlich im Kloster St. Michael in Liineburg
niedergeschrieben wurde. Sie ist im , Anhang IV der sachsischen Weltchronik' sowie ver-
streut in der Chronik des Annalista Saxo (siehe Neuausgabe der Chronik: Die Reichs-
chronik des Annalista Saxo. Hrsg. von Klaus Nass. Hannover 2006) teilweise erhalten.
Sodann folgt die wichtigste und umfangreichste Quelle, die , Historia Welforum'. Das
Chronicon Altorfensium, wie ihr urspriinglicher Titel lautete, entstand im schwabisch-
bayerischen Raum (Weingarten, Ravensburg, Steingaden oder Altomiinster werden als
Entstehungsorte genannt) zwischen 1167 und 1184, vermutlich um 1170. Sie erfuhr eine
Fortsetzung in Steingaden, die sich mit dem Leben Welfs VI. beschaftigt und den Uber-
gang des siiddeutschen Welfenerbes an Friedrich Barbarossa charakterisiert; entstanden
ist diese nach 1191. Die ,Annales Welfici' sind in zwei Handschriften enthalten und stel-
len Erganzungen fur die Jahre 1180-1184 zur Verfiigung, die vor allem Weingarten be-
treffen. Ein starkerer rechtshistorischer Kontext ist in ihnen zu bemerken. Die , Fort-
setzung Hugos von St. Victor' stammt aus Weingarten und enthalt eine Wiirdigung
Welfs VI., die Grundung Steingadens und seine dortige Bestattung sowie die Erbrege-
lungen zugunsten Friedrichs Barbarossa. Die , Chronik Burchards von Ursberg' wirkt in
einer Sammlung von welfischen Quellen iiberraschend, gilt ihr Autor als treuer Anhan-
ger der Staufer und durchaus als Gegner der Herzogsfamilie. Er bietet in seiner Chronik
einerseits einen Exkurs De generatione Welfonum an, der sich in vielem mit der , Historia
Welforum' deckt, andererseits verstreut er weitere Nachrichten iiber die Welfen in sei-
518 Besprechungen
nem Werk. Eine andere Sicht, wie sie Burchard bietet, ist zudem interessant und bildet
Erganzungen zu den eigentlichen Welfen-Quellen.
Insgesamt liegt in den „Quellen zur Geschichte der Welfen" eine Sammlung von zen-
tralen Quellen zur Geschichte eines der bedeutendsten Adelsgeschlechter des Mittelal-
ters vor. Sie wird sicherlich weiterhin zur Beschaftigung mit dieser Familie, die man fast
als ein Lieblingsobjekt der Mediavistik bezeichnen konnte, reizen. Zusammen mit den
anderen zeitnahen Banden der Freiherr-vom-Stein-Gedachtnisausgabe bietet sie ein di-
rektes Bild des Mittelalters.
Gottingen Nathalie Kruppa
Saage-Maass, Miriam: Die Gottinger Sieben - demokratische Vorkampfer oder nationale Hel-
den? Zum Verhaltnis von Geschichtsschreibung und Erinnerungskultur in der Re-
zeption des Hannoverschen Verfassungskonfliktes. Gottingen: V&R unipress 2007.
240 S. Abb. Geb. 38,90 €.
Die vorliegende Veroffentlichung entstand als rechtswissenschaftliche Dissertation an
der Humboldt-Universitat Berlin, angeregt und gefordert u. a. durch die Politikwissen-
schaftler Michael Stolleis und Wilhelm Bleek. Die niedersachsische Landesgeschichte
hat den Hannoverschen Verfassungskonflikt wie auch insbesondere die Gottinger Sie-
ben bislang eher als Randthema ihres Untersuchungsgebiets wahrgenommen und die-
ses traditionell den Verfassungs- und Rechtshistorikern iiberlassen. Umso erfreulicher
ist es daher, dass diese Thematik nun Gegenstand einer eigenen Untersuchung gewor-
den ist, die neben der Darstellung der Deutungs- und Rezeptionsgeschichte der Gottin-
ger Sieben auch deren Wirkung auf die Entwicklung der politischen Kultur in der Bun-
desrepublik berucksichtigt.
Mit groBem FleiB hat Miriam Saage-MaaB samtliche Literatur, die sich bislang mit
dem Verfassungskonflikt von 1837 beschaftigt hat, zusammengetragen und zu einer
schliissigen Interpretationslinie zusammengefugt. Die Verfasserin verknupft den Be-
ginn der Rezeptionsgeschichte direkt mit dem Anlass, der einseitigen Verfassungsaufhe-
bung durch den hannoverschen Konig Ernst August vom 1. November 1837, die die Pro-
testation der Gottinger Sieben am 18. November und daraufhin deren Entlassung aus
dem Amt nach sich zog. Die Dissertation stellt zunachst die unmittelbar mit diesen Er-
eignissen beginnende Wirkungsgeschichte in der offentlichen zeitgenossischen Diskus-
sion dar, zu der die Professoren mit ihren eigenen Streitschriften, in denen sie ihr konsti-
tutionelles Verfassungsdenken darlegten, wesentlich selbst beitrugen. Zahlreiche sym-
pathisierende Streitschriften sowie im Gegensatz dazu das Beharren des Monarchen auf
seiner koniglichen Prerogative sorgten innerhalb des liberal gesinnten deutschen Biir-
gertums fur die moralische Legitimation der Protestation und fur eine breite Anerken-
nung der gemaBigten Verfassungsforderungen der Gottinger Sieben. Wie die Verfasse-
rin nachweist, zeigte sich eine deutliche Rezeption bis weit in die Verfassungsdiskussion
durch das Paulskirchenparlament und seiner Forderung nach Gewahrung der Wissen-
schaftsfreiheit.
Im Zuge der Reichsgriindung erfuhren die Gottinger Professoren und ihr Protest
gegen den Verfassungsbruch erstmals, v. a. durch die Beurteilung Heinrich von
Treitschkes, eine Inanspruchnahme und Umwertung durch die sich etablierende klein-
Kirchen-, Geistes- und Kulturgeschichte 519
deutsch-nationale Geschichtsschreibung. Treitschke betonte weniger das Einstehen der
Gottinger fiir die Verfassung und die biirgerliche Freiheiten. Stattdessen wurde die mit
der Protestation verbundene Eides- und Gewissensfrage als eher unpolitische Motiva-
tion zum eigentlichen bedeutenden Kernpunkt des Widerstandes erklart. Der Vorge-
schichte von 1837 entkleidet, wurden die Gottinger Sieben in den 1880er Jahren fort-
schreitend historisiert und ihre Tat vornehmlich als eine Etappe auf dem Weg der
deutschen Nationalbewegung zur Bildung eines Nationalstaates umgedeutet. Liberale
Vorbilder benotigte - so die Schlussfolgerung der Verlasserin - das Kaiserreich nun
nicht mehr. Wie Saage-MaaB hervorhebt, waren fiir Historiker wie Ranke, Burkhardt,
Droysen, aber auch fiir Schmoller oder Gierke die Gottinger Sieben kein Thema mehr
in ihren Darstellungen.
Deutsche freiheitliche Traditionen sollten in der Weimarer Republik wieder Auf-
merksamkeit gewinnen, wie die positive Besetzung des Protests der Gottinger Sieben in
den Veroffentlichungen von Franz Schnabel und Veit Valentin zeigt. Deren Urteil nah-
men erst wieder die Verfassungshistoriker der jungen Bundesrepublik an und deuteten
es weiter aus. Um eine zwischenzeitige Vereinnahmung der Gottinger Professoren und
einer Umwertung ihrer politischen Ziele im Sinne der nationalsozialistisch-volkischen
Ideologie bemiihten sich nach Saage-MaaB u. a. die Staatsrechtler Ernst Rudolf Huber
und Rudolf Smend wie auch der Carl Schmitt-Schuler Ernst Forsthoff, dennoch gingen
die Gottinger Sieben nicht in die offizielle NS-Geschichtsideologie ein. Nach der Ein-
schatzung der Verfasserin war der staatsrechtliche Hintergrund des Verfassungskampfs
von 1837 zu komplex, um fiir die Konstruktion des Fiihrer-Kults Verwendung zu finden.
Die Aufgabe der „Wertorientierung und Identitatsstiftung" sollte den Sieben endgiil-
tig in den 1950erjahren zufallen, als 1955 die sogen. Schliiter-Affare und 1957 die Erkla-
rung der achtzehn Gottinger Atomwissenschaftler Studenten, Professoren und Offent-
lichkeit zum Protest und zur Diskussion iiber die Rechtsgrundlagen der jungen Bundes-
republik aufriefen. Von nun wurden die Gottinger Professoren zu Kronzeugen einer
moralisch legitimierten burgerlich-demokratischen Kritik an dem bisherigen Umgang
mit der NS-Vergangenheit, der Wiederbewaffnung und der Studentenbewegung von
1968. Nach den Gedenkfeierlichkeiten zum 150. Jahrestag der Protestation imjahr 1987
suchte das niedersachsische Landesparlament die inhaltliche Ankniipfung an die frei-
heitlich-demokratischen Traditionen Niedersachsens, die von diesem historischen Er-
eignis ausgingen. Die Bemiihungen sowohl in Gottingen wie auch in Hannover, das Ge-
schehen von 1837 durch Benennung offentlicher Platze und Errichtung eines Denkmals
dem Vergessen zu entreiBen und zu ,verorten', kann allerdings nicht dariiber hinwegtau-
schen, dass das Erinnern an dieses Ereignis der niedersachsischen und deutschen Ge-
schichte bislang iiberwiegend als akademische Diskussion gefuhrt und in der Offentlich-
keit nur begrenzt wahrgenommen wurde. Die Dissertation von Saage-MaaB kann fiir
sich verbuchen, diese Diskussion umfassend, minutios und historiographiegeschichtlich
einordnend dargestellt zugestellt zu haben.
Hannover Christine van den Heuvel
520 Besprechungen
Break on through to the other side. Tanzschuppen, Musikclubs und Diskotheken im Weser-
Ems-Gebiet in den 1960er, 70er und SOerJahren. Hrsg. von Peter Schmerenbeck. Ol-
denburg: Isensee Verlag 2007. 239 S. Abb. = Kataloge und Schriften des Schlossmu-
seums Jever H. 26. Kart. 19,80 €.
Zur Kulturgeschichte bestimmter Regionen zahlen Alltag und Freizeit. Das ist zwar eine
Binsenweisheit, dennoch finden sich immer noch, vor allem auf regionaler und lokaler
Ebene, eher selten Ausstellungen und Tagungen dazu. Umso erfreulicher, dass das
Schlossmuseum zu Jever sich vor einiger Zeit fur eine genauere Betrachtung der lokalen
Musikclubs im Weser-Ems-Gebiet engagiert hat. Dass solche Themen absurderweise bis
heute als nicht unbedingt museumsreif gelten, zeigt etwa die Bemerkung im GruBwort
des Geschaftsfiihrers der Oldenburgischen Landschaft, dass sich das Schlossmuseum
„immer wieder auch mit iiberraschenden Facetten der Kulturgeschichte" (S. 6) beschafti-
ge. Direkt anschlieBend erwahnt Michael Brandt den Erfolg einer Ausstellung zu Kor-
setts und Nylonstriimpfen lobend. Nun haben Modeartikel sicherlich mit Alltag, Musik
und Ausgehen zu tun, iiberraschend erscheint jedoch deren museale Behandlung kei-
neswegs, wenn man sich die Bedeutung der Musikclubs fur die nach dem zweiten Welt-
krieg heranwachsenden jungen Frauen und Manner mitdenkt. Wobei zur Verteidigung
des Genres GruBwort konstatiert werden muss, dass es hier gilt, verschiedene Leser-
schaften zu bedienen und dass Brandt anschlieBend selbst einraumt, wie naheliegend
die Behandlung der musikalischen Freizeitraume und -orte doch eigentlich sei.
Nach einem Song der Rockband Doors bezeichnet („Break on through to the other si-
de") , der wiederum auf einen Text des britischen Literaten Aldous Huxley („Die Pforten
der Wahrnehmung") rekurriert, geht es hier also um die anderen, rauschhaften Welten,
die jenseits von Arbeit, Elternhaus und sonstigen Pflichten bestehen. Diese Raume, ob
Jugendzentrum, Diskothek, Club, Bar oder Gaststatte, entwickelten sich in Deutschland
und eben auch im Weser-Ems-Gebiet zwischen Norddeich und Mesum mit den Metro-
polen Oldenburg und Osnabriick (siehe die hilfreiche Ubersichtskarte S. 235) mit dem
Aufkommen des Beat und Rock'n'Roll in den fiinfzigerjahren und differenzierten sich
in den folgenden Jahrzehnten bis heute stark aus nach Szenen, Musikgenres und Lebens-
stilen. Erst in der letzten Zeit wurde mit einer Aufarbeitung dieser lokalen und regiona-
len Phanomene begonnen - zuletzt etwa auch intensiv fur Popkultur und -musik im
Rheinland. Interessant daran erscheint neben der historisierenden und bewahrenden
Aufarbeitung vielmehr die Beobachtung, dass sich in Zeiten weltweiter Globalisierungs-
effekte und der ,Superkultur' (James Lull) Pop eben auch wieder starke Bediirfnisse
nach lokalen und regionalen Beziigen ergeben, die sich dann in Szenen mit ganz spezifi-
1 Vgl. zur Musealisierung von Popkultur und insbesondere -musik Jacke, Christoph/MEi-
necke, Thomas: Voriibergehende Vergegenwartigungen in der Popkultur. Ein Gesprach iiber
das Sprechen iiber und das Erinnern von Pop. In: Jacke, Christoph; Zierold, Martin (Hrsg.):
Populare Kultur und soziales Gedachtnis. Theoretische und exemplarische Uberlegungen zur
dauervergesslichen Erinnerungsmaschine Pop. Siegener Periodicum zur Internationalen Em-
pirischen Literaturwissenschaft. Heft 24/2, 2008, 239-256.
2 Vgl. den Sammelband Matejovski, Dirk; Kleiner, Marcus S.; Stahl, Enno (Hrsg.): Pop
in R(h)einkultur: Oberflachenasthetik und Alltagskultur in der Region. Essen: Klartext 2008,
der an eine Reihe von Veranstaltungen und Ausstellungen gekoppelt ist.
Kirchen-, Geistes- und Kulturgeschichte 521
schen Orten niederschlagen, siehe die Beitrage von Peter Schmerenbeck, stellvertreten-
der Leiter des Schlossmuseums, und der Musikwissenschaftlerin Susanne Binas-Preisen-
dorfer von derUniversitat Oldenburg. Binas-Preisendorfer, die aus der,Schule' des wohl
bekanntesten deutschsprachigen Popmusikwissenschaftlers Peter Wicke aus Berlin
stammt, beschreibt sehr treffend die offentliche Wahrnehmung von Popmusik iiber Me-
dien und Orte, die wiederum oftmals medial mitkonstruiert werden. Immer changiert
dabei Popmusik zwischen wichtiger „Sozialisationsinstanz" und potentem Markt, womit
die grundlegende Widerspriichlichkeit von Pop erklart wird, die sich auch an den Orten
der Popmusik wie den Clubs ablesen lasst: Popmusik etwa im Charts in Harkebriigge
oder im Hyde Park in Osnabriick ist stets Sound des Auflehnens, des Artikulierens der
eigenstandigen Entwicklung Heranwachsender und genauso Bestandteil einer umfas-
senden Vermarktung, vom Eintrittsgeld bis zu den Getranken. Man hat(te) also standig
das Gefiihl, mit dem Eintritt in diese Diskotheken etwas Besonderes, Exklusives zu sein
und war doch gleichzeitig nur eine(r) unter vielen an der Theke oder auf der Tanzflache.
Diese einfiihrenden Beitrage rahmen, gemeinsam mit den Ausfiihrungen zum Zusam-
menhang von Technik und Musik des Kunsthistorikers und Journalisten Torsten Poschk
und dem Beitrag „Protest und Kommerz. Jugendmoden der 1960er und 70erjahre" der
Padagogin Maria Diederichs-Bolsenkotter, die eher konkret auf das Weser-Ems-Gebiet
bezogenen Texte, die sich mit unterschiedlichen Fan-Szenen (Fred Ritzel, Musikwissen-
schaftler an der Universitat Oldenburg), Orten der Popmusik und des Freizeitvergnii-
gens in bestimmten Regionen innerhalb des Weser-Ems-Gebiets (derjournalist Werner
Jiirgens iiber ostfriesische Diskotheken, derjournalist und Kneipier Wolle Willig iiber
selbiges in Wilhelmshaven, der Medienwissenschaftler Gisbert Wegener iiber diese Rau-
me im sudlichen Weser-Ems-Gebiet) oder der eigenen Erfahrungals DJ im Oldenburger
Land (Otto Sell) auseinandersetzen.
Auch wenn man die Ausstellung nicht besucht hat und sie sich nicht zu dem Katalog
denken kann (die Ausstellung lauft ubrigens ab 28. Juni dieses Jahres und bis auf weite-
res wieder in modifizierter Form), so erscheint dieser Katalog als weitaus mehr als eine
reine Dokumentation. Selbst wenn man kein Heranwachsender im Weser-Ems-Gebiet
war, so erschlieBen sich einem die Texte und Bilder durch ganz ahnliche eigene Erfah-
rungen, ob nun im Ostwestfalischen, im Miinsterland oder im Weserbergland. Denn
iiberall, in Stadt und Land, gab und gibt es diese Orte und Platze, die Heranwachsenden
und Berufsjugendlichen ein Refugium sind und deswegen oftmals mit Tat und Kraft von
diesen selbst und seltener von offentlicher Hand unterstiitzt werden. Dort, jenseits des
virtuellen Alles-Moglichen im Internet, schlagt das Reale in voller Wucht und dement-
sprechend mit voller Faszination zu: Ein langer, durchgetanzter Abend inklusive
Rausch, Flirt und Ohrenfiepen durch die zu lauten Sounds lasst sich erfreulicherweise
noch nicht wirklich (!) simulieren. Um dies bei den alteren Lesenden in Erinnerung zu
rufen und den jiingeren mit auf den Weg zu geben, erscheint „Break on through to the
other side" bestens geeignet; insbesondere wegen seiner sehr groBen und lobenswerten
Detail- und Bildfiille und sachlichen Art der Beschreibung, die selten in Nostalgie ver-
fallt. Geben wir es zu, wer erzahlt nicht gerne von kleinen Kellerclubs, in denen er oder
sie die erste Liebe traf oder mit fiinfzehn weiteren zahlenden Gasten Bands auf der Biih-
ne stehen sah, die spater weltberiihmt wurden. Fur die Aufarbeitung dieser wichtigen
popkulturellen Phasen und Ereignisse und gegen ein „Friiher war alles besser!" (S. 27)
bedarf es zukiinftig einer intensiveren fachiibergreifenden Zusammenarbeit insbeson-
dere zwischen Zeitzeugen, Institutionen sowie Musik-, Medien- und Geschichtswissen-
522 Besprechungen
schaftlern. Ansonsten drohen diese Entwicklungen mit dem Verschwinden ihrer Prota-
gonisten ebenfalls im kollektiven Gedachtnis zu erblassen.
Paderborn Christoph Jacke
Fuchs, Thomas: Bibliothek und Militdr. Militarische Biichersammlung in Hannover vom
18. bis zum 20. Jahrhundert. Mit einem Katalog der Handschriften der ehemaligen
Wehrreichsbibliothek II in der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek. Frankfurt: Vit-
torio Klostermann 2008. 205 S. Abb. = Zeitschrift fur Bibliothekswesen und Biblio-
graphie Sonderbd. 93. Geb. 64,- €.
Seit dem Jahr 2004 befinden sich die Altbestande der Wehrbereichsbibliothek (WBB) II
Hannover in der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek - Niedersachsischen Landesbi-
bliothek (GWLB). Die historischen Bestande der von 1956 bis 2004 bestehenden Wehr-
bereichsbibliothek stammen weitgehend aus alten Hannoverschen Buchersammlungen
und Militarbibliotheken. Die Bestande, deren Verbleib bereits 1994 durch einen zwi-
schen der Bundesrepublik Deutschland und dem Land Niedersachsen abgeschlossenen
Depositalvertrag als Dauerleihgabe an die Landesbibliothek geregelt worden war, wur-
den 2004 endgiiltig iibernommen. Offizielle Eigentumerin der Sammlung ist seit 2003
jedoch weiterhin eine Diensstelle der Bundeswehr, das Militargeschichtliche For-
schungsamt in Potsdam. Die GWLB kam so mit „einer der bedeutendsten historischen
Sammlungen innerhalb der Bundeswehr" zu ihrem umfangreichsten Zugang ihrer Ge-
schichte (insgesamt handelt es sich um 60.000 Bande, darunter 144 Handschriften).
Dieser Vorgang ist insofern bemerkenswert, da hinsichtlich der Bestande der anderen
Wehrbereichs- und sonstigen Bibliotheken im Besitz der Bundeswehr ganzlich anders
verfahren wurde: Sie blieben, in verschiedenen Konstellationen sowie unter sich mehr-
fach wandelnden Strukturen und ortlichen Veranderungen, immer unter der Hoheit und
Verwaltung der Bundeswehr. Bei dieser Bestandsabgabe spielten neben praktisch-bi-
bliothekarischen Gesichtspunkten wohl auch politisch-(landes-)geschichtliche Griinde
eine groBe Rolle.
Die vorliegende Studie von Thomas Fuchs, dem Leiterdes Bereichs Sondersammlun-
gen der Universitatsbibliothek Leipzig und Privatdozent an der Universitat Potsdam,
eines ehemaligen Mitarbeiters der GWLB, zeigt anhand der Hannoveraner Militarbi-
bliotheken und ihrer Bestande die wechselvolle Geschichte und die strukturellen Beson-
derheiten auf, die das militarische Bibliothekswesen vom spaten 18. bis in das 20. Jahr-
hundert in Deutschland nahm. Erganzt wird die Untersuchung durch einen Katalog der
1 Vgl. hierzu Uta Moritzen-Ulzen, Wehrbereichsbibliothek II, in: Bernhard Fabian
(Hrsg.), Handbuch der historischen Buchbestande, Bd. 2.2, Hildesheim 1998, S. 70-72.
2 Hauke Schroder, Historische Literaturbestande in Bibliotheken der Bundeswehr. Be
standsaufnahme und Zukunftskonzeption, Berlin 2004, S. 23.
3 Vgl. Thomas Fuchs, Ulrich Karlauf, Die Wehrbereichsbibliothek II (Hannover) in der
Niedersachsischen Landesbibliothek, in: Militar und Gesellschaft in der Friihen Neuzeit 8,
2004, Heft 2, S. 169-176 sowie Thomas Fuchs, Ulrich Karlauf, Kostbarkeiten der ehemaligen
Wehrbereichsbibliothek II Hannover, Hameln 2004.
4 Vgl. Schroder (wie Anm. 2), S. 23.
Kirchen-, Geistes- und Kulturgeschichte 523
144 Handschriften, die von der Wehrbereichsbibliothek II als Depositum in die GWLB
gelangten. Diese erhalten ihren besonderen Wert laut dem Verfasser vor allem durch
„ihren Zeugnischarakter fur Sammlungen, die zerstreut oder vernichtet sind" (S. 124).
Es geht dem Autor in seiner Darstellung weniger um eine Geschichte der Wehrbe-
reichsbibliothek II als vielmehrum die Geschichte der Buchbestande selbst. Der Verfas-
ser ordnet das militarische Bibliothekswesen - exemplarisch anhand der Hannoveraner
Verhaltnisse - in allgemeine historische Prozesse ein: Von der Entstehung des militari-
schen Bibliothekswesens aus dem aufklarerischen Bildungsgedanken, iiber den Wandel
im Zeichen des PreuBentums, die Professionalisierung des militarischen Bibliotheks-
wesens nach dem 1. Weltkrieg bis hin zur Marginalisierung der Militargeschichte (und
damit auch der militarischen Bibliotheksgeschichte) nach 1945. Mit der akribischen
Rekonstruktion der diversen Biichersammlungen und Bibliotheken, ihrer Nutzbarma-
chung und Aufgabenzuschreibung gelingt ihm in eindrucksvoller Weise eine Tiefenboh-
rung in die deutsche Bibliotheksgeschichte und zugleich in die politisch-gesellschaftli-
chen sowie kulturellen Rahmenbedingungen der vergangenen dreijahrhunderte. Denn
auch wenn militarische Biichersammlungen aktuell und in den letzten Jahrzehnten eher
ein abseits des bibliothekswissenschaftlichen oder gar des offentlichen Interesses liegen-
des Thema darstellen mogen, so gilt dies keineswegs fur die hier beschriebenen histori-
schen Zeitraume bis etwa 1945, im Gegenteil: Vielfach konnen an den Militarbibliothe-
ken gesellschaftliche Wandlungsprozesse nachvollzogen werden. Der Autor arbeitet
dies prazise heraus. Als Stichworte seien hier vor allem genannt: Die Bildungs- und Aus-
bildungsbestrebungen fur die Offiziere in der Zeit der Aufklarung sowie die Rolle der
Militar-Bibliotheken und -Bibliothekare nach 1918 fur das neue aufkommende Thema
Wehrwissenschaften.
Ein wichtiges Ergebnis der Studie ist die Feststellung, dass im Vergleich zum zivilen
Bibliothekswesen in Militarbibliotheken iiber die Jahrhunderte die Sicht auf Bibliothe-
ken als eines iiberlieferungswiirdigen Zusammenhangs nicht vorhanden ist. Die eher
funktionale Sicht des Buches und der Bibliothek als solcher im militarischen Biblio-
thekswesen erklart die iiber die Jahrhunderte und diversen Umbriiche hinweg zu beob-
achtenden Umschichtungs-, Vernichtungs- und Wiederaufbauprozesse in und von mili-
tarischen Bibliotheken. Die vom Autor beschriebene Marginalisierung, Zerschlagung
und vor allem raumliche Entwurzelung der militarbibliothekarisch bedeutsamen Be-
stande aus ihrem historisch-kulturellen und vor allem raumlichen Kontext konnte fur
die in der Wehrbereichsbibliothek II und nun in der GWLB versammelten Hanno-
verschen Bestande vermieden werden. Sie stehen der Offentlichkeit und derForschung
weiter dort zur Verfugung, wo sie iiber die vergangenen Jahrhunderte hinweg erworben,
zusammengestellt und genutzt worden sind.
Dem Verfasser ist eine konzise Darstellung dieses wenig bekannten Kapitels der deut-
schen Bibliotheksgeschichte gelungen. An dieser Stelle muss aber auch denjenigen Per-
sonen Dank ausgesprochen werden, die es vermocht haben, die landes- und kulturge-
schichtlich bedeutenden Bestande im Land Niedersachsen zu halten und sie nicht dem
Schicksal anderer militarischer Biichersammlungen anheim zu geben.
Hamburg Matthias Sohulze
524 Besprechungen
Zur Geschichte der Erziehung und Bildung in Schaumburg. Hrsg. von Hubert Hoing. Biele-
feld: Verlag fur Regionalgeschichte 2007. 610 S. Abb. = Schaumburger Studien
Bd. 69. Geb. 39,- €.
Die vorliegende Publikation fasst die Beitrage (mit Erganzungsbeitragen) des 6. Kollo-
quiums der Historischen Arbeitsgemeinschaft fur Schaumburg zusammen, das im De-
zember 2005 unter dem Titel „Zwischen Tradition und Innovation - Zur Geschichte der
Erziehung und Bildung in Schaumburg" stattgefunden hat. So speziell und unterschied-
lich die 17 Beitrage, die einen zeitlichen Rahmen vom 16. bis ins 20. Jahrhundert um-
spannen, auch sind, so zeigen sie dennoch jene Entwicklungslinien auf, die fur die Ge-
schichte von Erziehung und Bildung allgemein gelten (S. 9/10).
Die erste Sektion „Allgemeinbildendes Schulwesen" wird durch einen Aufsatz von
Stefan Brudermann iiber die landlichen Elementarschulen in Schaumburg-Lippe im
18. Jahrhundert unter Berucksichtigung der Aspekte „Lehrerschaft, Schulverwaltung,
Schulbesuch, Schulabschluss, Schulunterricht und Lernziele" eingeleitet. Seinen allge-
mein gehaltenen Ausfiihrungen iiber landliche Elementarschulen in Schaumburg folgt
der Beitrag iiber die Niedernwohrener Schule unter der Lehrerfamilie Tecklenburg von
Ulrich Bartels. Der Autor untersucht die Bereiche „Besoldung, Stellenbesetzung und
Ausbildung der Lehrer" exemplarisch am Beispiel einer schaumburg-lippischen Land-
schule fiir die Zeit des 17. bis 19. Jahrhunderts. Parallel zu diesen Entwicklungslinien
zeichnet er den beruflichen und privaten Werdegang der Lehrerfamilie Tecklenburg
nach.
Silke Wagener-Fimpel thematisiert am regionalen Beispiel des jiidischen Schulwe-
sens in der hessischen Grafschaft Schaumburg die tiefgreifende Neuordnung des jiidi-
schen Schul- und Erziehungswesens im Rahmen der Emanzipation der Bevolkerung jii-
dischen Glaubens zu Beginn des 19. Jahrhunderts und ihrer damit verbundenen Integra-
tion in die biirgerliche Gesellschaft in Deutschland. Die Autorin untersucht auBerst
detailliert unterschiedliche Aspekte des jiidischen Schul- und Erziehungswesens (u.a.
Lehrziele, Entwicklung der Schulerzahlen an jiidischen Schulen, Schulvisitationen
durch die Schulbezirksinspektion, Gehalter der Lehrer sowie ihre Nebentatigkeiten in
religiosen Funktionen (u.a. Vorsanger, Schachter), Beziige zum christlichen Schulwe-
sen) . Neben der Differenzierung nach Glaubenszugehorigkeit ist die geschlechtsspezifi-
sche Bildung ein weiterer Untersuchungsgegenstand im Erziehungs- und Bildungswe-
sen. Ihre Entwicklung im lokalgeschichtlichen Umfeld untersucht Karin Ehrich in ih-
rem Aufsatz zur hoheren Bildung von Madchen in Schaumburg im 19. Jahrhundert und
in der 1. Halfte des 20. Jahrhunderts und erganzt die Frauen- und Genderforschung um
einen weiteren Beitrag mit regionalgeschichtlichem Bezug.
Die adaquate Ausbildung der Lehrer und Lehrerinnen ist ein grundlegender Be-
reich innerhalb des Erziehungs- und Bildungswesens. GroBeres Interesse an diesem
Forschungsgegenstand der Bildungsgeschichte ist weder bei Sozialhistorikern noch bei
Vertretern der Bildungs- bzw. Universitatsgeschichte zu finden. Deshalb steht eine de-
taillierte Gesamtgeschichte der deutschen Lehrerausbildung nach wie vor aus. Umso
lobenswerter ist der Beitrag von Claudia Bei der Wieden iiber die Grundziige der
schaumburg-lippischen Lehrerseminargeschichte, der die Entwicklung des einzigen
Lehrerseminars (gegriindet 1783, geschlossen 1926) dieser Region nachzeichnet und so
einen „wei6en" Fleck innerhalb der Geschichte der Lehrerausbildung schlieBt.
Mit einem Aufsatz von Gudrun Husmeier iiber die Regentenerziehung im konfessio-
Kirchen-, Geistes- und Kulturgeschichte 525
nellen Zeitalter am Beispiel der Erziehung der Schaumburger Grafensohne beginnt die
zweite Sektion, die dem Themenschwerpunkt „Standeserziehung und berufliche Bil-
dung" gewidmet ist. Lassen sich die bescheidenen Schaumburger Verhaltnisse auch nur
bedingt mit der Regentenerziehung anderer fiirstlicher Hofe vergleichen, so sind doch
grundsatzliche Prinzipien nachweisbar, die in den zeitgenossischen Fiirstenspiegeln
propagiert werden (S. 289). Erziehung im Allgemeinen und Regentenerziehung im Be-
sonderen garantiert nicht, dass die Ergebnisse dieser Erziehungsform den Idealen und
Absichten entspricht, sie stellt jedoch fur die Betroffenen einen wichtigen Lebensab-
schnitt dar, der personlichkeitsbildend sein kann (S. 289). Einen solchen wechselvollen
Lebensweg bei der Erziehung zum Landesherren beschreibt Martin Fimpel am Beispiel
des Erbgrafen Albrecht Wolfgang zu Schaumburg-Lippe (1699-1748).
Zum Aspekt „berufliche Bildung" dieser zweiten Sektion stellt Ortrud Worner-Heil in
ihrem Aufsatz die Ausbildung von adeligen Frauen am Beispiel der Landfrauenschule
Obernkirchen (1901-1970) vor. Ziel dieser Schulausbildung ist, ,,gebildete junge Mad-
chen mit alien Zweigen der wirtschaftlichen Arbeit vertraut" zu machen (S. 319), um so
eine Basis fur berufliche Tatigkeiten in sozialen, pflegerischen oder ernahrungswissen-
schaftlichen Bereichen zu schaffen. Nachfolgend spannt Anke Sawahn in ihrem Beitrag
iiber die Frauenbildung auf dem Land den zeitlichen Bogen vom Landmadchen in der
Haushaltungsschule zurLandfrau im Internet. Bis Mitte des 20.Jahrhunderts sind Land-
frauenvereine in Schaumburg nicht nachweisbar, erste Landfrauenvereine werden nach
Ende des Zweiten Weltkrieges gegriindet und leiten damit die Landfrauenbildung mo-
derner Pragung ein.
Am Anfang der dritten Sektion „Universitaten und Volkshochschulen" steht der Auf-
satz von Helge Bei der Wieden zur humanistischen Bildung im 16. und 17. Jahrhundert
am Beispiel Schaumburgs. Der Autor kommt in seinen Ausfiihrungen zu dem Ergebnis,
dass der Humanismus erst spat Schaumburg erreicht. Als Grund hierfiir nennt er das
Fehlen eines Tragers der humanistischen Gedankenwelt, namlich ein reiches und gebil-
detes Burgertum, das neben seinen Geschaften die MuBe besaB, sich mit den Schriftstel-
lern der Antike zu befassen. Erst als dieses Gedankengut die Hofe und mit ihnen eine
sehr schmale Fiihrungsschicht erreicht, wird humanistische Bildung in Schaumburg er-
kennbar (S. 403). Im Anschluss zeichnet Gerhard Menkin seinem Beitrag „Die schaum-
burgische Hohe Schule in der Universitatslandschaft des Reiches in der Friihen Neuzeit"
die Anfange der ersten und einzigen lutherischen Volluniversitat Nordwestdeutschlands
nach, die 1610 zunachst als akademisches Gymnasium in Stadthagen, ab 1619 als Alma
Ernestina in Rinteln (geschlossen 1809) ihren Lehrbetrieb aufnimmt.
Den zweiten Aspekt „Volkshochschulen" dieser Sektion beginnt Karin Ehrich mit ih-
rem Beitrag iiber die 60-jahrige Entwicklung der Volkshochschulen in Schaumburg.
Volkshochschulen als Bildungszentren mit unterschiedlichen Bildungsangeboten fur al-
le Bevolkerungsschichten zu etablieren, setzt sich erst nach Ende des Zweiten Weltkrie-
ges durch. Diese Idee des ganzheitlichen Bildungsauftrages greift Annette von Stieglitz
in ihrer Geschichte der Volkshochschulen in Gegenwart und Zukunft auf. Neben einer
sehr allgemeinen Darstellung zur Entwicklungsgeschichte der Volkshochschulen stellt
die Autorin Ankniipfungspunkte zur Entwicklung des Volkshochschulwesens in
Schaumburg her.
Die vierte und letzte Sektion ist den beiden Themenbereichen „Einzelne Erzieher
und Medien" gewidmet, die mit einem Beitrag von Roswitha Sommer iiberjohann Gott-
fried Herder als Padagogen (von 1770 bis 1776 in Diensten des Schaumburger Grafen)
526 Besprechungen
eingeleitet wird. Herders Ideen fur die Erziehung derjugend sowie deren Unterweisung,
die in der 1777 erlassenen Schulordnung ihren Niederschlag finden, sollen zu einer Ver-
besserung der Schulsituation in der Grafschaft Schaumburg fiihren.
Der lesenswerte Beitrag von Irmtraud Sahmland iiber den Arzt und Gesundheitser-
zieher Bernhard Christoph Faust (1755-1842) iiberrascht im Kontext dieser Sektion.
Fausts Ziel ist eine medizinische Volksaufklarung breiter Bevolkerungsschichten iiber
die Schulen zu erreichen. Diese Verbindung von Padagogik und Medizin versucht er in
seinen Schulbuch „Gesundheitskatechismus zum Gebrauche in den Schulen und beym
hauslichen Unterrichte" umzusetzen, dessen erste Auflage 1794 erscheint, bis 1830 sind
11 weitere Auflagen nachweisbar.
Die beiden letzten Aufsatze widmen sich der Thematik „Medien". Der Begriff „Medi-
en" wird heute mit sehr unterschiedlichen Bedeutungsformen belegt. Christoph Schot-
ten geht in seinen Aufsatz auf die Entwicklung von Printmedien am Beispiel der
„Schaumburg-Lippischen Landes-Zeitung" ein. Ein weiterer Bereich des groBen Spek-
trums „Medien" sind Bibliotheken. Hans Peter Schramm stellt in seinem Beitrag drei
schaumburgische Bibliotheken von der Friihen Neuzeit bis zur Moderne vor, die auf-
grund ihres Entstehungszusammenhangs eher den Charakter einer offentlichen Biicher-
sammlung denn einer offentlichen Leihbibliothek tragen.
Die Autoren und Autorinnen versuchen in ihren teilweise sehr umfangreichen und
detaillierten Beitragen den facettenreichen Aspekten von Erziehung und Bildung im je-
weiligen historischen Zeitkontext nach zugehen, wobei regionale Besonderheiten mehr
oder weniger Berucksichtigung finden. Hilfreich fur den Leser ware es gewesen, die in
den einzelnen Sektionen sehr isoliert nebeneinander stehenden Beitrage durch ein ab-
schlieBendes Resiimee zu verbinden. Trotz dieses kleinen Mangels leistet der Aufsatz-
band nicht nur einen wichtigen Beitrag zur allgemeinen Geschichte von Erziehung und
Bildung, sondern erweitert und erganzt auch die lokale und regionale Geschichtsschrei-
bung fur den norddeutschen Raum. Ebenso erfolgt eine Vernetzung zu Nachbardiszipli-
nen wie der Frauen- und Genderforschung, der Sozialgeschichte, der Geistesgeschichte,
der Wissenschaftsgeschichte und auch der Geschichte einzelner Individuen.
Hannover PetraDiESTELMANN
Inszenierungen derKiiste. Hrsg. von Norbert Fischer, Susan Muller-Wusterwitz und Bri-
gitta Schmidt-Lauber. Berlin: Reimer2007. 287 S. Abb. = Schriftenreihe derlsaLoh-
mann-Siems Stiftung Bd. 1. Geb. 49,- €.
„ ,Landschaft' - als asthetisch-kontemplative Wahrnehmung der Natur - ist ein kultu-
relles und damit historisch veranderliches Konstrukt" (S. 7) - diese These auf die
Geschichte des Landschaftsverstandnisses der Nordseekiiste zu iibertragen und den
Veranderungen der Sichtweisen nachzugehen, war das Ziel einer interdisziplinaren Ta-
gung im Jahre 2007 in Hamburg, veranstaltet von der Isa Lohmann-Siems-Stiftung, mit
dem Thema „Inszenierungen der Kiiste". Der Band sammelt Beitrage der beteiligten
Wissenschaftler zu dieser Tagung, die Vertreter der verschiedensten Facher zu Wort
kommen lieB. Die Herausgeber sehen die Anfange einer klassisch-burgerlichen Land-
schaftsasthetik bereits im 16. Jahrhundert, als „Landschaft" als Ort einer geistigen und
korperlichen Rekreation wahrgenommen wird, nachdem sich das mittelalterliche
Kirchen-, Geistes- und Kulturgeschichte 527
Weltbild aufgelost hatte. Dies und die „gesellschaftliche Herrschaft" iiber die Natur sei-
en die Voraussetzungen dafiir gewesen. Auf die Kiiste bezogen, war festzustellen, dass
sie mit Beginn der Neuzeit als wenig attraktiv, als Ort bedrohlicher Katastrophen und
Naturphanomene gesehen wurde, im spaten 18. Jahrhundert dagegen als erholsam
und gesundheitsfordernd - die Griindung des ersten deutschen Seebades Heiligen-
dimm an der Ostsee ist ein Indiz dafiir - und im 19. Jahrhundert als eine zivilisierte, ja
sogar romantische Landschaft erschien. Diese unterschiedlichen Sichtweisen wurden
in derTagung als „Inszenierungen" verstanden, deren Entstehungen erst etwa seit 1990
Forschungsgegenstand sind. Ihren Ursachen sollte, bezogen auf die Nordseekiiste, auf
dem Symposium nachgegangen werden.
Der Biologe Hansjorg Kiister („Die Entwicklung der Kiistenlandschaft an der Nord-
see", S. 17-31) stellt als Voraussetzung fur weitere Uberlegungen die Nordseekiiste als
eine im Verlauf ihrer Geschichte dynamische Erscheinung dar, in der der naturliche
Wandel und der Versuch des Menschen, Stabilitat im Kustenraum zu erreichen, ihr heu-
tiges Bild bestimmen. - In der Folge gibt der Hamburger Germanist Ludwig Fischer
das Thema vor („Naturlandschaft, Kulturlandschaft - Zur Macht einer sozialen Kon-
struktion am Beispiel Nordseekiiste", S. 33-45): Unsere Vorstellungen von Natur- und
Kulturraumen seien abhangig von unserer Existenz als soziale Wesen, die mit unter-
schiedlichen Deutungsmustern, abhangig von den jeweiligen sozialen Voraussetzungen
des Deutenden, diesen Raumen gegeniibertreten. Riickgreifend auf die Vorstellungen
des franzosischen Soziologen Pierre Bourdieu, sieht er dabei „symbolische Kampfe" um
die „richtige", und das heiBt: gesellschaftlich maBgebliche Sicht des einzelnen Natur-
oderKulturraumes,in diesem Fall der Nordseekiiste. Es geht,mit seinen Worten,um die
„Benennungsmacht". Das jeweilige touristische, kiinstlerische, aber auch das wissen-
schaftliche Verstandnis von Landschaft sei Ergebnis der Definitionsmacht einzelner Ak-
teure oder Gruppen und damit soziales Konstrukt. Fischer erlautert diesen Gedanken-
gang an den Bestrebungen Eugen Traegers, des Initiators zur ,,Rettung" der Halligen En-
de des 19. Jahrhunderts. Fur Fischer ist Traeger ein typischer Vertreter des Biirgertums,
das den Modernisierungsprozess der Zeit zwar verloren, im Bildungsbereich aber die
Deutungsmacht behalten hatte: Hier wurden die Halligen als Denkmal der Vormoderne
verstanden, und es sei gelungen, diese Sicht gesellschaftlich verbindlich zu machen. Mo-
derne wirtschaftliche Argumente, die Traeger fur den Kiistenschutz zusatzlich vorbringt,
versteht der Vf. als inneren Widerspruch dazu. In einem weiteren Beitrag („Gedachtnis-
landschaft Nordseekiiste: Inszenierungen des maritimen Todes", S. 150-183) entwirft
Fischer eine Geschichte der Denkmaler fur die Opfer der Nordsee bei Sturmfluten und
Schiffbruchen und zeigt dabei, wie die zugrunde liegenden Uberzeugungen zunehmend
den Einfluss der Historisierungstendenzen stadtisch-biirgerlicher Kultur widerspiegeln.
Ebenfalls um Denkmalsgeschichte geht es in dem Beitrag der Volkskundlerin Brigitta
Schmidt-Lauber („Maritime Denkmals[er]findung. Ein Kiistenort inszeniert seine Ge-
schichte", S. 184-218). Sie berichtet iiber die Errichtung eines Denkmals in Carolinensiel
anlasslich eines Ortsjubilaums im Jahre 2005, das einen mit dem Ort verbundenen,
letztlich fiktionalen literarischen Begriff („cliner Wind") darstellen und damit einen in-
szenierten Ort der historischen Identifikation fur die Bewohner bieten will. Der gesamte
Prozess der Denkmalsentstehung wird verfolgt und abschlieBend in das Tagungsthema
eingeordnet. - Fur die Kunsthistorikerin Susan Miiller-Wusterwitz („Das Bild der Kiiste
in der niederlandischen Kunst des 16. und 17. Jahrhunderts", S. 46-85) ist die Diinen-
landschaft der niederlandischen Kiiste des 16. und 17. Jahrhunderts in der Kunst vor
528 Besprechungen
allem als ein Bollwerkgegen die spanische Intervention inszeniert, nach dem beendeten
Kampf gegen Spanien im 17. Jahrhundert als ein Ort der republikanischen Gleichheit,
an dem keinerlei soziale Hierarchie evident werde. Dem kann hier- weil auBerhalb Nie-
dersachsens - nicht weiter nachgegangen werden, es muss auf den Text verwiesen wer-
den. - Eindrucksvoll wird die Methode der Inszenierung der Kiiste vorgestellt in zwei
weiteren Aufsatzen: Martin Rheinheimer beschaftigt „Der Mythos der Seebader. Visua-
lisierung und Vermarktung der Nordfriesischen Inseln durch Postkarten" (S. 219-237),
der Geograph Jiirgen Hasse stellt dagegen Werbematerial der Seebader in den Mittel-
punkt seiner Untersuchungen, iiber die er in seinem Beitrag („ ,Nordseekiiste' - Die tou-
ristische Konstruktion besserer Welten. Zur Codierung einer Landschaft", S. 239-258)
berichtet. Rheinheimer zeigt, wie durch die z.T. standardisierten Motive der Postkarten
des 19. Jahrhunderts sich die Seebader selbst darstellen, sich aber auch einen moglichst
unverwechselbaren „Mythos" zu schaffen versuchen (neudeutsch: „Alleinstellungs-
merkmal"). Sehr instruktiv sind dabei die dargebotenen Nachweise von Bildmontagen,
in denen der Realitat, wenn im touristischen Marketing erwiinscht, inszenatorisch aufge-
holfen wird (siehe die Beispiele S. 235!). Hasse stellt in der Tourismuswerbung „eine
Konstruktionsbasis fur das asthetische Erleben der Kiiste wie des Meeres" (S. 244) fest
und sieht unter diesem Gesichtspunkt Fremdenverkehrsprospekte der Nordseebader
des Jahres 2005 durch, in denen „Erlebnisschablonen" aus Bild und Text aufgebaut wer-
den. Erfreulich ist in seinem Beitrag, daB er daraus kein determiniertes Verhalten des
Touristen im Sinne des touristischen Marketing ableitet, ihm also einen Freiraum im tat-
sachlichen Verhalten zutraut (S. 254f.): „Kein Urlaub am Meer ist auf die individuelle
Kopie von Marketingvorlagen gezwungen" (S. 255).
Nicht alle 12 Beitrage konnten hier vorgestellt werden, es war allenfalls moglich, den
Grundgedanken der Tagung zu skizzieren, wie er aus den Beitragen abzuleiten war. Der
Vollstandigkeit wegen seien die ferneren Beitrager wenigstens genannt: Die Historike-
rin Marie Luisa Allemeyer widmet sich Kontroversen um den Kiistenschutz im 17. und
18. Jahrhundert (S. 87-106), der niederlandische Soziologe Otto S. Kottnerus schildert
Gefahren und Chancen der Kiistengesellschaft im Umgang mit dem Meer in der Friihen
Neuzeit (S. 107-149), und die Volkskundlerin Julia Meyn beschaftigt sich abschlieBend
mit Biographien von Menschen, deren Alltags- und Berufsleben zum Meer in engem Be-
zug stehen.
Uelzen Hans-Jurgen Vogtherr
Jagdin der Liineburger Heide. Beitrage zurjagdgeschichte. Begleitpublikation zur Ausstel-
lung. Hrsg. vom Bomann-Museum Celle und vom Landwirtschaftsmuseum Liinebur-
ger Heide e.V. Suderburg-Hosseringen. Celle: Bomann-Museum Celle 2006. 376 S.
Abb. = Veroff. des Landwirtschaftsmuseums Liineburger Heide Bd. 15. Geb. 19,80 €.
Der im Vorwort als Begleitband zur „aktuellen Sonderausstellung Jagd in der Liine-
burger Heide" vorgestellte, von den oben genannten Museen in Kooperation heraus-
gegebene, von Christiane Schroder und Martin Stober (Niedersachsisches Institut fur
Historische Regionalforschung) redigierte, vom Liineburgischen Landschaftsverband
finanzierte und mit Jagdforschungsmitteln des Landes Niedersachsen geforderte Sam-
melband vereinigt eine Reihe von Beitragen, die verschiedene Aspekte der Jagdge-
Kirchen-, Geistes- und Kulturgeschichte 529
schichte, vornehmlich, aber nicht ausschlieBlich, in der Liineburger Heide behandeln.
Werner Rosener, ausgewiesener Kenner der mittelalterlichen Jagdgeschichte, fiihrt in
einem knappen Beitrag „Jagd und Jager. Reflexionen zu einem Phanomen der europai-
schen Kulturgeschichte" in das Thema ein. Ahnlich wie viele jagdbegeisterte Autoren
und Rezensenten der letzten drei Jahrzehnte verwahrt sich auch Rosener gegen die In-
terpretation der herrschaftlichen Jagd als Statussymbol, Ersatzbefriedigung und Mittel
gegen existentielle Langeweile mit erheblichen sozialen, okonomischen und okologi-
schen Folgeschaden, wie sie Hans Wilhelm Eckardt 1976 mit Blick auf die Zeit vom 17.
bis zum 19. Jahrhundert vorgelegt hat („Herrschaftliche Jagd, bauerliche Not und biir-
gerliche Kritik. Zur Geschichte der fiirstlichen und adligen Jagdprivilegien vornehmlich
im siidwestdeutschen Raum") und die wohl bis heute vonjagern als Angriff auf die eige-
ne Passion empfunden wird: ein schones Beispiel fur die Wirkungsgeschichte einerkriti-
schen, von den Rezipienten stets aufs Neue aktualisierten geschichtswissenschaftlichen
Grundlagenarbeit.
Die iibrigen Autoren tragen aus ihren speziellen Interessengebieten zum Gesamtthe-
ma bei: Lutz Kriiger skizziert den Weg derjagdrechtsgeschichte vom mittelalterlichen
Jagdregal zur biirgerlichen Jagd, Norbert Steinau widmet sich der Hofjagd im Fiirsten-
tum Liineburg im 17. und 18. Jahrhundert. Forst- und Jagduniformen im Konigreich
Hannover stellt Gerhard GroBe Loscher vor, derselbe Autor beschaftigt sich auch spezi-
ell mit dem „Hirschfanger zur koniglich hannoverschen Jagd- und Forstuniform". Aus-
kunft iiber das „Jagdhorn in der Heide" gibt Georg Volquardts, der auch die Lebensbil-
der der beiden Forstmannerjohann Christian von During d. A. und d. J. vorstellt, wah-
rend Heinrich Uhde die „Geschichte des Jagdhundewesens in der Liineburger Heide"
nachzeichnet. Einen informativen Beitrag zu einer heute fast vergessenen Jagdart, dem
Entenfang in groBen, eigens dazu hergerichteten Anlagen, liefert Rainer Voss. Anhand
alter Karten und moderner Luftaufnahmen kann er anschaulich die historische Bedeu-
tung und den jetzigen Zustand der letzten heute noch museal erhaltenen Entenfang-An-
lage bei Celle als Element der Kulturlandschaft darlegen. Einen Uberblickzu den erhal-
tenen Jagddenkmalern im Raum Celle, bei denen es sich uberwiegend um Tierdenkma-
ler und Gedenksteine fur Forster handelt, die durch Wilderer ermordet wurden, liefert
Kathrin Panne. Mit „Hermann Lons als kritischer Jager" befasst sich Hans Schonecke,
dessen Beitrag zum groBten Teil aus Lons-Zitaten besteht. Als Fazit gewinnt er die Ein-
sicht, dass „der Jager Lons in der heutigen Zeit auf die meisten Mitjager sicherlich ein
wenig stolz ware" und „ihn der zum Teil starke Bestandsruckgang bei den Hasen, Reb-
hiihnern und besonders Birkhiihnern sehr bedenklich stimmen wiirde".
Den groBten Teil des Sammelbandes bestreitet Jiirgen Delfs, Forstdirektor und ehe-
maliger Leiter des Niedersachsischen Forstamtes Knesebeck. In seinen vier Beitragen
befasst er sich kenntnisreich und detailliert mit den verschiedenen Jagdarten, mitjagd-
diensten und Jagdfronden, mit Wolfen und ihrer Bejagung sowie mit „Wilderer[n] aus
Not, Habgierund Leidenschaft". Sein Beitrag „W6lfe - verteufeltund verkannt" entlehnt
den Titel der von Gabriella Machini-Warnecke gestaltete Publikation des Museumsdorfs
Hosseringen von 2005 („Auf Isegrimms Spuren. Der Wolf: verfolgt - verteufelt - ver-
kannt") und greift zum Teil auch auf deren Bildmaterial zuriick. Bei den von Delfs zitier-
ten friihneuzeitlichen Archivalien konnte es fur den Leser ebenso wie fur die Archivare
des Niedersachsischen Landesarchivs aufschlussreich sein zu erfahren, welche Proveni-
enz und welcher Aufbewahrungsort sich hinter der Angabe „Nds. Forstamt Knesebeck,
unverzeichnete Akten" verbergen.
530 Besprechungen
Insgesamt wird der schon gestaltete und ansprechend bebilderte Band seinem An-
spruch gerecht, einen ersten Uberblick zum Themajagd in der Liineburger Heide zu ge-
ben und „keine vollstandige, alle Themenbereiche abdeckende Jagdgeschichte" bieten
zu wollen. Ein breitgestreuter, jagdgeschichtlich interessierter Leserkreis wird darin
manche Anregung finden.
Hannover Gerd van den Heuvel
Voigt, Vanessa-Maria: Kunsthandler und Sammler der Moderne im Nationalsozialismus. Die
Sammlung Sprengel 1934 bis 1945. Berlin: Reimer Verlag 2007. 331 S. Abb. = Spren-
gel-Museum Hannover - Materialien zur Kunst des 20. Jahrhunderts. Geb. 49,- €.
Vanessa-Maria Voigt legt mit ihrer am Lehrstuhl von Prof. Dr. Sebastian Schiitze an
der Universitat Munster abgeschlossenen Dissertation eine Studie vor, die die Vernet-
zung zwischen Sammlern, Kunsthandlern und als ,entartet' verfemten Kiinstlern im
Dritten Reich aufzeigt. Zu diesem Thema sind aufgrund der von privater wie offizieller
Seite erfolgten Recherchen nach dem Verbleib der durch das nationalsozialistische
Regime beschlagnahmten Kunstwerke dieser Kiinstler in den letzten Jahren mehrere
regional- oder personenbezogene Pionierarbeiten verfasst worden, die sie in ihrer Ein-
leitung auffuhrt und als Matrix fur ihre Studie heranzieht. Die folgende Kurzbiogra-
phie zur Familie Sprengel beruht im Wesentlichen auf der Schrift zum lOOjahrigen
Jubilaum der Firma Sprengel von Friedrich Euler aus dem Jahr 1951. Die Hauptkapitel
zum Aufbau der Sammlung und zur Ankaufspolitik beruhen auf Voigts fruherer Tatig-
keit im Sprengel-Museum, bei der sie die Provenienz der Sammlung Sprengel derjahre
1934 bis 1945 zu klaren versucht hat, und ihrer Magisterarbeit zum Verhaltnis zwi-
schen den Familien Sprengel und Nolde. Zum ersten Thema ist bereits ein grundlegen-
der Aufsatz von Ulrich Krempel, dem Leiter des Sprengel-Museums, erschienen, zum
zweiten Thema einer von Marcus Heinzelmann, beide im Katalog zur Nolde-Ausstel-
lung in Hannover 1999 publiziert. Frau Voigt versteht es, ausgehend von den Kontak-
ten der Sprengels mit einzelnen Kiinstlern, Kunsthandlern und Sammlern den Aufbau
der Sammlung detailliert zu rekonstruieren. Ein Werkverzeichnis im Anhang schafft
den notigen Uberblick, zeigt aber auch die Liicken auf. Sie strebt allerdings auch nicht
Vollstandigkeit an, sondern konzentriert sich auf die wesentlichen Kontaktpersonen
und schildert minutios deren Werdegang wahrend des Dritten Reichs, vor allem auf-
grund autobiographischer und biographischer Notizen sowie von Interviews mit Fa-
milienangehorigen. In der Zusammentragung dieser untereinander vernetzten Einzel-
biographien liegt die Starke dieser Dissertation. Sie verlasst sich allerdings in ihren
Ausfiihrungen und Ergebnissen durch ihre Konzentration auf personliche Zeugnisse
weitgehend auf die problematische Sicht der Betroffenen. AuBer der Korrespondenz
betroffenen Personen werden nur in seltenen Fallen (die Unterkapitel zu Hildebrand
Gurlitt, Karl Edgar Lehmann und Max Rudenberg) andere Archivalien in groBerem
Umfang herangezogen. Auf die Uberlieferung staatlicher Einrichtungen, der NSDAP
oder von Verbanden auf zentraler wie lokaler Ebene wurde nicht zuriickgegriffen. So
werden die staatlichen Rahmenbedingungen des ,Kunstmarkts' der Zeit ebenso wenig
wie die Entwicklung der Firma Sprengel als wirtschaftliche Basis des Aufbaus der
Sammlung Sprengel diskutiert. Eine neue Erkenntnis ihrer Dissertation ist, dass die
Geschichte einzelner Landesteile und Orte 531
Sprengels trotz aller gegenteiligen Behauptungen offenbar bereits kurz vor ihrem Be-
such der beriihmten Ausstellung in Miinchen iiber ,entartete Kunst' im November 1937
anfingen, moderne Kunst zu kaufen (S. 47). Nur in wenigen Fallen scheinen allerdings
auBer der privaten Korrespondenz Sprengels Archivalien anderer Quellenbestande di-
rekt herangezogen worden zu sein. Viele Archivalien zitiert sie nach der Literatur (z. B.
das Beckmann-Archiv in Miinchen oder das Archiv des Landschaftsverbandes Rhein-
land in Bonn oder die National Archives in Washington). Im Quellenverzeichnis ist
zwar eine beeindruckende Liste der konsultierten Archive aufgefiihrt, doch bezeich-
nenderweise nur die Namen der Archive ohne Hinweis auf die darin benutzten Quel-
lenbestande oder gar auf die Quellen selbst. So muss man miihsam anhand der Anmer-
kungen rekonstruieren, woher ihre Erkenntnisse im Einzelnen stammen. Im Resumee
stellt sie richtig den Zwiespalt in der Bewertung des Mazenatentums von Sprengel her-
aus. Einerseits schutzte er mit dem Aufbau seiner Sammlung moderner Kunst, die als
einzige erst im Verlauf des nationalsozialistischen Regimes entstand, zwar viele Werke
vor ihrem Ausverkauf ins Ausland und trug erfolgreich dazu bei, einen privaten Markt
fur diese Kunst im Dritten Reich am Leben zu halten. Andererseits ist nicht zu bestrei-
ten, dass Sprengel von der Notsituation vieler Kiinstler, Kunsthandler und Sammler be-
wusst profitierte, die Werke zu auBerst giinstigen Konditionen erwarb und damit den
Grundstein zu seinem Ruhm als Kunstmazen legte.
Stade Thomas Bardelle
GESCHICHTE EINZELNER LANDESTEILE
UND ORTE
GeschichtsLandschaft Emsland/Bentheim. Tagung zum 25-ja.hrigen Bestehen des Arbeits-
kreises Geschichte der Emslandischen Landschaft fur die Landkreise Emsland und
Grafschaft Bentheim (1981-2006) am 3. November 2006. Hrsg. von Birgit Kehne. So-
gel: Verlag der Emslandischen Landschaft e.V. 2007. 119 S. Abb. = Emsland/Bent-
heim. Beitrage zur Geschichte Bd. 19. Geb. 12,70 €.
Imjahr 1981 entstand auf Initiative des ehemaligen Osnabriicker Staatsarchivdirektors
Theodor Penners der Arbeitskreis Emsland /Bentheim als lose Vereinigung verschiede-
ner an der Geschichte des Emslandes und der Grafschaft Bentheim interessierter Archi-
vare, Historiker und Lehrer. Ziel der Griindung des Arbeitskreises war die „Initiierung
und Forderung landeskundlicher und regionalgeschichtlicher Forschung" zur Geschich-
te der beiden bis dahin von der allgemeinen Landesgeschichte eher als nachrangig ange-
sehenen Landkreise (Geleit S. 7).
In den 25Jahren seines Bestehens konnte der Arbeitskreis die Zahl seiner Mitarbeiter
auf inzwischen iiber 50 verdoppeln. Markantestes Produkt seiner Tatigkeit ist die 1985
begonnene Schriftenreihe „Emsland/ Bentheim. Beitrage zur [bis 1986: neueren] Ge-
532 Besprechungen
schichte". Diese Veroffentlichungsreihe war zunachst zur Presentation von Forschungen
zur Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts gedacht, wo man die groBten Forschungs-
defizite festgestellt hatte, wurde aber schon bald auch fiir mittelalterliche und fruhneu-
zeitliche Themen geoffnet. Aus Anlass des 25-jahrigen Bestehens des Arbeitskreises
wurde am 3. November 2006 in Meppen eine Tagung zum Thema „GeschichtsLand-
schaft Emsland/Bentheim" durchgefuhrt. Die hier zu besprechende Publikation - Band
19 der genannten Schriftenreihe des Arbeitskreises - prasentiert die Beitrage dieser Ju-
bilaumstagung einem breiten Publikum. Eingeleitet wird der Band durch ein Geleitwort
des Prasidenten der Emslandischen Landschaft, Hermann Broring, eine Vorbemerkung
von Heinrich Voort und eine Einfiihrung der Herausgeberin Birgit Kehne (S. 7-12).
Peter Johanek wirft mit seinem Beitrag iiber die Erforschung der „Landesgeschichte
in Nordwestdeutschland" den Blick aus Westfalen auf Niedersachsen und liefert einen
Uberblick iiber Grundlagen und Entwicklung der landesgeschichtlichen Forschung in
Deutschland mit besonderem Augenmerk auf den deutschen Nordwesten, iiber die Or-
ganisation landesgeschichtlicher Forschung durch die Bildung von Geschichtsvereinen
im Lauf des 19. Jahrhunderts und ihre Professionalisierung durch die Entstehung der
Historischen Kommissionen in der Zeit um 1900 (S. 13-34). Gerd Steinwascher gibt in
seinem Beitrag „Das Emsland - Annaherungen an eine Region" (S. 35-45) einen fun-
dierten Uberblick iiber die 1000-jahrige Geschichte der Landschaft an der Ems zwi-
schen Rheine und Papenburg. Er ruft dabei ins Bewusstsein, dass sich „die Identitat stif-
tenden Entwicklungslinien" fiir das heutige Emsland „in der Vergangenheit schnell ver-
lieren" (S. 37). Im Mittelalter stellte der heutige Landkreis Emsland weder in
siedlungsgeschichtlicher noch in kirchenorganisatorischer Hinsicht eine Einheit dar.
Territorial gehorte das Gebiet des heutigen Kreises sogar bis zum Ausgang des Ancien
Regimes zu unterschiedlichen Landesherrschaften. Identitatsstiftende Faktoren wie et-
wa das iiberwiegend katholische Bekenntnis der Bevolkerung bildeten sich erst nach
und nach heraus.
Peter Veddeler iiberpriift in seinem Aufsatz „Dichtung und Wahrheit - Die mittelal-
terlichen Grafen von Bentheim in der Geschichte" (S. 47-51) die von den Historiogra-
phen des 18. und 19. Jahrhunderts gelieferten Informationen iiber die Grafen von Bent-
heim im Mittelalter anhand der zeitgenossischen Quellen. Der zentrale Befund Vedde-
lers besteht in der entschiedenen Feststellung, dass es „Grafen von Bentheim vor der
zweiten Halfte des 12. Jahrhunderts eben noch nicht gegeben hat" (S. 51).
Andreas Eiynck beschaftigt sich in seinem Beitrag „Das Emsland und die Grafschaft
Bentheim als historischer Grenzraum" (S. 53-100) mit der wechselvollen Geschichte der
deutsch-niederlandischen Grenze vom Hochmittelalter bis zur Gegenwart. Eine bemer-
kenswerte Kuriositat stellen dabei die „Hauser auf der Grenze" dar, zwei Hofe in
Haddorf und in Brecklenkamp, auf denen - historisch bedingt - die heutige Staatsgren-
ze zwischen der Bundesrepublik und den Niederlanden mitten durch die Wohnhauser
verlauft(S. 59 f.).
Hans-Georg Aschoff geht derFrage nach, ob „Ludwig Windthorst ,klerikal' und ,ultra-
montan'" war (S. 101-110). Diese beiden Attribute waren zu Windthorsts Zeiten (1812-
1891) durchaus negativ besetzt und wurden von seinen politischen Gegnern gezielt zur
Diskreditierung der Zentrumspartei, deren fiihrender Reprasentant er war, eingesetzt.
Am Beispiel der Beilegung des Kulturkampfes kann Aschoff aufzeigen, dass Windthorst
sich keineswegs von der romischen Kurie zu faulen Kompromissen notigen lieBen,
mithin also keineswegs als „ultramontan" oder „klerikal" bezeichnet werden kann.
Geschichte einzelner Landesteile und Orte 533
Heiner Schiipp stellt mit der Kreisbeschreibung des Landkreises Emsland ein ehrgei-
ziges, imjahr2002 zum erfolgreichen Abschluss gebrachtes Projekt vor (S. 111-119). Das
25-jahrige Bestehen des 1977 aus der Zusammenlegung der Altkreise Aschendorf-
Hummling, Meppen und Lingen hervorgegangen Landkreises diente als Anlass, „in ei-
ner landeskundlichen Beschreibung des Landkreises Emsland eine Bestandsaufnahme
anzugehen". 62 Autoren aus Wissenschaft, Bildung und Verwaltung - darunter viele
Mitarbeiter des Arbeitskreises Emsland/Bentheim - haben schlieBlich dazu beigetra-
gen, dass ein eindrucksvoller Band mit Vorbildcharakter fiir ahnliche Projekte anderer
Landkreise vorgelegt werden konnte.
Der Arbeitskreis Geschichte in der Emslandischen Landschaft hatte alien Grund,
sein 25-jahriges erfolgreiches Bestehen gebiihrend mit einer wissenschaftlichen Tagung
zu feiern. Es bleibt zu wiinschen, dass der Tagungsband mit seinen interessanten Beitra-
gen weitere Kreise fiir die Beschaftigung mit der emslandisch-bentheimischen Ge-
schichte begeistert.
Hannover Christian Hoffmann
Die Lehnregister der Herrschaften Everstein und Homburg. Erganztum einige weitere register-
formige Quellenstiicke aus dem spaten Mittelalter. Bearb. von Uwe Ohainski. Biele-
feld: Verlag fiir Regionalgeschichte 2008. 184 S. = Gottinger Forschungen zur Lan-
desgeschichte Bd. 13. Kart. 19,- €.
Der Herausgeber teilt wesentliche Quellen zu zwei fiir den siidniedersachsischen Raum
nicht unbedeutenden Herrschaften mit, die bereits vor ihrem Ubergang an die Welfen
(1409) deutliche Ansatze zur Landesherrschaft entwickelt hatten. Sie gehoren zugleich
zu den wenigen Herrschaften an den Grenzen zu den welfischen Territorien, die verhalt-
nismaBig lange ihre Eigenstandigkeit behaupten konnten. Gerade im Hinblick auf die
entstehenden Landesherrschaften sind die Lehnregister von einiger Bedeutung, weil,
wie erst jiingst Friedhelm Biermann (Der Weserraum in hohen und spaten Mittelalter,
Bielefeld 2007) nochmals deutlich gezeigt hat, die Lehnsbindungen fiir die Entwicklung
von Landesherrschaft von einiger Bedeutung waren. Sie zeigen die vielfaltigen Verflech-
tungen von Gruppen und Personen in der Region und verweisen somit auch (wenn-
gleich nicht zwingend) auf den fiir die avisierte Landesherrschaft relevanten Raum.
Die meisten Uberlieferungstrager der mitgeteilten Stiicke sind 1943 im Staatsarchiv
Hannover bei einem Luftangriff verbrannt. Die Lehnregister selbst waren also zum
groBten Teil verloren, hatte sie nicht bereits 1921 Georg Schnath transkribiert. Die meis-
ten Originale lagen aber auch Schnath nicht mehr vor. Seine Abschriften fertigte er
selbst zumeist auf der Basis der welfischen Uberlieferung der Lehnregister. Fiir den Her-
ausgeber ist das eine schwierige Situation. Was gibt er eigentlich heraus, den (vermeint-
lich) originalen Text, die welfische Uberlieferung oder den Text von Schnath? Da er sich
aber gegen eine eigentliche Edition entschied, konnte er dieses Problem in gewisser Wei-
se umgehen. Er teilt folglich die Abschriften von Schnath mit, die dieserwohl bereits im
Hinblick auf eine spatere Drucklegung bereits mit einem Kommentar versehen hatte. So
bleibt fiir die meisten Stiicke ein (unausraumbarer aber vertretbarer) Vorbehalt gegen-
iiber der Authentizitat.
534 Besprechungen
Die Entscheidung, die Stiicke dennoch mitzuteilen und mit getrennten Orts- und Per-
sonenregister versehen in Buchform erscheinen zu lassen, ist zu begriiBen, vor allem in
so ansprechender und kompakter Form.
Paderborn Jiirgen Strothmann
Casemir, Kirsten und Uwe Ohainski: Die Ortsnamen des Landkreises Holzminden. Nebst
einem Anhang der archaologisch lokalisierten Wiistungen und Burgen sowie weiterer
Siedlungsstellen von Detlef Creydt und Christian Leiber. Bielefeld: Verlag fur
Regionalgeschichte 2007. 305 S. Kt. = Niedersachsisches Ortsnamenbuch Teil 6;
Veroff. des Instituts fiir Historische Landesforschung der Universitat Gottingen
Bd. 51. Geb. 34,-€.
Das erklarte Ziel des Niedersachsischen Ortsnamenbuches, „auf der Grundlage der heu-
tigen Landkreise und kreisfreien Stadte flachendeckend samtliche niedersachsischen
Ortsnamen zu erfassen und zu deuten", verfolgen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
des Instituts fiir historische Landesforschung der Universitat Gottingen mit steter Publi-
kationsdisziplin. Sie konnen nunmehr nicht nur auf eine kontinuierliche Leistung, son-
dern auch auf das Erreichen eines ersten Etappenzieles verweisen: Nach der Vorlage der
Bande zu den Ortsnamen der Landkreise Osterode (2000), Gottingen (2003) und Nort-
heim (2005) ist mit dem vorliegenden sechsten Band des Niedersachsischen Ortsnamen-
buches zu den Ortnamen des Landkreises Holzminden die Erfassung des historischen
Siedlungsnamenbestandes Siidniedersachsen abgeschlossen. Damit sind alle in den
Schriftquellen belegbaren 1200 bestehenden oder ausgegangenen Orte auf einer Ge-
samtflache von 3772 km2 erfasst. Daruberhinaus liegen zwei weitere Bande zu den Orts-
namen des Landkreises und der Stadt Hannover (1998) sowie des Landkreises Wolfen-
biittel und der Stadt Salzgitter (2003) vor. Auch wenn damit erst fiir sechs der insgesamt
37 Landkreise und zwei der insgesamt acht kreisfreien Stadte des Bundeslandes Nie-
dersachsen eine Bearbeitung der historischen Siedlungsnamen vorliegt, ist dem Ge-
samtprojekt fiir das ziigige Voranschreiten bei Wahrung eines hohen Qualitatsniveaus
hochster Respekt zu zollen. Nicht unerwahnt bleiben soil, dass die Anlage des Nieder-
sachsischen Ortsnamenbuches Vorbildfunktion fiir das Projekt „Ortsnamen zwischen
Rhein und Elbe - Onomastik im europaischen Raum" und fiir das neu begriindete Orts-
namenbuches von Sachsen-Anhalt besitzt.
Die Bearbeitung des Landkreises Holzminden fiigt sich im Wesentlichen in das in
den vorangegangenen Banden bewahrte, im Niedersachsischenjahrbuch (Bd. 28, 2006,
S. 422f.) bereits vorgestellte Schema. Einzige Neuerung ist die Diskussion derBelegent-
wicklung, die aus Punkt I (Quellenkritische Angaben) in Punkt III (Eigene Deutung) ver-
schoben wurde, um sie und die Etymologie zusammenhangend darzustellen. Zudem
wird im Anhang von Detlef Creydt und Christian Leiber eine Zusammenstellung der ar-
chaologisch lokalisierten Wiistungen und Burgen sowie weiterer Siedlungsstellen gebo-
ten. Dies gehort zwar streng genommen nicht zu den nach den Arbeitsrichtlinien eines
Ortsnamenbuches zu erhebenden Nachweisen und Informationen, stellt aber fiir den
Benutzer sicher eine wertvolle Erganzung dar. Zugleich dokumentiert sich auf diese
Weise die fruchtbare Zusammenarbeit des Instituts fiir historische Landesforschung mit
Geschichte einzelner Landesteile und Orte 535
dem Heimat- und Geschichtsvereins fur Landkreis und Stadt Holzminden, der den
Band ebenfalls in seine Schriftenreihe (Nr. 11) aufgenommen hat.
Beginnend mit f Ackenhusen und endend mit f Wockensen sind insgesamt 189 Lem-
mata erfasst, in 71 Fallen noch bestehende Orte, in 118 Fallen Wiistungen bzw. tempora-
re Wiistungen. Wie schon bei den Ortsnamen des Landkreises Northeim stellen die Na-
men auf -husen sowie die des speziellen Bildungstyps -inge-husen mit Abstand die groBte
Ortsnamengruppe dar. Die zweitgroBte Ortsnamengruppe bilden die -Aagra-Namen.
Immer noch haufig, aber insgesamt seltener begegnen wiederum Ortsnamen mit den
Grundwortern -bekeuxid -born. Anders als in den Kreisen Gottingen und Northeim aber
umfasst die Gruppe der -rode-Namen im Kreis Holzminden prozentual weitaus weniger
Orte. Von diesen Befunden lassen sich unschwer mit entsprechender kartographischer
Darstellung kreis- und regioniibergreifend relative Altersschichtungen und die Bezie-
hungen der Gruppen untereinander ableiten.
Nachdriicklich kann man den Band zu den Ortsnamen des Landkreises Holzminden
des Niedersachsischen Ortsnamenbuches alien landeskundlich interessierten Lesern
empfehlen und erneut dem Gesamtprojekt anhaltend langen Atem bei der Erfassung des
historischen Siedlungsnamensbestandes weiterer Landkreise wiinschen. Mit freudiger
Erwartung darf man dabei dem Erscheinen derbereits in Bearbeitungbzw. in Vorberei-
tung befindlichen Bande zu den Ortsnamen des Landkreises Helmstedt und der Stadt
Wolfsburg sowie des Landkreises Goslar, der Stadt Braunschweig und des Landkreises
Hildesheim entgegensehen.
Marburg Ulrich Ritzerfeld
Neubert-Preine, Thorsten: Die Rittergiiter der Hoya-Diepholz'schen Landschaft. Mit Beitra-
gen von Hilmar Hieronymus Freiherr von Munchhausen und Jiirgen Stegemann.
Nienburg: Hoya-Diepholz'sche Landschaft 2006. 473 S. Abb., Kt. Geb. 39,90 €.
Der vorliegende Band entstand im Auftrag der Hoya-Diepholz'schen Landschaft, einer
Korporation, welche die einst getrennt organisierten Landschaften der beiden vormali-
gen Grafschaften seit den letzten Jahren des Konigreichs Hannover vereint. Verf.
scheint als ehemaliger Assistent von Bernd Ulrich Hucker (Universitat Vechta) mit der
untersuchten Region gut vertraut, auf dessen zahlreichen Arbeiten zur Geschichte der
beiden Grafschaften er aufbaut. Daneben stiitzt er sich im Wesentlichen auf das Archiv
der Landschaft im Hauptstaatsarchiv Hannover sowie auf Dokumente aus Privatbesitz.
Verf. untersucht nicht nur die 38 aktiven Mitglieder der Ritterschaft, darunter auch das
Damenstift Bassum, sondern auch die ehemaligen, insgesamt also um 120 Sitze. Aus ei-
ner beigegebenen Karte geht hervor, wie die groBe Mehrheit der Sitze in der Grafschaft
Hoya liegt, iiberwiegend am Lauf der Weser sowie als Burgmannshofe bei den landes-
herrlichen Burgen (Nienburg, Hoya, Drakenburg), andere in der Grafschaft Diepholz
entsprechend am Lauf der Hunte.
Die einzelnen, mit Anmerkungen versehenen Artikel folgen einer einheitlichen Kon-
zeption. Dem Versuch etymologischer Deutung der Ortsnamen folgen Angaben zur
Ersterwahnung des Ortes, dann zur Besitzfolge bis in die Gegenwart, wobei Verf. in der
Regel die Lebensdaten auch der Ehepartner mitteilt - insgesamt eine groBe Fiille von
Personendaten also, die auf umfangreiche Familienforschung schlieBen lassen und ge-
536 Besprechungen
wissen Einblick in die sozialen Verhaltnisse vermitteln. Verf. beschreibt anschaulich die
diversen Gutsanlagen und ihre Wohnhauser, ihre baugeschichtliche Qualitat und wiir-
digt die denkmalgerechte Pflege der Hauser seitens der Besitzer. Die Artikel sind alpha-
betisch angeordnet. Sie bilden sozusagen ein gutsgeschichtliches Nachschlagewerk, wo-
bei durch die Vereinzelung gewisse Zusammenhange naturgemaB weniger sichtbar wer-
den, zumal eine Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse fehlt. Auch die beiden
Grafschaften betrachtet Verf. ziemlich isoliert. Der vergleichende Blick iiber die Gren-
zen, und zwar auf die beiden mit ahnlichen Untersuchungen schon erschlossenen Nach-
barterritorien, die Fiirstentiimer Osnabriick (R. von dem Bruch, 1930) und Minden
(K.A. Freiherr von der Horst, 1894), ware hilfreich gewesen. Verband die beiden Graf-
schaften seit dem spaten Mittelalter mit diesen Nachbarn doch viele strukturelle Ge-
meinsamkeiten: Adel und Freie als Trager der Landstandschaft in gemeinsamer Ritter-
kurie, subsidiares weibliches Erbrecht, haufig praktizierte Privilegierung eines Meier-
hofs mit dem Recht der Landstandschaft („landtagsfahiger Meierhof"), Verschiebung
bzw. Verkauf von Ritterstimmen, haufiger Besitzwechsel durch Verkauf. Zu besichtigen
ist somit in den Grafschaften Hoya und Diepholz eine erstaunlich mobile Welt von Adel
und Freien, wie sie in den vom Lehnrecht gepragten welfischen Landen nicht bestand, in
die sie seit dem spaten 16. Jh. freilich eingebunden waren. Als Reprasentanten des alten
einheimischen Adels, welche die Kontinuitat noch heute vergegenwartigen, nennt Verf.
die von Behr auf ihrem Burgmannshof in Hoya, einem heute unter Landwirten bekann-
ten Gutsbetrieb, und die von Miinchhausen auf dem sog. Freihof in Stolzenau. Die meis-
ten der Hoyaer Adelsfamilien, so ist den Artikeln zu entnehmen, gaben seit dem 16. Jh.
ihren zum Teil erheblichen Grundbesitz auf (von Klencke, von Frese) oder starben aus
(von Hasbergen, von Weyhe, von Staffhorst). An ihre Stelle traten Mitglieder des Adels
aus benachbarten Furstentiimern wie die von Bothmer, von der Decken (Afrikafor-
scher!), von Arenstorff, von Hardenberg sowie bemerkenswerterweise die Inhaber von
einheimischen Meierhofen. Zwar taucht fur die Adelssitze der iibliche Begriff „Sattel-
hof" auf (gelegentlich auch „Edelhof", deren Inhaber Verf. falschlich als „Edelherren"
bezeichnet, S. 132 u. 152). Man findet aber nur selten Hinweise auf etwaige daran han-
gende grundherrliche Rechte; oft ist der Blick allein auf den „Hof", d.h. auf die Eigen-
wirtschaft gerichtet, wahrend doch Zehnteinkiinfte, Abgaben und Hofzins von nachge-
sessenen Bauern (in Streulage oderganzen Dorfern) im allgemeinen die Haupteinkunfte
eines Rittersitzes ausmachten. Offensichtlich war dies in den Grafschaften aber nur sel-
ten der Fall. Wie man den Artikeln entnehmen kann, waren die grundherrlichen Rechte
weniger entwickelt als etwa in den welfischen Landen. Die strukturellen Unterschiede
zwischen Adelssitz und Freiem Meierhof waren somit relativ gering. Ein groBes Ver-
dienst dieser Arbeit ist die Ermittlung der zahlreichen Burgmannshofe, welche durch ih-
re besondere Aufgabe die enge Verbindung von Landesherr, Adel, Freien und Stadt
bzw. Flecken vergegenwartigen. Verf. kann zeigen, wie gerade die Burgmannshofe lan-
gerfristig dem Besitzwechsel unterworfen waren und wie zahlreiche Inhaber von Meier-
hofen im 18. und 19. Jh. den Zugang zur Ritterschaft durch Erwerb einer solchen Ritter-
stimme gewannen, was, wie aus mehreren Artikeln hervorgeht, in altererZeit allein auf
entsprechendem landesherrlichem Privileg beruht hatte. Das Beispiel Leeseringen (1)
zeigt, dass Freie um 1600 nicht unbedingt die Landstandschaft erstrebten. Die unter-
schiedlich situierten Meier bezeichnet Verf. als „Hofbesitzer" (Grundherr, S. 170), „herr-
schaftlicher Dienstmeier", „Hofmeier", „leibeigener Lehnsmeier" - sollten es wirklich
Quellenbegriffe sein, bediirften sie der Erlauterung. Am Beispiel der Familie Stegemann
Geschichte einzelner Landesteile und Orte 537
kann Verf. sozialen Aufstieg zeigen, wenn der Sohn eines Heuerlings als Pachter des von
Sloensche Guts Dorpel in der Grafschaft Diepholz das Lehngut Dorrieloh (2) in der
Grafschaft Hoya kaufte und 1734 auch seine Landstandschaft durchsetzte, Ahnherr des
heutigen Prasidenten derLandschaft,Jiirgen Stegemann auf Mehringen. Als eine beson-
dere Gruppe stellt Verf. die „Siebenmeierh6fe" der Stiftskirche Biicken vor, die mit im-
merhin begrenzten Privilegien die Landtagsfahigkeit in der friihen Neuzeit beanspruch-
ten, sie aber erst im Verlauf des 19. Jh. zu erlangen vermochten.
Mancher Meier bewirtschaftete einen groBeren Besitz als der eine oder andere adlige
Gutsbesitzer, der nicht selten Haus und Hof verpachtete (was Verf. stets genau ver-
merkt) , etwa weil es nur ein Nebensitz war, er noch andere grundherrliche Einkiinfte ge-
noss bzw. im Fiirstendienst stand. Seitdem die beiden Grafschaften im spaten 16. Jh.
zum Furstentum Luneburg bzw. spater zu Hannover gehorten, wird eine besondere
Gruppe beim Erwerb von Rittergutern sichtbar, namlich hohe Beamte der Regierung zu
Celle und dann Hannover, wie Kanzler Hedemann, Geheimrat von Fabrice (dann von
Schwicheldt), Kammerrat von Ramdohr und der Schriftsteller Basilius von Ramdohr,
Hofmarschall von Malortie. Ein ebenfalls mobiler Bewohner wird noch in der Mitte des
18. Jh. gemeldet, der Hausgeist Hinzelmann („Rintzelmann" geht wohl auf fehlerhafte
Textvorlage zuriick), den kiirzlich Brage Bei der Wieden als Zubehor eines Rittersitzes
im 16. Jh. aspektreich betrachtete (in: S. Lesemann (Hrsg.), Stand und Representation,
2004) - der Kobold nun ein Pendler zwischen dem von Freytag'schen Gut Estorf und sei-
nem Ursprungsort Hudemuhlen im Luneburgischen. Am Beispiel von Eickhof und H6-
nisch kann Verf. zeigen, wie gegen Ende des 19. Jh. landwirtschaftliche GroBbetriebe
dank stadtischen Kapitals gegriindet wurden, Eickhoff (mitsamt Liebenau) durch den
Prasidenten der Eisenbahndirektion Hannover, der den Namen des Guts annahm und
sich damit adeln lieB („von Eickhof gen. Reitzenstein"). Das Gut Honisch griindete der
Brennereibesitzer Carl Hesse aus Bremen auf Domanengut. Auch diese Investoren bzw.
ihre Nachkommen engagierten sich in der Ritterschaft. Dass diese Institution seit dem
spaten Mittelalter einem starken Wandel unterzogen war, lassen die Einzelartikel des
Bandes indes weitgehend offen. Der fur diese Thematik wichtige Beitrag von Brigitte
Streich iiber Hoya und Diepholz im Handbuch der niedersachsischen Landtags- und
Standegeschichte 1500-1806 (2004) konnte leider nicht mehr beriicksichtigt werden. Mit
einem eher familien- und kulturgeschichtlichen Ansatz wollte Verf. den „historischen
Dornroschenschlaf" der Rittergiiterbeenden, das istihm im Interesse von Heimatfreun-
den und Landeshistorikern gelungen.
Von ihm selbst stammen viele schone farbige Fotos von der AuBenansicht der Guts-
hauser sowie baulicher Details (ein Luftbild zeigt das malerische Rittergut, welches 1975
der Fernsehstar Rudi Carrell erwarb und komplett renovierte). Man findet Reminiszen-
zen der Weserrenaissance, allgemein viel Fachwerk mit oder ohne Mittelgiebel, Walm-
dach; sog. „Niedersachsenhaus" (Verf. vermeidet den Begriff niedersachsisches „Bau-
ern"-Haus, es trifft die Sache nicht) - in den Varianten liegt der Reiz! Eine Zeittafel,
Karten und ein vorbildliches Personenregister sowie Beitrage von Prasident Stegemann
und nicht zuletzt Hilmar Hieronymus Freiherr von Munchhausen, Motor des Unterneh-
mens, runden das gut ausgestattete Buch ab.
Rheden Armgard von Reden-Dohna
538 Besprechungen
Przybilla, Peter (f) : Die Edelherren von Meinersen. Genealogie, Herrschaft und Besitz vom
12. bis zum 14. Jahrhundert. Aus dem Nachlass hrsg. von Uwe Ohainski und Gerhard
Streich. Hannover: Verlag Hahnsche Buchhandlung 2007. 727 S., Kt. = Veroff. der
Historischen Kommission fiir Niedersachsen und Bremen Bd. 236. Geb. 49,- €.
Die Entstehung des vorliegenden Bandes ist ungewohnlich. Es handelt sich hierbei um
eine unvollendet gebliebene Dissertation des 2001 verstorbenen Historikers Peter Przy-
billa aus der Gottinger Schule des Hans Goetting. Die Herausgeber, Dr. Gerhard Streich
und Uwe Ohainski vom Institut fiir Historische Landesforschung der Universitat Gottin-
gen, iibernahmen die Aufgabe, das Manuskript im Rahmen der Veroffentlichungen der
Historischen Kommission fiir Niedersachsen und Bremen fiir den Druck vorzubereiten.
Dabei ging es ihnen vor allem darum, Przybilla mit all seinen Starken, aber auch Schwa-
chen, so weit wie moglich im Original zu belassen, so dass die Eingriffe in den Text letzt-
lich formaler Natur blieben und die Publikation mit akzeptierbaren Liicken vorliegt. Be-
merkbar wird dies u.a. angesichts der verwendeten Literatur, die bis Anfang der 90er
Jahre des 20. Jahrhunderts reicht, als Przybilla die Arbeit an den „Edelherren von Mei-
nersen" abbrach. Die Herausgeber weisen in ihrem Vorwort auf einige seitdem erschie-
nene einschlagige Veroffentlichungen, vor allem Urkundeneditionen, die der Autor si-
cher benutzt hatte. Allerdings arbeitete der hilfswissenschaftlich ausgebildete Przybilla
lieber mit den Originalquellen.
Die weiteren Liicken des Buches betreffen vor allem das Kapitel III „Besitz und Herr-
schaftselemente der Edelherren von Meinersen seit der Zeit vor 1 147 bis zum Jahr 1366",
in dem die drei Unterkapitel 6-8 fehlen. Das Fehlen kann durch die beigefiigten Karten
(2, 3a, 3b, 9, 10), die nach den Entwiirfen Przybillas von Uwe Ohainski angefertigt wur-
den, aufgefangen werden. Mit ihrer Hilfe kann der Leser in etwa rekonstruieren, was der
Autor in diesen Kapiteln darlegen wollte. Ferner fehlen die Einleitung und die Zusam-
menfassung. Neu hinzugekommen bzw. verandert wurden zwei Punkte, einerseits legt
Uwe Ohainski eine Neuedition der Meinersenschen Lehensregister vor (S. 573-596), an-
dererseits wurden von den Herausgebern die Lokalisierungen der Ortlichkeiten moder-
nisiert und an die Verwaltungsgliederung von 2006 angepasst. Die beigefiigten Karten,
Tabellen und Stammtafeln wurden nach den Entwiirfen und Skizzen Przybillas vorge-
nommen und das Buch um ein Register erganzt.
Die Untersuchung beschaftigt sich mit dem bedeutenden Adelsgeschlecht der Edel-
herren von Meinersen, die zwischen 1147 und 1390 im nordlichen Harzvorland eine ein-
drucksvolle Herrschaft aufgebaut haben. Entsprechend widmet sich das erste Kapitel
der Familie „Genealogie und Verwandtschaft" (S. 15-235), in dem nicht nur alle bekann-
ten Mitglieder der Familie vorgestellt werden, sondern auch die wahrscheinlichen sowie
das Konubium. Das zweite Kapitel, „Die Edelherren von Meinersen von ihren Anfangen
bis zur Aufgabe der Herrschaft (1142-1353)" (S. 237-374), behandelt die Herkunft der
Edelherren; letztendlich geht es aber um ihre politische Stellung und ihr Verhaltnis zu
den benachbarten Fiirsten, den Welfen und Bischofen von Hildesheim, Halberstadt und
Magdeburg. Das dritte Kapitel untersucht „Besitz und Herrschaftselemente der Edelher-
ren von Meinersen seit der Zeit vor 1147 bis zum Jahr 1366" (S. 375-461). Hier wird auch
auf die beiden sehr friihen Lehnsregister (I: 1218/20, II: 1278/80) eingegangen (S. 447-
461), deren Neuedition im Anhang 3 vorliegt. Daneben umfassen die Anhange noch ein
Besitzverzeichnis (S. 463-547), eine Liste der Lehensleute (S. 549-572) sowie eine Editi-
on von „Quellen zur Fundation und Dotierung der Kapelle und der Vikarie St. Anna im
Geschichte einzelner Landesteile und Orte 539
Kreuzgang des Hildesheimer Domes durch den Domkantor Bernhard I. von Meinersen
(t 1311)" (S. 597-605). Quellen- und Literaturlisten, ein ausfiihrliches Personen- und
Ortsregister sowie Stammtafeln und Karten beschlieBen das umfangreiche und „quel-
lengesattigte" (S. 10) Werk.
Das vorliegende Buch iiber die Edelherren von Meinersen verfolgt sicherlich nicht
immer die modernsten Fragestellungen der Adelsforschung, kann es angesichts seiner
Entstehungsgeschichte auch gar nicht, bietet aber eine solide - im besten Sinne des Wor-
tes - Grundlage fur die weitere Beschaftigung mit dem mittelalterlichem Adel des Harz-
vorlandes und des weiteren Umkreises, seine Verhaltnisse zu anderen Geschlechtern
und geisdichen Institutionen. Bei unterschiedlichsten Fragen zur Landesgeschichte Nie-
dersachsens im Allgemeinen und des Harzlandes im engeren Raum wird man kiinftig
an Przybilla nicht vorbeikommen konnen.
Gottingen Nathalie Kruppa
Feme Fursten. Dasjeverland in Anhalt-Zerbster Zeit. Bd. 1: Bibliophile Kostbarkeiten:
die Bibliothek der Fursten von Anhalt-Zerbst im Schloss zu Jever [Begleitband zur
gleichnamigen Ausstellung im Schlossmuseum Jever vom 26.10.2003 bis zum 28.3.
2004]. Hrsg. von Antje Sander und Egbert Koolman. Oldenburg: Isensee Verlag
2003. 568 S. Abb., graph. Darst. = Kataloge und Schriften des Schlossmuseums Jever
H. 24; Schriften der Landesbibliothek Oldenburg 38. Geb. 20,- €. - Bd. 2: Der Hof,
die Stadt, das Land [Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung im Schlossmuseum
Jever vom 26.10.2003 bis zum 28.3.2004]. Hrsg. von Antje Sander. Oldenburg: Isen-
see Verlag 2004. 288 S. Abb. = Kataloge und Schriften des Schlossmuseums Jever
H. 25. Geb. 14,- €.
Das Schicksal einer Existenz als Nebenland einer mehr oder weniger weit entfernten
Landesherrschaft ist bei den Vorgangerterritorien des heutigen Bundeslandes Nieder-
sachsen so haufig zu finden, dass man versucht sein konnte, es fur einen pragenden
Grundzug der friihneuzeitlichen niedersachsischen Landesgeschichte zu halten. In der
Reihe der davon betroffenen Territorien (z.B. Ostfriesland, Oldenburg, Bremen-Ver-
den, zeitweilig Osnabriick, auch Kurhannover) darf dasjeverland zweifellos als ein be-
sonders eigenartiger Fall gelten: hier begann die „Fernherrschaft", erwachsen aus der
Abwehr der Herrschaftsanspriiche der Grafen von Ostfriesland im 16. Jahrhundert,
nicht nur friiher und dauerte mit annahernd 250 Jahren langer als anderswo, sie hatte
zudem mit Jevers Zugehorigkeit zum Kaiserreich Russland am Ende dieses Zeitraums
auch eine geradezu exotische Dimension. Voraussetzung dazu war die Tatsache, dass
Jever nach dem Tod seiner letzten autochthonen Regentin Maria 1575 als burgundi-
sches Lehen nicht integraler Teil der Grafschaft Oldenburg geworden, sondern nur in
Personalunion mit dieser verbunden war. Von den 1653 zwischen Graf Anton Giinther
von Oldenburg und der Krone Danemark sowie dem Haus Gottorp getroffenen Erbre-
gelungen fur die Grafschaft Oldenburg war Jever daher nicht betroffen und fiel, weil es
auch in weiblicher Linie vererbt werden konnte, nach Anton Giinthers Tod im Jahr
1667 an dessen jungere Schwester Magdalene, verwitwete Furstin von Anhalt-Zerbst,
bzw., da diese damals schon nicht mehr am Leben war, an deren Sohn Johann. Fortan
gehorte dasjeverland zum Fiirstentum Anhalt-Zerbst und kam nach dem Tod des kin-
540 Besprechungen
derlos verstorbenen Fiirsten Friedrich August 1793 an dessen Schwester, Zarin Kathari-
na die GroBe, ehe es nach dem Intermezzo der napoleonischen Zeit 1813 von Russland
an das inzwischen wieder selbstandig gewordene und zum Herzogtum aufgestiegene
Oldenburg abgetreten wurde.
Die annahernd 130 Jahre wahrende Zugehorigkeit der Herrschaft Jever zu Anhalt-
Zerbst war 2003 und 2004 Gegenstand eines Ausstellungszyklus' im Schlossmuseum
Jever, mit dem die gemeinsame Geschichte beiderTerritorien erstmals systematisch pra-
sentiert wurde. Die wissenschaftliche Grundlage dazu lieferten diverse Untersuchun-
gen, in denen erstmals versucht wird, das besondere Verhaltnis zwischen Jever und
seiner fernen Landesherrschaft auszuleuchten und auf diese Weise zu erkennen, wie und
in welchem MaBe die jeversche Geschichte zwischen 1667 und 1793 von dieser Konstel-
lation gepragt worden ist. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen, die vielfach nur ein
Stuck weit in die Quellen eindringen konnten und daher kunftig durch weitere Archiv-
studien erganzt werden miissen, sind in den beiden hier vorzustellenden Begleitbanden
zusammengefasst.
Der erste Band ist der Rekonstruktion der ehemaligen Schlossbibliothek gewidmet,
eingeleitet von einem Beitrag, in dem Egbert Koolman deren Geschichte und Bandbrei-
te nachzeichnet. Zu Recht verwendet er dabei den Plural „Biichersammlungen", denn es
handelte sich zwar auBerlich um nur eine Bibliothek, tatsachlich bestand diese jedoch
aus mehreren Schichten, die von den etwa 200 Drucken des 16. Jahrhunderts aus dem
Nachlass Fraulein Marias und ihres Kanzlers Remmer von Seediek bis zu den mehr als
2000 Titeln reichten, um die Fiirstjohann Ludwig von Anhalt-Zerbst, von 1720 bis 1742
Statthalter, Oberlanddrost und President aller Kollegien der Zerbster Regierung in Je-
ver, den Bestand systematisch vermehrt hat. Alle iibrigen Zerbster Fiirsten haben dage-
gen eher zufallig einige Biicher beigesteuert. Schon bald nach dem Wiederanfall Jevers
an Oldenburg im Jahre 1813 wurde der gesamte Biicherbestand des Schlosses zunachst
dem dortigen Mariengymnasium iiberwiesen, ehe in den 1830er Jahren Teile davon in
die Landesbibliothek nach Oldenburg gelangten. Da diese ZerreiBung nur unvollstan-
dig dokumentiert ist, lieBen sich Umfang und Zusammensetzung der ehemaligen Je-
verschen Schlossbibliothek nur muhsam durch Autopsie rekonstruieren, gestiitzt auf au-
Bere Merkmale, z.B. charakteristische Einbande, aber auch einen gelegentlich notwen-
digen kriminalistischen Spiirsinn. Der auf diese Weise von Sybille Heinen sorgfaltig
bearbeitete Katalog, der diesen Band im wesentlichen ausmacht, weist im Ergebnis 2456
Titel in 1863 Banden nach, die sich systematisch auf 12 Katalogfacher verteilen.
Dem eigentlichen Thema, d.h. dem Verhaltnis zwischen den Fiirsten von Anhalt-
Zerbst und der von ihren Stammlanden nicht nur weit entfernten, sondern von diesen in
vielen Belangen auch so stark unterschiedenen Herrschaft Jever, ist der zweite, in drei
Themenkomplexe gegliederte Band gewidmet. Der erste Themenkomplex „Die Fiirsten
und ihre friesischen Untertanen - politische, soziale und wirtschaftliche Strukturen",
vereinigt sieben Beitrage, unter denen dem von Heinrich Schmidt verfassten nicht nur
wegen seines Umfangs (55 Seiten) das mit Abstand groBte Gewicht zukommt. Unter
dem programmatischen Titel „Schwierige Untertanen", iibernommen aus der Bemer-
kung eines schon in oldenburgischer Zeit in Jever tatig gewesenen Beamten gegeniiber
den 1667 zur Entgegennahme der Erbhuldigung angereisten Bevollmachtigten der neu-
en Landesherrschaft, zeichnet er souveran, anschaulich und auf der Basis eines grundli-
chen Quellenstudiums die Geschichte der jeverschen „Landschaft" im 17. und 18. Jahr-
hundert nach. Zwar gab es in Jever keine ausgeformte landstandische Verfassung mit
Geschichte einzelner Landesteile und Orte 541
Landtagen und einer von der Landesherrschaft grundsatzlich anerkannten politischen
Partizipationsberechtigung ihrer Untertanen, doch kam die Landesherrschaft auch hier
nicht ohne deren Mitwirkung aus, insbesondere in Deich- und Sielangelegenheiten, bei
denen die auf ihrem freien Eigen sitzenden und wirtschaftlich potenten friesischen Bau-
ern nicht nur die Lasten trugen, sondern auch weitgehend selbstverantwortlich handel-
ten. So gab es in Jever eine Landschaft zwar nicht dem Begriff nach - das Wort erscheint
daher auch durchgehend in Anfiihrungszeichen -, sehr wohl aber eine entsprechende
verfassungsrechtliche Funktion. DemgemaB war die gesamte anhalt-zerbstische Epoche
Jevers davon gepragt, dass die hiesigen Bauern, orientiert am Vorbild der hochentwik-
kelten landstandischen Gegebenheiten im benachbarten Ostfriesland, diese „land-
schaftliche" Mitwirkung bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu formalisieren und aus-
zuweiten suchten, wahrend umgekehrt die Landesherrschaft dies strikt zu vermeiden
trachtete und stets auf deren moglichst deutliche Begrenzung bedacht war. Schmidts
Darstellung gelingt es, die Mechanismen des bislang weitgehend unbekannten friihneu-
zeitlichen Verfassungslebens injever ebenso ans Licht zu holen wie dessen Reibungsfla-
chen gegeniiber einer Landesherrschaft deutlich zu machen, die von ganz anderen
staatsrechtlichen Vorstellungen gepragt war, als sie in diesem von friesischen Freiheits-
traditionen bestimmten Kiistenterritorium iiblich waren.
Die ubrigen Beitrage des ersten Themenkomplexes seien nur kurz benannt. Antje
Sander gibt in „Ferne Fursten. Das Jeverland in Anhalt-Zerbster Zeit" einen instruktiven
systematischen Uberblick iiber die geographischen und wirtschaftlichen Grundstruktu-
ren, iiber die jeverlandische Gesellschaft und soziale Ordnung sowie iiber die Verwal-
tung und Herrschaftspraxis in diesem Zeitraum. Poetische Gelegenheitsergiisse, ent-
standen aus Anlass von Besuchen der „fernen Fursten" injever oder zu Huldigungen
bzw. Todesfallen, stehen im Mittelpunkt der Beitrage von Werner Menke und Rolf Scha-
fer. Christiane Rochner skizziert die stadtische Verwaltungsstruktur in Jever, Christiane
Schalles stellt die jeverschen Stadtansichten aus der Zerbster Zeit vor, und Rolf Schafer
analysiert am Beispiel des jeverschen Stadtkirchenaltars von 1764, der 1959 beim Brand
dieser Kirche vernichtet worden ist, die Anhalt-Zerbstische Konfessionspolitik.
Der zweite Themenkomplex steht unter der Uberschrift „Herrschaftliche Representa-
tion - Bauten, Ausstattung und hofische Selbstdarstellung" und wird eroffnet mit einem
anschaulichen Beitrag „Der Fiirst kommt!" von Antje Sander, in dem es um den bauli-
chen Zustand des Schlosses Jever und dessen Verbesserung bzw. Veranderung geht, um
das Hofpersonal, um die vor jedem anstehenden Besuch erforderlichen umfangreichen
Vorbereitungen und schlieBlich um den Ablauf dieser Besuche selbst. Maren Siems
stellt die furstliche Gemaldegalerie im - heute mustergiiltig rekonstruierten - ehemali-
gen Speisesaal des Schlosses Jever vor, Ilka Voermann widmet sich den prachtigen Go-
belins des Schlosses, und Antje Koolman beschreibt unter dem Titel „Im finstersten Ost-
friesland" den wenig freiwilligen Aufenthalt der skandalumwitterten Reichsgrafin Char-
lotte Sophie von Bentinck im Schloss Jever in der Zeit von 1761 bis 1767. Der Beitrag von
Dirk Herrmann iiber das gegen Ende des 17. Jahrhunderts vollig neu und groBziigig er-
baute Zerbster Residenzschloss zeigt, von welchen baulichen Reprasentationsvorstel-
lungen sich die Anhalt-Zerbster Fursten wohl hatten leiten lassen, waren sie denn auf die
Idee verfallen, das Schloss in Jever zeitgemaB umgestalten zu wollen. Was an sonstigen
Staatsbauten Mitte des 18. Jahrhundert injever entstanden ist, zeigt, vorgestellt vonju-
liane Jiirgens-Moser, das Werk des damals hier tatig gewesenen fiirstlichen Baumeisters
Jobst Christoph von Rossing; von ihm stammt u.a. der Neubau der Stadtkirche nach
542 Besprechungen
deren Brand von 1728. Am Ende dieses Themenkomplexes steht ein Beitrag von Martin
Senner iiber die jeversche Miinzpragung in Anhalt-Zerbstischer Zeit.
Der letzte Themenkomplex „Das Land am Meer - Forschungen und Arbeiten zur Si-
cherung und Nutzung" umfasst nur vier kurze Beitrage von Enno Schonbohm, Stephan
Horschitz, Lars Lichtenberg und Enno Jiirgens. In den ersten drei Texten geht es um das
Wirken des jeverschen Arztes und Naturforschers Paul Heinrich Gerhard Mohring
(1710-1792), des in Sophiengroden geborenen Orientforschers und Naturwissenschaft-
lers Ulrichjasper Seetzen (1767-1811) sowie des Deichinspektors und Geometers Albert
Brahms aus Sande (1692-1758). Im letzten wird dagegen der 1722 gegrundete und nach
der Gemahlin des Fiirsten Johann August von Anhalt-Zerbst benannte Sielhafenort
Friedrikensiel vorgestellt, die einzige Neusiedlung aus Zerbster Zeit.
Beide groBziigig bebilderten, in ihrer inhaltlichen Streuung jedoch gelegentlich etwas
willkurlich wirkenden Bande geben insgesamt einen hochst aufschlussreichen Einblick
in die bislang fast gar nicht untersuchte anhalt-zerbstische Periode der jeverschen Lan-
desgeschichte.
Hannover Bernd Kappelhoff
Fischer, Norbert: Im Antlitz der Nordsee. Zur Geschichte der Deiche in Hadeln. Stade:
Landschaftsverband Stade 2007. 486 S. Abb., Kt. = Schriftenreihe des Landschafts-
verbandes der ehemaligen Herzogtiimer Bremen und Verden Bd. 28. Geb. 29,80 €.
Das zu besprechende Buch setzt nach dem Erscheinen der Untersuchungen iiber die
Deiche des Landes Kehdingen (Norbert Fischer, 2003) und des Alten Landes (Michael
Ehrhardt, 2003) die Analyse der Geschichte des Kustenschutzes im Elbe-Weser-Raum
fort.
Das Land Hadeln liegt im Miindungsgebiet der Elbe. Es wurde nicht nur durch die
Veranderungen des Flusses gepragt, sondern auch durch den Einfluss der Nordsee. Bei
Sturmfluten entstehen durch den Riickstau der Elbe sehr hohe Flutpegel, die an den
Deichbau hohe Anforderungen stellen. Norbert Fischer analysiert zunachst die geomor-
phologische Entwicklung des Landes Hadeln und charakterisiert seine Siedlungsge-
schichte. Dabei wird deutlich, dass die Bewohner nicht nur durch Sturmfluten, sondern
auch durch das Binnenwasser bedroht wurden. Nur die hoher gelegenen Uferwalle blie-
ben im Winter und im Friihjahr trocken. Das niedriger gelegene Sietland stand in nieder-
schlagsreichen Zeiten oft unter Wasser, so dass auch die Sommerbestellung der dortigen
Felder nicht risikolos war. Um das Land iiberhaupt bestellen zu konnen, war die Schaf-
fung eines funktionierenden Abwasserungssystems notwendig. Der Deichbau an der El-
be musste das Problem der Abbruche des Ufers durch die Stromverlagerungen des Flus-
ses losen, wenn nicht durch dauernde Riickverlegung der Deichlinie Landverluste in
Kauf genommen werden sollten. Fischer beschreibt anschaulich die technische Pro-
blemlosung. Zu Beginn der Frtihen Neuzeit sollten Holzkonstruktionen und Faschinen
das Ufer vor Abbriichen schiitzen und als positive Wirkung fur neue Sedimentablage-
rungen sorgen. Im 19. Jahrhundert wurde das Holz durch dauerhaftere Steinwerke er-
setzt. Auch die Deiche selbst mussten steigenden Sturmfluten angepasst werden. Sturm-
fluten, wie die Weihnachtsflut von 1717 oder die Fastnachtsflut von 1825 sowie die Fe-
bruarfluten des Jahres 1962 durchbrachen die Deichlinie und richteten verheerende
Geschichte einzelner Landesteile und Orte 543
Schaden an. Sie blieben den Bewohnern der betroffenen Gebiete fiir Generationen ins
kollektive Gedachtnis haften. Norbert Fischer beschreibt die Konsequenzen von Flutka-
tastrophen und analysiert die Bemiihungen der Bewohner des Landes Hadeln, mit ihnen
fertig zu werden. Dabei lassen sich Analogien mit den benachbarten Landschaften und
entfernteren Kiistengegenden an der Nordsee bilden.
Die Unterhaltung der Deiche und des Entwasserungssystems stellte die Bewohner des
Landes vor einergroBen Herausforderung. Sie erforderte einen Teil der wirtschaftlichen
Ressourcen und die Lasten mussten gleichmaBig auf die einzelnen Landbesitzer verteilt
werden. Bis zurfriihen Neuzeit entstand im Land Hadeln ein genossenschaftlich organi-
siertes Deichsystem, das dem einzelnen Landbesitzer eine proportional zu seinem Besitz
eingeteilte Deichstrecke zur Unterhaltung zuwies. Die Deichgenossenschaft setzte die
Normen der Deichunterhaltung fest und leistete Nothilfe bei groBeren flutbedingten
Schaden. War der Deichpflichtige nicht mehr in der Lage, die ihm zugewiesene
Deichstrecke zu unterhalten, verlor er seinen Besitz nach dem Grundsatz „Wer nich will
dieken, de mutt wieken". Nach dem Spatenrecht konnte ein vermogender Interessent das
Land iibernehmen. Dieses System der Deichunterhaltung war an der gesamten Nordsee-
kiiste verbreitet. Es wurde im Verlauf der friihen Neuzeit teilweise durch das System der
Kommunionsdeichung ersetzt. Dieses System legte die Organisation der Deichunterhal-
tung in die Hande der Deichgenossenschaft. Die Deichpflichtigen zahlten einen be-
stimmten Beitrag in die Deichkasse. Die Unterhaltungspflicht des Einzelnen wurde mo-
netarisiert. Im Land Hadeln ging die Initiative zur Einfuhrung des neuen Systems von
der seit 1714 regierenden hannoversch-welfischen Landesherrschaft aus, die nach dem
Ende des spanischen Erbfolgekrieges die seit Ende des DreiBigjahrigen Krieges beste-
hende schwedische Landeshoheit abloste. Die Zielrichtung der Landesherrschaften der
Territorien an der Nordsee ging dahin, die Autonomie der Deichgenossenschaften zu
brechen. Sie sollten zu Herrschaftsinstrumenten werden. Allerdings setzten die betroffe-
nen Genossenschaften diesen Bestrebungen einen Widerstand entgegen, den Fischer am
Beispiel des Landes Hadeln nachweist. Eingriffsmoglichkeiten fiir die Landesherrschaft
entstanden aus groBen Sturmflutkatastrophen. Die Zerstorungen der Weihnachtsflut
des Jahres 1717, der Neujahrsflut 1721 und der Februarflut von 1825 iiberforderten das
bestehende System. Zum Wiederaufbau der Deiche bedurften die Deichgenossenschaf-
ten die von der Landesherrschaft vermittelte Hilfe des ganzen Territorialstaates. Des-
halb setzten sie neuen Deichordnungen und Reformen der Deichunterhaltung weniger
Widerstand entgegen als in normalenjahren mit intakten Deichen. Fiir das Land Hadeln
kam als weitere Bedrohung der Deiche neben den groBen Sturmfluten die stetige Strom-
verlagerung der Elbe hinzu. Teure Schutzbauten aus Holz, spater aus Stein mussten die
Deiche vor den Angriffen des Stroms schiitzen. Ihr Bau und die Unterhaltung erforder-
ten weitere Ressourcen des Landes. Bis zum 19. Jahrhundert wurde das alte Pfand-
deichsystem durch ein System der Kirchspielskommunionsdeichung aufgehoben.
Norbert Fischer schildert die Entwicklung des Hadelner Deichsystems vor diesem
Hintergrund. Er zeigt den technischen Fortschritt im Deichbau und beim Bau der
Stromschutzwerke auf. Deutlich wird der Einfluss der rational wissenschaftlichen Er-
kenntnisse und Entdeckungen seit dem 18. Jahrhundert. Techniker des Deichbaus ge-
wannen an Bedeutung. Als Beispiel fiir das Land Hadeln sei an dieser Stelle das Wirken
des Ingenieurs Reinhard Woltmann genannt. Fischer fiihrt neben ihn noch weitere Per-
sonlichkeiten an, die das Deichwesen rationalisierten und wissenschaftliche Erkenntnis-
se durchsetzten.
544 Besprechungen
Vor dem Leser baut Norbert Fischer das Panorama der Deichgeschichte des Landes
Hadeln auf, das die Reaktion auf die Bedrohungen durch Sturmfluten und Stromveran-
derungen der Elbe bis zur Gegenwart beschreibt. Dabei entstehen die Bedrohungen
nicht nur durch Fluten und natiirliche Stromveranderungen, sondern auch durch Ein-
griffe des Menschen in die Stromverhaltnisse der Elbe, gemeint sind die Elbvertiefun-
gen, die den Hamburger Hafen fiir immer groBere Frachtschiffe erreichbar machen sol-
len. Diese Eingriffe gefahrden die Standfestigkeit der Deiche und erfordern immer auf-
wendigere bauliche MaBnahmen. Als Fazit halt der Autor fest, dass die Herausforderung
zum Schutz des Landes bestehen bleibt und damit eine historische Konstante bildet.
Der Autor belegt die Einordnung des Landes Hadeln in ein System der Deichun-
terhaltung, das im gesamten Nordseekustengebiet verbreitet war. Er arbeitet die spezifi-
schen Strukturen des Landes Hadeln heraus, die Folgen einer spezifischen regionalen
Entwicklung sind. Der besondere Wert der Untersuchung liegt in der Einreihung der re-
gionalen Auspragung der Deichunterhaltung des Landes Hadeln in der Gesamtentwick-
lung in Norddeutschland. So ist es nicht nur fiir Leser aus dem analysierten Gebiet, son-
dern auch fiir die iiberregionale Forschung von groBer Bedeutung. Der Autor hat ein
Buch vorgelegt, das nicht nur lesenswert ist, sondern durch zahlreiche Abbildungen und
Fotos sehr anschaulich gestaltet ist. Die Reihe der Deichgeschichte des Landes zwischen
Weser und Elbe wurde durch ein weiteres Werk wertvoll erganzt, und es ist zu wiinschen,
dass sie eine Fortsetzung findet. Ihre Bedeutung fiir die sozialhistorische Forschung des
Nordseekiistengebietes kann durch die Hereinnahme von Untersuchungen, wie die vor-
liegende Analyse von Norbert Fischer nicht hoch genug eingeschatzt werden. Dem
Buch ist eine weite Verbreitung zu wiinschen.
Emden RolfTJpHOFF
Weber, Karl-Klaus: Beschliisse der Genemlstaaten 1576-1625. Regesten zur Geschichte
Ostfrieslands und der Stadt Emden. Norderstedt: Books on Demand 2007. 504 S.
Geb. 42,-€.
Die Resolutionen der Generalstaaten sind auch fiir die friihneuzeitliche Geschichte
Nordwestdeutschlands eine ergiebige Quelle. Doch obgleich fiir die im Haager Reichs-
archiv verwahrten Originale seit langerem eine (bislang bis 1625 gefiihrte, bis 1670 kon-
zipierte) Text- und Regestenedition vorliegt, sind sie - auch wegen deren geringer Ver-
breitung - noch wenig benutzt. Um so mehr ist deshalb der deutschsprachige Auszug zu
begriiBen, den der Bearbeiter hier zur ostfriesischen Geschichte erstellt hat. Ihm ist be-
reits eine gleichartige Auswahl zur spaten Hansegeschichte (2004) zu verdanken. Der
vorliegende Band versammelt nach einer Einfuhrung in das Material und den histori-
schen Hintergrund 1324 Regesten in chronologischer Folge. Trotz gewisser Straffungen
gegeniiber den Vorlagen ist deren Umstandlichkeit teilweise erhalten geblieben und
hatte sich eine Reihe sprachlicher Unebenheiten in der Ubersetzung vermeiden lassen;
ein Lapsus: Emdens Schuldzinsen waren erheblich, aber kaum achtstellig (S. 260), viel-
mehr achterstellig, also in Riickstand. Die Ubersichtlichkeit wird aber durch die ange-
hangte Liste mit Betreff-Stichworten sehr erleichtert, ebenso die Verstandlichkeit durch
ein Glossarund eine Zeittafel und die Benutzbarkeit durch Personen- und Ortsregister.
Geschichte einzelner Landesteile und Orte 545
Die Edition umspannt den groBten Teil des Niederlandischen Unabhangigkeitskrie-
ges und die Friihphase des DreiBigjahrigen Krieges, fiir Ostfriesland die Regierungszei-
ten Edzards II. und Ennos III. Sie zeigt, wie der Krieg den Handel mit Licenten, Kon-
vooien und Blockaden beeintrachtigte und mit Truppendurchziigen, Pliinderungen und
Uberfallen auch vermeintlich Unbeteiligte traf. Zahlreiche weitere Fragen werden be-
riihrt. Ihr Hauptthema ist jedoch der fortwahrende Konflikt zwischen den ostfriesischen
Grafen, den Standen und besonders der Stadt Emden. Das intensive Engagement, mit
dem die Generalstaaten finanziell, diplomatisch und militarisch insbesondere Emdens
Unabhangigkeit sicherten und sich - vom Vertrag von Delfzijl iiber den Haager Akkord
bis zum Akkord von Osterhusen - immer wieder um Vermittlung bemiihten, entsprang
durchaus eigenen Interessen, zumal die Grafen lange der spanischen Seite zuneigten. Es
ist ein Verdienst des vorliegenden Bandes, diese bislang wenig beachteten Zusammen-
hange zu dokumentieren,zudenen auch deriiberraschende, vonEnno III. 1615 verfolgte
Plan eines Anschlusses an die Generalstaaten gehort. Webers Werk bietet fiir die Erfor-
schung dieser und weiterer Themen vielerlei Anregungen und wertvolle Hilfestellungen.
Hamburg RainerPosTEL
Stephan, Joachim: Die Vogtei Salzwedel. Land und Leute vom Landesausbau bis zur Zeit
der Wirren. Frankfurt: Peter Lang 2006. XIII, 578 S. = Quellen, Findbiicher und In-
ventare des Brandenburgischen Landeshauptarchivs Bd. 17. Kart. 86,- €.
Die Dissertation besteht aus einer thematisch vom Titel abgedeckten Abhandlung sowie
aus Quellenanhangen, die etwas mehrals ein Drittel des Buches ausmachen. Die Verbin-
dung der Studie mit der Edition einer ihrer Hauptquellen, dem altesten Stadtbuch Salz-
wedels mit Eintragen aus den Jahren von 1309 bis 1360, ist eine sinnvolle Kombination,
denn so wird einmal mehr deutlich, welches Potenzial mittelalterliche Stadtbiicher ber-
gen. Die wichtigste Leistung der Arbeit ist denn auch die Zusammenschau der bekann-
ten Quellen zur altmarkischen Geschichte mit den im Salzwedeler Stadtbuch enthalte-
nen Informationen.
Als zentrale Frage, unter der die Vogtei Salzwedel vornehmlich in der Zeit vom zwolf-
ten bis zum Anfang des fiinfzehntenjahrhunderts betrachtet werden soil, formuliert Ste-
phan: „Wie pragten die natiirlichen Gegebenheiten das Zusammenleben der Menschen
und wie veranderten diese die Landschaft?" und erklart an gleicher Stelle: „Die vorlie-
gende Arbeit will nach Land und Leuten in der Vogtei Salzwedel fragen." (S. 1). Dies wa-
ren rhetorische Startblocke, um eine Studie in traditionsreiche Forschungsfragen einzu-
ordnen, die eine erschopfende Behandlung durchaus noch nicht erfahren haben, zumal
fiir den norddeutschen Raum. Jedoch unterbleibt, zumindest sehr weitgehend, die Ver-
ortung der Arbeit vor Horizonten, wie sie von der Schule der Annales hinsichtlich der
Rolle naturraumlicher Verhaltnisse und in Bezug auf die Konstituenten herrschaftlicher
Gefiige durch Historiker von Otto Brunner bis hin zu Ernst Schubert (dieser immerhin
mit einem Seitenverweis in der ersten FuBnote genannt) aufgezeigt wurden.
Der eigentliche Schwerpunkt von Stephans Arbeit ist die enzyklopadische Auswer-
tung der sproden Quellenbasis aus mittelalterlichen Urkunden und Registereintragen,
die eine auf schlagende Plausibilitaten hoffende Thesensuche so oft enttauscht. Ste-
546 Besprechungen
phans Verdienst ist es hier, eine strukturgeschichtlich und prosopografisch ausgerichte-
te Ubersicht der in den Quellen verstreuten Einzelerscheinungen zu geben. Seine Unter-
suchung erfasst wesentliche Elemente der greifbaren Strukturen: Siedlungsgeschichte,
Rechtsverhaltnisse und Gliederung der landlichen Bevolkerung, die fiir das Untersu-
chungsgebiet charakteristische ethnische Differenzierung, die Geschichte der Kir-
chenorganisation und einzelner geistlicher Einrichtungen, Sozialstruktur und Besitzge-
schichte des Adels, die Verhaltnisse der Stadt Salzwedel und schlieBlich Stande und
Einungen „des Landes Salzwedel und der Altmark" (S. 303).
Hervorzuheben ist, dass Stephan Befunde der Archaologie, Siedlungsgeografie und
Toponymie sowie Personennamen einbezieht. Dies ermoglicht es, eine markante Bin-
nendifferenzierung des Untersuchungsgebietes nach Siedlungsphasen und Arten der
Beteiligung von Deutschen und Slawen an den Siedlungsvorgangen aufscheinen zu las-
sen. Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang auch die Betrachtung von
Rechtsverhaltnissen der deutschen und slawischen Landbevolkerung, die durch ein Ne-
beneinander von Freiheit und Unfreiheit gekennzeichnet sind.
Eine besondere Bereicherung erfahrt die Stadtgeschichte von Salzwedel. Man kann
dankbar sein fiir die strukturierte Darbietung von Nachrichten tiber die Zusammenset-
zung des Rates, die Handwerker, Gilden und geistlichen Anstalten. Die Zusammenfiih-
rung von Urkunden- und Registeriiberlieferung eroffnet einen neuen Blick auf die Salz-
wedeler Stadtgesellschaft. Neben den ratsfahigen Familien mit ihrer unklaren Abgren-
zung gegeniiber dem Adel treten als eigene Gruppe die im Handwerk tatigen Burger
hervor, wie dies fiir eine Stadt wie Salzwedel erwartbar, aber angesichts der Quellensi-
tuation als Arbeitsergebnis anzuerkennen ist. Ein spezifischer Befund ist die Verringe-
rung iiberregionaler Beziige der stadtischen Fiihrungsschicht im Laufe des spaten Mit-
telalters. Besondere Aufmerksamkeit verdienen auch Stephans Hinweise auf die Hand-
habung des sogenannten ,Wendenparagrafen', der Slawen aus den Ziinften ausschloss.
Uberlokale Vorgange thematisiert Stephan vor allem mit den im Zusammenhang mit
der ,Krise des 14.Jahrhunderts' stehenden Wiistungen, den Prozessen derTerritorialisie-
rung und Besitzarrondierung, der Binnendifferenzierung des Adels sowie den auf das
Aussterben der Askanier folgenden Veranderungen und Konflikten.
Nutzer, die vorrangig an Details aus dem Spektrum der behandelten Gegenstande
oder an der Stadtbuchedition interessiert sind, werden sich iiber Stephans Arbeit in ho-
hem MaBe freuen. Eine Lektiire, die eher auf Ergebnisse zu den Ausgangsfragen und auf
Synthesen zu den Hauptgegenstanden ausgerichtet ist, wird hingegen durch einige
Schwierigkeiten herausgefordert. Die Verbindung zwischen dem eingangs formulierten
Interesse und der Durchfiihrung der Arbeit bleibt hinter den geweckten Erwartungen
zuriick. Die Frage nach dem Einfluss der naturraumlichen Gegebenheiten spielt bei der
umfanglichen und verdienstvollen Darstellung von Besitzverhaltnissen und geistlichen
Anstalten sowie den Ausfuhrungen zur Struktur der Stadtbevolkerung nur selten eine
Rolle. Weiterhin hat sich ein Leser damit auseinanderzusetzen, dass die Argumentati-
onsstrukturen hin und wieder Schwachen aufweisen, mit denen sich die Aufgabe einer
sorgfaltigen Priifung der jeweiligen Aussage stent. Dies gilt auch fiir Befunde zu Ethnizi-
tat, Sozial- und Verfassungsstruktur. Stephan verzichtet an mancher Stelle auf einfiih-
rende Klarungen, Belege fiir eigene Annahmen und auf die Verortung von Befunden vor
dem Hintergrund der Forschungsliteratur. Auch wird das MaB seiner Eigenleistungen
aus dem Text heraus nicht in dem wiinschenswerten MaB einschatzbar. Nahere Ausfuh-
rungen iiber das Wesen der titelgebenden Vogtei Salzwedel in ihrer Eigenschaft als
Geschichte einzelner Landesteile und Orte 547
Herrschaftsgebilde oder aber zu der Schwierigkeit, hieriiber Aussagen zu machen, wa-
ren nach Ansicht des Rezensenten unerlasslich gewesen. An mancher Stelle wird man
sich ein Urteil dariiber zu bilden haben, ob fur eine bestimmte Quelleninterpretation an-
gefiihrte Argumente wirklich zwingend sind. Weiterhin kann moniert werden, dass in ei-
ner Reihe von Fallen die Sprache der Quellen den Weg in die Abhandlung gefunden hat,
wo dies teils unnotig oder sogar irrefiihrend ist (z.B. ,,Freundschaft" als Bezeichnung fur
Verwandtschaft auf S. 143) . Unsicherheit in einem wesentlichen Punkt zeichnet sich mit
zwei in ihrem Nebeneinander schwer nachvollziehbaren Interpretationen der Formel
„geburen, edel und unedel" in jeweils derselben Urkunde ab, wenn es einerseits heiBt:
„Die freien Bauern werden hier im Gegensatz zu den unfreien Bauern als adlig bezeich-
net." (S. 91) und andererseits: „Ein Begriff, derseinen Trager als adlig kennzeichnet, fehlt
in den Quellen. Das Adjektiv edelbedeutet nicht adlig, sondern frei" (S. 100). SchlieBlich
enthalt der Text manche Wiederholung und Unebenheiten auf redaktioneller Ebene, die
mitunter dem fliissigen Nachvollzug im Wege stehen. Von daher ist Stephans Arbeit ein
grundlegender Beitrag zur Geschichte Salzwedels und seiner Umgebung, der mit kriti-
scher Aufmerksamkeit, aber durchaus verwendet werden muss.
Karlsruhe Klaus Nippert
Schaumburger Profile. Ein historisch-biographisches Handbuch. Hrsg. von Hubert Hoing.
Bielefeld: Verlag fur Regionalgeschichte 2008. 362 S. Abb. = Schaumburger Studien
Bd. 66. Geb. 29,- €.
Historisch-biographische Nachschlagewerke erfreuen sich nicht nur im niedersachsi-
schen Raum seit vielen Jahren zu Recht einer guten Konjunktur, denn es sind nicht nur
Strukturen, die den geschichtlichen Verlauf einer historischen Landschaft und ihrer
Menschen pragen. Territorien iibergreifend sind vor allem die Deutsche Biographische
Enzyklopadie und die Neue Deutsche Biographie (NDB) als biographische Lexika zu
nennen. Das vorliegende Handbuch folgt in seinen einzelnen Artikeln in Form und Ge-
stalt dem Vorbild der NDB. Welche historischen Personen finden in dem auf mehrere
Bande angelegten Werk Erwahnung? Hubert Hoing, der Herausgeber und Leiter des
Staatsarchivs Biickeburg, nennt als Hauptaufnahmekriterien: - Regionalerund nicht nur
marginaler Bezug zu Schaumburg, - Todesdatum vor 30 Jahre und alter, - herausragende
und bedeutende Personlichkeit. Das wissenschaftliche Nachschlagewerk, das beim Le-
ser und Nutzer mehr als nur rudimentare historische Kenntnisse voraussetzt, aber den-
noch durchweg gut lesbar ist und daher auch zum langeren „Schmokern" anregt, hat lexi-
kalischen Charakter. Die Artikel sind alle systematisch nach dem Schema: Vorspann mit
personlichen Daten und Angaben zur Familie, Text mit Lebenslauf und Wirken sowie
Hinweise auf Quellen, Werke, Darstellungen und Portrats, in drei Teile gegliedert.
Der bisher erschienene erste Band beinhaltet 75 alphabetisch geordnete Artikel auf
ca. 280 Seiten, so dass die durchschnittliche Kurzbiographie knapp vier Seiten umfasst.
Die meisten Verfasser hatten sich an die Vorgabe des Herausgebers gehalten und den
Umfang der Beitrage auf drei Druckseiten bemessen; einige jedoch iiberschritten das
vorgegebene MaB um das Doppelte. Bei kiinftigen Banden sollte auf eine starke Beach-
tung dieser vernunftigen Richtlinie mehr Wert gelegt werden. Rund die Halfte der Bei-
trage stammt aus der Feder von (niedersachsischen) Archivaren/innen. Die gewollt he-
548 Besprechungen
terogene Reihe reicht vom „Hofmohren" Alexander, iiber den Theologen und Philoso-
phen Johann Gottfried Herder und den Militarreformer Gerhard von Scharnhorst bis
hin zum NS-Landesprasidenten Karl Dreier. Mithin hochst verschiedenartige Person-
lichkeiten - darunter sieben Frauen - aus ganz unterschiedlichen Bereichen des
menschlichen Lebens, die vom Hochmittelalter bis zur jiingeren Vergangenheit mit
Schaumburg auf vielfaltige Art und Weise mehr oder weniger intensiv verbunden waren
und sind und dort - und auch teilweise dariiber hinaus - historische Bedeutung erlang-
ten. Die Familien der Grafen zu Holstein-Schaumburg, der Grafen bzw. Fiirsten zu
Schaumburg- Lippe, sowie der Freiherren von Munchhausen werden zusatzlich summa-
risch von Helge bei der Wieden und Dieter Brosius dargestellt, die beide auch fur weite-
re Beitrage verantwortlich zeichnen. Man merkt den einzelnen Artikeln an, dass sich die
Autoren zuvor zum ganz uberwiegenden Teil in der ein oder anderen Form bereits naher
mit den Personlichkeiten und Familienverbanden beschaftigt haben, wie auch den je-
weiligen Literaturverzeichnissen zu entnehmen ist.
Sinnvoll abgerundet wird der Band durch einen zuverlassigen Orts- und Personenin-
dex, durch ein Verzeichnis der ausgeiibten Berufe (von „Abt" bis „Zeitungsverleger") so-
wie eine chronologische Auflistung der Biographien, die zeitlich vom 11. Jahrhundert
(Adolf v. Santersleben, dem vermeintlichen Urahnen des Schaumburger Dynastenge-
schlechts) bis 1989 (Todesjahr des Stadthagener OKDs und KPD-Politikers Karl Meier)
reichen. Wertvoll sind auch die einleitenden Hinweise des Herausgebers auf annahernd
tausend prominente Schaumburger/innen, denen schon teils mehrfach in rund drei
Dutzend anderen biographischen Nachschlagewerken mehr oder weniger kurz gedacht
wurde. Von diesen Personlichkeiten finden bereits einige Erwahnung im anzuzeigen-
den Werk, wie der bekannte Kommunist Ernst Torgler oder der Chemieprofessor Fried-
rich Accum.
Ein hohes MaB an quantitativer und qualitativer Arbeit liegt noch vor Hubert Hoing
und seinem Autorenteam; selbst dann, wenn auch nur ein Teil dieser vielzahligen Promi-
nenten eine so aufwandige und profunde historische Wiirdigung erfahren sollte, wie es
im iiberaus gelungenen ersten Band Standard ist. Dem sehr ansprechend vom Verlag fur
Regionalgeschichte Bielefeld gestalteten Handbuch mit seinen zahlreichen s/w-Portrats,
eingebettet in einem Einband in den alten Schaumburger Farben, ist eine mehrbandige
Fortsetzung und weite Verbreitung zu wiinschen. Zudem hat das historisch-biographi-
sche Handbuch fur Schaumburg sicherlich auch Vorbildcharakter fur andere historische
Territorien, z.B. fur das benachbarte Lippe, wo ein solches, modernes Nachschlagewerk
z.Z. noch fehlt, aber in Planung ist.
Detmold Wolfgang Bender
Biermann, Friedhelm: Der Weserraum im Mittelalter. Adelsherrschaften zwischen welfi-
scher Hausmacht und geistlichen Territorien. Bielefeld: Verlag fur Regionalgeschich-
te 2007. 800 S. = Veroff. des fnstituts fur Historische Landesforschung Gottingen
Bd. 49. Geb. 49,-€.
Der Weserraum, dessen Geschichte Friedhelm Biermann schreibt, definiert sich weitge-
hend aus seiner Lage zwischen groBen politischen Kraften. Untersuchungsgegenstand
ist der Raum im mittleren Sachsen, der mit der Entmachtung Heinrichs des Lowen auf
Geschichte einzelner Landesteile und Orte 549
dem Hoftag von Gelnhausen 1180 und mit dem Verlust der herzoglichen Funktion der
Welfen von einer Oberherrschaft „frei" wird. Bis dahin hatte Heinrich der Lowe weitge-
hend die politische Kontrolle im Herzogtum Sachsen besessen. Der solchermaBen frei-
gegebene Raum wurde zum Handlungsraum zahlreicher adeliger und kirchlicher Ak-
teure, deren Zahl Biermann mit 74 angibt (659), die allesamt in neuer politischer Lage
sich zu behaupten suchten.
Wahrend nach der Entmachtung Heinrichs des Lowen zunachst die staufische Seite
die groBte Sicherheit versprach, wandelte sich die Lage mit dem Ende des staufischen
Kaisertums und auf der Basis des Wiedereintretens der Welfen in das regionale Gesche-
hen grundlegend. Wer von diesen Akteuren nicht die Moglichkeit hatte, sich wirkungs-
voll in den Schutz einer anderen „Gro6macht" zu begeben, etwa der Erzbischofe von
Koln, hatte meist das Nachsehen. Und auch groBe Nahe zu den Welfen schutzte nicht
notwendigerweise vor dem Verlust selbstandiger Herrschaft, sondern konnte unter das
Dach der sich nach Westen erneut ausbreitenden neuen welfischen Hegemonie fiihren.
Es ist wie ein groBes „Monopoly", was im Laufe des Untersuchungszeitraumes in die-
sem breiten Grenzraum zu beobachten ist. Und das ist im wesentlichen Thema des vor-
liegenden Buches.Jeder der Akteure, zu denen im Ubrigen nicht nur adelige Herrschaf-
ten gehoren, sondern auch die geistlichen, wie neben den Erzbistiimern Koln und Mainz
v. a. die Bistiimer Paderborn, Hildesheim und Minden sowie die Abteien Corvey und
Herford, ist mit individuellen Voraussetzungen ausgestattet. Verfiigen die einen iiber
eine ausgepragte Grundherrschaft, zeichnen sich andere etwa durch eine besondere
Starke im Bereich der Gerichtsbarkeit aus, wiederum andere verfiigen iiber einen
Schwerpunkt im Bereich bestehender Lehnsbindungen.
Biermann behandelt in einem zentralen Kapitel die Parameter, die fur Erfolg in die-
sem von mehrfachen Kontingenzen gepragten „Spiel der Krafte" maBgeblich sein
konnten. Dazu gehoren „herrschaftsbildende Basiselemente" wie Allodialbesitz, Lehen,
Grafen- und Vogteirechte sowie die weiteren Elemente, die im wesentlichen vom Han-
deln der Akteure bestimmt werden, namlich Engagement in den Bereichen Grundherr-
schaft, Lehnswesen, politische Funktionen wie die eines Grafen, Vogts oder Gerichts-
herrn, Burgenbau und Stadtegrundung, verschiedene Rechte, wie zur Rodung und zur
Munzpragung.
Dabei ist - anders als der zuruckhaltende Titel des Buches zunachst erwarten lieBe -
die zentrale Frage des Autors auf die Bildung von Territorien gerichtet und damit letzt-
lich auf die Entstehung von staatlichen Systemen moderner Pragung. Wie erreichten
manche der Akteure ein geschlossenes Territorium und wieso gelang es anderen nicht
bzw. nur unvollkommen? Was sind die Parameter bei diesem Prozess und in welchem
Verhaltnis stehen sie zueinander? Ziel des Autors ist es, eine Basis zu schaffen fur weiter-
gehende Fragestellungen.
Die Komplexitat des Geschehens ist aufgrund der hohen Zahl der Akteure eine Her-
ausforderung an jeden, der die Geschichte dieses Raumes zu schreiben beabsichtigt. Mit
der skizzierten Fragestellung wird dieses Vorhaben nicht eben einfacher. Und da Bier-
mann versucht, ein Konzept zu entwickeln, das den Erfolg von Herrschaften in einer sol-
chen Phase der territorialen Entwicklung erklaren kann oder zumindest Vorarbeiten da-
zu liefern will, gibt es zur Untersuchung eines Raumes solch hoher Komplexitat des Ge-
schehens keine Alternative.
Am Ende des Buches prasentiert Biermann eine detaillierte Aufstellung zu alien Ak-
teuren und den relevanten Parametern, die er dann im Hinblick auf ihren Wert fur Erfolg
550 Besprechungen
in der territorialen Entwicklung gewichtet. Es entsteht also erne Art Evaluation der
„Kandidaten". Es stellt sich heraus, dass wesentlich fur den Aufbau einer Landesherr-
schaft mehr als der oft verstreute Allodialbesitz der flexiblere Lehensbesitz und rau-
mumgreifende Faktoren wie Burgenbau, Stadtegrundungen und Grafenrechte waren.
Von besonderer Bedeutung ist schlieBlich die Einrichtung von Amtern mit absetzbaren
Amtstragern (668). Leider gerat der Abschnitt „Ergebnisse" (662-703) zu einer Zusam-
menfassung des Geschilderten mit einem starken Gewicht auf den „Personlichkeiten"
(672-679), in dem von den zahlreichen wertvollen Beobachtungen und Erkenntnissen
aus den einzelnen Untersuchungen die Gelegenheit zur Synthese nicht so genutzt wur-
de, wie das Buch es verdient hatte. Dazu gehorte eine intensivere Diskussion der Entste-
hung moderner Formen von Staatlichkeit mit der Landesherrschaft, der dieses Buch
aber dennoch wertvolle Anregungen geben kann.
Mit der Bewertung des adeligen Engagements bei kirchlichen Stiftungen als vorwie-
gend aus Frommigkeit zu erklaren (377, 379) verschenkt der Autor nach Ansicht des Re-
zensenten wertvolle Erkenntnismoglichkeiten, denn es scheint ihm unnotig, Frommig-
keit gegen politisches Handeln auszuspielen. Problematisch scheint auch das gelegentli-
che Bewerten des Handelns der Akteure (etwa 569-571 zu Koln) und die Beurteilung der
Intelligenz einzelner Protagonisten. Dazu reichen die Kenntnisse iiber die jeweiligen
Entscheidungsvoraussetzungen und die Moglichkeiten zur Einschatzung von Entwick-
lungen aus dem Zeithorizont heraus nicht aus. Eine Beurteilung ex eventu scheint in die-
serForm unangemessen, zumal das „richtige" Handeln einzelner Akteure durchaus auch
Gliick gewesen sein kann im Hinblick auf kommende Entwicklungen. Ein weiteres Mo-
ment bei der Entstehung der Landesherrschaften ist eine mogliche emotionale Bindung
der Bewohner an das Territorium bzw. die herrschende Familie, was eine eigene Unter-
suchungsaufgabe darstellte, so dass der Autor nur gelegentlich ein „Wir-Gefiihl" vermu-
ten kann (439, 655, 665), etwa im Hinblick auf die welfischen Territorien.
Die von Biermann dargestellten Parameter zur Entstehung der Landesherrschaft kon-
nen durchaus als grundsatzlich gelten, und eine Ubertragung auf andere Untersu-
chungsraume erscheint folglich sinnvoll. Das Buch ist fliissig geschrieben, sehr klar und
sinnvoll gegliedert und mit einem Orts- und Personenregister ausgestattet. Der umfang-
reiche Anmerkungsapparat aber lasst nicht immer sicher erkennen, was aus dem vorauf-
gehenden Text eigentlich zu welchem Beleg gehort.
Die hier vorgelegte Geschichte des Weserraumes im hohen und spaten Mittelalter als
solche darf wohl als mustergiiltig gelten. Uber die Darstellung der Geschichte dieses
Raumes hinaus bietet es ganze Reihe von Beobachtungen und Einzelanalysen, die fur
die Forschung von einiger Bedeutung sein werden.
Paderborn Jiirgen Strothmann
Meibeyer, Wolfgang: Die Stadt Braunschweig im 18.Jahrhundert. Stadtbild und Grundbe-
sitz in Braunschweig nach der Vermessung von Andreas Carl Haacke 1762 bis 1765.
Hrsg. von der Biirgerstiftung Braunschweig. Braunschweig: Appelhans 2007. 160 S.
Kt. Geb. 28,50 €.
Die im Jahre 2003 gegrundete Biirgerstiftung Braunschweig hat unter dem Motto „Mit-
tragen - Mitdenken - Mitgestalten" im Rahmen biirgerschaftlicher Selbsthilfe auch die
Geschichte einzelner Landesteile und Orte 551
Forderung wichtiger Vorhaben und Projekte beispielsweise in Kunst, Kulturund Denk-
malpflege zu ihren Zielen erklart. Sie sieht die Kenntnis und Wertschatzung der eigenen
Geschichte als maBgebliche Voraussetzung fur biirgerschaftliches Selbstbewusstsein
und fur die Bereitschaft, sich fiir das Gemeinwesen zu engagieren. Unter diesen Voraus-
setzungen konnte auch die o. g. Veroffentlichung zum Druck gebracht werden.
Bei der anzuzeigenden Arbeit handelt es sich um eine Quellenedition der friihesten
exakt detaillierten kartographischen Aufnahme des gesamten Gebietes der Stadt Braun-
schweig innerhalb der Umflutgraben bzw. der neuzeitlichen Befestigungsanlagen aus
den Jahren 1762 bis 1765 sowie des zugehorigen handschriftlichen Verzeichnisses der
Grundstiicks- und Hauseigentiimer. Beide Quellen werden einschlieBlich der zugehori-
gen Akteniiberlieferung im Niedersachsischen Landesarchiv - Staatsarchiv Wolfenbiit-
tel aufbewahrt. Sie stellen zusammen ein erstes Kataster der Stadt, gewissermaBen ein
„Braunschweiger Adressbuch von 1762/65" dar. Ausfiihrender Vermessungsingenieur
war seinerzeit der Braunschweigische Ingenieuroffizier und Leutnant Andreas Carl
Haacke, der von Herzog Carl I. bzw. dessen Ftirstlicher Kammer 1762 den Auftrag zur
Herstellung bekommen hatte. Haacke gehorte bereits seit 1750 zu den Mitarbeitern des
als Kommandeurs der Artillerie und des Ingenieurkorps fiir das Festungsbauwesen und
die Wegebesserung in der Stadt Braunschweig zustandigen Oberstleutnants Blum.
Haacke wurde 1767 zum Kapitan befordert und starb 1776. Schon 1754 fertigte er einen
ahnlichen Grundrissplan fiir die Stadt Wolfenbiittel an, spater dann zahlreiche Grund-
und Standrisse zu Wohn- und Wirtschaftsgebauden vieler herzoglicher Amter und
Schlosser, darunter Sophiental, Hessen und Gandersheim. Seine herausragende vermes-
sungstechnische Leistung war allerdings die beschriebene Aufnahme der Stadt Braun-
schweig in sechs Rissen der 1758 eingerichteten stadtischen Distrikte A bis F. Nach der
vorgegebenen Instruktion mussten die anzufertigenden Risse die Grundstiicksgrenzen
genau erkennen lassen. Jedes Haupt-, Seiten-, Nebenhaus und Hofgebaude einschlieB-
lich der Garten war nach Breite und Lange auszumessen und aufzutragen. Die Brunnen
und Zisternen auf den Hofen samt den von den Kunstmeistern nachzuweisenden Roh-
renwasserleitungen und kleinen Kanalen waren mit aufzufiihren. Alle Not- und offentli-
chen Brunnen sollten angegeben werden. Die Okerkanale sollten mit maBrichtiger Brei-
te und alien Briicken erscheinen. Bei den Hausern war die Nummer der 1753 gegriinde-
ten Brandversicherung zu vermerken, unbebaute Grundstiicke mussten schwarz
hervorgehoben werden. Das Ergebnis der Vermessung hatte Haacke in sechs Inselkar-
ten im MaBstab 1 : 1.000 zu iibertragen. Diese geradezu mustergiiltig angefertigten Kar-
ten haben Ihren Zweckbis ins 19. Jahrhundert vorziiglich erfiillt, wovon zahlreiche Ko-
pien zeugen, die die Stadtverwaltung bis zur Neuvermessung im Jahre 1876 durch Carl
Allers anfertigen lieB.
Nachdem die sechs Distrikt-Karten bereits 1981 im sogenannten „Historischen Atlas
der Stadt Braunschweig" als verkleinerte Faksimiles wiedergeben worden waren, hat
Wolfgang Meibeyer nunmehr einen farbigen Neudruck in reproduktionstechnisch ver-
besserter Form im ebenfalls verkleinerten MaBstab von ca. 1 : 2.000 vorlegen konnen.
Der besseren Ubersicht halber hat Meibeyer zusatzlich noch den Culemannschen Stadt-
1 Jiirgen Mertens, Die neuere Geschichte der Stadt Braunschweig in Karten, Planen und
Ansichten, Braunschweig 1981, Seite 140f. sowie Blatt 35/1-6; die fraheren Versionen des so-
genannten Braunschweig-Atlasses sind beschrieben bei Theodor Muller, Ein historischer At-
las der Stadt Braunschweig, in: Braunschweigisches Jahrbuch Band 38/1957, Seite 150-155.
552 Besprechungen
plan von 1798 als farbiges Faksimile in verkleinertem MaBstab beigefiigt. Wahrend in
der Zusammenstellung des Historischen Atlasses der Stadt Braunschweig jedoch die
bislang nicht bekannten zugehorigen Listen der Grundstiicks- und Hauseigentiimer feh-
len, konnte Meibeyer diese bei seinen Nachforschungen im Staatsarchiv Wolfenbiittel
aufspiiren und als SchwarzweiB-Vollfaksimile zum zweiten wichtigen Bestandteil dieser
Edition machen.
Der erste Teil des Buches umfasst 24 Seiten und enthalt Erlauterungen des Verfassers
zu den friihen Ansichten, Stadtplanen und Vermessungen der Stadt Braunschweig, zum
zeitlichen Kontext der behandelten Quellen, zu der der Vermessung seinerzeit vorausge-
gangenen Instruktion, zum Ablauf und zu den Kosten der Vermessungsarbeiten sowie
zur Biographie des Vermessungsingenieurs Haacke. Dariiber hinaus enthalt er einen
40 Nummern umfassenden Anmerkungsapparat und einen Nachweis der erhalten ge-
bliebenen Karten-Unterlagen. Den zweiten Teil des Buches im Umfang von 137 Seiten
macht die SchwarzweiB-Wiedergabe der handschriftlichen Repertorien der Grund-
stiickseigentiimer als Vollfaksimile aus. Diese Listen sind nach den stadtischen Distrik-
ten A - F und darunter straBenweise angelegt. Sie fiihren die Grundstucksnummer zu
dem zugehorigen Riss, die Brandassekuranznummer, den Namen des Eigentiimers und
die GrundstucksgroBe in Quadratruten auf. Im dritten Teil des Buches bietet der Verfas-
ser auf zwanzig Druckseiten ein Register der Hauser und Grundstucke privater Eigentii-
mer in alphabetischer Reihenfolge der Familiennamen sowie der nichtprivaten Hauser
und Grundstucke ebenfalls in alphabetischer Reihenfolge. Die farbig faksimilierten
Karten sind schlieBlich in einer Umschlagtasche gefaltet beigelegt.
Meibeyers Veroffentlichung schlieBt die Liicke zwischen dem im Jahre 1942 von
Werner SpieB edierten Burger- und Gewerbeverzeichnis fur das Jahr 1671, den im Jahre
2004 edierten Kopfsteuerlisten aus den Jahren 1672 und 1687 sowie den im 19. Jahrhun-
dert einsetzenden Adressbiichern. Sie eroffnet der Forschung iiber wirtschafts- und so-
zialgeschichtliche sowie namenkundliche Fragen zur Stadt Braunschweig bzw. deren
Einwohnerschaft, dariiber hinaus auch zur Entwicklung des Stadtgrundrisses neue Mog-
lichkeiten.
Braunschweig Hans-Martin Arnoldt
Urkundenbuch der Stadt Braunschweig. Bd. 8, 1-II 1388-1400 samt Nachtragen. Bearb. von
Josef Dolle. Hannover: Verlag Hahnsche Buchhandlung 2008. 1843 S. = Veroff. der
Historischen Kommission fur Niedersachsen und Bremen Bd. 240. Geb. 79,90 €.
Anzuzeigen ist der achte und letzte Band des Urkundenbuches der Stadt Braunschweig
in der vorgegebenen Konzeption eines Pertinenzurkundenbuches, zu wiirdigen die ganz
vorziigliche Leistung des Bearbeiters der Bande 5-8 Josef Dolle und der Ertrag der Editi-
2 Vgl. Mertens wie FuBnote 1
3 Heinrich Medefind, Die Kopfsteuerbeschreibungen der Stadt Braunschweig von 1672
und 1687, Hannover 2004 (Rezension hierzu in: Niedersachsisches Jahrbuch fur Landesge-
schichte 77, 2005, Seite 421); Werner Spiess, Braunschweigisches Burger- und Gewerbever-
zeichnis fur das Jahr 1671, Braunschweig 1942; Braunschweigisches Adressbuch, Braun-
schweig 1805ff.
Geschichte einzelner Landesteile und Orte 553
on fur Stadt- und Landesgeschichte. Der Band umfasst die Jahre 1388 - 1400, die beweg-
te Phase der Konsolidierung und Neuordnung stadtischer Verhaltnisse nach den wohl
einschneidendsten Ereignissen der spatmittelalterlichen Stadtgeschichte, der GroBen
Schicht von 1374 mit Verhansung bis 1380 und dem Luneburger Erbfolgekrieg. Am An-
fang stehen die abschlieBende Aussohnung des Rates mit zwei prominenten Vertriebe-
nen von 1374, Bertram van Damme und Gerd Pawel (Nrn. 55-57, 78), und die reich doku-
mentierte Auseinandersetzung Braunschweigs mit Liineburg nach der Schlacht bei Win-
sen im Juni 1388, die den Erbfolgekrieg auch dank Braunschweigs Beteiligung
zugunsten der welfischen Landesherren gegen die Askanier und das mit ihnen verbiin-
dete Liineburg entschied (Nrn. 93-95, 100-102, lllf, 143, 145, 155, 162, 168), - am Ende
die Ermordung Herzog Friedrichs bei Fritzlar am 5. Juni 1400, Huldigungseid des Ge-
meinen Rats fur die Nachfolger, deren Huldebrief und Belehnung Braunschweiger Bur-
ger (Nrn. 1463, 1465-1469). Sprunghaft steigende Einbiirgerungen in Altstadt, Neustadt,
Altenwiek wie die Zunahme der Privatrechtsgeschafte in den Degedingbiichern der
5 Weichbilde ab 1397 deuten auf wiedergewonnene Starke und Aufschwung hin. Vor-
aussetzung waren strukturelle Reformen von Ratsverfassung, Rechtswesen, Finanzver-
waltung, wie sie u.a. die Uberarbeitung des Stadtrechts, MaBnahmen zur Entschuldung
1399 (Nr. 1323) , Anlage neuer Stadtbiicher belegen. Die Relevanz der MaBnahmen, oh-
nehin eher indirekt fassbar, ist in der kaleidoskopischen Fiille des hier vereinten Materi-
als weniger leicht auszumachen als die der urkundlich fixierten, wie bisher auf begrenzte
Zeit abgeschlossenen Einungen und Stadtebiinde, die nunmehr vor allem auf die Star-
kung stadtischer Gerichtsbarkeit gegeniiber Landfriedensgerichten (1393, Nrn. 586-
589), westfalischen Femegerichten (1396, Nr. 859) und geistlichen Gerichten abzielen.
Mit der papstlichen Gewahrung eines eigenen Offizials in der Stadt gegen den Wider-
stand der zustandigen Bischofe und Archidiakone 1390-398 (Nrn. 231, 345, 380f., 445,
759, 803, 827, 898, 1129, 1141, 1151) baut die Stadt ihre Unabhangigkeit aus. Zahlreiche
Verwahrbriefe, gegeniiber den Vorbanden im 2. Gedenkbuch der Stadt nunmehr mit
Schreiber und Boten sorgsam notiert, illustrieren die unsichere Lage im Fiirstentum
nach 1388 und das Verhaltnis zu Landesherm und Adel (z.B. Nrn. 566-570, 597, 1127) .
In diesen grob skizzierten Rahmen ordnet sich wie in den Vorbanden ein stark ange-
stiegenes, nach Form, Inhalt und Bedeutung hochst unterschiedliches Material zu alien
Bereichen stadtischen Lebens ein, das der Bearb. in 29 Institutionen zusammengetragen
hat, insgesamt 1530 Nummern (Bd. 7: 1203) zuzuglich 59 Nachtriige (ca. 1200-1387) -
darunterin Abschrift die friiheste urkundliche Erwahnung von burgenses und concives des
Hagens (Nr. 1531: [1193-1201])vor dem Hagenrecht 1227 - und ca. 1300 (Bd. 7: 746) vor
den Weichbildraten getatigte Privatrechtsgeschafte in den Degedingbiichern. Die vor-
ziiglichen, detailliert ausgebauten Indices, die dieses disparate Material iiberhaupt erst
nutzbar machen, fiillen einen Sonderband. Die Originale der Urkundenbestande im
Stadtarchiv Braunschweig und vor allem Staatsarchiv Wolfenbiittel machen noch kein
Drittel der 1530 Nummern aus, von denen zwei Drittel und die Eintrage in den Dege-
dingbiichern bislang ungedruckt sind. Manch erstaunenden Liicken in der originalen
und abschriftlichen Uberlieferung deriiberregionalen Beziehungen (Konflikt mit Liine-
burg 1388, Stadtebiinde z.B.), die aus den Bestanden fremder Archive auszugleichen
sind, steht, wie schon fur die Vorbande zu konstatieren, die dichte Dokumentation all-
taglicher Geschafte in der Stadt und ihrem Nahbereich gegeniiber.
Uberschlagig berechnet, hat der Bearb. zwischen 1994 und 2008 in den Banden 5-8
fur die Jahre 1351-1400 4283 Nummern (Bd. 2-4, 1031-1350: 2473 Nrn.) und ca. 4400 Ein-
554 Besprechungen
trage in den Degedingbuchern mustergiiltig ediert; eine bewundernswerte Leistung, mit
der die Stadt Braunschweig iiber eine herausragende Bearbeitung ihrer zentralen nicht-
chronistischen Uberlieferung in Ein- und Ausgang verfiigt und die Landesgeschichte
iiber ein in seinem Ertrag noch gar nicht abzuschatzendes Quellenwerk.
Der vorliegende Band ist, wie festgestellt, zugleich der letzte in der alten Konzeption.
Mit ihm stoBt das um 1870 unter anderen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen
Voraussetzungen und Bediirfnissen als Pertinenzurkundenbuch konzipierte Quellen-
werk ersichtlich an seine naturliche Grenze angesichts Umfang und zunehmender Dif-
ferenzierung des einzubeziehenden Materials. Die grundsatzlichen Argumente gegen
eine Fortfuhrung des Urkundenbuches iiber 1350 hinaus nach dem Pertinenzprinzip,
das stadtischen Urkundenbiichern des 19. Jh. i.d.R. zugrunde liegt und Mitte des 14. Jh.
zu Kollaps oder nicht sehr befriedigenden Ausweichlosungen fiihrte (vgl. die ausge-
zeichnete Ubersicht U. Ohainskis in: Ndsjb 77, 2005, S. 68-89, darin auch erganzende
Quellenpublikationen zu Braunschweig, S. 69 f.), waren Herausgeber und Bearbeiter
bewusst und sind hinlanglich thematisiert worden (u.a. Ndsjb 67, 1995, S. 429-431; 76,
2004, S. 468-471). Hier seien im Uberblick iiber die 8 Bande Erstrebtes und Erreichtes
kurz skizziert.
Die Kontinuitat der Bande 5-8 zu den 1873-1912 erschienenen Banden 1-4 ist - bei der
Benutzung zu beachten - nicht bruchlos. Den Entschluss, die Edition bis an das Jahr
1400 heranzufiihren und neuere Editionsformen dem anschlieBenden Schriftgut vorzu-
behalten, verbanden Herausgeber und Bearbeiter mit dem Ziel, dann aber „samtliche er-
haltenen und irgendwie nachweisbaren Materialien zur Geschichte der Stadt . . . einzu-
bringen". Das geht iiber Hanselmanns restriktiveres Aufnahmekriterium alles dessen,
was seinem „Wesen nach urkundlich ist und die eigentliche Stadtgemeinde angeht", hin-
aus, fiihrt zu raumlicher und sachlicher Ausdehnung der Ermittlungen, zur Einbezie-
hung in den Vorbanden ausgeschlossener Fonds vor allem der Stifter und Kloster in und
um Braunschweig, zur Kollision mit projektierten Fondseditionen und lasst die Anzahl
allein der auszuwertenden Stadtbiicher (Bestand B I) in verwaltungsgeschichtlich be-
dingten Schiiben von 20 in Bd. 5 auf 43 in Bd. 8 anschwellen. Bereits Hanselmann war
klar, „daB manches dafiir spricht, Stadtbiicher unzerstiickt und gesondert von eigent-
lichen Urkunden wiederzugeben", mochte ihres eminenten Quellenwertes fiir „das in-
nere Getriebe der Stadt" halber aber nicht auf sie verzichten, zumal eine gleichzeitige
Herausgabe nicht moglich sei, ein Argument, das bis heute nicht widerlegt wurde und
sich auf die meisten der fiir die Stadtgeschichte wichtigen Urkundenbestande des Fiirs-
tentums Braunschweig und andernorts ausdehnen lieBe.
Man darf die gestellte Aufgabe als voll, in Einzelfallen, iiber die nicht zu rechten ist,
als iibererfullt ansehen. Das Quellenwerk bietet, grob umrissen, in strikt chronologi-
scher Ineinanderordnung bis 1400 eine Edition der Fonds des stadtischen Urkundenar-
chivs (Rats-, Glide-, Geistliche, Familienarchive, Varia) und der zugehorigen kopialen
Uberlieferung, Teileditionen der Fonds von Stiftern und Klostern in der Stadt im Staats-
archiv Wolfenbiittel 1351-1400, Ausstellerprovenienz in Original und Abschrift sowie
die Beziehungen zu Braunschweig erhellendes Material in fremden Archiven, eine jahr-
weise angelegte Paralleledition der Degeding-, Neubiirger- und Verfestungsbiicher von
Altstadt, Neustadt und Altenwiek, welcher lediglich eine einleitende Beschreibung der
Handschriften wie in Bd. 1-4 fehlt. Welche chronologisch oder nicht chronologisch ge-
fiihrten Biicher zwar gestiickelt, aber doch vollstandig ediert werden, lasst sich in der
chronologischen Gemengelage nur schwer ermitteln. Vorerst bleibt man auf gelegentli-
Geschichte einzelner Landesteile und Orte 555
che wertvollste Hinweise zu Anlage, Umfang, Inhalt, Schreiberhanden u.a. angewiesen.
Wenn die Edition derBande 5-8 einen Wunsch offen lasst, dann den nach einem einlei-
tenden, dem weniger kundigen Benutzer Orientierung bietenden quellenkritischen
Uberblick iiber die Handschriften. Er wiirde es erleichtern, das disparate Material in
der buchformigen Uberlieferung, das hier der Forschung erstmals zuganglich und er-
schlossen wird, in seinem groBen Quellenwert fiir wirtschafts-, sozial-, personenge-
schichtliche und topographische Untersuchungen in Quer- und Langsschnitten prazi-
ser einzuschatzen.
Im Gesamtiiberblick vermittelt das Urkundenbuch in der Zusammenfiihrung korres-
pondierender wie im Nebeneinander unterschiedlichster Quellen einen fesselnden,
wohl auch aussagekraftigen Eindruck Braunschweigs als des lebensvollen stadtischen
Mittelpunktes im Fiirstentum Wolfenbiittel in seiner vielfaltigen funktionalen Bedeu-
tung fiir das nahere und fernere Umland, wie er dieser Bedeutung angemessen erscheint
und gesonderten Fonds- und Stadtbucheditionen so nicht abzugewinnen ware.
Fiir die ErschlieBung des Schriftgutes des 15. Jahrhunderts, der ca. 2500 Urkunden
und der wichtigsten Stadtbiicher, wird ein Gesamtkonzept erarbeitet, das bis zur 1000-
Jahrfeier der Ersterwahnung Braunschweigs 1031 iiber Online-Findmittel den Zugang
wesentlich erleichtern soil und mit der abgeschlossenen vortrefflichen Edition der Quel-
len 1351-1400 auf festem Fundament aufsetzen kann. Fiir diese gebiihren Bearbeiter,
Herausgeber, alien Forderern und dem Verlag Dank und hohe Anerkennung.
Wennigsen Karin Gieschen
Bubke, Karolin: Die Bremer Stadtmauer. Schriftliche Uberlieferung und archaologische
Befunde eines mittelalterlichen Befestigungsbauwerks. Bremen: Staatsarchiv Bremen
2007. 320 S. Abb. = Veroff. aus dem Staatsarchiv der Freien Hansestadt Bremen
Bd. 68. Geb. 20,- €.
Die Stadtmauer als eines der konstitutiven Merkmale der mittelalterlichen Stadt hat seit
jeher groBe Aufmerksamkeit gefunden. Umfassende Dokumentationen, die auch wis-
senschaftlichen Anspriichen geniigen, liegen jedoch fiir nur wenige groBe Stadte vor.
Diesem Mangel hilft die vorliegende Bremer Dissertation bei dem Mediavisten Die-
ter Hagermann und dem Archaologen Manfred Rech fiir die Hansestadt ab. Sie zeichnet
sich durch die notwendige gleichgewichtige Zusammenstellung und Auswertung der
Schriftquellen, des Bildmaterials und der archaologischen Funde aus. Ausgenommen
wird die Befestigung der Domburg und der friihen Marktsiedlung, wodurch sich fiir die
Friihzeit schwierige quellenkundliche Abgrenzungsprobleme ergeben. Uber die friihe
Siedlungsentwicklung und der Bedeutung des Balgehafens muss sich der nicht ortskun-
dige Leser weiterhin etwa bei Schwarzwalder oder Weidinger informieren. Die Arbeit
konzentriert sich konsequent auf die zu 1229 erstmals urkundlich belegte und nicht viel
altere Stadtmauer bis hin zu ihrem vollstandigen Verschwinden aus dem Stadtbild - und
dem Bewusstsein - durch Uberbauung und Abriss im 18./19. Jahrhundert. Erst die Be-
seitigung der Bombenschaden haben wieder groBere Teile zutage treten lassen, und zu-
sammen mit jiingeren archaologischen Befunden und Bildmaterial kann die Verfasserin
ihren Verlauf und Aussehen und die Turm- und Torsituationen rekonstruieren. Die alte-
re Landmauer, die offenbar von vornherein auch die Domimmunitat einschloss und
556 Besprechungen
dem Stadtherrn lediglich einen anscheinend nur rechtlich gesicherten Anspruch auf den
Zutritt durch die „Bischofsnadel" lieB, wurde bald durch die Wesermauer erganzt, die
dasjiingere Martinikirchspiel auf der Balgeinsel einschloss. Die spatestens im 12.Jahr-
hundert einsetzende Aufsiedlung der Insel wurde anscheinend seit der zweiten Halfte
des Jahrhunderts zunachst durch mehrere starkwandige Steinkammern bzw. Saalge-
schosshauser nach der Weser und zum Schlachtehafen hin gesichert. Mit der eigenstan-
digen Ummauerung der Stephanivorstadt seit dem friihen 14. Jahrhundert war das Be-
festigungswerk, erganzt durch friihneuzeitlichen Rondell- und Wallbefestigungen und
schlieBlich ersetzt durch das Bastionarsystem im 17. Jahrhundert (unter Einbeziehung
der Neustadt), fur das Mittelalter abgeschlossen. Fur die Anlage eines eigentlich nach
Vergleichsbeispielen schon fur das 15. Jahrhundert vorauszusetzenden Walles vor der
Mauer fehlen direkte Belege. Die Konstruktion fiigte sich weitgehend in das fur andere
norddeutsche Hansestadte bekannte Bild ein: die sich verjiingende Backsteinmauer (un-
ten 1,8-2,2 m) griindete auf einem Feldsteinfundament, fur die Altstadt zweischalig, die
jiingere Stephanimauer durchmauert, verstarkt durch Entlastungsbogen und Pfeiler so-
wie in regelmaBigen Abstanden durch Halbrundtiirme. Fiir den Wehrgang fehlen An-
haltspunkte. Der Wachdienst auf den durch representative Turmaufbauten verstarkten
9 Toren wurde kirchspielweise durch Nachbarschaften (Rotten) organisiert. Die kost-
spielige Unterhaltung lasst sich seit 1369 in den Stadtrechnungen verfolgen. U. a. aus der
allmahlich zugestandenen Nutzung von anliegenden Grundstiicken, zuerst auf der In-
nenseite seit 1420, entstand eine eigenstandige Einnahmequelle (Mauerkasse), die durch
ein schon 1369 belegtes, fiir die Mauer verantwortliches Gremium („Mauerherren") ver-
waltet wurde. Nach dem sukzessiven Funktionsverlust seit dem 16. Jahrhundert wurden
die Kosten auf die nutznieBenden Anlieger abgewalzt.
Der in der stadtischen Chronistik noch Erzbischof Johann Grand fiir die Jahre um
1311/12 zugeschriebene Konflikt um den Mauerbau ist vermutlich auf eine Fehldeutung
ihrer Vorlage zuriickzufuhren. Der Beginn des Mauerbaues im friihen 13. Jahrhundert
markiert aber eine entscheidende Phase der stadtischen Gemeindebildung, die die ver-
fassungsgeschichtliche Forschung starker beriicksichtigen muss. Zu deren Verstandnis
ware eine siedlungs- und verfassungstopographische Einfiihrung auch unter Beriick-
sichtigung der Vorfeldsituation sowie ein Register in der ansonsten verdienstvollen Ar-
beit niitzlich gewesen.
Gottingen Gerhard Streich
Duderstddter HduserBuch. Hrsg. von der Stadt Duderstadt. Gesamtbearbeitung Hans-
Reinhard Fricke. Mit Beitragen von Bettina Bommer, Hans-Heinrich Ebeling, Ulrike
Ehbrecht, Jens Otto Erdbrugger, Maria Hauff und Sabine Wehking. Duderstadt:
Mecke Druckund Verlag 2007. Abb., graph. Darst. + 1 CD-ROM. = Beitrage zur Ge-
schichte der Stadt Duderstadt Bd. V. Geb. 19,90 €.
Das Stadtarchiv Duderstadt hat in denjahren seit 1990 kontinuierlich an dem Projekt ei-
ner auf die einzelne Pazelle bezogenen ErschlieBung der besitzergeschichtlich auswert-
baren Quellen gearbeitet. Dass diese Untersuchung mit einer Publikation abgeschlossen
werden konnte, ist eine groBartige Leistung.
Geschichte einzelner Landesteile und Orte 557
Fluch und Segen liegen wie so oft nahe beieinander. So wie das Stadtbild mit seiner
dominierenden und in seltener Geschlossenheit erhaltenen Fachwerksichtigkeit der
Hauser beriihmt ist, ist auch die Uberlieferung der Stadtarchivalien auBergewohnlich
dicht. Damit aber war der schier unglaublich Berg von 275.000 (S. 15) oder gar 420.000
(so in einer Besprechung bzw. Selbstanzeige in der „Roten Mappe 2008" des Niedersach-
sischen Heimatbundes, S. 35) Eintragen in den Archivalien zu transkribieren, zu erfas-
sen und so aufzubereiten, dass sinnvolle Verkniipfungen in Sinne der Fragestellung,
namlich: werwann wo in derStadt Duderstadt gelebt hat, moglich wurden. Fiinf Wissen-
schaftler haben mit Ein- bis Dreijahresvertragen ausgestattet daran gearbeitet, jeweils
unterstutzt von einer sog. Schreibkraft, also Frauen, die iiber die Jahre sicher selbst zu
Fachkraften fur fruhneuzeitliche Texte geworden sind. Von 1990 bis 1999 dauerte die
Datenerfassung durch externe Krafte, der Band ist aber erst achtjahre spaterund 17Jah-
re nach dem Start des Projektes erschienen. Es scheinen die Faszination, die von dem Ge-
samtkunstwerk „Stadt Duderstadt" ausgeht, erganzt durch den dichten Archivbestand
und dem - mit neuer Methodik verfolgte - Ansatz der „Kompletterfassung" gewesen zu
sein, die das Durchhalten bis zur Vollendung der gestellten Aufgabe moglich gemacht
haben. Das Projekt wurde von den Gemeindevertretungen der Stadt trotz gleichzeitig
laufender, kostenintensiver Stadtsanierung mitgetragen. Weitere finanzielle Unterstiit-
zung kam von den Stiftungen des Landes und dem Landschaftsverband der Region.
Der Duderstadter Untersuchung vergleichend an die Seite zu stellen ist das „GroBin-
ventar" der Stadt Minden, an dem ebenfalls seit den friihen 1990er Jahren gearbeitet
wurde und das 2008 seinen Abschluss fand (Bau- und Kunstdenkmaler von Westfalen
Band 50 - Stadt Minden, herausgegeben durch Fred Kaspar, Peter Berthold, Ulf-Diet-
rich Korn, Roland Piper und Kevin Lynch, Minden 1998-2008). Auch in Minden hat
man die Parzellenstruktur der Stadt zum Ordnungsprinzip gewahlt, aber sehr viel starker
als in Duderstadt die Baugeschichte der Hauser, Briicken, Festungsbauten etc. selbst
zum Thema gemacht und seit 1998 publiziert. So sind dort 10 Bande zur Beschreibung
der gebauten Stadtgeschichte mit durchschnittlich 700 Seiten Umfang, zusammen 0,5
Regalmeter gedruckt worden! Das noch laufende GroBprojekt in der Stadt Bamberg
hebt ahnlich dem Duderstadter stark auf elektronische Medien ab, allerdings mit dem
Ziel der Visualisierung aller denkbaren historischen Sachverhalte durch Grafiken und
Karten.
Das Duderstadter Buch nimmt sich mit 256 Seiten (plus zwei Vorgangerbanden zur
Stadtbefestigung) angenehm handlich und benutzerfreundlich aus. Am Beginn stehen
die Geschichte des Projektes, methodische Fragen und eine Beschreibung der verwen-
deten Quellen. Wichtig ist hier der Hinweis auf die seinerzeit noch als experimentell zu
bezeichnende intensive Nutzung der Datenverarbeitung, in die das Gottinger Max-
Planck-Institut fur Geschichte einbezogen war. Das „Digitale Hauserbuch" ist in Form
einer Computerdatei im Archiv der Stadt nutzbar. Dem Buch liegt eine Datentrager-
scheibe bei, die die wichtigsten Ausziige daraus enthalt. Nach einigem Suchen findet
man zu den 37 StraBen der Stadt unter jeder Hausnummer ein bis drei Folien, die die Rei-
henfolge der Besitzer, Fotos des Hauses und Inschriften am Haus wiedergeben. Dane-
ben sind auf der CD die Quellen in tabellarischer Form, Stadtplane und Konkordanzen
zwischen heutiger Hauskennung und alter (Feuerversicherungs-)nummer enthalten.
Im Buch selbst folgen den Einleitungskapiteln 18 Einzelbeitrage zu Themen der
Stadtgeschichte. Die Kunsthistorikerin Maria Hauff gibt einen kurzen Uberblick iiber
558 Besprechungen
die Phasen aus denen Hauser dieser von den Zerstorungen des 2. Weltkrieges verschont
gebliebene Stadt erhalten sind. Hans-Reinhard Fricke beschreibt die topographische
Entwicklung der Stadt und die „Brande als stadtbildpragende Ereignisse". Bei der Mehr-
zahl und der Schwere der geschilderten Brande verwundert es fast schon, dass heute
noch ein so harmonisches Stadtbild vorzufinden ist. Vom gleichen Autor werden die
Hausbesitzer des 16. Jahrhunderts und der Wert der Hauser dargestellt, wobei wieder
einmal der vergleichsweise geringe Wert, den man den Bauten in dieser Zeit zumaB, auf-
fallt. Der DreiBigjahrige Krieg hatte Duderstadt (wie auch andere Mittelstadte) schwer
in Mitleidenschaft gezogen, wie die abnehmende Zahl der Steuerpflichtigen und auch
die zunehmende Zahl der unbebauten Grundstiicke besonders (aber keineswegs nur) au-
Berhalb der Stadtmauern zeigen. Die Pestepedemien der zweiten Halfte des 17. Jahrhun-
derts waren mit hohen Verlustzahlen aber nur geringer wirtschaftlicher Depression ver-
bunden (gemeinsamer Aufsatz von H.-H. Ebeling und H.-R. Fricke). Ein Brandkassen-
kataster des fruhen 19. Jahrhunderts gibt Auskunft iiber Wert der Hauser und lasst so auf
die unterschiedliche Giite der Wohngegenden schlieBen. Weiter sind dort Informatio-
nen zu Mehrfachbesitz von Hausern und die Berufe der Besitzer zu ermitteln (H.-H.
Ebeling) . Der Anschluss Duderstadts an die neue Bahnlinie fiihrte 1889 zu der - von den
gewahlten Vertretern der Stadt bekampften - Anlage einer neuen BahnhofstraBe. Dies
wurde der erste schwere Eingriff in die spatmittelalterliche Stadtstruktur (H.-R. Fricke).
In einem informativen Kapitel liefert Sabine Wehking Duderstadter Hausinschriften
und ihre Deutung. Sie liefert Inschriftbeispiele fur die biirgerliche Widerstandigkeit der
protestantischen Hausbesitzer gegen die von der Mainzer Landesregierung betriebene
Rekatholisierung. Die Hausnummerierung wie auch das entstehende Feuerversiche-
rungswesen (M. Hauff und H.-R. Fricke) weisen beide auf die Versicherungskataster als
wichtige bauhistorische Quelle hin, aber auch auf die Zufalligkeit der Auffindung dieses
im Kern privatwirtschaftlichen Archivgutes. Fiirmich sind Bemiihungen um eine syste-
matische Erfassung und Publizierung der Aufbewahrungsorte dieser Quellengattung
seit langem ein Desiderat. Die fruhen Personennamen des 14. und 15. Jahrhunderts
(H.-H. Ebeling) spiegeln den Prozess der Namensbildung und in diesem Zusammen-
hang die haufige Verwendung von Herkunftsorten als Nachnamen. Zugleich werden die
weitraumigen Beziehungen der Stadt im Spatmittelalter deutlich. Ulrike Ehbrecht weist
aus Notizen des Stadtarchivs auf das „Wohnen in Tiirmen und Toren" hin. Problem fur
die Stadt war der Unterhalt dieser Gebaude, soweit sie zu der alten Stadtmauer gehorten.
Diese war nach der Anlage des auBeren Befestigungsringes um 1550 fur die Verteidi-
gungsaufgaben nutzlos geworden. Die Mieter wurden verpflichtet einen Teil dieses Un-
terhaltes zu iibernehmen.
Maria Hauff hat mehrere Beitrage zur Baugeschichte von Hausern der Stadt beige-
steuert. So beschreibt sie das stadtische Brauwesen mit dem zum Brau zugelassenen
Stadthausern, separaten Brauhausern und den Orten des Bierausschanks. Sie fand in der
Erlaubnis zum „Sonnabendbrau" und seiner exklusiven Verbindung mit dem Hausbau
ein aufschlussreiches Datierungskriterium furNeubauten. Weiter beschreibt sie die Nut-
zungsgeschichte des machtigen Fachwerkhauses Hinterstrasse 33, das urspriinglich als
Stadthof des Klosters Polde erbaut worden war und kann iiber die Besitzergeschichte
des Hauses JiidenstraBe 29 interessante Riickschliisse zu Neu- und Umbaugeschichte
beibringen. Das machtige - als Spolie wieder verwendete - Eingangsportal dieses Hau-
ses steht in Verbindung mit einer Verputzung des zeituntypisch schlichten Fachwerks.
Zu diesem - einen Steinbau imitierenden - Putz gehorten kunstvolle, die Fenster bekro-
Geschichte einzelner Landesteile und Orte 559
nende Metallmasken. Beides bezieht sie auf den weit gereisten Architekten, Gold-
schmied und Juwelenhandlerjohann Christoph Fritz (1699-1757), der 1729 Besitzer des
Hauses wurde.
Trotz der punktuellen Hereinnahme der Baugeschichte vorhandener Hauser bleibt
der Namen „Hauserbuch" fiir den vorliegenden Band kritisch zu hinterfragen. Primares
Erkenntnisziel des Gesamtprojektes waren nicht die rezenten Hauser sondern die Par-
zelle als langlebiger Fixpunkt der Stadtstruktur. Den Grundstiicken werden die Besitzer
und anderen Bewohner in einem aufwendigen, riickwartsschreitenden Verfahren zuge-
ordnet. Obwohl in der Vergangenheit regelmaBig so benutzt („Ein Hauserbuch enthalt
die Besitzerfolge der Hauser in einer Stadt oder in einem Dorf" - Wikipedia) ist der Be-
griff anachronistisch und tendenziell verwirrend, da er aus einer Zeit stammt, in der eine
Wissenschaft von den Hausern (die historische Hausforschung) noch nicht existierte. Es
fehlen in dem Band weitgehend die Ergebnisse moderner Hausforschung, wie sie durch
Stadtarchaologie, Gefiigeforschung, Dendrochronologie oder restauratorische Befund-
erhebung bei Stadtkernsanierungen produziert werden oder zumindest werden sollten.
Eine weitere kritische Anmerkung betrifft die Abbildungen. Die Qualitat der Farbwie-
dergabe ist enttauschend und die Sorgfalt bei der Fotographie mangelt mitunter erheb-
lich. Ungiinstige Lichtverhaltnisse und Aufnahmewinkel sowie storende Passanten, Au-
tos oder Sonnenschirme beeintrachtigen die Aussagekraft vieler Fotos. Die Fotos der
neu angelegten Parkplatze im Stadtkern (S. 229-230) sind trostlos und iiberflussig.
Insgesamt aber ist ein groBartiges Projekt zu einem guten Abschluss gebracht wor-
den. Man muss hoffen, dass die Dateien so gepflegt werden konnen, dass sie noch lange
lesbarbleiben und man darf hoffen, dass fiber die Verknupfung derDaten des „Digitalen
Hauserbuchs" noch viele interessante Forschungsergebnisse aus Duderstadt die Offent-
lichkeit erreichen werden.
Gyhum Wolfgang Dorfler
„Leiden verwehrt Vergessen". Zwangsarbeiter in Gtittingen und ihre medizinische Versor-
gung in den Universitatskliniken. Hrsg. von Volker Zimmermann. Gottingen: Wall-
stein Verlag 2007. 301 S. Abb. Kart. 28,- €.
Als Ende der 1990er Jahre ehemalige Zwangsarbeitende vor US-amerikanischen Ge-
richten Sammelklagen gegen ihre damaligen Arbeitgeber anstrengten, fiihrte dies in
Deutschland nicht nur zu einer heftig gefiihrten Entschadigungsdebatte, sondern auch
zu einer Intensivierung der historischen Forschung zu diesem bis dahin eher randstandi-
gen Bereich der NS-Geschichte. Nachdem zunachst die Ausnutzung von Zwangsarbeit
durch groBe Industrie- und Wirtschaftsunternehmen im Mittelpunkt des Interesses ge-
standen hatte, erscheinen seit einigenjahren zunehmend regionale Studien, die verdeut-
lichen, in welchem MaBe Zwangsarbeit wahrend des Zweiten Weltkrieges zum ganz nor-
malen Alltag gehorte.
Der hier zu besprechende Sammelband, von Professor Volker Zimmermann heraus-
gegeben, reiht sich in diese Regionalstudien ein. Neben Ergebnissen des am Institut fiir
Ethikund Geschichte derMedizin der Georg-August-Universitat Gottingen verankerten
Forschungsprojektes zur Rolle der Zwangsarbeitenden an der Medizinischen Fakultat,
die Susanne Ude-Koeller in zwei Aufsatzen iiber die medizinische Versorgung dieser
560 Besprechungen
Zwangsarbeitenden in Gottingen darstellt, beleuchten die einzelnen Beitrage das Aus-
maB von Zwangsarbeit und die Lebensverhaltnisse von Zwangsarbeitenden in Gottin-
gen und den Kreisen Gottingen, Goslar und Northeim. Besonders hervorzuheben sind
hier die Arbeiten iiber das AusmaB der Zwangsarbeit von Cordula Tolmien in der Stadt
Gottingen und von Marc Czichy im Gebiet des heutigen Landkreises Northeim. Deut-
lich wird bei beiden Aufsatzen wie auch bei dem Beitrag iiber das Sanatorium Rasen-
miihle (Rusch, Dimmek und Fangerau), dass die oft einzigen verfiigbaren Quellen (z.B.
Krankenkassenunterlagen, Einwohnermeldekarteien und Auslanderverzeichnisse) zwar
in Hinblick auf die Quantitat der geleisteten Zwangsarbeit wertvolle Informationen ver-
mitteln, Lebens- und Leidensumstande der Betroffenen jedoch im Dunkeln bleiben.
Dietmar Selaczek gelingt es, anhand von Zeitzeugenberichten auf eindrucksvolle Weise
den Haftlingsalltag im Jugend-KZ Moringen darzustellen. Vorangestellt sind den ver-
schiedenen Abschnitten zwei Beitrage (Volker Zimmermann und Ursula Komen), die
sich mit den Professoren der Medizinischen Fakultat der Gottinger Universitat sowie der
Heil- und Pflegeanstalt Gottingen wahrend der NS-Zeit befassen. Abgeschlossen wird
der Sammelband von Uberlegungen (Nolte/Janssen) zur Gestaltung eines angemesse-
nen und wirksamen Gedenkens der Leiden von Zwangsarbeitenden in den Kliniken der
medizinischen Fakultat. Gleich einer Klammer wirken Prolog und Epilog. Ersterer fasst
in aller Kiirze die bisherigen Ergebnisse des Forschungsprojektes zur Rolle der Zwangs-
arbeitenden an der Medizinischen Fakultat zusammen, letzterer liefert die Inschrift der
mittlerweile am 8. Mai 2008 vor dem Gebaude der alten Frauenklinik enthiillten Ge-
denktafel fur die Zwangsarbeitenden, die in den Klinken der Universitat Gottingen
eingesetzt waren oder dort medizinisch versorgt wurden.
Der Herausgeber und seine Mitarbeiterin Susanne Ude-Koeller mochten den Band
als einen „Baustein der Erforschung der Zwangsarbeit unter der NS-Diktatur" verstan-
den wissen und gleichzeitig auch als „Appell an die Bereitschaft, durch aktive Erinne-
rungsarbeit Verantwortung fur einen Teil ,vergessener' Lokalgeschichte zu iiberneh-
men" (S.12). Diesem Anspruch wird der Sammelband, besonders wenn man sich von
dem Untertitel lost, durchaus gerecht. Er leistet nicht zuletzt durch die insgesamt detail-
reichen, gut recherchierten Aufsatze einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der
Zwangsarbeit und erganzt die Reihe der bereits erschienen Arbeiten zum Thema fur die
Kreise Gottingen und Osterode.1 Zudem gelingt es Susanne Ude-Koeller mit ihren bei-
den Beitragen iiber die Krankenakten der Universitatskliniken und die Versichertenkar-
tei der Gottinger AOK, die Forschungsergebnisse zur Geschichte der medizinischen
Versorgung von Zwangsarbeitenden zu bereichern und gleichzeitig ein Licht auf die we-
gen der schwierigen Quellenlage nur miihsam zu ermittelnden Lebens- und Alltagsver-
haltnisse der Zwangsarbeitenden zu werfen.
Trotzdem hinterlasst der Sammelband auch gemischte Gefiihle. Der Titel, insbeson-
dere der Untertitel, die Klammer aus Epilog und Prolog und auch die Einleitung (beson-
ders S. 11) wecken Erwartungen, die nicht eingelost werden. Verantwortlich hierfiir ist
das Ungleichgewicht der einzelnen Abschnitte; nur fiinf der insgesamt elf Beitrage the-
matisieren Zwangsarbeitende in Gottingen und bzw. oder deren medizinische Versor-
gung in der Universitatsklinik. Die beiden Aufsatze von Zimmermann und Komen bil-
1 Siedburger, Giinther: Zwangsarbeit im Landkreis Gottingen 1939-1945. Duderstadt
2005: Gattermann, Claus Heinrich: Der Auslandereinsatz im Landkreis Osterode 1939-1945.
Wernigerode und Berlin 2003 [Harz-Forschungen 18]
Geschichte einzelner Landesteile und Orte 561
den zudem im Gesamtzusammenhang einen Fremdkorper, da der Schwerpunkt des ei-
nen Beitrags auf dem Karriereverlauf und den politischen Verstrickungen einzelner
Dozenten der Medizinischen Fakultat der Universitat Gottingen liegt, der andere in der
Hauptsache die Umsetzung der nationalsozialistischen Rassenpolitik in der Heil- und
Pflegeanstalt Gottingen thematisiert. Die Qualitat der Beitrage variiert von hervorra-
gend (z.B. Tollmien, Sedlaczek, Czerny) iiberpassabel bis mangelhaft. So sind z.B. Zim-
mermann und Komen auBerordentlich sparsam beim Einsatz von Belegen. Zimmer-
mann ist dafiir jedoch umso groBziigiger bei der Verwendung von wortlichen Zitaten.
AuBerdem verwundert, dass beide in ihren knappen Literaturlisten wichtige Arbeiten
zum Thema nicht nennen. So werden weder die Veroffentlichung zur Geschichte der
Universitat Gottingen in der NS-Zeit (Becker u. a.), noch die Arbeit von Aniko Szabo
iiber die Vertreibung Gottinger Hochschullehrer oder auch die zahlreichen Publikatio-
nen von Raimond Reiter zur Euthanasie in Niedersachsen erwahnt. Ferner erscheint der
Beitrag von Knolle, Braedt und Schyga zum Zwangsarbeitereinsatz im Westharz zwar
sehr engagiert, dennoch muss der Umgang mit Belegen und Quellennachweisen kriti-
siert werden. In einer FuBnote am Kapitelanfang darauf zu verweisen, dass die Nachwei-
se der verwendeten Quellen und Aussagen in einer anderen Veroffentlichung nachzule-
sen seien, ist nicht nur ungewohnlich, sondern schlichtweg argerlich; und dies umso
mehr, als sich hier die Frage stellt, ob die Autoren durch einen solchen Umgang mit Bele-
gen nicht riskieren, unglaubwiirdig zu werden, und so ihre durchaus lobenswerten Ab-
sichten am Ende selbst sabotieren. Unvollstandige Signaturangaben von Archivalien
(z.B. S. 52, 61, 78, 251), Tempuswechsel in einem Aufsatz (S. 247f.) sowie die offensicht-
lich falsche Platzierung von Abbildungen (S. 262 f.) sprechen schlieBlich dafiir, dass dem
Band eine griindliche Schlussredaktion vorenthalten blieb.
AbschlieBend sei jedoch festgehalten, dass der Gewinn des Bandes nicht zuletzt darin
besteht, dass das von den Zwangsarbeitenden wahrend des Nationalsozialismus erlitte-
ne Leid nicht ihnen allein unvergesslich bleibt.
Hannover Kirsten Hoffmann
Herrenhausen. Die Koniglichen Garten in Hannover. Hrsg. von Marieanne von Konig.
Mit Fotos von Wolfgang Volz. Gottingen: Wallstein Verlag 2006. 292 S. Abb., graph.
Darst. Geb. 34,- €.
Der groBformatige Band beschreibt erstmals in ansprechender Weise alle vier „Herren-
hauser Garten" in Hannover, die bei all ihrer unterschiedlichen Entstehung und bei ih-
rem unterschiedlichen Aussehen ein einmaliges Ensemble historischer Gartenformen
bilden: den barocken „GroBen Garten" - nach Versailles wohl der groBte erhaltene
Garten seiner Zeit iiberhaupt, die beiden englischen Landschaftsgarten, den „Georgen-
2 Becker, Heinrich; Dahms, Hans-Joachim und Cornelia Wagner: Die Universitat Gottin-
gen unter dem Nationalsozialismus. 2. uberarbeitete Ausgabe, Miinchen 1998. Aniko Szabo:
Vertreibung, Ruckkehr, Wiedergutmachung. Gottinger Hochschullehrer im Schatten des Na-
tionalsozialismus. Gottingen 2000 [ Veroffentlichungen des Arbeitskreises Geschichte des
Landes Niedersachsen nach 1945, Bd. 151.
562 Besprechungen
garten" und den „Welfengarten", sowie als botanischen Garten den ebenfalls dazugeho-
renden „Berggarten".
Der Herausgeberin ist es gelungen, zehn hervorragende Autoren zu gewinnen, die in
insgesamt 22 Beitragen ausfiihrlich auf die einzelnen Anlagen, Gebaude und Kunstwer-
ke eingehen. Neben hervorragenden Ubersichtskarten und einer Vielzahl kleinerer Ab-
bildungen meist historischer Karten und Gemalde finden sich in der Mitte des Bandes
liber fiinfzig Seiten mit kiinstlerischen Fotos des renommierten Fotografen Wolfgang
Volz, die einen sinnlichen Eindruck der jeweiligen Garten in unterschiedlichen Jahres-
zeiten vermitteln.
Besondere Erwahnung verdient die Darstellung der allgemeinen Geschichte des Gro-
Ben Gartens von Heike Palm, die in knapper Form, aber doch umfassend die Entwick-
lung der Barockanlage vom 17. Jahrhundert bis heute nahe bringt. Weitere Beitrage sich
den Springbrunnen (den „Wasserkiinsten"), den Skulpturen und den Bauten gewidmet.
In seinem Artikel „Theater, Feste, Maskeraden" verfolgt Gotthardt Friihsorge die Bedeu-
tung des Gartens fiir die mimische Kunst, sei es anfangs zur Inszenierung landesherr-
licher Macht, heute zur nostalgischen Freude eines breiten Publikums. Als aktuellen
Beitrag zu den derzeitigen Planen, das im Zweiten Weltkrieg zerstorte Schloss wieder
aufzubauen, mag ein kiirzerer Zwischenruf von Cord Meckseper zu verstehen sein, in
dem er die bisherigen Plane zur Neugestaltung des Schlossplatzes vorstellt und dabei
auch die Fotomontage einer futuristischen Vision des danischen Architekten Arne Ja-
cobsen aus dem Jahre 1964 nicht ubergeht.
Doch ist es gerade die Starke des Buches, dass auch die ubrigen Teile der Herrenhau-
ser Garten nicht zu kurz kommen. Neben einer allgemeinen Darstellung der Geschichte
des Berggartens und der dortigen Pflanzenwelt ist an dieser Stelle die Beschreibung des
Welfenmausoleums von Urs Boeck besonders zu erwahnen. Der Entstehung des Geor-
gengartens als englischer Parkanlage des 18. und 19. Jahrhunderts geht ausfiihrlich Mi-
chael Rohde nach, wobei auch unterschiedliche Planungsvarianten angemessene Be-
riicksichtigung finden. In speziellen Beitragen hervorgehoben werden die dortigen
Brucken, die von Georg Ludwig Friedrich Laves entworfen wurden, sowie der Leibniz-
tempel, der erst 1935 seinen heutigen Standort gefunden hat - wenn auch die entschei-
dende Biiste des Universalgelehrten aufgrund von standigem Vandalismus vorlaufig an
anderer Stelle untergebracht wurde.
Dass der GroBe Garten als barocke Anlage die Jahrhunderte iiberdauert hat und da-
neben mit dem Georgengarten ein „modernerer" Landschaftspark entstanden ist, steht
im Wesentlichen im Zusammenhang mit der langjahrigen Abwesenheit der hanno-
verschen Landesherren wahrend der Zeit der Personalunion zwischen Hannover und
GroBbritannien. Die scheidenden Kurfursten lieBen ihren Barockgarten zuriick, die im
19. Jahrhundert zuriickkehrenden Konige riihrten das Vermachtnis ihrer Voreltern
nicht an, sondern schufen eine neue Gartenwelt. Eine andere, die „normale", Entwick-
lung machte der Welfengarten durch, der sich urspriinglich in adeligem Besitz befand.
Der anfangliche Barockgarten, an den nichts mehr erinnert, wurde hier zum heute sicht-
baren Landschaftspark umgewandelt. Und da das Hauptgebaude der heutigen Universi-
tat Hannover einen Teil des Welfengartens darstellt, fehlt auch nicht dessen Beschrei-
bung: Den Ausbau des ehemaligen Schlosschens Monbrillant zum zentralen Residenz-
schloss des Konigreichs Hannover, das diese Funktion nie erhielt, sondern nach 1866
von der preuBischen Regierung der Technischen Hochschule ubertragen wurde, ver-
folgt minutios Cord Meckseper. Besonders zu verweisen ist auf die im Anhang erstmals
Geschichte einzelner Landesteile und Orte 563
in knappe Form gebrachten Lebenslaufe der wichtigsten „groBen Gartner" Herrenhau-
sens, die durch ihre teilweise Jahrzehnte dauernde Planung und Arbeit wesentlich zum
Aussehen der heutigen Anlagen beigetragen haben.
Auch wenn von einer Autorin mehrfach die „popularwissenschaftliche Konzeption"
des Buches beklagt wird, durch die das Anbringen von FuBnoten beschrankt war: Wort-
liche Zitate sind stets nachgewiesen, in keinem Fall fehlt am Ende eines Beitrags ein Hin-
weis auf weiterfuhrende Literatur. Ein wissenschaftlicher Wert ist dem Band damit kei-
nesfalls abzusprechen. Sorgfaltigzusammengetragene Abbildungsnachweise unterstrei-
chen am Ende des Bandes nicht nur noch einmal die korrekte Arbeitsweise der Autoren,
sondern erlauben zugleich den Einstieg in weitere Untersuchungen. Ein ebenfalls sorg-
faltig erstelltes Personenregister erlaubt einen raschen Zugang zu eigenen Fragen iiber
die einzelnen Beitrage hinweg. Der einzige Nachteil des beeindruckenden Werkes, an
dem kunftige Untersuchungen zu den Herrenhauser Garten wie auch zu historischen
Garten in Deutschland und Europa insgesamt nicht vorbeikommen werden: Um es bei
einem Besuch der hannoverschen „K6niglichen Garten" vor Ort dabeizuhaben, ist es zu
unhandlich.
Hannover Annette von Boetticher
Berlit, Anna Christina: Notstandskampagne und Rote-Punkt-Aktion. Die Studentenbewe-
gung in Hannover 1967-1969. Bielefeld: Verlag fur Regionalgeschichte 2007. 160 S.
Abb. = Hannoversche Schriften zur Regional- und Lokalgeschichte Bd. 20. Geb.
19,- €.
Bei dem hier zu besprechenden Werk, einer im Jahr 2005 an der Universitat Hannover
eingereichten Magisterarbeit, handelt es sich um eine Lokalstudie, die die Erforschung
der bundesdeutschen Studentenbewegung, der auBerparlamentarischen Opposition
(APO) und derjahre 1967 bis 1969 um eine neue Perspektive erweitert: Mit der Konzen-
tration auf die Ereignisse in Hannover wendet Berlit ihren Blick bewusst von den be-
kannten Zentren der Proteste und Aktionen (Berlin und Frankfurt am Main) hin zu ei-
nem Nebenschauplatz, der jedoch mit seinen spezifischen Auspragungen einen interes-
santen Untersuchungsgegenstand darstellt. Die Autorin spannt einen zeitlichen Bogen
von den ersten studentischen Protesten gegen die Notstandsgesetze bis zur so genannten
„Rote-Punkt-Aktion" im Sommer 1969. Bei Letzterer handelte es sich um einen bundes-
weit einzigartigen, noch dazu erfolgreichen Protest gegen angekiindigte Fahrpreiserho-
hungen im offentlichen Nahverkehr Hannovers.
Die Arbeit prasentiert sich klar und schlussig gegliedert. Besonders Leser, die mit der
Studentenbewegung und ihrer Zeit noch nicht vertraut sind, bemerken dankbar, dass die
Autorin ihrer Einleitung zunachst eine Vorstellung der Biihne und der wichtigsten Ak-
teure der zu schildernden Ereignisse folgen lasst. Biihne waren Stadt und Universitat
Hannover, wobei Berlit den sehr geringen Anteil geistes- und sozialwissenschaftlicher
Studierender an den 9.000 Immatrikulierten betont. Hierdurch unterstreicht sie den -
offensichtlich von ihr akzeptierten - Status der im Folgenden vorgestellten Akteure als
selbsternannte Elite oder Avantgarde, die jedoch zugleich Minderheit war. Im Einzel-
nen stellt Berlit den Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) mit seinem Bundes-
verband und seiner Untergruppe in Hannover, den Sozialdemokratischen Hochschulbund
564 Besprechungen
(SHB), den Allgemeinen Studenten-Ausschuss (AStA) der Technischen Universitat Hanno-
ver und den Club Voltaire vor. Besonders die Vorbemerkungen zu SDS und SHB, ihrerje-
weiligen Vorgeschichte und Unterschiede sind fur das Verstandnis der Arbeit notwen-
dig, da es eines der wichtigsten Anliegen Berlits ist, die von ihr attestierte Dominanz des
SDS in der bisherigen Forschungsliteratur zu uberpriifen. Die Autorin stellt in diesem
Kapitel die Strukturen der Studentenbewegung in lebendiger Weise vor.
Als das Herzstiick der Arbeit kann zweifellos Kapitel 4 bezeichnet werden: Berlit
zeichnet hier minutios die Aktionen und Kampagnen der Studentenbewegung in Han-
nover nach. Ausgehend von den ersten Protesten gegen die so genannten Notstandsge-
setze schildert sie, wie die Aktionen durch den Tod des aus Hannover stammenden Stu-
denten Benno Ohnesorg in Berlin im Verlauf der Demonstrationen gegen den Besuch
des Schahs von Persien eine enorme Dynamik entwickelten. Mit der Beisetzung Ohnes-
orgs und der daran anschlieBenden Veranstaltung des prominent besuchten Kongresses
„Bedingung und Organisation des Widerstands" riickte Hannover fur kurze Zeit in den
Mittelpunkt der bundesdeutschen Ereignisse. Danach war es erneut ein Gewaltakt, der
zu einer Verscharfung der Auseinandersetzung fiihrte. Durch das Attentat auf Rudi
Dutschke gewann der bereits begonnene Protest gegen die Rolle der Massenmedien und
insbesondere den Springer- Verlag an Intensitat. Den Hohepunkt der Ereignisse stellte,
wie Berlit zeigt, das Osterwochenende 1968 dar, an dem die studentischen Demonstran-
ten die Auslieferung der Bild-Zeitung mit alien Mitteln zu verhindern suchten und die
Protestaktionen zu immer scharfer gefuhrten Auseinandersetzungen mit der Polizei
fiihrten.
Das folgende Kapitel „Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus der Elterngenera-
tion" ist mehr den Themen und Gedanken der Studentenbewegung gewidmet: Kapitalis-
muskritik, Dritte-Welt-Problematik, die Positionen zum Vietnamkrieg und zum Prager
Friihling, die Gestaltung einer Hochschulreform und nicht zuletzt die Auseinanderset-
zung mit dem Nationalsozialismus und der 1967 in den niedersachsischen Landtag ein-
gezogenen NPD werden von Berlit detailreich, jedoch stets iiberwiegend in der Sprache
der Zeit, wiedergegeben.
Wahrend mit den geschilderten Aktionen die Studentenbewegung in den bisher von
der Forschung betrachteten Zentren langsam an Fahrt verliert und sich ihr Ende abzu-
zeichnen beginnt, kann Berlit fur Hannover noch ein weiteres, umso faszinierenderes
Kapitel hinzufugen. Im Sommer des Jahres 1969 bietet iiberraschend die Ankiindigung
einer Fahrpreiserhohung im offentlichen Personennahverkehr durch das hannoversche
Unternehmen USTRA ein Ziel fur neue Demonstrationen und auch die Moglichkeit,
breite Gruppen der Bevolkerung zur Teilnahme am Protest zu bewegen. Ahnlich dem
vierten Kapitel gelingt der Autorin eine spannende Schilderung der „Rote-Punkt-Ak-
tion", in deren Rahmen nicht nur ein vollstandiger Boykott des Verkehrsunterneh-
mens durchgesetzt, sondern auch ein funktionierender Ersatzverkehr etabliert werden
konnte.
Trotzdem muss an diesem Punkt auch Kritik an Berlits Arbeit geauBert werden, da
nach einer kurzen Schilderung des Endes der Studentenbewegung der im achten Kapitel
der Arbeit gebotene „Ausblick" zu knapp ausgefallen ist. Hier hatte sich der Leser ein
klares und deutliches Fazit gewiinscht. Auch sollten viele der zuvor geschilderten Ereig-
nisse und wiedergegebenen Ansichten aus heutiger Perspektive nicht unkommentiert
stehen bleiben. Ganz offensichtlich liegt die Ursache fur dieses Versaumnis in einem
grundsatzlichen Problem der vorliegenden Arbeit. Die Autorin formuliert in ihrer Ein-
Geschichte einzelner Landesteile und Orte 565
leitung ein ambitioniertes Ziel: Das Thema ,,1968" solle das Feld der Erinnerungslitera-
tur verlassen und zum Gegenstand der historischen Forschung werden. Zur Umsetzung
dieses Ziels trifft Berlit allerdings eine zwar bemerkenswert groBe, jedoch leider einseiti-
ge Quellenauswahl. Die Quellenbasis ihrer Arbeit ist nahezu ausschlieBlich „linker"
Provenienz, was, verbunden mit den streckenweise zu hohen Zitatanteilen, beim Leser
mit fortschreitender Lektiire immer mehr den Wunsch wachsen lasst, auch einmal die
„andere Seite" zu horen. Riickgriffe auf Unterlagen der staatlichen und kommunalen In-
stanzen stehen deutlich zuriick.
Berlit lasst geschickt die Quellen sprechen und macht so das von ihr untersuchte Ka-
pitel deutscher Geschichte lebendig - verliert jedoch zu sehr die Distanz zu ihrem Unter-
suchungsgegenstand. So ubernimmt sie in Bereichen, in denen sie Quellen paraphra-
siert haufig das Vokabular der Zeit, was heute mitunter befremdlich wirkt (S. 73). Die
konsequente Verwendung der Abkiirzung „BRD", die bisweilen einseitige Darstellung
der Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten (S. 132) sowie unkriti-
sche Bildunterschriften (Abb. 14, S. 134) verstarken diesen Eindruck. Die hochinteres-
sante und vom QuellenfleiB lebende Arbeit verliert so unnotig etwas an Glaubwiirdig-
keit. Einen Vorwurf muss sich die Autorin jedoch keineswegs machen: Berlit bedauert
in ihrem Ausblick, den emotionalen Aspekt der Studentenbewegung, Leidenschaft und
Solidaritat nicht ausreichend wiedergegeben haben zu konnen. Gerade dies ist ihr sehr
gut gelungen.
Hannover DetlefBussE
Historisch-Landeskundliche Exkursionskarte von Niedersachsen. Blatt Hannover (Hannover
und Hannover-Nord). Hrsg. von Carl-Hans HAUPTMEYER,Jiirgen Rund und Gerhard
Streich. Bearb. von Manfred von Boettioher, Bettina Borgemeister, Dieter Bro-
sius, Carl-Hans Hauptmeyer, Dirk Neuber, Hans-Gunter Peters, Uwe Ohainski,
Jiirgen Rund, Karl Heinz Schneider und Gerhard Streich. Bielefeld: Verlag fur Re-
gionalgeschichte 2007. 320 S. Abb., Kt. = Veroff. des Instituts furHistorische Landes-
forschung der Universitat Gottingen Bd. 2, 16. Kart. 19,- €.
Erstmalig seit Beginn des Kartenwerkes sind mit „Blatt Hannover" zwei Blatter der TK
50, namlich die Blatter L 3524 Hannover-Nord und L 3724 Hannover, zusammengefasst
erschienen und mit nur e i n e m Erlauterungsheft versehen. Die Entscheidung fur dieses
sinnvolle Vorgehen ergab sich einerseits aus dem Blattschnittnetz derTK50 - eine Blatt-
grenze durchtrennt das engere stadthannoversche Baugebiet -, und andererseits er-
wuchs sie wohl auch aus dem Bestreben, mit der zunachst als Beitrag zum kulturhistori-
schen Begleitprogramm der EXPO 2000 vorgesehenen Bearbeitung die Stadt moglichst
vollstandig zu erfassen und wiederzugeben. Als besondere „Herausforderung" wurde
die bei bisherigen Blattern noch nicht vorgekommene Darstellung eines industriellen
GroBraumes angesehen unter betrachtlich naherem Heranriicken der Zeitgrenze der
Bearbeitung an die Gegenwart. Diese auch fur folgende Blatter grundsatzliche Frage
wird neben einigen Aspekten der Kartenerstellung im ferneren Teil der Rezension noch
einmal besonders aufzugreifen sein.
Allein schon die Fiille von 16 Themenabschnitten in diesem umfanglichsten allerbis-
lang erschienen Erlauterungshefte verbietet hier deren ins Einzelne gehende Wiirdi-
566 Besprechungen
gung und Besprechung. Verwiesen sei jedoch erneut auf die bei friiheren Rezensionen
wiederholt eingeforderte Riickbesinnung der Herausgeber auf die eigentliche Zweckbe-
stimmung von Erlduterungs-Hehen, namlich eine anzustrebende Konzentrierung auf
einschlagig wirklich notwendige und relevante Erganzungen zum Verstandnis des lan-
deskundlich-exkursionsmaBigen Karteninhalts (zuletzt in Nds. Jb. 74, 2002) . Denn diese
in der Karte niedergelegten Informationen stellen schlieBlich vorrangig den Zweck und
Nutzwert des Kartenwerks iiberhaupt dar! Dabei ist fur die vorliegende Bearbeitung an-
zuerkennen, dass sich die meisten Beitrager dieses Bandes durchweg um knappe kon-
zentrierte Beitrage bemiiht haben. Als in diesem Sinne vorbildlich mit bundigen, auf das
wesentlich Gebotene beschrankten Informationen iiber die jeweiligen Gegenstande sei-
en besonders hervorgehoben etwa die Beitrage zu den mittelalterlichen Wiistungen
(Ohainski), zu den Wehranlagen (Peters und Streich) sowie zu den Rittergutern und
Amtssitzen (von Boetticher). Weil ohne direkten Bezug zu konkreten Blattinhalten er-
scheinen - trotz ausdriicklich unbezweifelterinhaltlicher Qualitat an sich! - u.a. die eher
nur iiberblicklichen Abschnitte „Landliche Siedlungen und Fluren", „Haus- und Ge-
hoftformen", „Umweltgeschichte" in dieser Anlage eher weniger glucklich platziert. Es
sei dazu allerdings gefragt, ob z. B. nicht eine tabellarische Ubersicht aller landlichen
Siedlungen mit Angabe ihrer Ortsnamenfamilie sowie ihrer Ortsgrundrissform und
dem Hofstellenbestand anlasslich der Separation bei Benutzern eher willkommen gewe-
sen ware als z. B. eine mehrseitige Abhandlung iiber die regionale Siedlungsgeschichte
und neuzeitliche Sozialstruktur.
Die beiden Kartenblatter selbst erweisen sich sowohl hinsichtlich ihrer inhaltlichen
Disposition (Legende und Planzeichen) als auch der Ausgestaltung des vorliegenden
Kartenbildes als noch wesentlich verbesserungsfahig. So fehlen in der Legende nicht nur
auf den Blattern verwendete Planzeichen (so etwa fur „Gerichtsstatte"). Nach dem be-
wahrten Grundsatz, dass thematische Karten aus sich heraus vollstandig verstandlich zu
sein haben, ist zu fragen nach der Legende deutlich zu entnehmenden qualitativen und
quantitativen Entscheidungskriterien etwa fur so gewahlte graduell unterschiedliche
Gestaltung von Planzeichen, z. B. verschiedene Strichstarken bei AltstraBen oder Gro-
Benwiedergabe der Zeichen fur Industriestandorte. Logischerweise sollte auch nicht et-
wa die Signatur fur „Jiidischer Friedhof" mit exakt demselben Rahmen versehen wer-
den, wie er gruppenkennzeichnend fur die Industriebedriebe erscheint usw. GroBenwie-
dergabe der Planzeichen und reale Bedeutung der gemeinten Gegenstande in der
Landschaft sollten auch untereinander sachgerecht ausgewogen sein: Durch die im Ver-
gleich zu den gewiss bedeutsameren mittelalterlichen Ortswiistungen hier iibergroB
wiedergegebenen zahlreichen Platze von voriibergehenden „Eisenverhiittungen" auf
dem Nordblatt werden die ersteren geradezu von den letzteren erdruckt. Da begriiBens-
werterweise ein Nebenkartchen fur Verwaltungs- u. a. Grenzen beigegeben wurde,
konnte auf die zusatzliche (hier geradezu aufdringliche) enge flachige Schraffierung
strittiger Gebiete auf dem Hauptblatt selbst ganzlich verzichtet werden. SchlieBlich sei
unbedingt mehr Sensibilitat in der Blattgestaltung angemahnt. Es sollte nicht vorkom-
men, dass farbige Uberdruckungen aber auch gar nicht lesbar sind (mehrfach auf beiden
Blattern in den Baugebieten von Langenhagen und Hannover!).
Wieweit das Einbringen von zahllosen Industrieplatzen (s. Hannover und Linden)
iiberhaupt noch sinnvoll ist, wenn infolgedessen mit der hohen Verdichtung von deren
Zeichen auf dem Blatt die eigentliche Topographie optisch nahezu verloren geht, bedarf
kaum einer Frage und leitet iiber zu deren Nutzen und Wert fur das Kartenwerk iiber-
Geschichte einzelner Landesteile und Orte 567
haupt. Das betrifft nicht nur die historische Standortentwicklung der Industriestatten an
sich, sondern auch die iiberkommenen Denkmaler.
Fur den Benutzer bzw. den interessierten Besucher solcher groBstadtischer Industrie-
gebiete nimmt der Zugewinn an nutzbarer Information hinsichtlich einzelner Fabrik-
standorte etc. durch das vorliegende Kartenbild kaum zu. Uberdecken die Planzeichen
bei diesem KartenmaBstab die Topographie doch so erheblich, dass ein beabsichtigtes
Auffinden einzelner Objekte schon allein dadurch fast unmoglich wird und allenfalls
der schlichte visuelle Allgemeineindruck einer ortlichen Haufung von Industriebetrie-
ben iibrigbleibt. Der eigentliche Zweck der Exkursionskarte wird damit in Frage gestellt.
SchlieBlich steht mit der Reihe „Baudenkmale in Niedersachsen" fiir Stadt und Region
Hannover (Bde. 10.1, 1983; 10.2 1985; 13.1, 1988; 13.2, 2005) ersatzweise eine vorziigli-
che Denkmaltopographie zur Verfugung, welche auch Industriedenkmaler im Einzel-
nen beriicksichtigt und diesbeziiglich auch den Anspriichen an eine Exkursionskarte
vollauf gerecht werden kann. Hinsichtlich der textlichen Behandlung auch nur der
Grundziige dieser zumeist sehr komplexen und umfanglichen Materie einer regionalen
oder auch nur lokalen Industrie- bzw. Standortgeschichte erscheinen die notwendiger-
weise engbemessenen Verhaltnisse eines Erlauterungsbandes dariiberhinaus zumalbei
groBeren Industrieorten weit iiberfordert. Da hier dann allenfalls nur Stiickwerk mog-
lich sein kann, sollte - auBer bei wohlbegriindeten (seltenen) Ausnahmen, vielleicht im
Falle von kleineren Stadten o. a. - kiinftig von einer Einbeziehung der Industriege-
schichte und ihrer Denkmaler Abstand genommen werden. Als Zeitschranke fiir die Be-
arbeitung der Exkursionskarte und ihrer Erlauterungsbande sollte weiterhin der Zeit-
raum 1850 gelten!
Braunschweig Wolfgang Meibeyer
Hager, Hartmut: Kriegstotengedenken in Hildesheim. Geschichte, Funktionen und Formen.
Mit einem Katalog der Denkmaler fiir Kriegstote des 19. und 20. Jahrhunderts. Hil-
desheim: Gerstenberg 2006. 520 S. Abb. = Quellen und Dokumentationen zur Stadt-
geschichte Hildesheims Bd. 17. Geb. 29,80 €.
Das hier vorzustellende Buch (zugleich eine Dissertation von 2005) kommt in gewisser
Hinsicht etwas spat, denn die groBe Zeit der Studien fiber Denkmaler ist seit einigen Jah-
ren vorbei. Dennoch handelt es sich um ein wertvolles Buch, wenngleich eher aus einer
lokalen Perspektive, da es im Kern eine genaue Darstellung und Analyse der Hildeshei-
mer Kriegerdenkmaler darstellt. Das Buch besteht aus zwei Teilen, einem ersten, der der
„Geschichte, Funktionen und Formen" gewidmet ist, und einem zweiten Teil, der einen
„Katalog der Denkmaler fiir Kriegstote des 19. und 20. Jahrhunderts" enthalt.
Hier, im zweiten Teil, werden 161 Denkmaler aus dem 19. und 20. Jahrhundert syste-
matisch vorgestellt, beginnend mit einer detaillierten Tabelle, die die Namen der Denk-
maler, deren Alter und weitere Daten (etwa ob es sich um Stiftungen handelt) enthalt.
Leider fehlt eine Karte mit den Standorten. Die Denkmaler werden, beginnend mit sol-
chen der „Stadtmitte" systematisch vorgestellt. Als erstes wird der Standort erwahnt,
dann folgt eine nach dem Quellenstand mehr oder weniger ausfiihrliche Beschreibung
des Objekts, die etwa die Inschriften einschlieBlich der Namen der Toten mit auffiihrt.
Es folgt eine teilweise sehr ausfiihrliche Dokumentation, die den Auftraggeber, den Her-
568 Besprechungen
steller, die Entstehungszeit oder die Einweihung ebenso enthalt wie eine „Deutung" und
eine Objektgeschichte. Weiterfiihrende Hinweise schlieBen die jeweilige Objektbe-
schreibung ab. DerUmfang dieserDarstellungen kann von einerbis zu mehreren Seiten
reichen und ist jeweils mit Abbildungen versehen, leider aber ohne Lageplane. Zuweilen
fehlen Querverweise wie im Falle des Infanterieregiments 79, das sowohl fur die Toten
des Krieges 1870/71 (S. 209-212) als auch fur die des Ersten Weltkriegs (S. 309-312)
Denkmaler aufzuweisen hat. Gleichwohl liegt hier eine auBerordentlich verdienstvolle
Arbeit vor.
Die Starke des Autors und damit auch des gesamten Werks besteht in der kompilatori-
schen Zusammenfassung, nicht so sehr in der systematischen Darstellung. Was im Kata-
logteil noch fur Uberschaubarkeit sorgte, verwirrt eher im ersten Teil der Darstellung.
Hier werden „Geschichte, Funktionen und Formen" auf knapp 120 Seiten vorgestellt,
wobei dieser Teil aus einer Einfuhrung sowie aus Kapiteln zur Bezeichnung der Denk-
maler, den „Motive(n) und Funktionen des Kriegstotengedenkens" und zu „Formen und
Orte" besteht. Die drei Hauptkapitel dieses Teil sind wiederum in viele Unterkapitel
unterteilt. Hager zerlegt systematisch die einzelnen Aspekte in ihre jeweiligen Bestand-
teile, schon in fast enzyklopadischer Form. Besonders deutlich wird dieser Ansatz im
Kapitel 4.1, „Formen des Kriegstotengedenkens". Auf nahezu 40 Seiten findet der Leser
29 alphabetisch sortierte Eintrage von „Anzeigen" iiber „Gedenkfeiern" bis hin zu
„Windbretter" (die sich seit 1994 am Knochenhauer-Amtshaus befinden).
Bei dieser ganzen Vielfalt, die sich auch innerhalb der Artikel wiederholt, geht der kri-
tische Ansatz dieser Studie beinahe unter, bzw. findet sich, wenig systematisch, in nahe-
zu jedem Artikel. Denn die Erinnerung und das offentliche Gedenken blendeten nicht
nur den Tot und das Sterben praktisch aus („Tote" gibt es offenbar nur in Ausnahmen auf
den Denkmalern, wohl aber „Gefallene"), sondern es instrumentalisierte in nahezu
schamloser Weise das individuelle Sterben von Soldaten (denn derer wird fast aus-
schlieBlich gedacht) fur eine Politik, die vergangener und verlorener GroBe nachtrauert
und - zwischen 1920 und 1936 - auf den nachsten Krieg sich vorbereitet. Erst nach 1945
setzte ein Gedenken ein, das nicht mehr im Sinne des nachsten Krieges an den Krieg
und dessen Tote erinnerte, sondern auch andere Opfer oder etwa Manner und Frauen
des Widerstandes in das Gedenken einbezog. Es ist insofern bedauerlich, dass die eher
eine Sammelarbeit prasentierende Darstellung auf ein zusammenfassendes, chronologi-
sches Kapitel verzichtet, das systematisch zentrale Aspekte, Entwicklungslinien und
-briiche heraus arbeitet. Der Autor verfiigt sowohl iiber das Wissen als auch iiber die
analytischen Voraussetzungen dafiir. So bleibt es bei einem wertvollen und verdienstrei-
chen Nachschlagewerk zu begriffsgeschichtlichen Fragen im Kontext des Kriegstoten-
gedenkens und zu den Hildesheimer Denkmalern.
Hannover Karl H. Schneider
Geschichte der Stadt Meppen. Hrsg. von der Stadt Meppen. Meppen: Stadt Meppen 2006.
600 S. Abb. Kt. Geb. 39,80 €.
Mit dieser „Geschichte der Stadt Meppen" legen Herausgeber und Autoren eine respek-
table Stadtgeschichte der emslandischen Kreisstadt vor, die auf fast 600 Seiten eine gute
und umfassende Gesamtdarstellung bietet. Dies ist keine Selbstverstandlichkeit. Her-
Geschichte einzelner Landesteile und Orte 569
ausgeberwechsel und der spate Absprung von Autoren waren nicht eingeplante Schwie-
rigkeiten, an der das langjahrige Unternehmen einer Stadtgeschichte Meppens auch hat-
te scheitern konnen. Deshalb sei den verbliebenen siebzehn Autoren und besonders der
zusatzlich mit der Koordination und Endredaktion beauftragten Regina Holzapfel aus-
driicklich fur den Einsatz und die guten Beitrage gedankt. Jedoch sind auch einige kriti-
sche Anmerkungen nicht zu vermeiden.
Chronologisch gegliedert werden sieben Zeitabschnitte der Stadtgeschichte meist in
mehreren Beitragen verschiedener Autoren beleuchtet. Die stadtische Vorgeschichte
„Auf dem Weg zur Stadt: Meppen bis zum spaten Mittelalter" bildet den ersten Zeitab-
schnitt. Hier stellt Andrea Kaltofen „Die archaologische Vergangenheit Meppens und
seiner Umgebung" von den altesten Funden der Alt- und Mittelsteinzeit bis hin zu den
Untersuchungen der mittelalterlichen bis fruhneuzeitlichen Brunnen der Innenstadt
oder Beobachtungen zu einigen Burgen und Graftenhofen vor. Wolfgang Bockhorst be-
arbeitet, ausgehend von der Ersterwahnung in einem Diplom Ludwigs d. Frommen von
834, die mittelalterlichen Belege fur den Corveyer Haupthof Meppen. Die Entwicklung
vom Markt- und Zentralort des Klosters Corvey zum Miinsterischen Marktort, dem so-
zusagen „kumulativ" durch mehrere fiirstbischofliche Privilegien in der zweiten Halfte
des 14. Jahrhunderts das Stadtrecht verliehen wurde, beschreibt Karsten Igel. Im 15. und
16. Jahrhundert, dem zweiten Zeitabschnitt der Stadtgeschichte, konnte die Stadt Mep-
pen ihre Selbststandigkeit und Selbstverwaltung erheblich ausbauen. Dies schildert Jo-
hannes Ludwig Schipmann in seinem stadtgeschichtlichen Beitrag „Zwischen Selbst-
standigkeit und Unterwerfung: Die politische und wirtschaftliche Entwicklung der Stadt
von 1400 bis 1612". Erganzend dazu beleuchtet Tim Unger die Kirchengeschichte vom
1461 begonnenen Bau dergotischen Hallenkirche bis zurZeit derlutherischen Reforma-
tion, die zu weitgehend protestantischen Verhaltnissen in der fiirstbischoflich Miinsteri-
schen Stadt Meppen fiihrte.
Zeitabschnitt 3 „Meppen bis zum Ausgang der Friihen Neuzeit" beginnt mit dem kon-
fessionshistorischen Beitrag iiber „Meppen in Gegenreformation und 30-jahrigem Krieg
(1613-1650)" von Tim Unger, auf den der profan-stadtgeschichtliche Beitrag „Vom West-
falischen Frieden bis zum Reichsdeputationshauptschluss: Die fiirstbischofliche Land-
und Festungsstadt Meppen 1648-1803" von Christian Hoffmann folgt. Entsprechend
ihrer Bedeutung gelten den Jesuiten in Meppen die beiden Aufsatze „,Gott geneigter
stimmen'. 160 Jahre Jesuiten in Meppen" von Wolfgang Seegriin und iiber das „Jesuiten-
theater in Meppen" von Wolfgang Germing. Ebenso wird die mittelalterliche Bau- und
Kunstgeschichte Meppens in einem ausfiihrlichen Beitrag von Reinhard Karrenbrock
vorgestellt. Der Stuckdecke der Gymnasialkirche gilt ein interpretierender Aufsatz von
Michael Hermann.
Zeitabschnitt 4 „Meppen im 19. Jahrhundert (1803-1918)" wird in drei allgemeinen
und zwei speziellen Beitragen dargestellt: die „Franzosenzeit" von Peter Veddeler, die
Stadt im Konigreich Hannover (1815-1866) von Michael Schmidt und „Meppen im Deut-
schen Kaiserreich (1866-1918) und im Ersten Weltkrieg" von Andrea Taeger. Der Props-
teigemeinde Meppen St. Vitus von der Sakularisation bis zur Machtergreifung der
Nationalsozialisten gilt ein besonderer Beitrag von Helmut Jager, der Zentralfunktion
Meppens als Schulort widmet sich Wolfgang Germing.
Der fiinfte Zeitabschnitt wird in dem iiber 70 Seiten umfassenden Beitrag „Meppen in
Demokratie und Diktatur (1918-1945)" von Karl-Ludwig Sommer behandelt. Hinter der
etwas zu pauschal zusammenfassenden Uberschrift verbergen sich die Kapitel „Politi-
570 Besprechungen
sche Entwicklungen nach dem Ende des Ersten Weltkrieges bis zur nationalsozialisti-
schen Machtiibernahme", „Machtiibernahme und nationalsozialistische Herrschaft",
„Meppens Wirtschaft am Ende des Ersten bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs" sowie
das etwas ungewohnliche benannte Thema „Alltagliches, AuBergewohnliches und be-
ginnende gesellschaftliche Modernisierung wahrend der Weimarer Republik" und als
letztes Kapitel „Nationalsozialistischer Alltag in einer katholischen Kleinstadt". Insge-
samt wird die Entwicklung Meppens in der Weimarer Zeit und wahrend der NS-Herr-
schaft damit angemessen und ausfuhrlich behandelt. Einige Interpretationen und Wer-
tungen iiber Kontinuitaten im Alltag oder iiber das Verhaltnis zwischen katholischer
Kirche bzw. Bevolkerung und den Nationalsozialisten erscheinen dem Rezensenten
sehr diskussionswiirdig - dem Autor kann unterstellt werden, genau dies beabsichtigt zu
haben.
„Meppen in der zweiten Halfte des 20. Jahrhunderts" bildet den sechsten Zeitab-
schnitt mit den beiden Aufsatzen „Meppen in der Nachkriegszeit (1945-1950)" von An-
nette Wilberts-Noetzel und „Meppen auf dem Weg zum Mittelzentrum - zur Entwick-
lung der Stadt zwischen 1950 und 1980" von Regina Holzapfel. Beide Autorinnen liefern
gut recherchierte und informative Beitrage zur Zeitgeschichte Meppens. Misslich ist
nach Meinung des Rezensenten aber, dass insgesamt die Stadtentwicklung seit 1946 bis
heute viel zu kurz kommt. Auch das nachgeschoben wirkende siebte Kapitel „Meppen -
das moderne Mittelzentrum im Emsland" von Michael Hermann bietet hierfiir keinen
Ersatz. Der entscheidende Aufschwung Meppens vom Beginn des „Emslandplans" bis
heute hatte eine umfassend recherchierte und gut strukturierte Darstellung verdient -
hier wirken sich die eingangs erwahnten Probleme des Gesamtprojekts und vielleicht
auch das Fehlen eines vor Ort arbeitenden Stadtarchivs negativ aus.
Im Anhang bietet die Stadtgeschichte einen eigenen Beitrag iiber Siegel, Wappen und
Banner der Stadt Meppen von Peter Veddeler, Tabellen der Burgermeister, Stadtdirekto-
ren, Ortsvorsteher und Ehrenbtirger sowie ein ausfuhrliches Quellen- und Literaturver-
zeichnis und einen Index der Orts- und Personennamen. Trotz der kritischen Anmer-
kungen handelt es sich um eine gut geschriebene, angenehm zu lesende und anspre-
chend gestaltete Gesamtdarstellung, die in kompakter Form umfassende Informationen
iiber Geschichte Meppens von den friihesten Siedlungsspuren bis in die heutige Zeit ver-
mittelt. So manche vergleichbare Mittelstadt wird Meppen um seine Darstellung der
Stadtgeschichte beneiden.
Rheine Thomas Giessmann
Czichelski, Martin: Die Griindung der Stadt Miinden unter dem Einfluss der Welfen. Eine
interdisziplinare Betrachtung der wissenschaftlichen Forschung. Hann. Miinden:
Heimat- und Geschichtsverein Sydekum 2002. XII, 356 S. Abb., graph. Darst., Kt. =
Sydekum-Schriften zur Geschichte der Stadt Miinden Bd. 33. Geb. 22,60 €.
Czichelski, Martin: Gemunde im friihen und hohen Mittelalter. Hann. Miinden: Heimat-
und Geschichtsverein Sydekum 2006. VIII, 467 S. Abb. Kt. = Sydekum-Schriften zur
Geschichte der Stadt Miinden Bd. 36. Geb. 29,50 €.
Im Jahre 2008 begeht die Stadt Hann. Miinden, gelegen an der Miindung der Fulda in
die Werra/ Weser, das 825. Jubilaum ihrer ersten Erwahnung in der schriftlichen Uber-
Geschichte einzelner Landesteile und Orte 571
lieferung. Derm als im Jahre 1183 Landgraf Ludwig III. von Thiiringen das Kloster Lip-
poldsberg an der Oberweser in seinen Schutz nahm, wurde die Urkunde des Landgrafen
am 15. August in Gemunden ausgefertigt, und der dortige Pfarrer gehorte zu den Zeugen.
In zwei weiteren, undatierten Urkunden desselben Landgrafen, die jedenfalls in den
achtzigerjahren des 12. Jahrhunderts ausgestellt wurden, erscheint neben anderen Stad-
ten auch Miinden ausdriicklich als Stadt (civitas) und wird hier ein landgraflicher Schult-
heiB (villicus) als der ortliche Vertreter des Stadtherrn genannt. Damit steht fest, dass
Miinden 1183 eine sozusagen fertige Stadt mit SchultheiBen und eigenem Pfarrer war.
Dass die Stadt planmaBig gleichsam in einem Zuge angelegt wurde, ergibt sich zwei-
felsfrei aus ihrem einheitlichen, ungewohnlich systematischen Grundriss und ist seit lan-
gem unbestritten; dem entsprechend erwahnt eine Urkunde Herzog Ottos I. von Braun-
schweig von 1247 ausdriicklich ihre Grundung (a prima fundatione) . Da iiber die Griin-
dung Miindens aber keinerlei Nachrichten vorliegen, hat sich die Forschung seit langem
bemiiht zu ermitteln, wer diese Stadt an der Miindung der Fulda in die Werra/ Weser an-
gelegt haben konnte. In Frage kommen dafiir nur der Landgraf von Thiiringen und Her-
zog Heinrich der Lowe von Sachsen, wobei iiber den Zeitraum, in dem die Grundung an-
zunehmen ist, weitgehend Einigkeit besteht: etwa zwischen der Mitte des 12. Jahrhun-
derts bis vor 1180. Der Rezensent hat sich vor nunmehr 35 Jahren, wie es scheint, als
letzter eingehend mit diesen Fragen beschaftigt und sich fur den Landgrafen von Thii-
ringen als den sehr wahrscheinlichen Griinder von Miinden ausgesprochen (Die Grun-
dung der Stadt Miinden, in: Hess.Jb. fur Landesgeschichte 23, 1973, S. 141-230; kiinftig:
Hr., Miinden. Vgl. auch: Konigshofe und Konigsgut im Raum Kassel, Veroff. des Max-
Planck-Inst. fur Gesch. 33, 1971; kiinftig: Hr., Konigshofe). Diesem Ergebnis hat sich die
Forschung in der Folgezeit weithin angeschlossen.
Nun aber hat Verf. es sich zur - nicht zu beanstandenden - Aufgabe gemacht, erneut
den Griinder der Stadt Miinden zu ermitteln. Dem gilt seine Arbeit von 2002 (kiinftig:
„Grundung"), wahrend die zweite von 2006 (kiinftig: „Gemunde") auf dieser Grundlage
gleichsam als Fortsetzung die Geschichte Miindens im friihen und hohen Mittelalter
zum Thema hat. Zwar sagt er in der Einfiihrung zur „Griindung", es gehe nicht darum,
„der Erreichung einer erwarteten Antwort zu folgen, sondern bei aller Zielorientiertheit
die Ergebnisoffenheit als wesentliche Grundlage beizubehalten" (S. XI); aber das Ziel
wird schon im Titel des Buches angedeutet und bei fortschreitender Lektiire recht bald
klar - im Einklang mit der in Miinden seit Jahrhunderten gepflegten Welfentradition
kann allein Heinrich der Lowe die Stadt gegriindet haben. Dabei setzt Verf. sich auf wei-
te Strecken - oft auch unausgesprochen - mit den einschlagigen Arbeiten des Rezensen-
ten auseinander. Gleichwohl sind, dies sei ausdriicklich vorangestellt, die vorliegenden
Arbeiten sine ira et studio zu wiirdigen.
Letztlich geht es Verf., wie gesagt, um den Nachweis, Heinrich der Lowe habe die
Stadt Miinden gegriindet. Um dieses Ziel zu erreichen, sucht er gleichsam eine Linie aus
dem friihen Mittelalter bis zu Heinrich dem Lowen zu Ziehen. Deshalb sieht er in der Alt-
stadt wie in der Umgebung an Werra und Fulda altes sachsisches Siedlungsgebiet; noch
bis etwa zur Mitte des 11. Jahrhunderts, als Kaiser Heinrich III. 1049 den Konigshof
Miinden besuchte, sei der Kaufunger Wald Reichsforst gewesen; danach habe entweder
Konig Heinrich IV den Reichsbesitz Miinden Otto von Northeim iiberlassen oder die-
ser habe ihn einfach in Besitz genommen. Jedenfalls habe Miinden mit dem Kaufunger
Wald seit der zweiten Halfte des 11. Jahrhunderts den Northeimern gehort, sei nach ih-
rem Aussterben 1144 auf dem Erbwege an den Grafen von Winzenburg und aus dessen
572 Besprechungen
Erbmasse 1152 an Heinrich den Lowen gelangt. Dieser habe sodann die Stadt Miinden
gegriindet, und erst nach seinem Sturz im Jahre 1180 sei sie mit dem siidlich anschlie-
Benden Kaufunger Wald an die Ludowinger gefallen. Urn diese Hypothesenkette, die
sich dem Leser freilich erst allmahlich erschlieBt, zu stiitzen, nimmt breiten Raum das
immer wiederkehrende Bemiihen um den Nachweis ein, die Ludowinger hatten vor 1180
den Kaufunger Wald nicht als Reichslehen besessen, keine Moglichkeit gehabt und auch
zu keinem Zeitpunkt versucht, in Miinden oder im Kaufunger Wald tatig zu werden. Die
Frage ist also, ob es Verf. gelingt, seine Hypothesen zu erharten und zugleich die gegen-
teilige Ansicht zu widerlegen.
Das erste Werk, die „Griindung", ist in insgesamt neun Kapitel (A-I) gegliedert; es fol-
gen ein Nachwort des Verf. (J) und ein Anhang (K) mit Ubersichten, Literatur- und
Quellenverzeichnissen. Im Kapitel „A Allgemeine Siedlungsgeschichte" wird zunachst
der „Geschichtliche Hindergrund" erortert (S. 1-9). Freilich geht es hier, anders als der
Titel vermuten lasst, nicht um Geschichte, sondern um einzelne Arbeitszweige und -b-
ereiche, wie „Siedlungsgeographie", „Urkundennachweise", „Archaologie", „Wik-Orte
und Miinzpragung", „Flurnamen" oder „Christianisierung und kirchliche Bauten", die
sehr allgemein vorgefiihrt werden; der zweite Abschnitt (S. 10-15) entha.lt Allgemeines
zum Stadtewesen. Mit dem Kapitel „Siedlungsanfange und Stadtwerdung" (B, S. 17-71)
beginnt die eigentliche Behandlung des Themas. Hier werden „Betrachtungen aus hessi-
scher Sicht", dann „aus thiiringischer" und „aus sachsisch/welfischer Sicht" angestellt,
um das historische Umfeld Miindens im 12. und friihen 13. Jahrhundert zu beleuchten;
dabei wird wiederholt weit ausgegriffen. Es folgen Kapitel zum „Kaufunger Wald" (C,
S. 72-85), „Besondere Stadte und ihre Entwicklungen in Bezugauf Heinrich den Lowen"
(D, S. 86-102), „Heinrich der Lowe, biographische Ausziige" (E, S. 103-141), „Friihe Sied-
lungsansatze im Flussdelta" (F, S. 142-166), zur „Entstehung der Stadt Miinden" (G,
S. 167-256), zur „Urkunde des Herzogs Otto Puer von 1247" (H, S. 258-291) und eine
30 Seiten lange „Zusammenfassung" (I, S. 292-322).
Die Gliederung nach sachlichen Themen ist zu begriiBen, doch sind diese merkwiir-
dig unausgewogen und eigentlich kaum in dieser Weise hintereinander zu stellen; ganz-
lich heraus fallt die Biographie Heinrichs des Lowen, in der Vieles gesagt wird, das nicht
im geringsten mit Miinden in Verbindung steht, wie beispielsweise die „Konigsgedan-
ken Heinrichs des Lowen" (S. 104-113). Auch mangelt es den einzelnen Kapiteln und
Unterabschnitten an innerer Straffheit, vielmehr schreitet die Darstellung haufig gleich-
sam assoziativ weiter. Infolgedessen tauchen viele Einzelaspekte mehrfach an den unter-
schiedlichsten Stellen auf, wo sie nach den Kapiteliiberschriften nicht zu erwarten sind.
Dieser Umstand und das Fehlen eines Index erschweren die Benutzung der „Griindung".
Die vier Jahre jiingere Arbeit „Gemunde" ist zwar konzentrierter verfasst, aber in der
Abfolge ihrer insgesamt 22 unbezifferten Abschnitte ist ebenfalls keine systematische
Gliederung zu erkennen: Die ersten acht Abschnitte behandeln der Stadt benachbarte
Ortschaften wie „Altmiinden", „Ratten" usw. (S. 1-127). Sodann werden „Der Werra-
ubergang bei Miinden" (S. 128-157), „DerReinhardswald" (S. 158-174), „Die Entstehung
des Ortes Landwehrhagen" (S. 175-197) und „Burg und Siedlung Sichelnstein sowie das
Geschlecht der Bardonen" (S. 198-212) bearbeitet und die Frage: „Was hat das Kloster
Fulda mit Miinden zu tun?" erortert (S. 213-218). Es folgen „Die friihe Entwicklung
Nordhessens bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts" (S. 219-224), „Die Grafschaft des Gra-
fen Dodico" (S. 225-248), ein Abschnitt zu „Pagus - Gau / Komitat - Grafschaft" (S. 249-
Geschichte einzelner Landesteile und Orte 573
285) und ein weiterer „Aus der Arbeit von Reinhard Wenskus" (S. 286-297) . Sodann wer-
den behandelt: „Der Reichstag von Gelnhausen und seinen Auswirkungen auf Sachsen
und die sachsische Pfalzgrafschaft" - 1180 - (S. 298-320) sowie ,,Die Urkunde Kaiser
Heinrichs III. aus demjahr 1049", die in Miinden ausgestellt wurde (S. 321-375). Nach
weiteren Abschnitten iiber „K6nige in Miinden" (S. 376-386) und iiber „G6ttingen - eine
Vergleichsbasis fur Miinden" (S. 387-403) folgt schlieBlich „Miinden als Stadt zwischen
1183 und 1247" (S. 404-410). Obwohl Verf. die „Vernetzung von Einzelergebnissen zu ei-
nem Gesamtbild" ankiindigt (S. VIII), fehlt im Gegensatz zur „Griindung" in „Gemun-
de" eine Zusammenfassung, so dass die disparaten Einzelabschnitte nicht zu einem Ge-
samtbild zusammengefuhrt werden. Vielmehr handelt es sich um eine Sammlung mehr
oder weniger selbststandiger Artikel, die sich um das Generalthema der Griindung Miin-
dens gruppieren. Sie wiederholen weithin schon in der „Griindung" Behandeltes, vertie-
fen es auch und fiihren es weiter. Auch hier folgt ein Anhang (S. 411-467), diesmal mit
Zeittafeln fur das Kloster Kaufungen, fur Hessen sowie fur Miinden und Umgebung, in
denen viele Ausfiihrungen des Textes zusammengefasst wiederholt werden, sowie mit
Literaturverzeichnis, Worterklarungen und nun einem fur die Benutzung hilfreichen
„Stichwortverzeichnis".
Bei der „Griindung" handelt es sich, wie Verf. selbst feststellt, um „keine originate
Forschungsarbeit"; sie ist „nicht mit dem Attribut der Wissenschaftlichkeit zu versehen"
(S. XI) .Dies ist nachdriicklich zu unterstreichen und gilt in gleicher Weise fur „Gemun-
de", kann der Verf. doch offenkundig keine eigenen Forschungen im Wortsinne beisteu-
ern, auch wenn er bei „Gemunde", bezogen auf die ersten Abschnitte, meint, seine „er-
zielten Ergebnisse" seien „in weiten Teilen als neue bzw. erweiterte Erkenntnisse zu wer-
ten" (S. VII). Dies mag allenfalls fiir den Abschnitt iiber den Werraiibergang mit Furt
und Briicke („Gemunde" S. 128-157) zutreffen, doch ist auch hier nicht erkennbar, inwie-
weit die Ausfiihrungen auf der sparsam zitierten Literatur beruhen oder inwieweit sie ei-
gene Folgerungen des Verf. sind. Vielleicht abgesehen von diesem Abschnitt, handelt es
sich vielmehr bei beiden Arbeiten nahezu ausschlieBlich um die Wiedergabe von For-
schungsliteratur, vielfach in langen wortlichen Zitaten. Da die Anmerkungsapparate, zu-
mal in der „Griindung", auBerordentlich knapp gehalten sind, bemerkt oft nur ein Leser,
der die einschlagige Literatur kennt, welche Arbeiten die langatmigen Ausfiihrungen ge-
rade wiedergeben. Diese Wiedergabe reicht iiber z.T. recht enge sprachliche Anlehnung
an die Vorlage bis hin zu ihrer wortlichen, doch nicht als solche gekennzeichneten Uber-
nahme - z.B. stammt „Gemunde" S. 35 der letzte Satz bis S. 36 oben wortlich von E.
Krug (Zs. des Vereins fiir hess. Gesch. u. Landeskunde 62 NF52, 1940, S. 308); der Hin-
weis auf den Autor am Ende des vorausgehenden Absatzes geniigt nicht, da er sich nicht
auf den folgenden Absatz bezieht, noch dazu, wenn wie in diesem Falle am Ende des Ab-
satzes mit der wortlichen Ubernahme nur noch ein Urkundennachweis folgt.
Oft ist nicht zu erkennen, nach welchen Gesichtspunkten ein Autor als Vorlage ausge-
sucht wurde, zumal wenn es sich um altere Arbeiten handelt, die inzwischen durch neue-
re, aber nicht genannte Forschungen weitergefiihrt oder iiberholt sind. Ein Beispiel von
vielen: Zum Kaufunger Wald als Reichsgut und Konigsforst („Griindung" S. 79ff.) wird
zwar ausfuhrlich K. A. Eckhardt (Einleitung zu: Quellen zur Rechtsgeschichte der Stadt
Witzenhausen, Veroff. der Hist. Komm. fiir Hessen und Waldeck 13,4, 1954) zitiert, nicht
aber die einschlagigen Arbeiten von K. A. Kroeschell (Hessen und der Kaufungerwald
im Hochmittelalter, Diss. jur. Gottingen 1953) oder des Rezensenten (Hr., Konigshofe),
574 Besprechungen
die zu teilweise ganz anderen Ergebnissen kommen, welche freilich nicht in das Konzept
des Verf. passen. Auch wird die zugrunde liegende Literatur keineswegs immer zutref-
fend wiedergegeben, wie folgendes Beispiel zeigt: „Hartmut Boockmann spricht sich
nicht fur einen bestimmten Landesherrn als Griinder aus", meint Verf. („Gemunde"
S. 405); in dem Druck seines Festvortrags zum Stadtjubilaum 1983, auf den Verf. sich da-
fur bezieht, sagt Boockmann jedoch unmissverstandlich: „Wer der erste Stadtherr gewe-
sen ist, das laBt sich mit GewiBheit nicht sagen, doch spricht fast alles dafiir, daB es der
Landgraf Ludwig III. von Thiiringen und Hessen war." (Miindener Vortrage zur 800-
Jahrfeier der Stadt, Sydekum-Schriften 12, 1984, S. 24, nicht 23).
Verf. stiitzt sich auch auf langst iiberholte, fur das friihe und hohe Mittelalter nicht
mehr zitierfahige Arbeiten - wie Christoph Rommels Geschichte von Hessen von 1820
- bis hin zu Sagenhaftem. Vor allem grundet er seine oben erwahnte, fur sein Ziel wichti-
ge Hypothesenkette von Otto von Northeim bis Heinrich den Lowen auf einen schon
von der alteren Forschung bisweilen angefiihrten Bericht iiber die Wiederherstellung ei-
ner noch alteren Burg in Miinden durch Otto von Northeim im Jahre 1070 und die Zer-
storung Miindens durch Konig Heinrich IV. auf seinem Zug von der Burg Hanstein an
der Werra zum Desenberg bei Warburg („Griindung" z.B. S. 59ff., 170f., 215; „Gemun-
de" z.B. S. 279, 427f.); er fiigt noch, im Hinblick auf sein Ziel, die „Anmerkung" hinzu
(„Gemunde" S. 428): „Wenn Miinden nicht northeimisch gewesen ware, sondern den
Ludowingern unterstanden hatte, hatte der Kaiser die von ihm personlich gefiihrten
Truppen Miinden auch nicht verwiisten lassen". Abgesehen von der anachronistischen
Anmerkung- um 1070 hatten die Ludowingergerade begonnen,ihre Herrschaft in Thii-
ringen aufzubauen, nach Hessen kamen sie erst 50-60 Jahre spater -, entbehrt der Be-
richt jeder seriosen Grundlage. Es handelt sich, wie die Forschung langst erkannt hat,
um eine sagenhafte Erzahlung, die wohl als erster der auch sonst nicht eben zuverlassige
Miindener Kaplan Johannes Letznerim 16.Jahrhundert aufgebrachthat; in den Quellen
zum 11. Jahrhundert findet sich nicht der geringste Hinweis dafiir. Somit kann von ei-
nem Besitz Ottos von Northeim in Miinden, den Verf. in seinen Darlegungen ebenso
wie die Zerstorung Miindens durch Heinrich IV immer wieder als zweifelsfrei belegte
Tatsache anfiihrt, nach wie vor keine Rede sein.
Ein Hauptargument fur die Annahme der Grundung der Stadt durch die Ludowinger
sieht Verf. zu Recht in der - von ihm bestrittenen - Lage der Stadt auf dem Boden des
Reichsforstes Kaufunger Wald, schon vor 1180 als Reichslehen in der Hand der Land-
grafen von Thiiringen und Grafen von Hessen, und in der noch 1247 bekannten Eigen-
schaft Miindens als Reichslehen („Griindung" S. 83 ff.) . Da er hier wie auch sonst weithin
die Angaben der Literatur nicht an den Quellen iiberpruft, entgeht ihm, dass nicht - wie
die von ihm hier benutzte altere Literatur meint - erst 1319, sondern schon 1247, unmit-
telbar nach dem Ubergang Miindens in seine Herrschaft, Herzog Otto gegeniiber den
Biirgern der Stadt Braunschweig versicherte, er habe die Stadt vom Reich zu Lehen emp-
fangen; 1319 wurde lediglich die Urkunde der Braunschweiger fur die Miindener von
1247erneuert (vgl. Hr., Konigshofe S. 166). Ob diese Versicherung des Herzogs den Tat-
sachen entsprach - war doch Miinden sozusagen frei geworden durch den eben erfolg-
ten Tod des Gegenkonigs Heinrich Raspe IV. -, ist unerheblich; doch ergibt sich aus ihr,
dass die Stadt 1247 noch als Reichslehen gait und dass dies damals in Braunschweig je-
denfalls bekannt war (ahnlich aber „Griindung" S. 276). Abwegig ist zudem die vom
Verf. anscheinend in derNachfolge H. Graefes vorgenommene Gleichsetzung der Stadt
eines Fiirsten auf Grund und Boden, den er vom Reich zu Lehen besitzt, mit dem Status
Geschichte einzelner Landesteile und Orte 575
einer Reichsstadt („Griindung" S. 84). Offenkundig blieb dem Verf. der Unterschied
zwischen Reichslehen und Reichsstadt verborgen.
Ebenso scheitert der Versuch, aus dem moglicherweise schon von Heinrich Raspe IV.
vor seinem Tode bereits fur Duderstadt angebahnten Wechsel unter die Herrschaft Her-
zog Ottos von Braunschweig zu folgern, dies konne auch fur Miinden angenommen wer-
den („Griindung" S. 283 ff.). Im Gegensatz zum Privileg des Herzogs fur Duderstadt von
1247 entha.lt sein Miindener Privileg gerade keinen solchen Hinweis. Vielmehr gait
Miinden 1247 noch als Reichslehen und ware wie die iibrigen Reichslehen des Ludowin-
gers in die Eventualbelehnung Markgraf Heinrichs des Erlauchten von MeiBen einge-
schlossen gewesen,die auf Veranlassung des erbenlosen Heinrich Raspe IV. 1243 Kaiser
Friedrich II. vorgenommen hatte. Offensichtlich nutzte Herzog Otto von Braunschweig
die Gunst der Stunde: Unmittelbar nach dem Tode des letzten Ludowingers am 16. Fe-
bruar 1247 forderte er durch eine Gesandtschaft die Biirgerschaft von Miinden auf, ihre
jetzt herrenlos gewordene Stadt ihm zu iibergeben, und schon am 7. Marz stellte er den
Miindenern das umfassende Privileg aus.
Auf die in diesem Zusammenhang ebenfalls wichtige Frage des in Miinden geltenden
frankischen Rechts, das mit der Lage der Stadt auf frankischem Boden begriindet wird
(civitas dicta, cum in terra Franconica sita sit, iure Francorum fruitur etpotitur) und vom Her-
zog auch in Zukunft garantiert wird, kann hier nicht naher eingegangen werden; die
Ausfiihrungen des Verf. hierzu („Griindung" S. 277 ff.) sind unklarund widerspriichlich,
fiihren jedenfalls nicht weiter. Der Passus der Urkunde ist in jedem Fall ein deutliches
Zeichen fur die Zugehorigkeit des Grund und Bodens der Stadt - nicht zum Reichsgut,
wie man friiher meinte, sondern zum frankischen und eben nicht zum sachsischen
Rechtsgebiet (vgl. Hr., Miinden S. 228ff.). Daran andert nichts der durchgangige Ver-
such des Verf. besonders in „Gemunde", in zahlreichen Orten der Umgebung von Miin-
den Sachsen nachzuweisen. Denn nicht nur hier, sondern iiberall entlang der frankisch-
sachsischen Grenze, die sich als eine breite Ubergangszone darstellt, ist seit dem 8. Jahr-
hundert eine solche Mischung der Bevolkerung anzutreffen; Ahnliches lasst sich auch
an anderen Stammesgrenzen beobachten, z.B. beiderseits des Lechs, der seit dem 6.
Jahrhundert die Siedlungsgebiete der Alamannen im Westen und der Bajuwaren im
Osten trennt.
Immer wieder bemiiht sich Verf. in beiden Werken um den Nachweis, dass die Ludo-
winger vor dem Sturz Herzog Heinrichs des Lowen noch nicht iiber den Kaufunger
Wald verfiigen konnten. Als ein wichtiger Baustein dient ihm dazu die Betrachtung des
Kragenhofes, gelegen in einer engen Fuldaschleife unterhalb von Landwehrhagen, der
jedoch nicht zum Kaufunger Wald gehort habe („Gemunde" S. 30-47). Auch hier setzt er
sich mit dem Rezensenten auseinander, freilich nur mit der Zusammenfassung des Er-
gebnisses (Hr., Miinden S. 217), nicht aber mit derUntersuchung selbst (Hr., Konigshofe
S. 214 f.). Nicht bezweifeln kann Verf. die Angabe einer Urkunde Landgraf Ludwigs III.
von 1180/81, dass seine Vorganger Heinrich Raspe II. und Ludwig II. den Kragenhof
dem Stift Ahnaberg in Kassel iibergeben hatten, dass die Ludowinger also in der Mitte
des 12.Jahrhunderts iiber diesen Teil des Kaufunger Waldes verfiigten. Verf. wiederholt
nun die altere Ansicht, es habe sich beim Kragenhof um ein Allod eines Landadligen ge-
handelt, das die Ludowinger konfisziert hatten, kurz bevor sie es um 1 155 dem von ihnen
in Kassel gegriindeten Stift Ahnaberg iibertrugen (E. Krug in: Zs. des Vereins fur hess.
Gesch. u. Landeskunde 62 NF52, 1940, S. 303-308). Als allodium wird der Hof nur ein-
mal bezeichnet, und zwar 1311, als er schon iiber 160 Jahre dem Stift Ahnaberg gehorte;
576 Besprechungen
dies bereitet keine Schwierigkeit, derm allodiumkann neben derBedeutung als Eigengut
ebenso ein Vorwerk oder einen Gutshof bezeichnen. Ein Allod eines Adligen im friihen
12. Jahrhundert belegt die Nennung von 1311 keinesfalls.
Der angebliche Besitzernun wird von E. Krugund, ihm folgend, vom Verf. in Folbraht
Crahg (nicht Cragh, wie Verf. durchgangig schreibt) gesehen, der 1126 in Fritzlar mit
zahlreichen anderen Laien eine Urkunde Erzbischof Adalberts I. von Mainz fur das Klo-
ster Kaufungen bezeugte. Zwar betraf die Urkunde den Novalzehnten in benachbarten
Dorfern im Kaufunger Wald, doch lasst sich nicht feststellen, ob es sich bei Folbraht Crahg
um einen Kaufunger, wie von Krug und vom Verf. angenommen, oder einen Mainzer
bzw. Fritzlarer Zeugen handelte. Crahg ist hier Folbrahts Beiname, wie in derselben Ur-
kunde zwei weitere Beinamen vorkommen (Ciinrat Spurlinund Ciinradus Craz), denn ein
Familienname, als den ihn Verf. offenbar ansieht, wenn er nur von Cragh spricht, kommt
im friihen 12. Jahrhundert nicht in Frage. Vom Beinamen dieses Folbraht Crahg, der, wie
gesagt, nur ein einziges Mai in den Quellen begegnet und keineswegs mit diesem Land-
strich in Verbindung gebracht werden kann, soil nach Ansieht von E. Krug und jetzt
auch des Verf. der Kragenhof seinen Namen erhalten haben.
Geradezu abenteuerlich aber mutet es an, wenn Verf., gesttitzt auf diese schon nicht
mehr vertretbare Hypothese, sodann iiber den Namensteil -braht versucht, Folbraht als
Nachkommen eines sachsischen Adligen zu erweisen; er habe zu den fur das spate 8.
Jahrhundert bezeugten Sachsen gehort, die ihre Heimat aufgeben mussten und sich an
der unteren Fulda niederlieBen („Gemunde" S. 42): „Denkbar nun, dass . . . sich auch
der Edeling Folcbrath unter den Vertriebenen befand und im Kragen an der Fulda einen
neuen Sitz fand." Ebenso nicht nachzuvollziehen ist die Folgerung, deshalb habe der
Kragenhof nicht zum Kaufunger Wald gehort, sondern sei Allod gewesen (ebd. S. 46).
Ganzlich unverstandlich ist die Schlussfolgerung des Verf. (ebd. S. 46): „Der Zusatz
Cragh zum Namen Folbraht spricht fur eine langere Zeit des Besitzes durch die Familie.
Solche Anwendungen haben sich iiber viele Generationen gehalten, bis in die neuere
Zeit hinein."
Die Belege fur den Kragenhof lauten: terminos illos in Cragen (1180/81), allodium Crage
(1311), area que dicitur Crage (1312), Vorwerk zum Kragen (1525); vgl. Hist. Ortslexikon fur
Kurhessen, bearb. H. Reimer (Veroff. der Hist. Komm. fur Hessen und Waldeck 14,
1926), S. 287; Hr., Konigshofe S. 215 Anm. 510, 511. Die Namenbelege zeigen eindeutig,
dass „Kragen" der Name des Hofes ist. Der vom Verf. seinen Ausfuhrungen beigegebe-
ne, instruktive Kartenausschnitt der Kurhannoverschen Landesaufnahme von 1764-
1786 („Gemunde" S. 35) lasst keinen Zweifel an der Herkunft des Namens: Die Fulda
umschlieBt den Hof wie ein Kragen.
Wie in dem als Beispiel fiir zahlreiche andere vorgefiihrten Fall des Kragenhofes ent-
zieht sich die Beweisfiihrung des Verf. in seinen beiden Arbeiten haufig einer wissen-
schaftlichen Diskussion. Denn derartige Hypothesengebaude lassen sich nicht serios er-
ortern, weder untermauern noch widerlegen. Im Gegensatz dazu und zu der oben zitier-
ten Selbsteinschatzung des Verf. und seiner Arbeit erstaunt jedoch die Art und Weise,
wie er sich mit der bisherigen Forschung auseinandersetzt und sie, wenn ihre Ergebnisse
sich nicht in sein Ziel fiigen wollen, scharf bis unsachlich kritisiert oder gar abqualifi-
ziert. Dies verwundert umso mehr, als Verf., wie seine Darlegungen ausweisen, Hand-
werk und Grundbegriffe der historischen Forschung und der historischen Methode we-
der kennt noch sie gar anwenden kann. Wenn er die lateinisch uberlieferten Quellen her-
anzieht, so anscheinend nur in deutscher Ubersetzung. Da eine Ubersetzung jedoch
Geschichte einzelner Landesteile und Orte 577
immer zugleich Interpretation ist, liefert er sich damit dem jeweiligen Ubersetzer gleich-
sam aus und ist nicht in der Lage, sich selbst ein eigenes Urteil zu bilden. Deshalb kann
erletztlich die so oft von ihm kritisierten und angegriffenen Interpretationen und Folge-
rungen der Forschung, genau genommen, nicht nachpriifen oder gar beurteilen.
Zwar finden sich bisweilen lateinische Worte oder Zitate in den Text eingestreut, aber
fur das Verhaltnis des Verf. zum Lateinischen stimmen bedenklich etwa folgende Eintra-
ge in den „Worterklarungen": zum Stichwort „Coheres" („Gemunde" S. 459): „Miter-
ben, Personen einer Erbengemeinschaft bzw. Gruppe von Erben (gelegentlich auch Co-
heredes geschrieben) ." - offensichtlich ist Verf. nicht bewusst, dass coheres Singular und co-
heredes Plural sind - oder zum Stichwort „Liber" (ebd.): „Im Mittelalter der Freie. . . . Das
Wort Liber wurde in vielfaltiger Weise in Verbindung mit anderen Begriffen eingesetzt,
z.B. liber civitatis = Stadtbuch, liber dominus = Freiherr, ..." - das Adjektiv liber= frei
hat nichts mit dem Substantiv liber= Buch zu tun.
Die Ausfuhrungen des Verf. erinnern auf weite Strecken an die eines Studenten, der
zu Beginn seines Studiums erstmals mit Fragen der Mittelalterlichen Geschichte kon-
frontiert wird, so dass fur ihn alles neu ist, was er liest. Deutliche Beispiele hierfiir sind in
beiden Arbeiten wiederum seine - teilweise unrichtigen, teilweise missverstandenen -
„Worterklarungen" („Grundung S. 338-343, „Gemunde" S. 458-463) , besonders irrig et-
wa zum Stichwort „Landgraf" („Griindung" S. 340): „Im 12. Jh. in Thuringen vorkom-
mender Titel unsicherer Bedeutung, wahrscheinlich ein Graf, der seine Gewalt im alten
territorialen Umfang behauptet hatte." Diese Erlauterung offenbart - abgesehen vom
Fehlen mittelalterlicher Grundkenntnisse - eine anachronistische Vorstellung des Verf.
von Land und Herrschaft im hohen Mittelalter, die auch den Ausfuhrungen im Text
weithin zugrunde liegt; vgl. auch etwa zum Stichwort „Ministeriale" („Grundung"
S. 341): „In Diensten hoherer Herrscher stehende Mitglieder der Verwaltung . . ." Nicht
anders steht es um Fragen der Kirchenverfassung, wie die recht verworrene Erlauterung
zum Stichwort „Suffraganbischof" zeigt („Gemunde" S. 462): „Unterbischof, Bischof un-
ter einem Erzbischof, untereinander auch als Provinzialbischof genannt. Suffraganbi-
stum war ein Unterbistum, das von einem Suffraganbischof geleitet wurde. Es war eine
Verwaltungseinheit einer Diozese, an deren Spitzen dann in der Regel ein Erzbischof
stand." Hierhergehort auch etwa die vom Verf. aufgeworfene Frage, warum Bischof An-
no von Worms, der vor seiner Erhebung zum Bischof im Jahre 950 erster Abt des Moritz-
klosters in Magdeburg gewesen war, bis 969 ein konigliches Lehen in Ratten besaB,
obwohl „dies im Widerspruch zum Armutsgebot der Benediktinerregel" stehe („Gemun-
de" S. 21). Viele solche Fragen hatte ein Blick in das Lexikon des Mittelalters oder das
Handbuch zur deutschen Rechtsgeschichte und ahnliche Standardwerke rasch klaren
konnen.
So entsteht ein Konglomerat aus richtig, oft nur teilweise, wiederholt aber auch gar
nicht verstandener Forschungsliteratur, die Verf., zumal wenn er sie an den Quellen
nicht uberpriift, immer wieder gegeneinander auszuspielen versucht. Dabei zieht er oft
die Ausfuhrungen der Autoren aus dem Zusammenhang und ordnet sie vielfach auch
nicht richtig ein. So ist es wenig iiberzeugend, etwa Ausfuhrungen von 1973 (Hr., Miin-
den) zum Stadtgrundriss mit anderen von 1955 widerlegen zu wollen, indem Verf.
meint, 1973 „vergaB" der Autor die fruheren Auffassungen („Griindung" S. 236) . In die-
sem Falle etwa bemerkt Verf. nicht, dass der von ihm als „Fazit" bezeichnete, wortlich zi-
tierte Satz von 1973 lediglich ein noch dazu im Konjunktivformuliertes Zwischenergeb-
nis darstellt; das Endergebnis dieses Abschnitts von 1973 - der Miindener Stadtgrund-
578 Besprechungen
riss „kann sowohl von einem welfischen als auch von einem ludowingischen Stadtherrn
geschaffen worden sein" (vgl. Hr., Miinden S. 182 ff.) - fiihrt Verf. jedoch nicht mehr an.
Eigenartig sind teilweise die herangezogenen Materialien und ihre Verarbeitung. So
erwahnt Verf. nach einem Bericht in der ortlichen Presse iiber einen 1991 in Miinden ge-
haltenen Vortrag des Rezensenten seine angebliche AuBerung, der Stadtkern habe in
Ratten, dem heutigen Neumiinden, gelegen. Ein solcher offensichtlicher Unsinn, der
eindeutig auf ein einfaches Missverstandnis zuriickgeht, veranlasst Verf. zu einer Be-
trachtung von einer Druckseite, bis er zu der Frage gelangt: „Aber benutzte Karl Heine-
meyer iiberhaupt fur Ratten den Begriff , Stadtkern'? Das macht doch fur die Zeit des 9.
und den Anfang des 10. Jh. iiberhaupt keinen Sinn." („Gemunde" S. 22 f.). Eine kurze
Anfrage hatte schnell Aufklarung gebracht. - Auch tragt nicht eben zu einer sachlichen
Auseinandersetzung bei, wenn Verf. aus einem privaten, jetzt im Miindener Stadtarchiv
befindlichen Schriftwechsel des Rezensenten mit dem 1982 verstorbenen, um die Ge-
schichte Miindens verdienten Hans Graefe zitiert, dabei wortlich dessen anscheinend
unzufriedene AuBerung iiber eine Antwort des Rezensenten auf eine Anfrage („Griin-
dung" S. 84).
Zu den methodischen Unsicherheiten, um nicht zu sagen Fehlgriffen, des Verf. gehort
auch, nicht zu erkennen, dass von den Quellen nicht eindeutig Uberliefertes nicht ein-
fach als Tatsache hingestellt werden kann. So halt er etwa dem Rezensenten als „fortge-
schriebenen Zweifel" vor, auch jetzt noch (2001) die Ludowinger „nur unter ,groBer
Wahrscheinlichkeit' als mogliche Griinder der Stadt Miinden genannt" zu haben
(„Griindung" S. 240) . Dazu im klaren Gegensatz stellt er am Schluss seiner ersten Arbeit
„nunmehr als Fazit" recht selbstbewusst fest: „Herzog Heinrich der Lowe ist der Griinder
der Stadt Miinden!" und weiter: „Solange gegenteilige Sachargumente bzw. beleghafte
Fakten nicht erbracht werden konnen, bleibt die hier getroffene Aussage bestandskraf-
tig." („Griindung" S. 322) Uberhaupt ist sein Verhaltnis zu iiberlieferten Tatsachen und
Erschlossenem oder Vermutetem schillernd, wenn er meint, es gehe darum, „welche
Fakten mehr Bestand haben oder nach sorgfaltiger Abwagung einer zutreffenden Ant-
wort am nachsten kommen" (ebd. S. 293).
Verf. hat eine iibergroBe Menge von Literaturgelesen und verarbeitet, doch „Eine in-
terdisziplinare Betrachtung der wissenschaftlichen Forschung" (Untertitel zur „Griin-
dung") sind seine Arbeiten nicht, eher trans- oder besser extradisziplinare Ansammlun-
gen von Zitaten und Paraphrasen, gepaart mit eigenen, teilweise luftigen Hypothesen, da
er, wie sich zeigte, nicht einmal wenigstens eine der Disziplinen tatsachlich beherrscht.
Und der historischen Forschung - er spricht in der „Griindung" meist von „Rechtshisto-
rik" - mangelnde Beriicksichtigung anderer Zweige vorzuhalten wie der Siedlungsgeo-
graphie, der Archaologie, der „siedlungsdemographischen Komponente" - d.h. u.a. zur
Frage nach der Herkunft der ersten Stadtbewohner - oder der Namenforschung - zur
Herkunft des Ortsnamens, die noch niemand im Zusammenhang mit der Stadtgriin-
dung untersucht habe - („Grtindung" S. 194 ff. , besonders S. 208 ff.), ist schlicht unrich-
tig. Gerade ihre Beriicksichtigung wie die anderer Nachbarwissenschaften gehort seit
langem zum Wesen moderner Landesgeschichtsforschung. Dieser Weg wurde auch im
Falle von Miinden schon friiher beschritten (vgl. Hr., Miinden passim); insofern ist das
Anliegen des Verf., erstmalig unterschiedliche Forschungszweige miteinander zu ver-
kniipfen, nicht neu.
Dass der Rezensent in seiner Arbeit von 1973 fur die Altstadt von Miinden keine Er-
gebnisse der vor- und friihgeschichtlichen Forschung - sehr wohl aber fur die nachste
Geschichte einzelner Landesteile und Orte 579
Umgebung - beriicksichtigte, hatte seinen Grund darin, dass es damals noch keine gab
bzw. sie ihm nicht zuganglich waren (vgl. Hr., Miinden S. 152 ff.) . Denn erst nach seinem
Aufsatz erschien die Arbeit von R. Grenz, Die Anfange der Stadt Miinden nach den Aus-
grabungen in der St. Blasius-Kirche, Schriften zur Geschichte der Stadt Hannoversch
Miinden 1, 1973, und alle weiteren archaologischen Untersuchungen in der Miindener
Altstadt - mit in der Tat bemerkenswerten Ergebnissen - sind erst nach 1973 unternom-
men worden.
Wahrend Verf. die Ergebnisse und Folgerungen der historischen Forschung, zumal
wenn sie sich nicht in sein beabsichtigtes Endergebnis einfiigen, beiseite schiebt oder
iibergeht, ubernimmt er die von der Archaologie gewonnenen Ergebnisse kritiklos als
feststehende Tatsachen und benutzt sie als vermeintliche Belege gegen die Erkenntnisse,
die mit der historischen Methode gewonnen wurden. Dabei iibersieht er geflissentlich,
dass die Datierungen der Grabungsbefunde vielfach stark hypothetisch und keinesfalls
gesichert sind, zumal wenn sie mit Hilfe der schriftlichen Quellen und der darauf beru-
henden Literatur gewonnen wurden, so dass sich Zirkelschliisse ergeben konnen. Im Ge-
gensatz zu den in Miinden seit den friihen 90erjahren anscheinend sorgfaltig unternom-
menen Grabungen und Auswertungen, bediirfen gerade die Datierungen von R. Grenz,
insbesondere hinsichtlich der Vorgangerbauten der Blasiuskirche und ebenso der Be-
stattungen, einer kritischen Uberpriifung von archaologischer und bauhistorischer Seite
(vgl. z.B. Grenz S. 60: Bau derersten Kapelle 960-990/um 1000,aberS. 63: urn 1070; als
Synthese mit der schriftlichen Uberlieferung S. 63: „Karl der GroBe ist zweifellos der
Griinder dieses Ortes"). Erst wenn die einzelnen Datierungen bestatigt oder korrigiert
wurden, konnen seine Ergebnisse als Grundlage fur historische Folgerungen dienen.
Zwar ist es richtig, dass fast nur noch die Mittelalter-Archaologie neue Quellen bereit
stellen kann; aber ihre Befunde sagen in aller Regel nichts iiber Personen aus, etwa zu
der Frage, wer eine Stadt gegriindet hat. Inschriften wie: N.N. me fieri iussit pf legen nam-
lich bei Grabungen nicht aufzutreten, auch nicht in Miinden.
SchlieBlich sei noch Folgendes hinzugefiigt: Da der Stadtgrundriss von Miinden auf
eine planmaBige Anlage der Stadt schlieBen lasst, was auch Verf. anerkennt, ist es zwar
fur die Geschichte Miindens nicht unwichtig, aber fiir die Frage nach dem Griinder der
Stadt letztlich unerheblich, ob sich an diesem Platz eine altere, vorstadtische Siedlung
nachweisen lasst oder nicht. Sollte sie vorhanden gewesen sein - und manche der ar-
chaologischen Befunde derjungsten Zeit scheinen daraufhin zu deuten -, wurde sie je-
denfalls bei der planmaBigen Stadtanlage zumindest weitgehend beseitigt. Dies ware
kein Einzelfall, wie das Beispiel Gelnhausens zeigt, wo Kaiser Friedrich I. Barbarossa
1170 ebenso planmaBig eine Reichsstadt anlegte. Denn hier werden eine dorfliche
Siedlung 1133 und eine Burg 1158 erstmals genannt; beide konnten aber bisher nicht lo-
kalisiert werden, da die planmaBige Stadtanlage wohl alle alteren Spuren beseitigt hat.
Angesichts der Fiille und Vielzahl der vom Verf. in seinen beiden Arbeiten angespro-
chenen Einzelthemen ist es in diesem Rahmen nicht moglich, auch nur auf alle zentralen
Thesen und Beweisfuhrungen des Verf. einzugehen. Vielmehr konnten nur wenige Bei-
spiele naher erortert werden; die hier gewonnenen Beobachtungen lassen sich aber un-
schwer auch auf die iibrigen, hier nicht erwahnten Punkte iibertragen. Auch fiir sie trifft
die vorgetragene Kritik in vollem Umfang zu. Zudem konnen hier nicht die sachlichen
Irrtiimer, Versehen und Fehler, die sich in beiden Arbeiten in groBer Zahl finden, im
Einzelnen richtig gestellt werden.
AbschlieBend ist festzustellen: Engagement und Arbeitsaufwand des Verf. verdienen
580 Besprechungen
uneingeschrankt Anerkennung. Er hat sich selbst mit seinem Vorgehen eine groBe Auf-
gabe mit hohem Anspruch gestellt. Jedoch zeigen seine beiden Arbeiten erhebliche
handwerkliche, fachliche und methodische Mangel, so dass die von ihm angestrebten si-
cheren Ergebnisse leider nicht erreicht wurden. Seine zahlreichen Hypothesen beruhen
zumeist nicht auf solider Grundlage und entziehen sich weithin einer ernsthaften Dis-
kussion. Trotz intensiven Bemiihens ist es Verf. nicht gelungen, den bisherigen For-
schungsstand zur Griindung von Hann. Miinden zu iiberwinden und Heinrich den L6-
wen als Stadtgriinder wahrscheinlich zu machen.
Die beiden Biicher sind sorgfaltig, ansprechend und qualitatsvoll hergestellt, Druck-
fehler auBerst selten. Die zahlreichen, weitgehend farbigen Abbildungen sind iiberwie-
gend von vorziiglicher Qualitat, was heute in Ortsgeschichten leider nur noch selten an-
zutreffen ist; doch fehlen haufig die Nachweise fur die Herkunft der Abbildungen. Die
der „Griindung" beigegebenen farbigen Kartenskizzen mitsamt einem Erlauterungstext
geben den Zustand des Platzes nach den Vorstellungen des Verf. um 1050, um 1150 und
urn 1180.
Von jeher leisten interessierte Laien in der Orts- und Heimatgeschichte wichtige Bei-
trage, zumal wenn sie sich im Rahmen ihrer Moglichkeiten bewegen. In unseren Tagen
im Zeitalter der Do-it-yourself-Bewegung wird nun jedermann nahegebracht, er konne
alles wie ein Fachmann selber machen. Dies aber gilt nicht ohne weiteres fur die Losung
wissenschaftlicher Probleme, jedenfalls nicht, wie die vorliegenden Arbeiten zeigen, fur
solche der Mittelalterlichen Geschichte mit ihren eigenen methodischen Besonderhei-
ten und fachlichen Schwierigkeiten.
Erfurt Karl Heinemeyer
PERSONENGESCHICHTE
Bresslau, Abraham: Briefe aus Dannenberg 1835-1839. Mit einer Einleitung zur Familien-
geschichte des Historikers Harry Breslau (1848-1926) und zur Geschichte derjuden in
Dannenberg. Hrsg. von Peter Ruck f unter Mitarbeit von Erika Eisenlohr und Peter
Worm. Marburg: Philipps-Universitat Marburg 2007. 288 S. Abb. = elementa diplo-
matica Bd. 11. Kart. 29,90 €.
Die Publikation enthalt das Ergebnis jahrelanger Recherchen des Marburger Diplomati-
kers Peter Ruck zu Vorfahren und Biographie des jiidischen Kaufmanns, Bankiers und
Journalisten Abraham Bresslau und seines beruhmten Sohnes Harry Bresslau, des Be-
grtinders der Urkundenlehre fur Deutschland und Italien. Harry Bresslau wurde 1848
als Jude in der kleinen Stadt Dannenberg im hannoverschen Wendland geboren, zog mit
seiner Familie im Herbst 1856 nach dem groBeren Marktort Uelzen, legte auf dem Gym-
nasium Johanneum in Luneburg sein Abitur ab, begann im Sommersemester 1866 ein
Rechtsstudium an der Landesuniversitat Gottingen und wechselte dann nach Berlin.
Seine Bar-Mizwa erfolgte in Luneburg, spater gait Harry Bresslau als konfessionslos. Mit
Personengeschichte 581
der Vorstellung und dem Vergleich seiner beiden iiberlieferten Autobiographien von
1919 und 1924 beginnt der vorliegende Band.
Mehr aber als Harry Bresslau, der in den Synagogengemeinden Dannenberg, Uelzen
und Luneburg keine Rolle gespielt, sie in den Autobiographien auch nur am Rande er-
wahnt hat, ist im Zusammenhang mit der Geschichte derjuden im Konigreich Hannover
sein Vater Abraham Bresslau von Bedeutung. Geboren in Hamburg 1813 als zweiter
Sohn aus der dritten Ehe eines Kleinhandlers, hatte er dort die „Israelitische Armen-
schule der Talmud-Thora" besucht, die 1822 von Isaak Bernays reformiert worden war.
Er lebte seit 1827 als Kaufmannslehrling, spater als „Commis" in Dannenberg und konn-
te sich 1845 in der Nachlolge seines kinderlos gestorbenen Chefs Israel Markus Mans-
feld, der in der kleinen Synagogengemeinde Dannenberg als GroBkaufmann und Vor-
steher fast drei Jahrzehnte lang eine zentrale Rolle gespielt hat, dort als selbstandiger
Kaufmann, Bankier und Burger etablieren, wozu sicher auch seine 1846 erfolgte Heirat
mit der Bankierstochter Marianne Heynemann aus Hannover beitrug. Zehn Jahre nach
seinem Umzug von Dannenberg nach Uelzen machte er Bankrott und floh im Mai 1866
nach New York, wo er bis zu seinem Tod ein bescheidenes Leben als Journalist u. a. an
der „New Yorker Staatszeitung" fiihrte. Er starb in einem Armenhospital.
Der Adressat seiner Briefe aus Dannenberg, der im Titel dervorliegenden Publikation
nicht genannt wird, ist deshalb von Bedeutung, weil ihm, anders als Abraham Bresslau,
ein dauerhafter Aufstieg ins wohlhabende Biirgertum gelungen ist. Philipp Simon wurde
1809/1810 in Bodenteich geboren und ist in Uelzen und Seesen, wo erdiejacobsonschu-
le besuchte, aufgewachsen. Seinem Vater Simon Jacob (Koppel), seit 1786 Schutzjude in
Bodenteich, Kaufmann mit Ellenwaren und Landprodukten, war 1813 in Uelzen als ers-
temjuden die Niederlassung und der Hauserwerb gelungen, er starb dort imjanuar 1819
und ist auf dem jiidischen Friedhof in Bodenteich begraben. Philipp stammte aus dessen
vierter Ehe mit July Levi, die Witwe blieb in Uelzen. Geschwister bzw. Halbgeschwister
Philipps lebten in Burgwedel, Uelzen, Luneburg und Hamburg. Philipp Simon lernte
1825 - 1827 beim Kaufmann Moses Lazarus in Liichowund war dann bis 1835 als „Com-
mis" in Dannenberg beim Kaufmann Joseph Wolff tatig, bevor er die Stelle bei Joseph
Salomon in Winsen/Luhe annahm, Gemeindevorsteher und GroBkaufmann im Ort. Si-
mon heiratete 1845 die Tochter des aus Dannenberg stammenden Liineburger Mobel-
handlers Philipp Behrens. Er wurde in Hamburg Associe von Simon May, der einer be-
deutenden jiidischen Familie angehorte, schlieBlich Inhaber der WeiBwarenfirma Si-
mon May & Co., mit einem Geschaftslokal an der Alster. 1867 wurde er Mitglied, bald
auch Prases des Vorsteherkollegiums der Hamburger Synagogengemeinde. Sein Todes-
datum, er starb in den 1890erjahren, auch eine eventuelle Grabstelle hat Ruck nicht er-
mittelt, Simon lebte zuletzt „als reicher Pensionar" in Hamburg.
Der Fund und die Veroffentlichung der Briefe Abraham Bresslaus an seinen wenige
Jahre alteren Freund, der nach den gemeinsamen Jahren in Dannenberg in die besser
bezahlte Stelle nach Winsen/Luhe gewechselt war, sowie Briefe aus Bresslaus New Yor-
ker Zeit stellen der Forschung eine seltene Quelle zur Verfiigung, die die stadtische und
staatliche Akteniiberlieferung zur Geschichte derjuden in Dannenberg um entschei-
dende Aspekte der „Innensicht" erganzt. Insbesondere gibt sie Aufschliisse iiber die Le-
bens- und Gedankenwelt der Gruppe der jiidischen „Commis" oder Handlungsdiener,
deren Ziel es sein musste, durch Gelderwerb und /oder eine vorteilhafte Heirat sich als
selbstandige Kaufleute zu etablieren. Es bleibt zu bedauern, dass sich die Briefe Philipp
Simons nicht erhalten haben.
582 Besprechungen
Auch wenn das Hauptinteresse Rucks der Familiengeschichte Harry Bresslaus gait,
hat er zugleich zur Geschichte der Juden in Dannenberg exzellente Stoffsammlungen
vorgelegt. Sie sind von ihm erst in Ansatzen verarbeitet worden, bieten jedoch fur jeden,
der sich mit der Geschichte derjuden im Kurfiirstentum / Konigreich Hannover und spe-
ziell im Wendland beschaftigt, zahlreiche neue Informationen. Rucks Feststellung, man
konne den sozialen und wirtschaftlichen Lebensraum der jiidischen Familien nur be-
greifen, wenn man die Anziehungskraft Hamburgs und in geringerem MaBe der ostlich
gelegenen mecklenburgischen und brandenburgischen Territorien beachte, mit denen
die wendlandische Judenschaft im engsten Kontakt stand, wird jeder zustimmen kon-
nen, dem bei den Forschungen derletztenjahre iiberdie Synagogengemeinden im nord-
ostlichen Niedersachsen diese Zusammenhange immer wieder begegnet sind. Wichtig
auch sein Hinweis, dass Dannenbergs Verbindung nach Hamburg oft iiber die Etappen
Harburg, Winsen/Luhe, Lauenburg, Bleckede und Hitzacker vermittelt wurde,jiidische
Netzwerke, die es fur das 18. bis 20. Jahrhundert noch genauer zu untersuchen gilt.
Fur die Ermittlung bisher unbekannter Fakten durch die intensiven Recherchen in
einschlagigen Archivmaterialien vor allem aus dem Niedersachsischen Landesarchiv,
Hauptstaatsarchiv Hannover und dem Stadtarchiv Dannenberg seien hier vier Beispiele
genannt: Es gab 1695 in Dannenberg einen Konvertiten Bendix Simon, vermutlich der
Schachter des ersten Dannenberger Schutzjuden Levin Salomon, der nach der Taufe als
Schlachter Christian Simon weiter in Dannenberg lebte und dessen Nachkommen dort
bis 1749 nachweisbar sind (S. 40) ; der erste Wohnsitz des Stammvaters der jiidischen Ge-
meinde Dannenberg, Berendt Arendts, wurde aus dem Steuerkataster ermittelt (S. 45);
die bisher kaum behandelte westfalische Zeit in Dannenberg wird beriicksichtigt; die fur
die hannoverschen Synagogengemeinden bisher nur vereinzelt bekannte Einziehung
zur Landwehr ist jetzt fur Dannenberg belegt. Hier wurden im April 1814 drei nament-
lich bekannte Juden eingezogen und 1816 und 1817 entlassen. Die beiden im Folgejahr
wehrpflichtigen Juden wurden als ungeeignet eingestuft. Im Februar 1817 kam aus Han-
nover die Anordnung, Juden bis zur zukiinftigen Regelung ihrer Rechtsverhaltnisse im
Konigreich Hannover nicht mehr in die Musterungslisten aufzunehmen (S. 59).
Obwohl die Forschungen Rucks nach seiner Emeritierung 1999 vor seinem Tod im
September 2004 nicht mehr zum Abschluss gelangt sind, sein Vorwort ist vom Herbst
2001 datiert, entschlossen sich seine ehemaligen Mitarbeiter Erika Eisenlohr und Peter
Worm, die „unfertige Arbeit" zu veroffentlichen, weil Rucks „unermudliche Suche in in-
und auslandischen Archiven und seine akribische Aufarbeitung der Funde" dies recht-
fertigten. Dieser Auffassung ist, wie meine Ausfiihrungen zeigen sollten, unbedingt zu-
zustimmen. Die Publikation ist als Materialsammlung eine wichtige Erganzung derbis-
herigen Arbeiten zu den Synagogengemeinden des Wendlandes und insbesondere zu
der in Dannenberg und unentbehrlich fur weitere Forschungen. Dennoch: Eine unferti-
ge Arbeit bedeutet auch, dass dem Publikum ein auf weite Strecken nicht stringent struk-
turierter Text zugemutet wird, viel zu oft nur assoziativ verbundene Stoffsammlungen
aus unterschiedlichen Entstehungszusammenhangen vorliegen und analytische Fragen
fehlen, auch widerspruchliche Urteile, lange Wiederholungen, zu extensiv ausgebreite-
tes, im allgemeinen bekanntes genealogisches Quellenmaterial sowie unvollstandige
bzw. wechselnde Literatur- und Archivangaben in Kauf zu nehmen sind. Ein besonders
auffalliges Beispiel sei zum letzten Punkt hier angefiihrt. Der von Ruck vielfach herange-
zogene Band von Erich Woehlkens, Lisa Kuhlmann, Beate L. Weiland; Beitrage zur Ge-
schichte derjuden in Uelzen und Nordniedersachsen. Hg. fur die Stadt Uelzen von Ralf
Personengeschichte 583
Busch, Oldenburg 1996 wird mehrfach als noch ungedrucktes Manuskript von 1983
(S. 32 und 33) , dann unter den Kurzeln LK (Liste Kuhlmann) bzw. unter Kuhlmann, Wei-
land bzw. unter Woehlkens u. a. angefiihrt. Eine Zusammenstellung der benutzten Ar-
chivalien fehlt, auch auf ein Personenregister wurde verzichtet. Leider erfahrt der Leser
auch nicht, in welcher Form die Arbeit bei Rucks Tod vorgelegen und nach welchen Kri-
terien die Endfassung zusammengestellt oder/und bearbeitet worden ist.
Zwei schon im Fruhjahr 2005 erschienene einschlagige Publikationen wurden nicht
zur Kenntnis genommen: Historisches Handbuch derjiidischen Gemeinden in Nieder-
sachsen und Bremen. Herausgegeben von Herbert Obenaus in Zusammenarbeit mit
David Bankier und Daniel Fraenkel. 2 Bande Gottingen 2005, ferner Sibylle Obenaus:
Eine kleinstadtisch-landliche Synagogengemeinde im Konigreich Hannover zwischen
Tradition und Reform - das Beispiel Dannenberg, in: Landjuden in Nordwestdeutsch-
land. Herausgegeben von Herbert Obenaus, Hannover 2005, S. 193- 233, in der die Ge-
schichte der Synagogengemeinde Dannenberg schon in ihren wesentlichen Ziigen bis
etwa zur Mitte des 19. Jahrhunderts skizziert, aber auch zugleich unter den Aspekten von
Modernisierung und Reform analysiert worden ist.
Mir scheint insgesamt, dass Ruck die Bedeutung der Rolle Abraham Bresslaus in
Dannenberg iiberschatzt. SchlieBlich gelangte Bresslau erst nach dem Tod seines Chefs
Mansfeld und nach seiner Etablierung zu einigem Einfluss. Hier ist zu bedauern, dass
Riickgerade diesejahre Bresslaus in Dannenberg unter pauschalem Hinweis auf stadti-
sche Quellen nur noch angedeutet bzw. skizziert, aber nicht mehr ausgearbeitet hat
(S. 174). Es ware durchaus von Belang fur Bresslaus Biographie, aber auch fur die Ge-
schichte der Synagogengemeinde Dannenberg, der Frage weiter nachzugehen, warum
Bresslau sich von Dannenberg trennte und sich zu einem Umzug nach Uelzen ent-
schloss.
Isernhagen Sibylle Obenaus
Burkhardt, Kai: Adolf Grimme (1898-1963). Eine Biographie. Koln: Bohlau Verlag
2007. X, 384 S. = Veroff. aus den Archiven Preumscher Kulturbesitz Beiheft 11. Geb.
29,90 €.
Es erscheint erstaunlich, dass ein iiber die Landesgrenzen Niedersachsens hinaus be-
kannter Kultus-, Partei- und Medienpolitiker bisher noch keine ausfiihrliche, wissen-
schaftliche Biografie erfahren hat. Die zwei bisher aus den neunziger Jahren vorliegen-
den Studien von Kurt Meissner und Julius Seiters verzichten entweder auf Belege
(Meissner) oder auf einen umfassenden Ansatz (Seiters) . Denn die Quellenlage zur Bio-
grafie scheint auf den ersten Blick gar nicht so schlecht. Es gibt einen umfassenden
Nachlass Grimmes im Geheimen Staatsarchiv PreuBischer Kulturbesitz (daher die Ver-
offentlichung in der oben genannten Reihe), weitere Teile finden sich im Hauptstaats-
archiv in Hannover und im Kultusministerium. Dazu kommen Prozessakten, die seine
Tatigkeit unter dem nationalsozialistischen Regime dokumentieren sollen, viele weite-
re Lebenserinnerungen seiner Wegbegleiter und Gegner sowie schlieBlich seine eige-
nen zahlreichen Veroffentlichungen, die wie seine Briefe (ediert von Dieter Sauber-
zweig) z. T auch ediert vorliegen. Doch trotz allem: „Geblieben ist ein Name ohne
Geschichte" (S. 1).
584 Besprechungen
Ein Grund mag darin liegen, dass sein Werdegang aufgrund der vielen Briiche und
Stationen etwas schwierig zu iiberschauen ist. Burkhardt halt sich in der Gliederung sei-
ner Biografie an die wichtigeren zeitlichen Etappen seines Lebens. Er beleuchtet seine
von vielen Ortswechseln begleitete Schul- und Studienzeit, in dem sowohl sein christli-
ches Bekenntnis, sein Eintritt in die Politik wie auch schlieBlich seine Berufung zum
Lehreramt geformt wird. Grimme trat mit seinen Gedanken gerne und haufig in die Of-
fentlichkeit, obwohl er sich selbst nicht als Rednertalent empfand (S. 16). In der unmit-
telbaren Nachkriegszeit des 1. Weltkriegs engagierte er sich bald politisch. Mit einer
neuen Stelle in Hannover wechselte er von der DDP zur SPD und begrundete dort die
Gruppe der „Entschiedenen Schulreformer", die er vor allem mit seinen Gedanken zur
religiosen Pragung derjugend zu gestalten suchte. Als sich dagegen zunehmend Wider-
stand regte, gab er dieses Engagement auf und verstarkte seine Bemiihungen im „Bund
religioser Sozialisten", um die Arbeiter fur das christliche Gedankengut zu gewinnen.
Doch innerhalb der SPD blieb auch diese Vereinigung ein Randphanomen. Seine viel-
faltigen Aktivitaten hatten ihm an hoherer Stelle jedoch Aufmerksamkeit verschafft und
dem jungen Lehrer einen raschen Aufstieg in den Provinzialschulkollegien Hannover,
Magdeburg und Berlin ermoglicht, von wo er dann recht bald in das preuBische Kultus-
ministerium eintreten konnte. Seine Beliebtheit unter den Kollegen an den jeweiligen
Arbeitsstatten wegen seiner unkonventionellen, menschlichen Art begleitete ihn for-
dernd. So konnte erbald auch zum Vizeprasidenten des Provinzialschulkollegiums Ber-
lin-Brandenburg aufsteigen. In dieser ersten verantwortungsvollen Position stand er im
Lichte der Offentlichkeit und musste sich fur manche Entscheidung der harschen Kritik
der in der Endzeit der Weimarer Republik aufgeheizten Presse stellen. Sein eingeforder-
tes Bekenntnis zur Republiktreue beim Flaggenstreit, bei den Verfassungsfeiern oder bei
einem Referendum gegen den Young-Plan stieB auf Widerstand der Lehrer, Eltern und
Presse. Auch der preuBische Kultusminister Carl-Heinrich Becker stand in diesen Fra-
gen an vorderster Front in der Kritik, gait aber als zu nachgiebig. Daher schlug Minister-
prasident Otto Braun auf Anraten Beckers imjanuar 1930 Grimme als dessen Nachfol-
ger vor. Grimme ubernahm dieses Amt in einer schwierigen Zeit, als der Sparzwang zu
unpopularen Entscheidungen wie der SchlieBung hoherer Schulen oder padagogischer
Akademien zwang. Auch seine erfolglos geforderte Verkiirzung der Schulzeit wurde al-
lein unter diesem Aspekt gesehen. Die Stundenzahl der Lehrer wurde heraufgesetzt, die
Gehalter gekiirzt, die Wochenstunden fur Schiiler herabgesetzt. Von einer angestrebten
Schulreform konnte trotz der neuen Position keine Rede mehr sein. Vielmehrgalt es den
Staat in seinen offentlichen Schulen und Hochschulen gegen die immer starkere Ein-
flussnahme von Parteien, der Kirchen oder anderer Verbande zu verteidigen, bis ihn
schlieBlich der „PreuBenschlag" im Juli 1932 mitsamt der preuBischen Staatsregierung
ganz aus dem Amt drangte. Sein darauf folgender Riickzug ins Privatleben lieB ihn nicht
lange ruhen, da die Nationalsozialisten im Rahmen ihres Kampfes gegen die Wider-
standsgruppe „Rote Kapelle" auch gegen ihn ermittelte und vom Reichskriegsgericht
unter Manfred Roeder ,nur' zu 3 Jahren Zuchthaus verurteilte. Die Bekanntschaft mit
Mitgliedern der Gruppe unter Harro Schulze-Boysen war zwar bekannt, doch eine Zu-
sammenarbeit mit dem sowjetischen Geheimdienst konnte ihm offenbar nicht nachge-
wiesen werden.
Nach dem Krieg kam Grimme aus dem Zuchthaus Fuhlsbiittel auf Intervention eines
Freundes vorzeitig heraus und wurde von der britischen Militarregierung aufgrund sei-
ner Biografie sofort als idealer Kandidat fur ein hohes politisches Amt angesehen. Er
Personengeschichte 585
erhielt einen Ausweis fur einen ,,wichtigen Posten in der Administration der Provinz
Hannover", zusammen mit der Order, sich am 27. Juli 1945 nach Hannover zu begeben
(S. 219) . Dort wurde er nach der Entnazifizierung zunachst beim damals noch existieren-
den Oberprasidenten von Hannover als Regierungsdirektor angestellt. Er iibernahm
den Vorsitz im Kulturpolitischen Ausschuss im kurzlebigen Zonenbeirat, bevor er selbst
im ersten Kabinett Niedersachsens vom 25. November 1946 zunachst den Titel eines
Ministers fur Volksbildung, Kunst und Wissenschaft fiihrte, ehe er im zweiten Kabinett
Kopf am ll.Juni 1947 zum Kultusministerernannt wurde. Ernutzte die Gelegenheit, um
bekannte Personlichkeiten aus seiner Zeit im preuBischen Kultusministerium und in den
Schulaufsichtsbehorden fur das Ministerium zu werben, koordinierte aber deren Ar-
beitsfreude im nach preuBischem Modell aufgebauten Ministerium nicht. Er sah es als
seine vordringliche Aufgabe an, schnellstmoglich eine Infrastruktur an Schulen und
Hochschulen in Funktion zu bringen, eine Schulreform um die neue Mittelschule durch-
zusetzen und die Erwachsenenbildung mit dem Aufbau der Volkshochschulen, des
Abendgymnasiums und padagogischen Akademien voranzutreiben. Im Gegensatz zur
geforderten Entnazifizierung der Lehrer und Hochschullehrer war er in seinem eigenen
Ministerium bei der Auswahl seiner Mitarbeiter nicht ganz so wahlerisch, was ihm
schnell zum Vorwurf gemacht wurde. Der Wiederaufbau der „Studienstiftung des deut-
schen Volkes" verdankte ihm wesentliche Impulse. Diese und andere ehrenamtliche Ta-
tigkeiten riefen Kritikauch unterMitarbeitern hervor, die bis zurbritischen Militarregie-
rung stieBen und ihn schwer verletzten. Dazu kam eine Liaison mit der damaligen Frau
des Ministerprasidenten Hinrich Wilhelm Kopf, die in der Offentlichkeit bekannt zu
werden drohte. Trotzdem kam sein Wechsel auf den Posten eines Generaldirektors der
neu begriindeten Rundfunkanstalt NWDR in Hamburg fur alle Beteiligten iiberra-
schend. Seine Nominierung beruhte auf dem Vertrauen des letzten britischen General-
direktors Hugh Carlton Greene. Auch in dieser Position griff er auf einen Stab von Mit-
arbeitern zuriick, die er aus fruheren Gelegenheiten kannte und die der offentlichen
Verwaltung entstammten. Durch diese Biirokratisierung veranderte sich auch der Cha-
rakter der Rundfunkanstalt, was auf das Missfallen der Belegschaft stieB. Inhaltlich griff
Grimme nicht in das Programm des Senders ein, das blieb die Aufgabe der jeweiligen In-
tendanten. Dagegen sah er sich rasch gezwungen, politisch fur die Einheit des Senders
gegen Begehrlichkeiten der Bundesregierung unter Konrad Adenauer und der CDU-ge-
fuhrten Landesregierung in Nordrhein-Westfalen unter Karl Arnold zu kampfen. Jede
Besetzungsfrage im NWDR, jeder politische Kommentar in einer Nachrichtensendung
und jede finanzielle Verfehlung im Haushalt bot eine potentielle Gefahr zur Instrumen-
talisierung gegen den am Rhein unbeliebten Sender. Grimme zeigte in diesen Zusam-
menhangen nicht immer eine gliickliche Hand und bot zahlreiche Vorwande fur Kritik
und Intrigen.
Grimme lieB auch seine Vergangenheit nicht ruhen. Er versuchte seinen fruheren
Anklager, Manfred Roeder, vor Gericht zu bringen. Doch statt zu seiner Verurteilung
vor der Liineburger Staatsanwaltschaft zu gelangen, musste er mit ansehen, wie es Roe-
der schaffte, seine Interpretation der Arbeit der „Roten Kapelle" mit Hilfe des „Stern"
und anderer Medien erfolgreich zu verbreiten. Damit heftete er ihm den Verdacht der
Zusammenarbeit mit der Sowjetunion - mitten im Kalten Krieg - an. Der dadurch ausge-
schlachteten Ruf eines ,Landesverraters', der vor allem durch die Deutsche Partei, aber
auch durch die CDU propagiert wurde, verschlimmerte die Situation weiter, zumal er in
der SPD, trotz seines kurzzeitigen Engagements im Nachkriegsvorstand, ein Einzelgan-
586 Besprechungen
ger blieb und wenig Riickhalt bei Schumacher, Ollenhauer u. a. genoss. Im Kampf gegen
die Auflosung des NWDRmachte Grimme schlieBlich Kompromisse zu Lasten derpoli-
tischen Neutralitat, doch der Zerfall lieB sich trotzdem nicht mehr aufhalten. Kurz nach
dem Staatsvertrag zur Liquidation des NWDR und der folgenden Neuordnung gab er
seine Tatigkeit auf und ging am 1. April 1956 in Pension. Von der schweren Haftzeit ge-
pragt zog er sich nach Siiddeutschland zuriick und widmete seine letzten Gedanken bis
zu seinem Tode am 27. August 1963 einer Schrift iiber das Johannesevangelium.
Burkhardt vermag es, die vielen Stationen in Grimmes Leben aus unterschiedlichen
Perspektiven zu beleuchten und in einen groBeren Kontext zu bringen. Dabei unterliegt
er ofters der von ihm in der Einleitung angedeuteten Versuchung, dass er mitunter per-
sonlichen Ansichten von Grimme selbst oder seinen Familienangehorigen und Freun-
den unkritisch folgt. Auch wenn Grimme im Gegensatz zu vielen Weggenossen keine
Autobiografie hinterlassen hat, so sorgen doch sein von ihm 1956 mehrfach uberarbeite-
ter Nachlass (S. 6) und seine Schriften dafiir, dass sich das Bild eines ,einsamen Kamp-
fers' fur die Ideale einer besonderen Verbindung von Christentum und Sozialismus in
den Vordergrund auch dieser Biografie drangt. Es ist jedoch auffallend, dass das Bild
iiber ihn auch durch diese Biografie nicht schliissig wird: erwar ein Christ, lehnte jedoch
die Kirchen als Institutionen ab; er war ein Sozialist, konnte der Dogmatik der vor und
nach dem 2. Weltkrieg vorherrschenden Linie der Partei nichts abgewinnen, er war ein
Schulreformer, der jedoch den Zielen seiner Zeit im preuBischen Schuldienst auch nach
1945 verhaftet blieb. Die Zerrissenheit seiner Generation spiegelt sich also auch in sei-
ner Einstellung wider. Am Ende dieses Buches fragt man sich unwillkurlich, warum
Grimme eigentlich trotz aller Widerstande Karriere gemacht hat? So hatte er sowohl im
preuBischen Kultusministerium als auch in der britischen Besatzungsbehorde immer
wieder Forderer, die seine Ideen und seine besondere Begabung erkannten und ihn un-
terstutzten. Doch ihm widerstrebte nach Burkhardt die Anpassung an eine Partei, eine
Kirche oder eine Gruppe, er opferte fur seine sehr personliche Uberzeugung auch Unter-
stiitzer und ging keiner Kritik aus dem Wege. Er war und blieb damit ein Individualist,
der trotz seiner wichtigen Positionen in dieser kritischen Zeit wenig Nachhall erlebt hat.
Die Biografie von Kai Burkhardt sollte das andern.
Stade Thomas Bardelle
Pyta, Wolfram: Hindenburg. Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler. Miinchen:
Siedler Verlag 2007. 1117 S. Abb. Geb. 49,95 €.
Biografien gehoren zu einem wichtigen Genre der historischen Wissenschaft wie der
historisch-politischen Bildung. Sie erreichen einen groBeren Leserkreis, insbesondere
natiirlich dann, wenn die Personlichkeit eine Bekanntheit genieBt, die iiber den Hori-
zont der Fachhistoriker hinausreicht. Biografien helfen zweifellos, Zeitepochen zu ver-
stehen, bergen aber ebenso die Gefahr, die Bedeutung von Personen fur historische Ent-
wicklungen zu iiberzeichnen. Dies gilt wiederum insbesondere fur Herrschergestalten,
die ihre Zeit zu bestimmen scheinen, von der Antike bis zur Zeitgeschichte. Auch die
deutsche Geschichtsschreibung des 19. und 20 Jahrhunderts kennt sie, von charismati-
schen Fiihrungspersonlichkeiten ist gar die Rede, bei Hitler natiirlich, aber auch bei Bis-
marck - und nun auch bei Hindenburg.
Personengeschichte 587
Pytas Hindenburg-Biografie ist insofern etwas ungewohnlich, weil die immerhin 871
Seiten Text (ohne Anmerkungen!) sich zum allergroBten Teil mit den letzten 20 Lebens-
jahren dieses mit einem langen Leben begliickten Militars und Staatsmanns beschafti-
gen und auch beschaftigen miissen. Denn vor 1914 war der 1847 in Posen geborene Paul
von Hindenburg ein eher normaler preuBischer Militar, ein „unbeschriebenes Blatt".
Seine Karriere ist eher langweilig, er war fleiBig, wechselte im iiblichen Umfang seine
Standorte. Zu diesen zahlten Hannover und Oldenburg. Hannover lernte er in den sie-
benjahren seiner Stationierung so schatzen, dass es ihn nach der vorzeitigen Pensionie-
rung als kommandierender General in diese Stadt zog, die er erst 1930 verlieB. Dies ware
es eigentlich gewesen, hatte Hindenburg nicht das Jahr 1914, also der Erste Weltkrieg,
ganz nach oben gespiilt. Als wieder in Dienst getretener General kommandierte er aus-
gerechnet die Armee, die 1914 bei Tannenberg einen Sieg iiber die Russen erzielte, der
sofort als legendar gait, auch wenn er weder den Krieg entschied, noch Russland wirk-
lich schwachte. Das kriegsbegeisterte Deutschland brauchte freilich diesen Sieg, den
man schnell mit Hindenburg personifizierte, auch wenn der General an den militari-
schen Planungen kaum beteiligt war, sondern das Gliick besaB, einen Ludendorff an sei-
ner Seite zu haben.
„Marchenhafter Aufstieg eines Pensioners" ist dieses zweite Kapitel der Biografie mit
Recht iiberschrieben, und wir befinden uns erst auf Seite 41. Hindenburg stieg rasch
zum Generalfeldmarschall auf, wichtiger aber ist, dass er zur nationalen Symbolfigur
wurde und dies nicht zuletzt deshalb, weil hierzu sich sonst niemand eignete. Kaiser Wil-
helm II. gelang es in der Tat nicht, sich an die Spitze der Nation zu stellen, er war auch
nach dem Abgang Bismarcks nicht aus dessen Schatten herausgetreten. Wenn Hinden-
burg aktiv wurde, dann in der Ausschlachtung des Erfolges von Tannenberg fur seine
Person. Seine nun angefertigten Portraits, an deren Entstehung die Stadt Hannover als
Auftraggeberin nicht unmaBgeblich beteiligt war, erreichten als Postkarten auch die
Schiitzengraben, Hindenburg wurde zur Symbolfigur des „Geistes von 1914", der von
nun an das politische Denken Hindenburgs bestimmte und dem er bis zu seinem politi-
schen Testament von 1934 treu blieb. Dies alles war freilich nur moglich, weil Tannen-
berg neben Skagerrak die Schlacht des Weltkriegs blieb, an der man sich in Deutschland
aufrichten konnte. Wohlgemerkt: Hindenburg ist fur Pyta keine charismatische Figur im
Sinne von Max Weber, er fullte eine Liicke, war Subjekt wie Objekt einer Gesellschaft,
der eine nationale Symbolfigur fehlte.
Auf dem politischen Parkett Berlins, das Kaiserhaus eingeschlossen, furchtete man
Hindenburgs Mythos, Versuche, ihn im Osten kalt zu stellen, scheiterten. Dass Hinden-
burg kein militarisches Genie war, wusste man auch in Berlin, Ludendorff war fur den
,Medienstar' Hindenburg bis 1918 einfach unersetzbar. Hindenburg nutzte den Krieg
eher als „Erlebnisurlaub" (S. 193), fronte 1915 im Osten derjagdleidenschaft, wahrend
im Westen die Schlachten verloren gingen. Die Desaster der Westfront waren also die
Voraussetzung fur seinen politischen Aufstieg. Dass er hierbei nicht nur Instrument an-
derer war, sondern bis zu seinem Lebensende selbst agierte und entschied, kann Pyta
deutlich machen. So gelang es Hindenburg, militarische und politische Gegneraus dem
Weg zu raumen: vor allem Falkenhain als militarischen Konkurrenten und den Kanzler
Bethmann-Hollweg, dessen Streben nach Friedenswegen er nicht teilte. Politisch und
militarisch erwies er sich als Hardliner, ubersah die Gefahren eines Kriegseintritts der
USA und behandelte die deutsche Gesellschaft als Kasernenhof. Schon die Drohung mit
einem potentiellen Rucktritt verschaffte ihm den notigen Respekt, der Kaiser war trotz
588 Besprechungen
teilweise hartnackiger Gegenwehr machtlos, zumal seine Frau und der Kronprinz Hin-
denburg stiitzten. Dass Hindenburg die Nation bereits jetzt iiber die Monarchic stellte,
macht Pyta deutlich: Im November 1918 war er entscheidend an der Abdankung Wil-
helms II. und dessen Abschiebung in das hollandische Exil beteiligt, was freilich ein
wohl behiitetes Geheimnis blieb. Der Kaiser war nach seiner Flucht bis weit in das rechte
Spektrum hinein erledigt. Hindenburgs Ruf blieb dagegen von der militarischen Nie-
derlage unberiihrt: Er fiihrte die Armeen geordnet in die Heimat, tauchte bei der An-
nahme des Versailler Vertrages fur die Offentlichkeit ab, arbeitete erfolgreich an der
Kriegsliige, der DolchstoBlegende, und sorgte in der Nachkriegszeit dafiir, dass seine
Rolle entsprechend gewiirdigt bzw. verschleiert wurde. Hierbei waren ihm sparer auch
die Archivare des Reichsarchivs behilflich. Ludendorff war nach Kriegsende noch be-
reit, seine Memoiren mit denen Hindenburgs abzugleichen; auch er hatte damit seine
Schuldigkeit getan.
Hindenburg schuf auf diese Weise den Grundstein fur seine zweite politische Karrie-
re als Reichsprasident der Weimarer Republik. Pytas Argumente scheinen schliissig,
Fragen bleiben dennoch: Hindenburg wurde seit 1914 zwar ein charismatischer Fiihrer,
aber fur wen? Immerhin erwies sich der „Geist von 1914" als so schwach, dass die starks-
te politische Massenbewegung, die Sozialdemokratie, an ihm zerbrach. Auch die No-
vemberrevolution nagte am Bild eines charismatischen Hindenburg, dessen Ansehen
zwar weitgehend unbeschadigt blieb und an dem sich „die verunsicherten und verstor-
ten Deutschen" aufrichten konnten, wie Pyta meint (S. 383), aber ohne Abstriche gait
dies doch wohl nur fur die Kreise, die der Monarchie nachtrauerten bzw. die Republik
ablehnten. Freilich hielt sich auch die Sozialdemokratie mit Kritik an Hindenburg zu-
riick, was aber auch deshalb nicht schwer fiel, weil er seine Ambitionen fur das Amt des
Reichsprasidenten 1920 und 1922 angesichts des Kapp-Putsches und der Zerrissenheit
des rechten Lagers aufgab und bis 1925 aus dem politischen Leben weitgehend ver-
schwand. Reicht dies aber als Begriindung fur das Abtauchen eines charismatischen
Fiihrers?
Hindenburgs Wiederaufstieg ist fur Pyta Konsequenz des Hindenburg-Mythos, an
dem der schon greise Generalfeldmarschall selbst glaubte und auf den er stets achtete:
„Hindenburg war sich seiner symbolischen Unentbehrlichkeit bewusst, weshalb jede
Beschadigung des Hindenburg-Mythos einen nicht nur aus personlichen Grunden zu
vermeidenden Imageschaden darstellte" (S. 471). Und: „Ihm stand die Moglichkeit of-
fen, aufgrund seiner zusatzlichen charismatischen Legitimationsressource einen Verfas-
sungswandel zugunsten der Prasidialgewalt herbeizufuhren" (S. 480) . Davon konnte frei-
lich 1925 noch keine Rede sein. Hindenburg erreichte zwar mit seiner Wahl eine Uber-
windung der Milieugrenzen, indem die BVP und das rechte Zentrum ihn stiitzten,
zunachst aber hatte er als President allenfalls Einfluss auf die Bestellung der Kanzler und
auf die AuBenpolitik; Einfluss nahm er ansonsten allein auf die Frage derFiirstenenteig-
nung und auf den Flaggenstreit. Aber erst ab 1930 griff er offensiv in die Koalitionspoli-
tik ein, eine Prasidialherrschaft lehnte er freilich ab, um - Pyta wird nicht miide, dies zu
betonen - seinen Mythos nicht in den Niederungen der Politik zu beschadigen. So ver-
schliss er drei Kanzler, am langsten und schmerzhaftesten Briining, dessen auBenpoliti-
sche Erfolge er auch nach rechts verteidigte, bevor er ihn durch parlamentarisch iiber-
haupt nicht mehr abgesicherte Figuren derburgerlichen Rechten ersetzte, deren Kurs er
letztlich auch nicht teilte. Eine Prasidialdiktatur nach dem Wunsch von Papens lehnte er
ebenso ab wie eine Diktatur des Militars, wie sie von Schleicher anstrebte.
Personengeschichte 589
Hindenburg wollte die Einigung der Nation von rechts, deshalb schmerzte ihn das
Sinken seines Sterns bei der politischen Rechten und beim Militar. Das Ziel der rechten
Volkseinheit verlor er dennoch nicht aus den Augen, auch nicht bei der Wiederwahl
1932, bei der er von der sozialdemokratischen und katholischen Wahlerschaft abhangig
war, nicht einmal vom Stahlhelm unterstiitzt wurde. Pyta arbeitet das Paradoxon der
Reichsprasidentenwahl von 1932 deutlich heraus: SPD und Zentrum wahlten einen
Prasidenten, von dem sie wussten, dass dieser selbst einen Briining fiir nicht mehr trag-
bar hielt, sondern denen die Macht geben wollte, die ihn nicht mehr wahlen wollten!
Anders herum war sein Wahlgegner Adolf Hitler mit seiner NSDAP fiir Hindenburg in-
zwischen die Kraft, die er an der Macht beteiligt sehen wollte, denn letztlich verwirk-
lichten die Nationalsozialisten fiir ihn die Einheit des Volkes iiber alle Milieus hinweg.
Was Hindenburg lange an Hitler storte, war allein der Parteifiihrer, die drohende Dikta-
tur einer Partei.
Pyta lasst Hindenburg - seit 1930 haufig vom seinem ostpreuBischem Gut Neudeck
(ein Geschenk deutscher Industriebosse) - die Faden spinnen, wobei freilich Blanko-
Notverordnungen fiir die bedrangten Kanzler nicht so recht ins Bild passen wollen. Den-
noch: Das Ziel Hindenburgs, eine Regierung der nationalen Einheit zu installieren und
dies auf legalem Weg, fiihrte iiber Papen und Schleicher zwangslaufigzujenem 30.Janu-
ar 1933. Die Regierung Hitler und damit die Machtiibernahme der Nationalsozialisten
entsprachen dem, was Hindenburg wollte. Im Fruhjahr 1933 sah Hindenburg den „Geist
von 1914" wiederbelebt, wurde deshalb ein spater Verehrer des neuen charismatischen
Fiihrers Deutschlands und lieB sich auch deshalb auf keine Spielereien mit einer Wie-
derbelebung der Monarchie ein. Er selbst lieB sich von Hitler gern auf seinen Ruhm als
Generalfeldmarschall und Wiedererwecker der deutschen Nation reduzieren. Dem neu-
en Kanzler, seinem ausdriicklich gewiinschten Nachfolger, legte er keine Steine mehr in
den Weg, ertrug auch den Streit in seiner protestantischen Kirche und die makabren
Niederungen des „R6hm-Putsches".
Gut 300 Seiten widmet Pyta den letzten vier Lebensjahren Hindenburgs, der Ent-
wicklung der Prasidialkabinette und der Machtiibernahme Hitlers. Es ist freilich keine
allgemeine politische Geschichte der Weimarer Endzeit, die der Verfasser bietet, der Fo-
kus ist schon auf Hindenburg gerichtet. Aber insgesamt eignet sich die Person Hinden-
burg auch nur fiir eine genuin politikgeschichtliche Biografie, ansonsten sind der Mann
und sein Leben schlicht zu langweilig. Insofern ist Pyta eine iiberzeugende, in sich strin-
gente und fiir die Klarung des Scheiterns der Republik von Weimar wichtige Arbeit ge-
lungen. Pyta findet die rote Linie im spaten politischen Leben Hindenburgs, wobei zu
fragen bliebe, inwieweit sie dieser wirklich so stringent wahrnahm. Kritisch anzumerken
bleibt: Nur wenn Wiederholungen wirklich padagogisch wertvoll sind, dann ist es auch
der Stil dieser Arbeit. Eine deutliche Straffung und letzte Uberarbeitung hatten dem
Manuskript gut getan. SchlieBlich verliert der Wert der Anmerkungen durch ihre Posi-
tionierung ans Ende und ihre kapitelweise Durchzahlung. Die Beschrankung auf einen
Personenindex ist bei solchen Werken iiblich, aber dennoch unbefriedigend. Trotz die-
ser Bemerkungen: Pyta ist ein wichtiges Buch gelungen, an dem sich die Forschung nun
reiben darf.
Oldenburg Gerd Steinwascher
590 Besprechungen
Stockhausen, Joachim von: „Ich habe nur meine Pflicht erfullt". Hanns Lieff (1879-1955).
Hildesheim: Georg Olms Verlag 2008. 174 S. Geb. 19,80 €.
Joachim von Stockhausen ist der Enkel von Hanns (Johannes) Lieff, von 1924-1927
braunschweigischer Innenminister (parteilos) und von 1931-1937 dem braunschweigi-
schen „Minister des Innern unmittelbar unterstellter" Prasident des Polizeiprasidiums
„als Orts- und Landespolizeibehorde" (86) im Freistaat, von 1937-1945 Vorsitzender des
braunschweigischen Verwaltungsgerichtshofes. Das vorliegende Buch ist eine Ausein-
andersetzung des Enkels mit dem Verhalten seines GroBvaters im so genannten Dritten
Reich und gleichzeitig eine Auseinandersetzung mit dem Urteil eines Historikers iiber
die Tatigkeit Lieffs von 1933-1945. Horst-Riidigerjarckhat im Braunschweigischen Bio-
graphischen Lexikon 19. u. 20. Jahrhundert geschrieben: „In den umfangreichen Unter-
lagen zur Entnazifizierung wird spater deutlich, da6 ihm strafbare Handlungen und
auch das Mitwissen um die im NS in Brsg veriibten Schandtaten nicht nachzuweisen wa-
ren. Es bleibt in seinem Berufsweg und letztlich iiber seine Funktionen die tragische Ver-
kettung in die politischen Zeitereignisse, gegen die er wohl bestatigte Vorbehalte hatte,
jedoch keine nennbare Opposition gezeigt hat". Der Enkel sieht in der AuBerung, Lieff
habe „keine nennbare Opposition gezeigt", einen Vorwurf.
Stockhausen sucht nach Erklarungen fur das Verhalten seines GroBvaters, fragt nach
dem Spielraum, den er gehabt habe als ranghoher braunschweigischer Beamter, der eine
fiinfkopfige Familie habe ernahren miissen. Er schildert die unpolitische Erziehung
Lieffs als Verwaltungsjurist und seine Verbundenheit mit den klaren und wenig flexi-
blen Regeln des biirgerlichen Milieus der wilhelminischen Zeit, in das der GroBvater
durch seine Herkunft aus gutem Hause, der UrgroBvater war Oberkonsistorialrat, und
als Akademiker und Corpsstudent eingebunden gewesen sei. Der DNVP vor 1933 nahe
stehend, habe er sich zogerlich zum Eintritt in die NSDAP (1935) bewegen lassen - und
gait den Nationalsozialisten als „zu objektiv" (123). Als Polizeiprasident zumindest for-
mal zustandig, habe seine Unterschrift auch auf dem Formular gestanden, das Karl Jas-
per 1933 in Schutzhaft einwies (107), eine der zahlreichen durch den damaligen NS-Mi-
nisterprasidenten und Innenminister Klagges initiierten illegalen GewaltmaBnahmen.
Stockhausen legt keine wissenschaftliche Erorterung vor, er setzt sich auf der Grund-
lage iiberlieferterQuellen,mit Hilfe einer Auswahl an wissenschaftlicher Literatur sowie
durch Zeitzeugenberichte mit der Stellung seines GroBvaters auseinander. Aus der Dar-
stellung lasst sich entnehmen: Im Vergleich zu der begeisterten und blinden Unterstiit-
zung der Nationalsozialisten durch den Braunschweiger Stadtbaurat Karl Gebensleben
und seiner Ehefrau erscheint Lieff im vorliegenden Buch deutlich distanziert und eher
verhalten (Lieff selbst bezeichnet seine Haltung als „innerlich fremd und ablehnend") .
Der Enkel verdeutlicht plausibel, dass der GroBvater im Horizont des wilhelminischen
Beamtentums, gegrtindet in der stabilen und geordneten Zeit vor dem Ersten Weltkrieg,
verharrte und sich darin wohl fiihlte, diese Haltung auch als braunschweigischer Polizei-
prasident in den politisch, sozial und okonomisch aufgewuhlten Zeiten der ausgehenden
Weimarer Republik und der NS-Diktatur hinnahm. Er habe versucht, sich an ein ab-
1 Horst-RudigerjARCK: Braunschweigisches Biographisches Lexikon. 19. u. 20. Jh. Hanno-
ver: Hahn 1996.
2 Zitat S. 124; zu Gebensleben vgl. Hedda Kalshoven: Ich denk so viel an Euch. Ein
deutsch-hollandischer Briefwechsel 1920-1949. Miinchen : Luchterhand, 1995.
Personengeschichte 591
straktes Rechtssystem zu klammern, dessen Grundlagen bereits seit dem Eintritt der
NSDAP in die Regierungskoalition 1931 konsequent, zunachst durch MaBnahmen am
Rande der Legalitat, unterhohlt worden sei. Es kann der Schluss gezogen werden, dass
Lieff nicht mit politischem Instinkt versehen oder gar einem kampferischen Wesen aus-
gestattet war. In dem Kapitel iiber sein Verhalten als braunschweigischer Innenminister
erscheint Lieff selbst bei verletzenden Attacken seitens der Opposition seltsam in sich
gekehrt bzw. hilflos. Einleuchtend erscheint die Hypothese des Autors, dass Hanns Lieff
mit seiner Korrektheit dem nationalsozialistischen Ministerprasidenten Klagges bzw.
dem brutal auftretenden Justiz- und Finanzminister Friedrich Alpers v.a. zu Beginn der
NS-Zeit als biirgerlicher Schutzmantel gedient habe.
Stockhausen beklagt, dass das Entnazifizierungsverfahren nach dem Zweiten Welt-
krieg den Konflikt zwischen Pflichterfiillung und „politischer Rechtsbeugung" nicht
berucksichtigt habe. Lieff sei „schuldig" gesprochen worden. Beharrend auf dem Werte-
system der wilhelminischen Zeit habe der GroBvater nur seine Pflicht getan. - Hier sei
eine Richtigstellung vorgebracht: Das Urteil schuldig kann es in einem Entnazifizie-
rungsverfahren nicht gegeben haben. Dies waren politische Verfahren, die zum Ziel hat-
ten, im Sinne des Aufbaus einer Demokratie Menschen mit nationalsozialistischer Ge-
sinnung aus den fiihrenden Positionen in Gesellschaft und Wirtschaft zu entfernen bzw.
herauszuhalten. Lieff hatte sich zu verantworten, weil er als Polizeiprasident in der NS-
Diktatur Verantwortung in herausgehobener Position iibernommen hatte. Lieff wurde
1949 in Kategorie III eingestuft, wobei NS-Haupttater mit I, Belastete mit II, Minderbe-
lastete mit III,MitlaufermitIVund Entlastete mit V aus dem Verfahren hervorgingen.
Sicherlich war Hanns Leiff kein wiitender Nationalsozialist. Sein Beispiel zeigt deut-
lich, dass die biirgerliche Elite angesichts der Umwalzungen nach dem Ersten Weltkrieg
in der politischen und okonomischen Krise der ausgehenden Weimarer Republik eher
nach hinten schaute und vielfach keine fiihrende, staatstragende und konstruktive Rolle
gespielt hat. Gustav Stresemann, der in der Lage war, die Realitat des verlorenen Krieges
anzuerkennen, sich von seiner nationalistischen Einstellung zu trennen und sich zu
einem (Vernunft-) Republikaner zu entwickeln, gehort zu den Ausnahmen. - Fur den
Menschen Hanns Lieff lasst sich der Schluss Ziehen, dass die Anforderungen an Perso-
nen des offentlichen Lebens in herausfordernden Zeiten iiber die reine Pflichterfiillung
hinausgehen, und, dass dies eine iiberfordernde Anspannung bedeuten kann. - Fur den
Polizeiprasidenten Lieff gilt das abgewogen und zuriickhaltend ausgesproche Urteil des
Historikers.
Stockhausens Arbeit weist auf ein Desiderat der wissenschaftlichen Forschung hin:
Leider gibt es bisher keine Geschichte der Landes- und der stadtbraunschweigischen
Verwaltungspraxis und ihrer Akteure in derNS Zeit. Auch aus staatsbiirgerlichem Inter-
esse ist die Erforschung der Nazifizierung der Verwaltung in dem fur den Beginn der
NS-Diktatur in Deutschland nicht unwichtigen Freistaat Braunschweig durchaus wiin-
schenswert.
Stade Gudrun Fiedler
3 Die Entnazifizierungsakte befindet sich im NLA - Staatsarchiv Wolfenbiittel - und kann
unter der Bestell-Signatur 3 Nds 92/1 Nr. 43727 eingesehen werden.
4 Vgl. dazu die Arbeit von Rudiger Fleiter, Stadtverwaltung im Dritten Reich. Verfol-
gungspolitik auf kommunaler Ebene am Beispiel Hannovers. (Hannoversche Studien. Schrif-
tenreihe des Stadtarchivs Hannover Bd. 10). Hannover: Harm, 2006.
592 Besprechungen
Herrin ihrer Kunst. Elisabet Ney: Bildhauerin in Europa und Amerika. Hrsg. von Barbara
Romme. Minister: Stadtmuseum Munster 2008. 301 S., Abb. + 1 CD-ROM. Geb.
38,- €.
Die Bildhauerin Elisabet Ney (1833-1907) gehort zu den herausragenden Kiinstlerper-
sonlichkeiten des 19. Jahrhunderts. Gebiirtig in Munster, erlernte sie - fur eine Frau je-
ner Zeit vollig ungewohnlich - die Bildhauerei in Munchen und Berlin und gehorte zum
Schiilerkreis von Christian Daniel Rauch, einem derbedeutendsten und erfolgreichsten
Bildhauer des deutschen Klassizismus. 1871 ging sie in die USA und lieB sich in Texas
nieder. Wie die ubrigen Schiiler und Epigonen von Rauch war Elisabet Ney angesichts
der weiteren Entwicklung der kiinstlerischen Plastik im 20. Jahrhundert in Vergessen-
heit geraten, bis ihr Leben und Werk nicht zuletzt durch die jetzige Ausstellung in ihrer
Heimatstadt - nunmehr vor allem der Kiinstlerin als Frau gewidmet - fur eine breitere
Offentlichkeit wiederentdeckt wurde.
Das interdisziplinare Autorenteam hat die zahlreichen Werke der Kiinstlerin fur eine
Ausstellung in zahlreichen Museen des In- und Auslandes nachgewiesen und die unter-
schiedlichen Aspekte des Lebens und Wirkens der Kiinstlerin durch Auswertung um-
fangreicher Quellen im vorliegenden Katalog lebendig werden lassen. Fur eine Anzeige
an dieser Stelle besonders hervorzuheben ist die Tatigkeit von Elisabet Ney in Hanno-
ver, wo sie 1859 und 1860 eine Biiste des damaligen Konigs Georgs V. ausfiihrte, heute in
der Kunstsammlung der Universitat Gottingen (S. 226 f.). Ein Aquarell ist erhalten, das
Elisabet Ney bei der Fertigung des Portrats des Konigs im Atelier des damaligen hanno-
verschen Hofmalers Friedrich Kaulbach zeigt (S. 19). Wie es im Katalog heiBt, war der
blinde Konig mit der Arbeit der Kiinstlerin sehr zufrieden (S. 210).
Kaulbach, der sich damals offenbar in die junge Kiinstlerin verliebt hatte, schuf von
ihr ein beeindruckendes ganzfiguriges, lebensgroBes Portrat der Kiinstlerin, das sie in
der Werkstatt neben der Tonbiiste Georgs V. zeigt und das sich heute im Niedersachsi-
schen Landesmuseum Hannover befindet. Wie iiberliefert ist, schatzte Elisabet Ney die-
ses Bild besonders und hat es mehrfach bei Ausstellungen zusammen mit ihren eigenen
Werken gezeigt. Auch wenn ihr spaterer Mann Edmund Montgomery es als „idealisiert
und unwahr" empfand, diente das Gemalde ihres Verehrers auf diese Weise weiterhin
ihrer Karriere (S. 210). Anlasslich der jetzigen Ausstellung in Munster ziert es den Um-
schlag des Katalogs.
Die Vorstellung, als Frau habe Elisabet Ney in einem sonst ausschlieBlich von Man-
nern wahrgenommenen Metier besondere Schwierigkeiten gehabt, wie in dem Katalog
immer wieder anklingt, erscheint allerdings nur eingeschrankt haltbar. Vor allem an-
fangs hatte sie immer wieder damit zu kampfen, dass man ihr die korperliche Arbeit nicht
zutraute, mancherorts stieB sie auf Vorurteile. Aber wenn z. B. die Fiirstin Wittgenstein
im Salon von Karl August Varnhagen von Ense iiber sie geauBert haben soil: „So jung
und hiibsch und mit die harten Steine arbeiten?" (S. 82) , liegt darin neben dem Erstaunen
doch auch eine bewundernde Anerkennung. Weder bei Kollegen noch bei Auftragge-
bern stieB die Kiinstlerin auf ernsthafte Ablehnung. In Gegenteil: Neben dem Konig von
Hannover lieBen sich bei ihr so unterschiedliche Personlichkeiten wie Konig Ludwig II.
von Bayern, Arthur Schopenhauer, Giuseppe Garibaldi und Otto von Bismarck portra-
tieren, auf nationalen und internationalen Ausstellungen waren ihre Werke vertreten.
Derhaufige Hinweis auf die Verweigerung eines zeitgenossischen weiblichen Rollen-
bildes durch die Kiinstlerin, der den Katalog durchzieht, wird durch einige Beitrage mo-
Personengeschichte 593
difiziert. Wenn man beriicksichtigt, dass Elisabet Ney ihre Ehe geheim hielt und ihre
Herkunft aus einer Bildhauerfamilie verschwieg, dass sich andererseits aber bereits ihr
Vater von seinem auBeren Erscheinungsbild her gesellschaftlichen Gepflogenheiten
kaum angepasst hatte (S. 52 ff.), ist im Auftreten von Vater und Tochter vor allem ge-
schlechtsiibergreifend eine gemeinsame Selbstdarstellung als Kiinstlerpersonlichkeiten
zu sehen - auch wenn dies bei beiden unterschiedlich zum Ausdruck kam. Ney selbst
ging, wie in einem Artikel ausdriicklich betont wird, im Deutschland des 19. Jahrhun-
derts „noch ganz selbstverstandlich von einem geschlechtsneutralen Kiinsdertum aus"
(S. 125).
Neys exzentrischer Habitus, der auch dem mannlichen Kunstlerbild entsprach
(S. 128), wird auf diese Weise erklarbar. Als Resumee des Katalogs heiBt es demgegen-
iiber auf dem AuBendeckel zeitgemaB individualisierend, Talent und Beharrlichkeit der
Kiinstlerin, „die sich Zeit ihres Lebens iiber zahlreiche Konventionen hinwegsetzte",
hatten dazu gefuhrt, dass diese „ein selbstbestimmtes Leben fiihren konnte". Sicherlich
nicht falsch - aber doch nur Teil der Wahrheit.
Hannover Manfred von Boetticher
Brenn-Rammlmair, Renate: Stadtbaumeister Gustav Nolte. Der Heimatstil in Bozen. Bo-
zen: Verlagsanstalt Athesia 2007. 192 S. Abb. Kart. 26,90 €.
Seine Erscheinung war in Bozen wohl eine Besonderheit: Der schmal gebaute Mann mit
oft angestrengtem Gesicht konnte seine norddeutsche Sprechweise niemals seinem neu-
en Umfeld im siidlichen Tirol anpassen, lieB sich aber gerne mit seiner Bozener Gattin in
der Tracht Jenesiens ablichten, und seine Bauten wurden untrennbarer, hochst qualitat-
voller Bestandteil dieser alpinen Stadt. Gustav Nolte (1877-1924), Stadtbaumeister Bo-
zens, ist Kennern der Kunstgeschichte Siidtirols ein Begriff. Doch gab es bisher kaum Li-
teratur zu ihm, auch die gangigen Kiinstlerlexika schweigen sich aus. Die anzuzeigende
Publikation, in den Hauptkapiteln in Deutsch und Italienisch, basiert auf einer kunsthi-
storischen Dissertation von 1997 bei Lionello Puppi an der Universitat Venedig. Ihr
Druck ist dem Heimatschutzverein Bozen zu danken, der damit eine Liicke in der an hef-
tigen Wendungen reichen Baugeschichte der beriihmten Handelsstadt an Eisack und
Talfer schlieBen half.
Dass Gustav Nolte ausgerechnet aus dem Dorf Siistedt bei Hoya (heute Samtgemein-
de Bruchhausen-Vilsen, Landkreis Diepholz) stammte, wird eher als ein Kuriosum ge-
nannt, aber nicht weiterbehandelt. Heute nenntman das „Migrationshintergrund". Was
mag den Sohn eines niedersachsischen bauerlichen Grundbesitzers zum Architekturstu-
dium bewogen haben? Erstaunlich auch, wie jung der am 3. September 1877 geborene
Nolte war, als er nach dem Schulbesuch nach Miinchen ging und dort sehr rasch ein Ar-
chitekturstudium abschloss. Uber diesen Werdegang gibt es bisher kaum Berichte, auch
nicht iiber Art und Struktur seiner fachlichen Ausbildung, vor allem seine akademischen
Lehrer. Schon im Mai 1902, also mit 25 Jahren, fand er Arbeit in Bozen, um fur immer
dort zu bleiben, wie manche andere, die der enge Kontakt der Miinchner Kiinstlerwelt
zu Tirol nach Siiden zog. Er hat sich dort fest integriert, 1910 eine Einheimische geheira-
tet, 1911 die Staatsbiirgerschaft gewechselt, um dann endgiiltig Nachfolger Wilhelm
Kurschners als Stadtbaumeister Bozens zu werden, bis zu seinem friihen Tode 1924.
594 Besprechungen
Die von der Autorin konzis geschilderte Bozener Stadtentwicklung im spaten 19.
Jahrhundert brach nach 1918 abrupt ab, was sich mit der Abtrennung Siidtirols von
Osterreich und der dann heftig verstarkenden Italienisierung auch im architektonischen
Habitus deutlich ausgepragt hat. Dieses Bozener Baugeschehen war noch sehr von aus-
wartigen Einfliissen gepragt gewesen. So kam der Stadtbaumeister Sebastian Altmann
(1857-1894) aus Miinchen, ebenso Carl Hocheder, der Erbauer des Rathauses (1903-07).
Stadtbaurat Wilhelm Kiirschner (gest. 1914), stammte aus Dresden. Es gab hier eine
Miinchner Kunstlerkolonie, die einflussreicher war als die Zentrale der Monarchie in
Wien. Hier war Nolte der letzte Vertreter einer historischen Entwicklung der Stadt aus
ihren alpin-tirolischen Wurzeln. Solche erstaunlich fruhreife Pragung und Begabung
zum muhelosen Eintauchen in ein fremdes Lokalkolorit ruft nach einer Erklarung, die
das Buch aber schuldig bleibt.
Uber die niedersachsischen Wurzeln Noltes werden offenbar nur die Bozener Famili-
entraditionen weitergegeben. Hier konnten aber sicher noch mehr Hintergrundinforma-
tionen erarbeitet werden. Denn die Nachfahren seiner Geschwister leben noch immer
an seinem Geburtsort. Eine jiingst restaurierte historische Turbinenwassermiihle von
1880 tragt noch heute den Namen der Familie. Deren Entstehen muss er als Knabe mit-
erlebt haben. So waren iiber die Tradition in der neuen Heimat auch am Ursprungsort
Quellen und Strukturen zu befragen.
Schon Noltes Erstlingswerk, die Villa Oberrauch von 1908 in St. Konstantin bei Vols
am Schlern, mit ihrem offenen Blick weit auf die Bergkamme iiber dem Eisacktal, wird
zu Recht in ihrer groBen Bedeutung einfiihlsam gewiirdigt. Sie ist sein erster eigenstan-
diger Bau, doch schon eine reife Leistung. Sie iibertragt in idealer Weise Erfahrungen
aus dem englischen Landhausstil auf das vertraute lokale Sommerfrischleben, mit be-
quemem Grundriss in organischer Funktionalitat. Noltes Bauten als Stadtbaumeister
sind offentliche Bauten einer kommunalen Bauverwaltung, also Schulen, deren Beein-
flussung durch die bekannten Miinchner Schulbauten eines Theodor Fischer oder Hans
Grassel die Autorin wiirdigt, auch stadtische Arbeiterwohnhauser, Altenwohnheime,
Kindergarten, Feuerwehrhaus, Friedhof, Volksbad. Diese Bauten, im Katalogteil des Bu-
ches ausfiihrlich dokumentiert, fiigen sich dem Ortsbild vollkommen ein. Sie sind ge-
pragt vom sog. Heimatstil, der im bewussten Gegensatz zum akademischen Historismus
geschmeidig lokale Traditionen variierte, meist in Aufnahme einer biirgerlichen
spatbarocken Formensprache, mit einfuhlsamer Gestaltung der Details und behagli-
chem handwerklichem Dekor. Mit diesem regionalromantischen Stil fiigte er sich, auch
mit der Beschaftigung mancher bewahrter einheimischer Kiinstler, Maler und Bildhauer,
der ortlichen Mode des sog. Uberetscher Stils ein.
Die reiche Bebilderung des Buches mit historischen Fotos gibt einen guten Eindruck
der ursprunglichen Wirkung der Bauten Noltes, von denen manche heute leider veran-
dert oder gar verschwunden sind. Viele andere haben sich erstaunlich gut erhalten. So
verdanken wir dem Buch viele Erstinformationen iiber das siidtiroler Wirken des nord-
deutschen Kiinstlers. Seinen Urspriingen aber mufi noch intensiver nachgegangen wer-
den, um seine Kunst voll wiirdigen zu konnen.
Bamberg Manfred F. Fischer
Personengeschichte 595
Konig, Walter in Zusammenarbeit mit Magdalena Konig, Rudolf Meier, Bertha Brock-
mann: Der Reformator Urbanus Rhegius. Chronik einer Familie zwischen Langenargen
und Finkenwerder. Hrsg. vom Hindelang Museum Langenargen am Bodensee. Lan-
genargen: Museum Langenargen 2006. 308 S., Abb., Kt. Geb. 22,80 €.
Ausgehend von einer gemeinsamen Ahnenforschung haben sich mehrere Nachkom-
men des bekannten Reformators und ersten Generalsuperintendenten im Fiirstentum
Liineburg Urbanus Rhegius (1489-1541) zu jahrelanger Arbeit zusammengefunden und
das Leben von dessen Familie in der Reformationszeit und in den folgenden Jahrhun-
derten nachgezeichnet - den verschiedenen Familienzweigen folgend vom Bodensee
bis nach Hamburg, von Wittenberg bis nach Konigsberg in OstpreuBen. Das urspriing-
lich vor allem genealogische Interesse riickte dabei in den Hintergrund, im Mittelpunkt
der Darstellung stehen Lebensverhaltnisse und Zeitumstanden der einzelner Personlich-
keiten.
Auch wenn bei einem solchen Vorgehen keine historisch-systematische Darstellung
entstehen konnte: Rhegius Wirken - von Konstanz iiber Augsburg nach Celle - wird de-
tailliert nachgezeichnet und um manches, bislang unbekanntes Detail erweitert. Das Le-
ben seiner Mutter tritt deutlicher hervor, die Hinweise auf sein Frau werden dichter. Vor
allem aber beleuchten die Lebenslaufe seiner Kinder und Kindeskinder - Vogte, Pasto-
ren, Musiker, furstliche Beamte, Landwirte und Schriftsteller - in anschaulicher Weise
die „evangelische Pastorenfamilie" alskulturhistorisches Phanomen derfriihenNeuzeit.
Den Abdruck zahlreicher, z. T. kurzerer, haufig schwer recherchierbarer Quellen
macht die Darstellung anschaulich, eine Vielzahl von Abbildungen - Personen, Gebau-
de und alten Karten - bereichert die Texte. Zudem besticht das Buch durch sorgfaltige
Archivstudien und einen gewissenhaften Anmerkungsapparat, der samtliche biographi-
schen und historischen Informationen nachvollziehbar macht.
Dem Museum von Langenargen am Bodensee, dem Geburtsort von Urbanus Rhe-
gius, ist nachdriicklich zu danken, dass es die Veroffentlichung des umfangreichen Ma-
nuskripts iibernommen hat.
Hannover Manfred von Boetticher
NACHRICHTEN
HISTORISCHE KOMMISSION
FUR NIEDERSACHSEN UND BREMEN
Jahrestagung vom 16. bis 17. Mai 2008
und Mitgliederversammlung am 17. Mai 2008 in Bremerhaven
7. Bericht tiber die Jahrestagung
Auf EinladungderStadt Bremerhaven tagte die Historische KommissionfiirNiedersach-
sen und Bremen in diesem Jahr in der Stadt an der Wesermiindung. Den Auftakt bildete
eine Stadtrundfahrt in Bussen, bei der die Teilnehmer von Herrn Dr. Hartmut Bickel-
mann, dem Leiter des Stadtarchivs Bremerhaven, bzw. von Herrn Dr. DirkJ. Peters, wis-
senschaftlicherMitarbeiteram Deutschen Schifffahrtsmuseum, interessante Einblicke in
die wechselhafte Geschichte der aus verschiedenen einstmals selbstandigen Gemeinwe-
sen zusammengewachsenen Stadt erhielten.
Die Jahrestagung beschaftigte sich in diesem Jahr - wie es sich mit Blick auf den Ta-
gungsort Bremerhaven geradezu angeboten hatte - mit dem Thema „Migration und ihre
Hintergriinde: Wanderungsbewegungen in Nordwestdeutschland vom 17. bis zum 20.
Jahrhundert". Im Sitzungssaal des Deutschen Schifffahrtsmuseums wurden die Anwe-
senden vom Leiter des Museums, Herrn Prof. Dr. Lars U. Scholl, vom Stadtverordne-
tenvorsteher Artur Beneken und vom Vorsitzenden der Kommission, Herrn Prof. Dr.
Thomas Vogtherr, begriiBt. AnschlieBend eroffnete Herr Prof. Dr. Franklin Kopitzsch
(Hamburg), der die Moderation des ersten Vortragsblocks iibernommen hatte, die Rei-
he der wie immer offentlichen wissenschaftlichen Vortrage.
Den Auftakt des Vortragsprogramms machte Herr Prof. Dr. Jochen Oltmer (Osna-
briick), der mit seinem Vortrag „Historische Migrationsforschung: Begriffe, Felder, Per-
spektiven" in das Tagungsthema einfiihrte. Oltmer mahnte bei der Beschaftigung mit
Wanderungsbewegungen die Verwendung einer klaren Begrifflichkeit an und warnte
wegen der Vielfalt von Migrationsformen (Arbeitswanderung, Kultur- und Wohlstands-
wanderung, Zwangswanderung usw.) vor der Verwendung eines einseitigen Migrations-
begriffs. Zudem verandere die Integration von Zuwanderern sowohl die Zuwanderer-
gruppe als auch die Aufnahmegesellschaft. SchlieBlich waren raumliche Bewegungen in
der historischen Wirklichkeit ungeachtet der groBen transatlantischen Abwanderung
des 19. Jahrhunderts iiberwiegend kleinraumig und iiberschritten nur zu einem kleine-
ren Teil territoriale bzw. staatliche Grenzen. So lebten im Jahr 1907 von den 62 Millio-
nen Einwohnern des Deutschen Reiches nur 51 °/o am Ort ihrer Geburt.
598 Nachrichten
Dr. Horst RoBler (Bremen) schlug in seinem Vortrag „Hollandganger, Zuckerbacker,
Amerikawanderer - Grenziiberschreitende Migration aus dem Elbe-Weser-Raum" den
Bogen von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs. Der
Referent verglich drei groBe, sich zum Teil zeitlich iiberlappende Fernwanderungen
miteinander. Die Hollandgangerei, die saisonelle Arbeitswanderung in die nach dem
erfolgreichen Unabhangigkeitskrieg gegen Spanien wirtschaftlich expandierenden Nie-
derlande, wurde fast ausschlieBlich von Mannern aus den landlichen Unterschichten be-
trieben. Erste Hinweise auf diese Form der Arbeitswanderung finden sich fur den Elbe-
Weser-Raum aus demjahr 1633, nach dem Westfalischen Frieden von 1648 wuchs sich
diese Wanderungsbewegung zum Massenphanomen aus, das erst im napoleonischen
Zeitalter abebbte. Dabei spielten soziale Netzwerke eine groBe Rolle, indem jahrlich ei-
ne Gruppe von Mannern aus einem bestimmten Dorf auf einem bestimmten Weg in ein
bestimmtes Gebiet zog, um hier einer bestimmten Tatigkeit nachzugehen und am Ende
der Arbeitssaison geschlossen auf demselben Weg wieder nach Hause zuriickzukehren.
Auf dem Hohepunkt der Hollandgangerei in der Mitte des 18. Jahrhunderts setzte im
Unterweserraum die Arbeitswanderung nach GroBbritannien ein, das sich in dieser Zeit
aufmachte, die Niederlande als fuhrende europaischen Wirtschaftsmacht abzulosen.
Die Bevolkerungsschicht, die bislang in die Niederlande gewandert war, fand nun ein
Auskommen in der florierenden britischen Zuckerindustrie. Das Ziel dieser neuen Wan-
derungsbewegung aus dem Elbe-Weser-Raum war iiberwiegend London, erst nach 1850
verstarkt auch Liverpool. Im Jahr 1861 stammten 90 °/o der in der Londoner Zuckerin-
dustrie Beschaftigten aus Deutschland, die Mehrzahl davon aus dem Konigreich Hanno-
ver. Im Lauf des 19. Jahrhunderts ging die zunachst iiberwiegend temporare Arbeits-
wanderung mit einem allerdings schon groBen Anteil dauerhafter Auswanderer in eine
definitive Auswanderung mit einem hohen Anteil von Arbeits- und Ruckwanderern
liber. Auch die Migration in die britische Zuckerindustrie erfolgte auf der Basis sozialer
Netzwerke.
Spatestens um 1840 wurde die Englandwanderung aus dem Elbe-Weser-Raum quan-
titativ von der Auswanderung in die USA iibertroffen. Die Auswanderung aus dem
Landdrosteibezirk Stade war dort besonders stark, wo traditionell Hollandgangerei und
Englandwanderung eine groBe Bedeutung besaBen. Auch die iiberseeische Migration
erfolgte im Wesentlichen als Kettenwanderung. Ziel der Auswanderer waren vor allem
die Staaten des Mittleren Westens und die GroBstadte der Ostkiiste. Erst der Eintritt
Deutschlands in die Hochindustrialisierungsphase ab den 1890erjahren hob das Miss-
verhaltnis zwischen Bevolkerungswachstum und Erwerbsmoglichkeiten auf, so dass die
Notwendigkeit, auf der Suche nach Arbeit die Heimat zu verlassen, entfiel. War die Hol-
landgangerei schon in den erstenjahrzehnten des 19. Jahrhunderts eingegangen, so fand
nun zeitgleich mit dem massiven Riickgang der Auswanderungen in die USA auch die
Wanderung in die britische Zuckerindustrie ihr Ende.
Dr. Sabine Heerwart (Gottingen) betrachtete „Die Folgen von Auswanderung in der
zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts am Beispiel der beiden deutschen Dorfer Urzig/
Mosel und Wolfshagen/Braunschweig". Der Vergleich dieser beiden Gemeinden griin-
det auf dem Umstand, dass beide Dorfer in strukturschwachen Regionen mit weitgehend
monookonomischer Ausrichtung lagen, wobei in Urzig der Weinbau, in Wolfshagen die
Forstwirtschaft dominierte. In beiden Gemeinden setzte die Phase einer verstarkten Aus-
wanderung kurz vor der Mitte des 19. Jahrhunderts ein und beschrankte sich auf einen
Zeitraum von 15 Jahren. In beiden Gemeinden fiel diese Phase in eine Zeit, in der wirt-
Jahrestagung der Historischen Kommission 599
schaftliche und soziale Krisen ihren Hohepunkt erreichten. Die verstarkte Auswande-
rung war in beiden Dorfern eine Folge wirtschaftlicher Missstande. In beiden Gemein-
den lag die Auswanderungsrate bei etwa 12 °/o, war also moderat, aber spiirbar.
Auf die demographische Entwicklung beider Dorfer hatte die Auswanderung keine
Auswirkungen. Den Verlust der abwandernden Einwohner glich in Urzig die gleichblei-
bende, in Wolfshagen eine hohe Geburtenrate aus. Unterschiedlich war die Position der
Obrigkeiten zum Phanomen der Auswanderung. Die preuBischen Behorden griffen in
den Auswanderungsverlauf Urzigs nur sehr begrenzt steuernd ein. Da die Auswanderer
aus dem Moseldorf ihr Vorhaben aus eigenen Mitteln finanzieren mussten, betraf die
Auswanderung fast ausschlieBlich Angehorige der unteren Mittelschicht bzw. der obe-
ren Unterschicht. Die braunschweigische Verwaltung hingegen finanzierte in der Hoff-
nung auf eine gesellschaftliche Entlastungsfunktion die Auswanderung verarmter Ange-
horiger der Unterschicht. Der Vergleich der spezifischen Auswanderungsverlaufe zeigt,
dass sich die Wanderungen in beiden Gemeinden keineswegs nachhaltig auf die dorfli-
chen Strukturen auswirkten. Zwischen deriiberregionalen Ebene, von der die offiziellen
Stellen und die breite Offentlichkeit das Auswanderungsgeschehen wahrnahmen, und
der unmittelbar von diesem Ereignis betroffenen lokalen Ebene bestand eine deutliche
Diskrepanz.
Im Anschluss an das Vortragsprogramm des ersten Tages erfolgte die Verleihung des
von der Historischen Kommission gestifteten und von der Stiftung Niedersachsen do-
tierten Preises fur niedersachsische Landesgeschichte 2008 sowie eines ebenfalls von
der Kommission gestifteten und von der Stiftung Niedersachsen dotierten Forderprei-
ses. Den Festakt eroffnete der President der Stiftung Niedersachsen, Herr Dr. Dietrich H.
Hoppenstedt, der die Tatigkeit seiner Institution und ihre Aufgabenfelder vorstellte. Der
Preis fur niedersachsische Landesgeschichte wurde bei dieser Gelegenheit erstmals ver-
liehen. Ausgezeichnet wurde Herr Dr. des. Sohnke Thalmann (Hannover) fur seine von
der Philosophischen Fakultat der Georg-August-Universitat Gottingen angenommene
Dissertation zum Thema „AblaBiiberlieferung und AblaBhandel im spatmittelalterli-
chen Bistum Hildesheim". Nach der von Herrn Vogtherr gehaltenen Laudatio auf den
Preistrager stellte dieser seine Dissertation kurz vor. Nach Aushandigung der Urkunde
hielt Herr Vogtherr auch die Laudatio auf den zweiten Preistrager. Herr Sebastian Stie-
kel (Celle) wurde fur seine von der Leibniz Universitat Hannover angenommene Magi-
sterarbeit „Arisierung und Wiedergutmachung in Celle" mit einem Forderpreis aus-
gezeichnet. AnschlieBend stellte auch Herr Stiekel seine Arbeit kurz vor, um dann die
Urkunde ausgehandigt zu bekommen. Nach der Preisverleihung lud die Stadt Bremer-
haven die Versammlung zu einem Empfang in das „Koggehaus" des Deutschen
Schifffahrtsmuseums ein, wo der Oberbiirgermeister der Stadt, Jorg Schulz, die Ver-
sammlungsteilnehmer begriiBte.
Die Moderation des Vortragsprogramms am Samstag Vormittag iibernahm Herr
Prof. Dr. Wilfried Reininghaus (Dusseldorf). Unter der Pramisse „Mehr als nur eine
Drehscheibe des Auswandererverkehrs" beleuchtete Dr. Hartmut Bickelmann (Bremer-
haven) „Bremerhaven als vielgestaltigen Wanderungsraum". Die Geschichte der Un-
terweserstadt lasst sich nicht ausschlieBlich auf ihre Bedeutung fur die iiberseeische
Auswanderung reduzieren. Wanderungsbewegungen, die sehr viel alter sind als die
bremische Hafengriindung der ersten Halfte des 19. Jahrhunderts, namlich die Holland-
gangerei, die lippischen Wanderziegler und die Beschaftigung in der britischen Zucker-
industrie, dienten dem Broterwerb. Mit dem Aufschwung der Unterweserhafen Bre-
600 Nachrichten
merhaven und Geestemiinde im 19. Jahrhundert boten Schifffahrt, Hafenumschlag,
Schiffbau und Maschinenbau sowie schlieBlich die Hochseefischerei vielfaltige Arbeits-
moglichkeiten, die Zuwanderer aus dem norddeutschen Raum an die Wesermiindung
zogen. Mit dem Auslaufen der Auswanderungswellen aus Deutschland im ausgehenden
19. Jahrhundert setzte zugleich der Beginn der generellen Entwicklung Deutschlands
zum Einwandererland ein, da der wachsende Arbeitskraftebedarf v. a. der Baubranche
nicht mehr aus der einheimischen Bevolkerung gedeckt werden konnte. Wahrend die
bremische Hafenbauverwaltung in den 1890er Jahren vielfach polnische Arbeitskrafte
beschaftigte, griff die preuBische Bauverwaltung v. a. auf italienische Arbeitskolonnen
zuriick, die u.a. 1893 beim Bau des Fischereihafens in Geestemiinde mitwirkten.
Im benachbarten Lehe siedelten sich gleichzeitig zahlreiche Selbstandige und Klein-
unternehmer aus bestimmten Regionen Norditaliens an. Die zeitweise Niederlassung
niederlandischer Einwanderer in Geestemiinde hing mit der Heringsfischerei zusam-
men. Eine nicht zu iibersehende Bevolkerungsgruppe in den europaischen Hafenstad-
ten waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts chinesische Einwanderer, die als Heizer und
Kohlentrimmer bzw. als Wascher in der Seeschifffahrt bzw. den Landeinrichtungen der
Reedereien ein Auskommen fanden. SchlieBlich entstand nach dem Zweiten Weltkrieg,
als Bremen und Bremerhaven als amerikanische Enklave innerhalb derbritischen Besat-
zungszone ab 1945 die Funktion eines Nachschubhafens fur die amerikanischen Trup-
pen iibernahmen, in Bremerhaven eine mehrere tausend Personen umfassende Bevolke-
rungsgruppe von US-Amerikanern.
In seinem Vortrag „Die Welt an der Wasserkante. Chinesische Seeleute und Migran-
ten in Hamburg und Bremen /Bremerhaven 1890-1970" zeigte Dr. Lars Amenda (Ham-
burg) am Beispiel chinesischer Seeleute die Zusammenhange von maritimer Mobilitat
und globaler Migration auf. Die Geschichte chinesischer Migranten an der deutschen
„Waterkant" war eng mit der Seeschifffahrt und den groBen deutschen Reedereien ver-
bunden. Urn ihre Betriebskosten zu senken, beschaftigten u. a. der Norddeutsche Lloyd
aus Bremen und die Hapag aus Hamburg seit den 1890erjahren Tausende „farbiger See-
leute" als Heizer und Kohlenzieher auf ihren Dampfschiffen. Chinesen aus der Umge-
bung von Kanton stellten die groBte Gruppe unter ihnen. Wahrend der NS-Herrschaft
waren chinesische Seeleute und Migranten der Verfolgung durch Gestapo und Kriminal-
polizei ausgesetzt. Hohepunkt dieser Entwicklung war die sogenannte „Chinesenaktion"
in Hamburg im Mai 1944, als alle auffindbaren Chinesen verhaftet, anschlieBend im
Gestapogefangnis Fuhlsbiittel monatelang misshandelt und im Herbst des Jahres in das
„Arbeitserziehungslager Wilhelmsburg" iiberstellt wurden. Nach dem Zweiten Welt-
krieg veranderte sich die Ursache chinesischer Migration nach Deutschland grundsatz-
lich, da sich nun die Gastronomie zum wichtigsten wirtschaftlichen Bestatigungsfeld
entwickelte.
In der Mittagspause bestand fur die Tagungsteilnehmer die Moglichkeit, an Fiihrun-
gen im Deutschen Auswandererhaus und im Deutschen Schifffahrtsmuseum teilzu-
nehmen.
Die Moderation des Vortragsprogramms am Samstag Nachmittag hatte Herr Prof. Dr.
Bernhard Parisius (Aurich) iibernommen. „Die Aufnahme von Fliichtlingen aus Ost-
preuBen in derProvinz Hannover 1914/15" war das Thema des Vortrags von Dr. Michael
Ehrhardt (Bremervorde). Die bei Kriegsausbruch 1914 vor dem Hintergrund der deut-
schen Strategic, zunachst Frankreich niederzuwerfen (Schlieffenplan) , nur unzureichend
gesicherte deutsche Ostgrenze bot den russischen Truppen zunachst ein rasches Voran-
Jahrestagung der Historischen Kommission 601
kommen. Das Eindringen der Russen in OstpreuBen im August und im November 1914
hatte eine unorganisierte Flucht der Bevolkerung zur Folge, die dann in andere Gebiete
des Deutschen Reiches evakuiert wurde. In derProvinz Hannover wurden Fluchtlinge in
erster Linie in den Regierungsbezirken Stade und Liineburg untergebracht, in den ande-
ren Regierungsbezirken der Provinz wurden nur Militarpflichtige aulgenommen. An
den Evakuierungsorten kam es olt zu Konflikten zwischen den Fliichtlingen und den
Einheimischen, da erstere kaum Beschaftigungsmoglichkeiten fanden und so geradezu
zum MiiBiggang gezwungen waren. Nach der Masurischen Winterschlacht im Februar
1915 konnten die russischen Truppen aus OstpreuBen zuruckgedrangt werden, so dass
die Bevolkerung in ihre Herkunltsorte zuriickkehren konnte. Die groBen Zerstorungen
in den bei der zweiten russischen Invasion besetzten Gebieten aber liihrten in den ande-
ren Gebieten des Deutschen Reiches, so auch im heutigen Niedersachsen, zur Grundung
von Vereinen zur Unterstiitzung der Betrolfenen, zu Spendensammlungen und zur Uber-
nahme von Patenschalten liir ostpreuBische Stadte und Kreise.
Dr. Manfred Grieger analysierte in seinem Vortrag „Migrationsformen seit den
1930er Jahren am Beispiel der Entwicklung der Stadt Wolfsburg und des Volkswagen-
werks" am Beispiel der auf eine nationalsozialistische Industrieansiedlung zuriickgehen-
den Neustadt Wolfsburg eine Vielzahl von Formen der Binnen- und grenziiberschreiten-
den Migration des 20. Jahrhunderts. Die Entstehung der Stadt war zunachst mit der
Anwerbung etlicher tausend italienischer Bauarbeiter verbunden, die dann folgende
Kriegswirtschaft mit der Beschaftigung von Zwangsarbeitern, v. a. Italienern, Russen
und Juden. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gaben Fluchtlinge und Vertriebene
der jungen Industriestadt ihr besonderes Geprage. Ab 1962 kam es dann im Zug der Ka-
pazitatsausweitung des Volkswagenwerkes zur verstarkten Anwerbung von Auslandern.
In jiingster Vergangenheit war der Zuzug von Spataussiedlern aus dem zerfallenen Ost-
block zu verzeichnen. Somit ist die Geschichte der Stadt Wolfsburg wesentlich von einer
Folge von sich rasch ablosenden „Migrationsgeschichten" bestimmt.
Fur den abschlieBenden Vortrag und die Schlussdiskussion iibernahm Prof. Dr. Vogt-
herr die Moderation. Unter dem Titel „Migration und Landesgeschichte" fasste Herr
Prof. Dr. Wilfried Reininghaus (Diisseldorf ) die Ergebnisse der Vortrage der Jahresta-
gung zusammen. Er warf zunachst die Frage auf, weshalb Migration erst in jiingster Zeit
verstarkten Eingang in die Landesgeschichte findet. Ein Erklarungsmuster konnte darin
bestehen, dass die altere Landesgeschichte sich auf die inlandische Herrschaftsgeschich-
te konzentrierte, worin fur Auswartige, Fremde und Randgruppen wenig Platz war.
Nachdem der Referent eine systematische ErschlieBung der auf der Jahrestagung gehal-
tenen Vortrage vorgenommen hatte, ging er schlieBlich auf Desiderate der Forschung
ein und kritisierte zunachst, dass im Allgemeinen mittelalterliche Wanderungsbewegun-
gen von der Historischen Migrationsforschung kaum wahrgenommen wurden. Dabei
sei beispielsweise die mittelalterliche Stadtgeschichte generell in hohem MaB von Mi-
gration gepragt. Die Landesgeschichte erforsche meistens Zuwanderungen nach oder
Abwanderungen aus dem Gebiet, welches sie untersucht. Es sei jedoch notwendig, so-
wohl die Herkunfts- als auch die Zuwanderungsorte zu betrachten. Ferner wurde die
Frage nach der binnenlandischen Migration bei der auf raumlich groBere Verlagerun-
gen blickenden Migrationsforschung oft ausgeblendet. Reininghaus verdeutlichte dies
am Beispiel des Zuzugs aus der weiteren Umgebung in das Ruhrgebiet, welcher der ostel-
bischen Zuwanderung in das Industrierevier voranging.
602 Nachrichten
An den Vortrag von Prof. Dr. Reininghaus schloss sich eine engagierte Schlussdiskus-
sion an. SchlieBlich beschloss Prof. Dr. Vogtherr mit einem Dank an die Referenten das
Vortragsprogramm.
2. Bericht iiber die Mitgliederversammlung;Jahresbericht
Die Mitgliederversammlung fand am Samstag, dem 17. Mai 2008, im Sitzungssaal des
Deutschen Schifffahrtsmuseums in Bremerhaven statt. Der Vorsitzende derHistorischen
Kommission, Prof. Dr. Thomas Vogtherr, iibernahm die Versammlungsleitung, eroffne-
te die Versammlung und stellte durch Augenschein die Beschlussfahigkeit fest. Nach
Ausweis derTeilnehmerlisten waren 58 Mitgliederund Patrone bzw. Vertreter von Patro-
nen anwesend, die 68 Stimmen fiihrten. Darauf erhoben sich die Anwesenden zur Eh-
rung der Verstorbenen: Die Kommission beklagte im vergangenen Jahr den Tod von
Prof. Dr. Gerhard Oberbeck (f 10.04.2006), Prof. D. Dr. Hans-Walter Krumwiede (t 01.
06.2007), Dr. Jurgen Asch (f 21.08.2007), Prof. Dr. Walther Mediger (f 31.10.2007) und
Dr. Birgit Poschmann (f 12.02.2008).
AnschlieBend erstattete der Geschaftsfiihrer, Dr. Christian Hoffmann, den Jahres-
und Kassenbericht. Zunachst dankte er Frau Gabriele Giinther und Herrn Uwe Ohain-
ski in der Geschaftsstelle der Kommission sowie Frau Petra Diestelmann im Niedersach-
sischen Landesarchiv - Hauptstaatsarchiv Hannover - fur ihren personlichen Einsatz
und ihre Hilfsbereitschaft zugunsten der Kommission.
An wissenschaftlichen Unternehmungen konnten vorangetrieben oder abgeschlossen
werden:
7. Niedersdchsischesjahrbuch fiir Landesgeschichte
Das Niedersachsische Jahrbuch 79 (2007) wurde gewohnt piinktlich vor Weihnachten
2007 ausgeliefert. Der von Dr. Manfred von Boetticher, Dr. Christine van den Heuvel
und Dr. Thomas Franke (Hannover) redigierte Band enthalt u. a. die Vortrage der Jah-
restagung 2006 in Stade zum Thema ,,1806 und die Folgen". Bd. 80 (2008) wird u. a. die
Vortrage derjahrestagung2007in Clausthal-Zellerfeld zum Thema „Begrenzte Ressour-
cen. Der Umgang mit Rohstoffen und Energie im Mittelalter und in der Neuzeit" ent-
halten.
2. Monografien
Seit der Jahrestagung 2007 sind folgende Werke in der Veroffentlichungsreihe der
Kommission erschienen:
Bd. 236: Peter Przybilla, Die Edelherren von Meinersen. Genealogie, Herrschaft und
Besitz vom 12. bis zum 14. Jahrhundert. 2007.
Bd. 239: Gudrun Husmeier, Geschichtliches Ortsverzeichnis fiir Schaumburg. 2008.
Bd. 240: Urkundenbuch der Stadt Braunschweig, Bd. 8: 1388-1400 samt Nachtragen,
bearbeitet von Josef Dolle. 2008.
Jahrestagung der Historischen Kommission 603
Bd. 241: Urkundenbuch des Klosters Walkenried, Bd. 2: 1301-1500, bearbeitet von Jo-
sef Dolle. 2008.
Bd. 242: Thomas Klapheck, Der heilige Ansgar und die karolingische Nordmission.
2008.
Das Geschichtliche Ortsverzeichnis fur Schaumburg ist nicht - wie die anderen genann-
ten Publikationen - bei der Hahnschen Buchhandlung in Hannover erschienen, sondern
im Verlag fur Regionalgeschichte in Bielefeld. Der Verlag fur Regionalgeschichte war so
freundlich, Kommissionsmitgliedern den Band vergiinstigt anzubieten.
Der Geschaftsfiihrer erlauterte dann den Kassenbericht fur das Jahr 2007. Die Einnah-
men und Ausgaben verteilten sich demnach folgendermaBen:
Einnahmen: E001 (Vortrag): 294,44 €; E100 (Beitrage derStifter): 99.433,88 €; E200 (Bei-
trage der Patrone): 10.717,11 €; E210 (Jahrestagung): 2.095,00 €; E220 (Arbeitskreise):
438,00 €; E300 (Niedersiichsisches Jahrbuch): 6.186,60 €; E500 (Fordermittel Dritter):
10.000,00 €; E600 (Zinsen): 123,47 €; E620 (Verkauf von Veroffentlichungen) : 347,00 €;
E630 (Kostenbeteiligung an Veroffentlichungen): 500,00 €. Summe: 130.136,10 €.
Ausgaben: A110 (Verwaltung) : 5.295,68 €; A120 (Personal): 19.994,86 €; A210 (Jahresta-
gung): 5.193,23 €; A221-224 (Arbeitskreise): 1.427,19 €; A300 (Niedersiichsisches Jahr-
buch): 19.870,00 €; A400 (Projekte): 50.937,17 €; A500 (Fordermittel Dritter):
10.000,00 €; A900 (Sonstiges): 119,00 €. Summe: 112.837,13 €.
Die Einnahmen und Ausgaben bewegten sich damit weitgehend im kalkulierten Rah-
men. Der Kassenstand wies zumjahresende 2007 ein Guthaben in Hohe von 17.298,97 €
auf. Zwischen Gesamteinnahmen in Hohe von 129.841,66 € (gerechnet ohne den Vor-
trag aus 2007) und Gesamtausgaben in Hohe von 112.837,13 € bestand eine Differenz in
Hohe von 17.004,53 €. Diese Differenz resultiert daher, dass fur 2007 geplante Projekt-
ausgaben erst im Januar 2008 zum Tragen kommen konnten. Gegeniiber dem Ministeri-
um fiir Wissenschaft und Kulturzu rechtfertigende Verfallsfristen sind nicht eingetreten;
es ist auch davon auszugehen, dass das Ministerium die so entstandene, sachlich aber ja
begriindete Abweichung vom Wirtschaftsplan fiir 2007 nicht beanstandet. Die Forder-
mittel Dritter in Hohe von 10.000 € stammen von der Landschaft des vormaligen Fiir-
stentums Hildesheim und sind fiir die Bearbeitung der Landtagsabschiede des Hochstifts
Hildesheim 1689-1802 verwendet worden.
Die Kassenpriifung ist am 30. Januar 2008 durch Herrn Dr. Otto Merker und Herrn
Heribert Merten erfolgt; es haben sich keine Beanstandungen ergeben. Herr Dr. Merker
beantragte demzufolge die Entlastung des Vorstandes und des Schatzmeisters. Die
Mitgliederversammlung gewahrte daraufhin ohne Gegenstimme die Entlastung des
Vorstandes und des Schatzmeisters.
AnschlieBend erlauterte der Geschaftsfiihrer den Wirtschaftsplan fiir das Jahr 2008.
Der Wirtschaftsplan ist im November 2007 beim Ministerium fiir Wissenschaft und Kul-
tur eingereicht worden und den Mitgliedern und Patronen mit der Einladung zur Mit-
gliederversammlung zugegangen. Einleitend war zu bemerken, dass der Antrag auf Er-
hohung der Mittel der Kommission um 14. 714,00 € als Ausgleich fiir die Erhebung einer
Mehrwertsteuer auf Druckkostenzuschiisse vom Finanzministerium abgelehnt worden
ist. Das Ministerium fiir Wissenschaft und Kultur hat jedoch zusatzlich zu derfestgesetz-
ten Fordersumme von 94.300 € aus eigenen Mitteln der Kommission fiir das Wirtschafts-
604 Nachrichten
jahr 2008 weitere 6.500 € bewilligt. Somit hat das Ministerium der Kommission fur das
Wirtschaftsjahr 2008 Mittel in Hohe von 100.800 € bereitgestellt. Das Ministerium hat
ferner empfohlen, den Antrag auf Erhohung der Mittel jahrlich zu wiederholen.
Die projektierten Einnahmen und Ausgaben fur das Jahr 2008 verteilen sich demnach
folgendermaBen.
Einnahmen: E100 (Beitrage der Stifter): 102.233,88 €; E200 (Beitrage der Patrone):
9.000,00 €; E210 (Jahrestagung): 1.000,00 €; E220 (Arbeitskreise): 260,00 €; E300
(Niedersachsischesjahrbuch): 6.200,00 €; E400 (Projekte): 2.000,00 €; E610 (Zinsen):
100,00 €; E620 (Verkauf von Veroffentlichungen) : 500,00 €. Summe: 121.293,88 €.
Ausgaben: A110 (Verwaltung): 5.700,00 €; A 120 (Personal): 19.000,00 €; A210 (Jahresta-
gung): 4.500,00 €; A221-224 (Arbeitskreise): 2.400,00 €; A300 (Niedersachsischesjahr-
buch): 23.000,00 €; A400 (Projekte): 66.693,88 €. Summe: 121.293,88 €.
Die Mitgliederversammlung erklarte sich ohne Gegenstimme mit dem Wirtschaftsplan
fur 2008 einverstanden.
Fur die nun anstehenden Wahlen bestimmte die Mitgliederversammlung auf Vorschlag
des Vorstands Frau Dr. Sabine Graf (Hannover) ohne Gegenstimme zur Wahlleiterin. Ihr
wurden als Heifer zur Seite gestellt Frau Dr. Kirstin Casemir (Gottingen /Minister), Frau
Diestelmann, Frau Giinther, Herr Dr. Arend Mindermann (Stade), Herr Ohainski und
Frau Dr. Ida-Christine Riggert-Mindermann (Stade). Erforderlich war turnusmaBig die
Wahl eines/einer Stellvertretenden Vorsitzenden. Der Vorstand schlug der Versamm-
lung die Wiederwahl der bisherigen Stellvertretenden Vorsitzenden Dr. Christine van
den Heuvel vor. Weitere Kandidaten wurden nicht nominiert.
Als Kandidatinnen und Kandidaten fur die Zuwahl als Mitglieder waren Herr Prof.
Dr. Arnfried Edler (Hannover), Herr Dr. Dr. Wolfgang Dorfler (Gyhum), Herr Prof. Dr.
Dietrich Hagen (Oldenburg), Herr Dr. Karsten Igel (Osnabruck), Frau PD Dr. Daniela
Miinkel (Gottingen) , Herr Prof. Dr. Klaus Niehr (Osnabruck) , Herr Dr. Christian Oster-
sehlte (Bremen), Frau Dr. Regina RoBner (Hannover), Herr Dr. Peter M. Steinsiek (Got-
tingen) und Herr Dr. Dr. Karl H. L. Welker (Frankfurt/M.) vorgeschlagen worden. So-
wohl die Kandidatin fur das Amt des / der Stellvertretenden Vorsitzenden der Kommissi-
on wie auch die Kandidatinnen und Kandidaten fur die Zuwahl als Mitglieder waren
durch die den Mitgliedern vorab mitgeteilten biographischen Informationen genugend
charakterisiert, so dass von der bislang iiblichen Vorstellung durch den jeweils Vorschla-
genden abgesehen werden konnte. Danach stimmten die Mitglieder und Patrone in ge-
heimer Wahl auf zwei farblich unterschiedlichen Wahlscheinen iiberdie Kandidatinnen
und Kandidaten ab.
Wahrend das Wahlkomitee sich an die Auszahlung der Stimmzettel machte, teilte der
Geschaftsftihrer der Mitgliederversammlung mit, dass die Stadt Liibeck leider ihr Patro-
nat zum Jahresende 2007niedergelegt hatte. Neue Antrage auf Ubernahme eines Patro-
nats lagen von der Arbeitsstelle Germania Sacra bei der Akademie der Wissenschaften
zu Gottingen und der Hahnschen Buchhandlung, Hannover, vor. Beide Antragsteller
wurden ohne Gegenstimme als Patrone in die Kommission aufgenommen.
Es schlossen sich die Berichte der Arbeitskreise an. Zunachst erstattete fur den Arbeits-
kreis „Wirtschafts- und Sozialgeschichte" dessen Sprecher, Herr Prof. Dr. Carl-Hans
Jahrestagung der Historischen Kommission 605
Hauptmeyer, den Bericht. Der Arbeitskreis beschaftigte sich in seiner Sitzung am 17. No-
vember 2007 im Niedersachsischen Landesarchiv - Hauptstaatsarchiv Hannover mit
„wirtschafts- und sozialhistorischen Aspekten des Sports in Nordwestdeutschland". Das
Friihjahrstreffen des Arbeitskreises am 8. Marz 2008 im Nordwestdeutschen Museum fiir
Industrie-Kultur in Delmenhorst erfolgte zum Thema „Proto-Industrialisierung - In-
dustrialisierung - De-Industrialisierung in Nordwestdeutschland".
Die Aktivitaten des Arbeitskreises „Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts" wurden
von dessen Sprecher, Herrn Prof. Dr. Detlef Schmiechen-Ackermann (Hannover), vor-
gestellt. Der Arbeitskreis traf sich am 13. Oktober2007im Niedersachsischen Landesar-
chiv - Hauptstaatsarchiv Hannover zur Beschaftigung mit dem Thema „Hochschulen
und Politikin Niedersachsen 1945-1970". Das Friihjahrstreffen des Arbeitskreises am 16.
Februar 2008 im Historischen Museum in Hannover setzte sich mit „Kultur, Gesellschaft
und Politik im Wandel - Niedersachsen in der Umbruchszeit 1965-1975" auseinander.
Herr Dr. Werner Meiners (Wardenburg) erstattete den Bericht fiir den Arbeitskreis „Ge-
schichte derjuden". Der Arbeitskreis versammelte sich am 19. September 2007 im Ost-
friesischen Landesmuseum in Emden, um iiber die Verbiirgerlichung derjuden in Nord-
westdeutschland zu diskutieren. Die Beschaftigung mit diesem Thema wurde auf dem
Friihjahrstreffen des Arbeitskreises am 12. Marz 2008 im Rathaus der Stadt Luneburg
fortgesetzt.
Fiir den Arbeitskreis „Geschichte des Mittelalters" erstattete der Geschaftsfiihrer in Ver-
tretung des Sprechers, Herrn Dr. Manfred von Boetticher (Hannover), den Bericht. Der
Arbeitskreis trat am 24. November 2007 im Niedersachsischen Landesarchiv - Haupt-
staatsarchiv Hannover zusammen, um sich mit der Entwicklung der Forschung zur Ge-
schichte des Mittelalters zu beschaftigen. Am 12. April 2008 versammelte sich der Ar-
beitskreis abermals im Niedersachsischen Landesarchiv- Hauptstaatsarchiv Hannover,
um sich iiber Erfahrungen und Planungen bei der Erarbeitung von Klosterbiichern zu in-
formieren.
Unter dem Tagesordnungspunkt „Neu eingereichte Arbeiten und laufende Projekte"
konnte zunachst der Geschaftsfiihrer berichten, dass zur Publikation in der Veroffentli-
chungsreihe der Kommission folgende Manuskripte vom Ausschuss angenommen wor-
den sind bzw. schon zur Kalkulation vorliegen bzw. sich bereits im Druck befinden:
- Thomas Klingebiel, Landtagsabschiede des Hochstifts Hildesheim 1689-1802
- Arend Mindermann, Landtagsabschiede des Erzstifts Bremen und des Hochstifts
Verden bis 1648
- Elisabeth von der Pfalz, Abtissin von Herford 1618-1680. Eine Biographie in Einzel-
darstellungen, hrsg. v. Helge Bei der Wieden
- Konversionen vonjuden zum Christentum in Nordwestdeutschland, hrsg. v. Werner
Meiners
- Helga-Maria Kiihn, Eine fiirstliche Hexe? Sidonia, Herzogin zu Braunschweig-Liine-
burg, geborene Herzogin zu Sachsen 1518-1575
- Sohnke Thalmann, Ablassiiberlieferung und Ablasshandel im spatmittelalterlichen
Bistum Hildesheim
- Urkundenbuch des Klosters Weende, bearb. v. Hildegard Krosche
Mehrere weitere Manuskripte lagen zur Begutachtung vor.
606 Nachrichten
Die Arbeiten am Handbuch „Geschichte Niedersachsens" haben im Berichtszeitraum
gute Fortschritte gemacht. Prof. Dr. Vogtherr berichtete vom Projekt der Neubearbei-
tung des 1985 erschienenen Bandes 1 : Grundlagen und friihes Mittelalter und stellte die
gemeinsam mit Herrn PD Dr. Peter Aufgebauererarbeitete Konzeption fur Band 2/2, der
die „nichtpolitische" Geschichte des hohen und spaten Mittelalters enthalten wird, vor.
Der Herausgeber des Bandes 4: 19. Jahrhundert, Heir Dr. Stefan Briidermann (Biicke-
burg), berichtete iiber den derzeitigen Sachstand, dass die durch den Herausgeberwech-
sel bedingte Neukonstitution des Mitarbeiterkreises dieses Bandes weitgehend abge-
schlossen sei. HerrProf. Dr. Gerd Steinwascher (Oldenburg) berichtete als Herausgeber
des Bandes 5 : 20Jahrhundert, dass die Beitrage zu diesem Band weitgehend vorliegen.
Das Projekt „Niedersachsische Landtagsabschiede und Landtagsakten" hat im Berichts-
zeitraum erfreulich groBe Fortschritte gemacht. Herr Dr. Brage Bei der Wieden (Wolfen-
biittel) konnte als Herausgeber berichten, dass die Arbeiten am zweiten Band des Hand-
buchs der niedersachsischen Landtags- und Standegeschichte, der den Zeitraum von
1815 bis 1946 umfassen wird, weitgehend abgeschlossen seien. Die ErschlieBung und
Edition von Landtagsakten des Hochstifts Hildesheim von 1689 bis 1802 konnte im Be-
richtszeitraum abgeschlossen werden, das Werk ist im Druck. Auch die Bearbeitung der
Landtagsakten des Erzstifts Bremen und des Hochstifts Verden bis zur Sakularisierung
dieser beiden geistlichen Territorien 1648 ist im Berichtszeitraum zum Abschluss ge-
bracht worden; dieses Werk ist ebenfallsim Druck. ZurFortfuhrungdes Projekts sind aus
Mitteln der Kommission Werkvertrage zur Vorbereitung entsprechender Publikationen
fur das Fiirstentum Ostfriesland 1708-1807 und das Fiirstentum Braunschweig-Wolfen-
biittel 1665-1805 vergeben worden. Eine entsprechende Bearbeiterin fur das Hochstift
Osnabriick in der Zeit von 1761 bis 1802/03 konnte fur die zweite Jahreshalfte 2008 ge-
wonnen werden.
Auch das Projekt „Historische Stadteansichten" hat gute Fortschritte gemacht. Frau Dr.
van den Heuvel berichtete, dass die Ansichten-Recherche zu mehreren Orten im Elbe-
Weser-Raum (Bederkesa, Bremervorde, Buxtehude, Cuxhaven, Otterndorf, Ottersberg,
Rotenburg, Stade, Verden und Zeven) abgeschlossen werden konnte. 189 Ortsansichten
wurden digitalisiert und nach dem vorgegebenen Katalog beschrieben. Eine Eingabe in
die Gesamtdatenbank wird in der Geschaftsstelle demnachst erfolgen. Damit sind die
Vorarbeiten im Bereich des Niedersachsischen Landesarchivs - Staatsarchiv Stade ab-
geschlossen.
Frau Dr. Graf berichtete iiber die Fortschritte des Projekts „Corpus der Welfensiegel".
Die technischen und organisatorischen Voraussetzungen fur eine Internetprasentation
der Datenbank seien nunmehr geschaffen. Im Wesentlichen sei nur noch die Endredakti-
on zu leisten. Beide Datenbanken - sowohl die Stadteansichten als auch die Welfensiegel
- wurden auf dem Tag der Landesgeschichte im Niedersachsischen Landtag in Hanno-
ver im September 2007 erstmals offentlich vorgestellt.
Wie der Vorsitzende anschlieBend ausfiihrte, plant das Institut fur Historische Landes-
forschung der Universitat Gottingen ein Niedersachsisches Klosterbuch, welches die
Kloster, Stifte und Kommenden in Niedersachsen und Bremen bis zur Sakularisation
1802/03 behandeln soil, und bittet die Historische Kommission und ihre Mitglieder, die-
ses Projekt unterstiitzend mitzutragen. Der Vorsitzende empfahl den Anwesenden die
Mitwirkung an diesem Projekt.
Jahrestagung der Historischen Kommission 607
Die neueren Bande des Niedersachsischenjahrbuchs mit Ausnahme des jeweils aktuel-
len Bandes sollen in Kiirze iiber die Homepage der Kommission online abrufbar sein. Es
gilt hier noch, die entsprechenden Modalitaten hinsichtlich des Copyrights usw. mit der
Hahnschen Buchhandlung schriftlich zu klaren; miindlich ist eine Einverstandniserkla-
rung des Verlags bereits ausgesprochen.
Die Mailingliste der Kommission ermoglicht nach dem Stand vom 6. Mai dieses Jahres
inzwischen 230 Mitgliedern den Austausch wissenschaftlicher Informationen. Weitere
Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind jederzeit willkommen. Die Anmeldung erfolgt
unter: www.historische-kommission.niedersachsen.de.
Dann gab Frau Dr. Graf die inzwischen vorliegenden Ergebnisse der Wahlen bekannt.
Die Versammlung hat Frau van den Heuvel mit 64 Ja-Stimmen (bei einer Nein-Stimme
und drei Enthaltungen) im Amt bestatigt. Zu neuen Mitgliedern wahlte die Versamm-
lung mehrheitlich: Prof. Dr. Arnfried Edler, Dr. Dr. Wolfgang Dorfler, Prof. Dr. Dietrich
Hagen, Dr. Karsten Igel, PD Dr. Daniela Miinkel, Prof. Dr. Klaus Niehr, Dr. Christian
Ostersehlte, Dr. Regina RoBner, Dr. Peter M. Steinsiek und Dr. Dr. Karl H. L. Welker.
Die nachste Jahrestagung der Kommission wird auf Einladung der Stadt Gottingen am
15./16. Mai 2009 zum Thema „Biirgertum in Nordwestdeutschland im ,langen' 19.Jahr-
hundert" erfolgen. Die Jahrestagung 2010 zum 100-jahrigen Jubilaum der Kommission
soil in Hannover stattfinden.
Unter dem Punkt ,Verschiedenes" machte der Geschaftsfiihrer darauf aufmerksam, dass
zum Tag der Landesgeschichte im September 2007 ein neuer Flyer bearbeitet und auBer-
dem das Gesamtverzeichnis der Veroffentlichungen der Kommission in aktualisierter
Form zum Druck befordert worden sind.
Der Vorsitzende wies darauf hin, dass die Kommission am 31. Oktober/1. November
2008 zu Ehren ihres ehemaligen Vorsitzenden Prof. Dr. Heinrich Schmidt (Oldenburg),
der in diesem Jahr seinen 80. Geburtstag feiert, ein Kolloquium in Oldenburg durch-
fiihren wird.
Mit einem Dank an alle Anwesenden schloss Prof. Dr. Vogtherr die Versammlung.
Hannover Christian Hoffmann
Berichte aus den Arbeitskreisen
Arbeitskreis Wirtschafts- und Sozialgeschichte
Der Arbeitskreis trat zunachst am 17. November 2008 im Hauptstaatsarchiv Hannover
zusammen. DerSprecher, sein Stellvertreter und die Geschaftsfuhrerin (s.u.) wurden fur
zwei weiterejahre im Ami bestatigt. Das Thema des wissenschaftlichen Tagungsteils lau-
tete: „Sportin Nordwestdeutschland: wirtschafts- und sozialhistorische Aspekte". Es tru-
gen vor: Harald Lonnecker (Koblenz): Die Akademische Segler-Abteilung Deutscher
Burschenschafter e. V. (Akaseg) in Hannover - Lorenz Peiffer (Hannover) : Aspekte einer
Geschichte des jiidischen Sports in Niedersachsen bis zum Jahre 1938 - Rita Seidel
(Hannover) : Hochschulsport in Hannover. Von der Weimarer Republik zum Nationalso-
zialismus - Insa Schlumbohm (Bonn): DSC Arminia Bielefeld. Das lOOjahrige Jubilaum
und eine Sonderausstellung - Heiko Geiling (Hannover) : FuBball und Gesellschaft. Eine
Spielanalyse - Tim Cassel (Kiel): Gewaltpravention im FuBballsport. Wegen des regen
Interesses wird die Tagung am 15. November 2008 in Hannover mit weiteren Referaten
fortgesetzt. Eine Publikation der Beitrage wird erwogen.
Die zweite Versammlung fand auf Einladung des Nordwestdeutschen Museums fur
Industriekultur unter der Leitung von Prof. Dr. Hans Werner Niemann und Prof. Dr.
Gerhard Kaldewei am 8. Marz 2008 in Delmenhorst statt, und zwar zum Thema „Proto-
Industrialisierung - Industrialisierung - DeTndustrialisierung in Nordwestdeutsch-
land". Es referierten: Gerhard Kaldewei (Delmenhorst): „Und das ist immer Delmen-
horst . . ." Zum Kontext von Proto-Industrialisierung, Industrialisierung und DeTn-
dustrialisierung am Beispiel der ,,Delmenhorster Industriekultur" - Hans-Hermann
Precht (Delmenhorst): Friihe Globalisierungstendenzen der Textilindustrie in Delmen-
horst und Bremen bis 1933 - Ralf Springer (Munster): Industrialisierung und Soziale
Frage. Von der Nordwolle zu Carl Zeiss Jena. Erfahrungen und Losungsvorschlage des
Sozialreformers und Politikers Friedrich Schomerus (1876-1963) - Christina Reinsch
(Teipzig): Industriekultur im Raum Weser-Ems. Ein Dokumentationsprojekt - Michael
Mende (Braunschweig): Zur „Animation" geraumter Immobilien oder der Umgang mit
dem Erbe der Textilindustrie in Nordhorn und Delmenhorst - Martin Koplin (Bremen):
MORITZ, ein mobiler virtueller Rundgang zu textilindustriellen Zentren in Europa:
Delmenhorst, Lodz, Riga.
Weiterhin trifft sich zwei Mai pro Jahr die von Prof. Dr. Karl Heinrich Kaufhold
geleitete „Projektgruppe Harz", die weitere Publikationen plant.
Kontakte
Sprecher Prof. Dr. Carl-Hans Hauptmeyer, Leibniz Universitat
Hannover, Historisches Seminar, Im Moore 21,
30167 Hannover, Tel: (0511)762-4201, Fax: (0511)762-4479,
E-Mail: hauptmeyer@hist.uni-hannover.de
Berichte aus den Arbeitskreisen 609
Stellv. Sprecher Prof. Dr. Hans-Werner Niemann, Universitat Osnabruck,
Fb. 2 - Kultur- und Geowissenschaften, Wirtschafts- und
Sozialgeschichte, SchloBstr. 8, 49069 Osnabruck,
Tel: (0541)969-4798, E-Mail: hanieman@uni-osnabrueck.de
Schriftfiihrerin Dr. Gudrun Fiedler, Staatsarchiv Stade, Am Sande 4c,
21682 Stade, Tel: (04141)406-407, Fax: (04141)406-400,
E-Mail: gudrun.fiedler@nla.niedersachsen.de
Arbeitskreis fur die Geschichte des 19. und ZO.Jahrhunderts
Die Herbsttagung des Arbeitskreises fand am 13. Oktober 2007 im Hauptstaatsarchiv
Hannover zum Thema „Hochschulen und Politik in Niedersachsen nach 1945" statt. Ein-
fiihrend sprach Daniela Miinkel (Hannover/Gottingen) iiber das Thema „Zwischen Ex-
pansion und Demokratisierung. Hochschulpolitikin der Bundesrepublikzwischen 1950
und 1976". Die deutschen, aber auch die anderen westeuropaischen Hochschulen stan-
den seit den fiinfzigerjahren vor einem grundlegenden Wandlungsprozess. Dieser fand
sein vorlaufiges Ende in der zweiten Halfte der siebzigerjahre nach der Etablierung von
Massenuniversitaten und der Ablosung der alten Ordinarienuniversitat durch die neue
Gruppenuniversitat. Die Themen Ausbildung im Allgemeinen und Hochschulausbil-
dung im Speziellen avancierten mit einem Vorlauf in den spaten vierziger und fiinfziger
vor allem in den sechzigerjahren zu einem ebenso herausragenden wie kontroversen Po-
litikfeld. Die Erweiterung der universitaren Kapazitaten und die Erhohung der Studie-
rendenzahlen wurde zu einer der Schicksalsfragen fur die gesellschaftliche und oko-
nomische Zukunft der westeuropaischen Industrienationen erklart. Die Losung des
Problems erblickten Experten und Politiker zunachst im Ausbau der vorhandenen und
der Griindung von neuen Universitaten sowie seit Ende der sechziger Jahre in der Kon-
zeption von neuen Hochschultypen wie den Gesamthochschulen. Dass eine rein quanti-
tative Erweiterung von Hochschulen, Personal und Studienplatzen nicht die Losung der
Bildungsmisere sein konnte, war alien mit diesen Fragen befassten Personen und
Gruppen von Beginn an klar. So entwickelten sich Forderungen, die die Expansion des
Hochschulwesens unter zwei Aspekten mit Fragen der Demokratisierung verbanden:
Zum einen implizierte die Expansion auch die Forderung nach der Offnung der Univer-
sitaten fur alle Bevolkerungsschichten. Zum anderen sollte eine Demokratisierung der
Institution Universitat im Hinblick auf die Erweiterung der Partizipation bisher nicht be-
teiligter Statusgruppen erfolgen.
Der Vortrag von Frauke Steffens (Hannover) trug den Titel: „ Jnnerlich gesund an der
Schwelle einer neuen Zeit.' Der Umgang der Technischen Hochschule Hannover mit der
NS-Vergangenheit 1945-1956". Beleuchtet wurden sowohl die institutionellen vergan-
genheitspolitischen MaBnahmen derHochschulleitungund des Senates als auch derdis-
kursive Umgang mit der nationalsozialistischen Zeit. Dabei standen sowohl Aspekte des
Beschweigens als auch der aktiven Interpretation der politischen Vergangenheit im Vor-
dergrund. Die technischen Akademiker thematisierten nach 1945 die NS-Zeit in einer
610 Nachrichten
selektiven Form und waren dabei auch auf der Suche nach einer fur die Zukunft positiv
ankniipfungsfahigen Deutung. Die aktive Beteiligung der Forscher am NS-System, zu
der etwa die Mitwirkung in der Riistungsforschung und die Ausbeutung von Zwangs-
arbeiter(innen) aus Ost- und Westeuropa gehort hatten, wurde nach Kriegsende weitge-
hend beschwiegen. Der negative Bezug auf einzelne, auch von der Presse thematisierte
Falle nationalsozialistisch besonders engagierter Professoren diente den Wissenschaft-
lern oftmals zur symbolischen Distanzierung vom NS-Staat. Die offizielle Sprachrege-
lung war, dem umfangreichen Beitrag der hannoverschen Wissenschaftler zur Kriegsfor-
schung zum Trotz, die Hochschule stehe „innerlich gesund an der Schwelle einer neuen
Zeit". Die TH Hannover wurde, vor allem mit Bezug auf die schweren Bombenscha-
den, hauptsachlich als Opfer des Krieges dargestellt. Es gelang zudem, das Bild einer an
sich „unpolitischen", neutralen Wissenschaft zu festigen, die vom NS-System „miss-
braucht" worden sei. Die Reflektion der politischen und ethischen Zusammenhange
technischen Handelns wurde weitgehend in auBerfachliche Kontexte delegiert. Nicht
zuletzt durch die aktive Interpretation der NS-Zeit gelang es den Akademikern, ihren ge-
sellschaftlichen Einfluss zu bewahren und eine positive Imagepolitik der Hochschule zu
entwickeln.
Oliver Schael (Gottingen) analysierte in seinem Vortrag den Aufbau und das Schei-
tern der noch wenig erforschten „Hochschule fur Arbeit, Politik und Wirtschaft" (APo-
Wi) , die sich von 1949 bis 1962 in Wilhelmshaven-Riistersiel befand. Dieses ambitionier-
teste Hochschulreformprojekt der ersten Nachkriegsjahre in Westdeutschland war das
Ergebnis einer fundamentalen Kritik der Arbeiterbewegung an einer sozial abgehobe-
nen Elite, die an den traditionellen Hochschulen ausgebildet wurde und 1933 politisch-
moralisch versagt hatte. Diese Kritik an den gesellschaftlichen Fiihrungskraften war
gleichwohl eine transnationale: Nur ein Jahr nach der Wilhelmshavener Grundung
unternahm A. D. Lindsay in dem britischen Dorf Keele ein ganz ahnliches hochschul-
politisches Experiment. Der religiose Sozialist Lindsay hatte maBgeblich die Reformvor-
schlage des „Blauen Gutachtens" von 1948 beeinflusst, von denen viele sowohl in Wil-
helmshaven als auch in Keele umgesetzt wurden. Neben protestantischen Glaubensvor-
stellungen verbanden sich dabei Elemente der Erwachsenenbildung mit Ansatzen der
jugendbewegten Reformpadagogik. So liberalisierte die APoWi den Hochschulzugang
durch die Zulassung von Nichtabiturienten, konzipierte einen neuen sozialwissenschaft-
lichen Studiengang und versuchte, das Verhaltnis zwischen Lehrenden und Lernenden
durch ein gemeinsames Leben und Arbeiten im Hochschuldorf Riistersiel neu zu be-
stimmen. Auch vergangenheitspolitisch ging sie zunachst neue Wege: Der NS-Wider-
standler Wolfgang Abendroth wurde Grundungsrektor und Riidiger von Tresckow,
Sohn des 20. Juli-Generals Henning von Tresckow, erster AStA-Vorsitzender. Anders als
ihre „Schwesterhochschule" in Keele geriet die APoWi als alternative „College-Hoch-
schule"jedoch zwischen alle Fronten: Die Gewerkschaften entzogen der Hochschule die
Unterstiitzung, da sie in ihr eine Konkurrenz fur die eigenen Sozialakademien in Dort-
mund, Hamburg und Frankfurt sahen. Die „alten" Hochschulen schlossen ebenfalls er-
folgreich ihre Reihen gegen den akademischen AuBenseiter. In ihrem Bemiihen, die voi-
le wissenschaftliche Anerkennung zu erreichen, glich sich der Wilhelmshavener Lehr-
korper den herrschenden akademischen Normen immer weiter an: Der Rektor erhielt
eine goldene Amtskette, die Professoren Talare und die Hochschule ein eigenes Siegel.
1957 erfolgte die Berufung des schwer NS-belasteten Hochschullehrers Ernst Rudolf
Huber, um auch vergangenheitspolitisch ein „Normalisierungszeichen" zu setzen. Ins-
Berichte aus den Arbeitskreisen 611
gesamt demontierte sich dieses Hochschulreformprojekt damit selbst. 1962 wurde es in
die Universitat Gottingen eingegliedert.
Anne Schmedding (Braunschweig) sprach iiber „,Bauen, als wenn Du schwebst'.
Friedrich Wilhelm Kraemer als Lehrer und die Braunschweiger Schule." So wie die
,,Stuttgarter Schule" der zwanzigerjahre vor allem mit dem Namen Paul Schmitthenners
verbunden wird, steht der Name Friedrich Wilhelm Kraemers heute fur die „Braun-
schweiger Schule" ein. Kraemer kam schon 1925 zum Studium an die TH Braunschweig,
wo Carl Miihlenpfordt einer seiner einflussreichsten Lehrer wurde. Miihlenpfordts Re-
formansatz aus den zwanziger Jahren war fur Kraemer ein wesentlicher Anknupfungs-
punkt in der Neukonzeption einer zeitgemaBen Entwurfslehre nach 1945. Auch die an-
deren Braunschweiger Professoren waren von Protagonisten der Moderne wie Hans
Poelzig maBgeblich in Architektur und Lehre beeinflusst. Auf welche weiteren Vorbil-
der die Architekten in ihrer Lehre und ihren Bauten zuruckgriffen, wie sie auf die Inter-
nationalisierung der Architektur ihrer Zeit reagierten und wie sich daraus die Entwick-
lung spezifischer Entwurfstheorien vollzogen hat, ist Gegenstand eines momentan am
Institut fur Baugeschichte laufenden Forschungsprojektes. Erste Ergebnisse wurden in
dem Vortrag vorgestellt.
Miriam Saage-Maass (Berlin) ging in ihrem Vortrag „Die Gottinger Sieben als Identi-
tatsstifter" von der These aus, dass die Gottinger Sieben einen Topos darstellen, einen
Platz der Verstandigung, iiber den sich die jeweils verschiedene Gesellschaft mit ihren
Erfahrungen und Interessen ihrer selbst vergewissert. So biete die Protestation der Got-
tinger Sieben in verschiedenen politischen und gesellschaftlichen Situationen Ankniip-
fungspunkte, die sich im Wege eines kollektiven Erinnerns im Rahmen von Festtagen
und Gedenkveranstaltung usw. aktualisieren lieBen. Insbesondere seit 1945 bestehe an
der Universitat Gottingen, wie auch beim niedersachsischen Landtag, groBes Interesse
an den Gottinger Sieben. Dargelegt wurde wie in den 1950erjahren derBundesrepublik
die Gottinger Sieben - ganz unter dem Eindruck der „Deutschen Katastrophe" - als
Hoffnungstrager eines Neuanfangs gesehen wurden. Die Gottinger Sieben dienten der
Selbstvergewisserung, dass es auch eine „andere" deutsche Tradition gabe, an deren
Wertorientierung man nun ankniipfen konne. Anlasslich der Feiern zum 150-jahrigen
Jubilaum der Protestation von 1987 in Gottingen und Hannover und zur Einweihung des
„Denkmals fur Zivilcourage" vor dem niedersachsischen Landtag 1998 stellte man sich
dagegen ganz selbstbewusst in die Nachfolge der Gottinger Sieben. Sie wurden als Vor-
kampfer all jener Ideale gedeutet, die man in der Bundesrepublik verwirklicht sah: Wis-
senschafts- und Meinungsfreiheit, demokratische Protestkultur und Zivilcourage.
Ernst Bohme (Gottingen) referierte zum Thema „Zwischen Restauration und Rebel-
lion. Die Georgia Augusta und die politische Kultur Gottingens 1948-1968". Bei alien
Mangeln und Unzulanglichkeiten, die im Umgang der Georgia Augusta mit ihrer natio-
nalsozialistischen Vergangenheit zu beobachten sind, hatte die Universitatsfuhrung
ebenso wie Teile der Studentenschaft doch schon zu Beginn der funfzigerjahre grundle-
gende moralische und politische Lehren daraus gezogen. Das gait sowohl in den Ausein-
andersetzungen um den Filmregisseur Veit Harlan 1951/52 wie auch im Konflikt mit
den studentischen Korporationen 1953 und in der „Schluteraffare" 1955. Im herrschen-
den politischen Milieu der Stadt Gottingen dagegen scheint das Jahr 1945 zunachst kei-
nen erkennbaren Einschnitt bedeutet zu haben, da sich die politischen Verhaltnisse der
Weimarer Zeit nahezu bruchlos fortsetzten. Vor wie nach dem Zweiten Weltkrieg war
die biirgerlich gepragte Stadt eine Hochburg national-konservativer und nationalisti-
612 Nachrichten
scher Parteien. Der tiefe Einschnitt von 1945 wirkte sich zwar unmittelbar in der politi-
schen Verfassung und dem Aufbau demokratischer Institutionen aus, nicht aber in glei-
chem MaBe in einer Anderung der politischen Einstellung einer Mehrheit der Bevolke-
rung. Fiir die Stadt Gottingen lasst sich damit jene gegeniiber der allgemeinen
Entwicklung in der Bundesrepublik „verzogerte Normalisierung" beobachten, die auch
sonst fiir Niedersachsen festzustellen ist. Erst im Zusammenhang der „Schliiteraffare" ist
zumindest auf der Ebene der Kommunalpolitik eine starkere kritische Distanz zu rechts-
extremen Stromungen erkennbar.
Im Anschluss an die Vortrage fiihrte der um einen Kommentar gebetene Politikwis-
senschaftler Heiko Geiling (Hannover) die Kategorie des „sozialen Feldes" in die Dis-
kussion ein. Dieser von Pierre Bourdieu gepragte Begriff konnte gerade die Universitat
als traditionelle Korporation, die zwischen Selbstbestimmung und Fremdeinfluss agiert,
aber dabei die korporativen Beziige immer wieder im Interesse auch der Autonomic ge-
geniiber politischen Einfliissen betont, beschreiben. Dadurch lieBen sich die spezifi-
schen Prozesse, Machtverhaltnisse, Ressourcen in diesem Raum, der wie jeder soziale
Raum immer umkampft sei, darstellen.
Die Friihjahrstagung widmete sich am 16. Februar 2008 im Historischen Museum
Hannover dem Thema ,,Kultur, Gesellschaft und Politik im Wandel - Niedersachsen in
der Umbruchszeit 1965-1975". Thomas Etzemiiller (Oldenburg) gab unter dem Titel
„Kein Riss in der Geschichte" zur Einfiihrung in die Thematik einen historischen Abriss.
Nach wie vorgilt ,,1968" vielen Beobachtern als eine klare Zasurin derbundesdeutschen
Geschichte, als Ubergang von der „restaurativen" Adenauer-Zeit zu einer liberalen west-
lichen Demokratie. In der Forschung gewinnt dagegen ein neues Bild Konturen. Zum
ersten gerat die Phase von den (spaten) fiinfzigerjahren bis weit in die siebzigerjahre als
eine Einheit in den Blick. In diesenjahren durchliefen die westlichen Gesellschaften die
fundamentale Transformation zu dem, was uns heute als moderne, liberal-demokrati-
sche Konsumgesellschaft so gelaufig ist. Dieser Wandel kann nicht unterschatzt werden,
und es gibt gute Griinde, ,,1968" als integralen Teil dieser Transformation zu deuten.
Zum zweiten wird der transnationale Charakter der 68er-Ereignisse anders diskutiert.
Sie werden nicht mehr als eine - wenn auch gescheiterte - globale Revolution beschrie-
ben, sondern als ein transnationales Kommunikationsereignis untersucht. Interessant ist
die Frage, wie die einzelnen 68er-Bewegungen einen transnationalen Handlungszusam-
menhang bildeten, wahrend sie gleichzeitig durch nationale Besonderheiten gepragt
waren. ,,1968" wird also analysiert als Teil eines Strukturwandels in der westlichen Welt,
als Katalysator, der diesen Wandel vorantreiben half, und zugleich als Chiffre, diesen
Wandel zu deuten; und in dieser Perspektive erscheint ,,1968" weniger als spezifisch bun-
desdeutsche Zasur denn als Katalysator der gesellschaftlichen Umbriiche in der gesam-
ten westlichen Welt.
Rajah Scheepers (Berlin/Hannover) stellte in ihrem Vortrag „Umbruche in den Kon-
zeptionen von Mutterlichkeit in der weiblichen Diakonie in den 1960erjahren" die Wei-
chenstellungen und Herausforderungen fiir die evangelische Kirche nach 1945 fokus-
siert auf die langen 1960erjahre mit Blick auf die Geschlechterpolitik dar. Wurde Frau-
en noch vor Beginn der Reformbemiihungen die Moglichkeit einer Vereinbarkeit von
Familie und entlohnter Berufstatigkeit verweigert, indem in der Kirche tatige Frauen, sei
es als Diakonisse, Gemeindehelferin oder Vikarin (spater Pfarrerin), ihr Amt verloren,
sobald sie heirateten und/oder Mutter wurden, setzte hier ein Wandlungsprozess ein,
der schlieBlich zur vollen Gleichstellung der Frau im (Pfarr-)Amt fiihrte. Scheepers stell-
Berichte aus den Arbeitskreisen 613
te dar, wie die evangelische Kirche versuchte, diesen Prozess aufzuhalten. Als Beispiel
wahlte sie die Diakonissen, die die Ambivalenz zwischen „miitterlich-sein" und unter-
sagter Mutterschaft verdeutlichen: Sie lebten im Mutterhaus, sollten ein miitterliches
Wesen haben, wahrend sie aber gleichzeitig qua Amt nie biologische Mutter werden
durften. Anhand der Schwesternschaft des Diakonissen-Mutterhauses der Henrietten-
stiftung in Hannover zeigte Scheepers eine gendered society, in der nur fur das eine Ge-
schlecht gait: entwederHingabe an die geistige Familie oderan eine eigene Familie. Die
skizzierte Gegeniiberstellung biiBte nach 1945 zunehmend an Plausibilitat ein, als be-
rufstatige Frauen in alien Bereichen der Gesellschaft tatig werden konnten, ohne dafiir
den Preis der Ehe- und Kinderlosigkeit zahlen zu miissen. Die Mutterhausdiakonie war
durch diese Entwicklungen einem starken Zwang zur Modernisierung ausgesetzt. Tat-
sachlich kam es Ende der 1960er, Anfang der 1970erjahre zu tief greifenden Reformen,
die allerdings zu spat erfolgten, als dass sie die Erosion der Mutterhausdiakonie hatten
aufhalten konnen.
Anna Berlit-Schwigon (Minden) setzte sich mit der „Studentenbewegung der 1960er
Jahre in Hannover" auseinander. Hannover stellte, vor allem aufgrund der verstarkt in-
genieurswissenschaftlichen Orientierung der Hochschule, im Vergleich zu den Epizen-
tren der Revolte, Frankfurt/ Main und West-Berlin, zunachst eher die politische Provinz
dar. Ab Juni 1967, konkret nach dem Tod des gebiirtigen Hannoveraners Benno Ohne-
sorg, wurden allerdings in der niedersachsischen Hauptstadt fur die bundesweite Stu-
dentenbewegung typische sozialistische Gruppen (SDS, SHB) und der Club Voltaire
aktiv, die in der APO und der Hochschulpolitik wesentliche Proteststrukturen wie sit-ins
und Demonstrationen etablierten. Inhaltlich setzten sich die Aktivisten mit den Not-
standsgesetzen, dem Vietnamkrieg bzw. der Rolle weiterer Staaten der Peripherie und
mit der Rolle tendenzioser Massenmedien in der Offentlichkeit auseinander. Der Hohe-
punkt der Aktionen vor Ort war ohne Zweifel die bundesweit bekannte Rote-Punkt-Akti-
on im Juni 1969, eine fantasievolle Kampagne der Studentenbewegung gegen eine Fahr-
preiserhohung im offentlichen Nahverkehr, die durch die solidarische Organisation des
Rote-Punkt-Verkehrs nahezu aller hannoverscher Burger auch nach der Einstellung des
Nahverkehrs das erwartete Chaos nicht ausbrechen lieB. Der Protest in Hannover war si-
cher weniger laut als in West-Berlin, aber genauso effektiv: Die damaligen Veranderun-
gen in Richtung Demokratisierung haben Hannover bis heute gepragt.
Wolf-Dieter Mechler (Hannover) ging dem Verhaltnis von „AuBerparlamentarischen
Aktionen und Stadtentwicklung" nach. Die auBerparlamentarische Opposition endete
nicht mit Auflosung des SDS 1970, sondern besetzte neue Themen und verlegte die Akti-
onsfelder in den kommunalen Sektor. Gleichzeitig blieben die politischen Rahmenbe-
dingungen in der Stadt Hannover mit einer SPD-Alleinregierung konstant. Gewohnt,
Fortschritte der Stadtentwicklung im Rathaus zu planen und in der Stadtgesellschaft um-
zusetzen, hatte die Stadtpolitik groBe Schwierigkeiten, von Teilen der Einwohnerschaft
formulierte Bedtirfnisse und Anspriiche zu akzeptieren. Hausbesetzungen gegen speku-
lativen Leerstand und geplanten Abriss, die Forderungen nach unabhangigen Jugend-
zentren und einer anderen Linie bei der begonnenen Sanierungspolitik im Stadtteil Lin-
den fiihrten zu auBerparlamentarischen Aktionen mit Rechtsbriichen und praktizierten
Elementen von direkter Demokratie. Besonderes Gewicht hatte die Auseinandersetzung
um die Sanierung in Linden-Siid zwischen 1972 und 1974. Die Stadtpolitik musste ler-
nen, dass die Renovierung und Erhohung des vorhandenen Wohnwerts unter Beibehal-
tung der Miet- und Mieterstrukturen vor Abriss und Neubau und den damit verbunde-
614 Nachrichten
nen sozialen Veranderungen der Bewohnerschaft und des gesamten Stadtteils im allge-
meinen Interesse lag und deshalb eine Korrektur der Stadtentwicklungsplanung
unumganglich wurde. Dass mit Hausbesetzern Mietvertrage geschlossen wurden, unab-
hangige Jugendzentren nach einiger Zeit offentlich gefordert wurden und die Sanierung
sogarzum Modell fiir Europa avancierte, zeigt den Einfluss, den auBerparlamentarische
Aktionen auf die Stadtentwicklung in der ersten Halfte der 1970er Jahre ausiibten und
beweist zugleich die Lernfahigkeit des politischen Systems.
Manfred Grieger (Wolfsburg) thematisierte in seinem Vortrag „Von Nordhoff zu
Schmiicker: Der neue Geist aus Produktinnovation und Mitbestimmungsmodernisie-
rung im Volkswagenwerk 1968-1976" den Ubergang des Symbolunternehmens des deut-
schen Wirtschaftswunders in die sozialliberale Modernitat der mittleren Bundesrepu-
blik. Der Tod Heinrich Nordhoffs machte im April 1968 den Weg frei fiir eine Erneue-
rung der Modellpalette und zur Uberwindung des betrieblichen Sozialpaternalismus.
Allerdings fiihrte kein gerader Weg vom Kafer-Zeitalter in die Golf-Ara. Kurt Lotz war
die Haltung seines Vorgangers Nordhoff gleichsam zurzweiten Haut geworden, so dass
der ambivalenten Erneuerung zwischen 1968 und 1971 ein hohes Erstarrungspotential
inne wohnte. Rudolf Leiding, der Lotz 1971 abloste, brachte dem Unternehmen be-
schleunigt ein neues Modellprogramm mit wassergekiihlten Motoren und Vorderradan-
trieb, ohne dass der Presentation von Passat 1973 und Scirocco und Golf 1974 eine inno-
vative Anpassung der betrieblichen Arbeitsbeziehungen an das sozialliberale Zeitalter
gefolgt ware. Es warToni Schmiicker nach 1975 vorbehalten, die technische Modernisie-
rung durch eine Erweiterung der Mitbestimmung zu flankieren. Er wusste die Schrump-
fung des Unternehmens und den damit verbundenen Arbeitsplatzabbau durch eine ge-
zielte Einbindung der Arbeitnehmervertreter und die IG Metall konsensual abzusi-
chern. Ein komplexes Zusammenspiel von retardierenden und innovativen Momenten
machte Mitte der 1970erjahre aus dem Volkswagenwerk ein modernisiertes multinatio-
nales Unternehmen, das fiir den erfolgreichen Rheinischen Kapitalismus stand. Im Zei-
chen des Golf gelang durch erweiterte Mitbestimmung ein neuer Sozialkompromiss, der
unternehmerische Verantwortung und die vordringliche soziale Sicherung der Inlands-
belegschaft zum gemeinsamen Anliegen machte. Damit offneten sich die Belegschafts-
vertreter einer okonomischen Logik, die Beschaftigungssicherung durch Unterneh-
menswachstum und internationale Konkurrenzfahigkeit versprach. Auf der anderen
Seite legten die Unternehmensleitungen seit den Mittsiebzigern ihre mentalen Vorbe-
halte gegen eine weit reichende Partizipation von Arbeitnehmervertretern ab. Im Er-
gebnis gewann das Unternehmen neben den Produktivitatsvorteilen der deutschen
Mitbestimmung auch die Unterstiitzung groBer Teile der Belegschaft fiir die stetig erfor-
derlichen AnpassungsmaBnahmen.
Cornelia Rauh-Kiihne (Hannover) fragte in ihrem Kommentar wie die Konstruktion
von ,,1968" zustande kommen konnte, wenn die Vortrage doch so hochst vielfaltige
Aspekte aufgezeigt haben. 1968 war eben nicht nur das Jahr der Studentenproteste in
Berlin und Frankfurt oder des gesellschaftlichen Aufbruchs, es war auch dasjahr des To-
des von Heinrich Nordhoff und der Reformbestrebungen des Kaiserswerther Verbands.
Offensichtlich ist das Bild der gesellschaftlichen Veranderungen sehr stark von der me-
dialen Vermittlung bestimmt, die Ende der 1960er Jahre einen Bedeutungswandel
durchmachte.
Kontakte
Sprecher
Stellv. Sprecher
Schriftfiihrer
Berichte aus den Arbeitskreisen
Prof. Dr. Detlef Schmiechen-Ackermann
Universitat Hannover, Historisches Seminar,
Im Moore 21, 30167 Hannover
Tel.: (0511) 762-5737; E-Mail: Schmiechen-A@web.de
Dr. Hans Otte, Landeskirchliches Archiv
GoethestraBe 27, 30169 Hannover
Tel.: (0511) 1241-755; Fax (0511) 1241-770;
E-Mail: Hans.Otte@evlka.de
Dr. Wolfgang Brandes, Stadtarchiv Bad Fallingbostel
VogteistraBe 1, 29683 Bad Fallingbostel
Tel.: (05162) 401-18; Fax (05162) 401-44;
E-Mail: stadtarchiv@badfallingbostel.de
615
Arbeitskreis Geschichte derjuden
Im vergangenen Jahr hat sich der AK Geschichte derjuden weiterhin intensiv mit dem
Kapitel „Verbiirgerlichung derjuden in Nordwestdeutschland" beschaftigt und weitere
Aspekte dieses Themas bearbeitet. Zu seiner Herbsttagung 2007 versammelte sich der
Arbeitskreis auf Einladung von Museumsdirektor Dr. Friedrich Scheele und der Emder
Stadtverwaltung am 19. September im Ostfriesischen Landesmuseum in Emden und da-
mit in einer Stadt, in der sich seit dem 16. Jahrhundert eine der bedeutendsten jiidischen
Gemeinden Norddeutschlands entwickelte.
In diesem Zusammenhang referierte Jan Lokers vom Stadtarchiv Liibeck iiber die jii-
dische Gemeinde in Emden als Teil der stadtischen Gesellschaft. Rolf Uphoff vom
Stadtarchiv Emden berichtete iiber aktuelle Projekte zur weiteren Erforschung der Ge-
schichte der dortigen Juden und der Gastgeber Friedrich Scheele iiber Planungen zum
Ausbau derJudaica-Sammlung des Museums. Reinhard Bein (Braunschweig) stellte am
Beispiel von zwei Lebenslaufen Aspekte jiidischen Lebens in Braunschweig in der Mitte
des 19. Jahrhunderts vor. Sibylle Obenaus (Isernhagen) berichtete iiber die Anfange der
Schul- und Synagogenreform im Landrabbinat Hannover. Zum Schluss gab die Olden-
burger Volkskundlerin Heike Miins einen aufschlussreichen Einblick in die Welt der jii-
dischen Wandermusikanten.
Die Friihjahrstagung 2008 fand auf Einladung von Frau Archivdirektorin Dr. Uta
Reinhardt und der Stadt Liineburg am 12. Marz im Historischen Rathaus der Stadt Liine-
burg statt. Einleitend berichtete Marlis Buchholz iiber den letzten Stand der Neugestal-
tung der Gedenkstatte Bergen-Belsen und iiber die weitere Perspektive der Gedenkstat-
tenarbeit. Besonders lebendig war die Diskussion, die dem Referat von Peter Bahlmann
iiber die Ergebnisse seiner aktuellen Oldenburger Dissertation zum Wiederaufbau der
Justiz nach 1945 und den friihen NS-Prozessen im Weser-Ems-Gebiet folgte.
Bei der weiteren Beschaftigung mit dem Schwerpunktthema des Arbeitskreises stan-
den diesmal zwei bisher unbearbeitete Aspekte im Mittelpunkt: Der Migrationsforscher
616
Nachrichten
Jochen Oltmer (Osnabriick) berichtete iiber die Immigration und die rechtlich-poli-
tische Stellung der sogenannten „Ostjuden" im Kaiserreich und in der Weimarer
Republik. Kirsten Heinsohn vom Institut fur die Geschichte der deutschen Juden in
Hamburg stellte die deutsch-jiidische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts in eine
geschlechterhistorische Perspektive. Das fur die Tagung vorgesehene einfiihrende Refe-
rat von Herbert Obenaus zum Themenkomplex Urbanisierung und seinem Bezug zur
Geschichte der Juden musste aus Zeitgriinden auf die Herbsttagung am 27. September
2008 in Hannover verschoben werden. Zu diesem Termin wurde auch Simone Lassig
eingeladen, die durch ihre Forschungen einen wichtigen AnstoB fur die Beschaftigung
des Arbeitskreises mit der „Verburgerlichungs"-Thematik gegeben hatte, die voraus-
sichtlich 2009 vorlaufig abgeschlossen werden soil. Die Herausgabe eines Tagungsban-
des ist in Vorbereitung. Der Tagungsband „Konversionen von Juden zum Christentum
in Nordwestdeutschland" soil noch 2008 veroffentlicht werden.
Zwischen den Tagungen erscheinen regelmaBig Rundbriefe (zuletzt Nr. 17 vom Juli
2008) mit zusammenfassenden Berichten iiber die gehaltenen Referate, den Terminen
und Programmen der folgenden Tagungen und mit neuen Literaturhinweisen zur Ge-
schichte der Juden und des Antisemitismus in Nordwestdeutschland. Sie sind unter der
Homepage der Historischen Kommission zu finden. Die Fruhjahrstagung 2009 soil am
18. Marz in Wolfsburg stattfinden.
Kontakte
Sprecher
Stellv. Sprecher
Schriftfiihrer
Dr. Werner Meiners, Georg-Ruseler-StraBe 5,
26203 Wardenburg, Tel. 04407 - 1399;
E-Mail: mawer68@hotmail.com
Dr. Marlis Buchholz, Bonifatiusplatz 3, 30161 Hannover
Tel. 0511 - 627134;
E-Mail: marlisbuchholz@gmx.de
Prof. Dr. Herbert Reyer, c/o Stadtarchiv Hildesheim,
Am Steine 7, 31134 Hildesheim
Tel: 05121 - 168135; Fax: 05121 - 168124;
E-Mail: reyer@stadtarchiv-hildesheim.de
Arbeitskreis fur Geschichte des Mittelalters
Am 24. November 2007 tagte der Arbeitskreis im Hauptstaatsarchiv Hannover. In einem
ersten Vortrag gab Prof. Dr. Gudrun Gleba, Osnabriick, einen Uberblick iiber „Entwick-
lungen der Mittelalterforschung zur niedersachsischen Stadt-, Kirchen- und Kloster-
geschichte". AnschlieBend referierte Prof. Dr. Thomas Scharff, Braunschweig, zu den
„Entwicklungen der Mittelalterforschung zur niedersachsischen Adels- und Herrschafts-
geschichte".
Berichte aus den Arbeitskreisen 617
In einem zweiten Teil der Sitzung wurden drei Dissertationsprojekte diskutiert. Mat-
thias Zirn, Halle/ Gottingen (Betreuer Prof. Dr. Hans-Georg Stephan, Prof. Dr. Hedwig
Rockelein), begann mit einem Bericht zu den „Archaologischen Forschungen zu Bruns-
hausen/Gandersheim". Der Kanonissenkonvent des Stiftes Gandersheim wurde 845
bzw. 852 durch den Sachsenherzog Liudolf gegriindet und bis zur Fertigstellung der
Gandersheimer Bauten 881 voriibergehend in Brunshausen untergebracht. Bis zu seiner
Profanisierung am Ende des 18. Jahrhunderts hatte das Kloster eine wechselreiche Ge-
schichte zwischen Benediktiner-Monchskloster und furstlicher Sommerresidenz hinter
sich. Urn die Entwicklung des fur die Kirchengeschichte Niedersachsens wichtigen
Ortes genauer beleuchten zu konnen, wurden in den 60erjahren eingehende archaolo-
gische Untersuchungen im Gelande und an den baulichen Uberresten des Klosters
durchgefiihrt, die bislang eine nur unvollstandige Auswertung erfuhren. Besonders eine
eingehende Analyse der Keramikfunde ist bislang unterblieben. Durch technologische
und typologische Vergleiche sowie die entsprechende qualitative und quantitative Aus-
wertung dieser Funde ergeben sich deutliche Ubereinstimmungen zwischen histori-
schen Nachrichten und Baubefunden, sodass zur Entwicklung des Klosters konstatiert
werden kann: In der Mitte des 9. Jahrhunderts wurde der Frauenkonvent in Brunshau-
sen in einer bereits bestehenden Siedlung gegriindet und 881 nach Gandersheim verlegt.
Ebenfalls in die Zeit des auslaufenden 8. bis in die Mitte des 9. Jahrhunderts datieren die
ersten drei Kirchenbauten. Danach scheinen sowohl das Kloster als auch die Siedlung
relativ schnell an Bedeutung verloren zu haben. Erst mit der Unterstellung unter das
Kloster Clus und dem Neubau der Basilika wurde die Einrichtung offenbar neu belebt.
Im Spatmittelalter verlor Brunshausen dann wieder an Bedeutung, blieb jedoch konstant
besetzt. Um eine abschlieBende Interpretation der Klosterentwicklung vorzulegen, be-
darf es weiterer befundorientierter Untersuchungen.
Arne Butt, Gottingen (Betreuer Prof. Dr. Wolfgang Petke), berichtete iiber „Eigen und
Erbe in spatmittelalterlichen Dorfern. Die Herrschaftsrechte der Stadt Gottingen im
landlichen Raum". Im Zentrum seiner Arbeit stehen zwei aufeinanderbezogene Fragen-
komplexe: Wie nahm eine Stadt wie Gottingen ihre Herrschaftsrechte im Umland wahr
und welche Instrumente standen ihr fur eine effektive Verwaltung zur Verfiigung? Wie
verhielt sich die Immobilien besitzende Schicht in den Dorfern, in denen die Stadt Got-
tingen einen GroBteil der grund- und gerichtsherrlichen Rechte besaB, und ist eine stad-
tische „Uberherrschung" bzw. „Uberformung" dieser Dorfer zu beobachten? Die Arbeit
basiert im Wesentlichen auf zwei Quellen: Den Gottinger Kammereiregistern, die seit
1393/94 in nahezu ununterbrochener Folge erhalten sind und zahlreiche Eintrage
beziiglich der Herrschaftsrechte im landlichen Raum enthalten, sowie den sog. „Vogt-
herrenbiichern", zwei Amtsbuchern der Stadt Gottingen, in denen iiber 400 private Im-
mobilien- und Kapitalgeschafte des Spatmittelalters aufgezeichnet sind.
Christian Frey, Braunschweig (Betreuer Prof. Dr. Thomas Scharff), stellte seine Dis-
sertation »urbes ad salutem regni. Symbolische Kommunikation und Burgen in kulturellen
Grenzraumen anhand von niedersachsischen Beispielen" vor. Frey untersucht ein bisher
wenig beriicksichtigtes Element des taglichen Lebens im Mittelalter, das er in der Syste-
matik der kommunikativen Symbole verorten mochte: Burgen des friihen Mittelalters.
Wie sich zeigt, ist in „kulturellen Grenzraumen" eine besonders hohe Dichte an Burgen
zu beobachten. So nennt Widukind von Corvey in seiner Sachsengeschichte 21 Burgen,
die in Sachsen lagen, von denen zwolf im ostlichen Sachsen zu lokalisieren sind. Dies ist
der hohen Ereignisdichte und -intensitat zu schulden, die aus dem Grenzraum zwischen
618 Nachrichten
sachsischer und slawischer Kultur entsprang. Die Notwendigkeit zur Anlage von Burgen
und zu deren standiger Unterhaltung war hier besonders groB - und deren Funktion viel-
schichtig. Neben militarischen Belangen lassen sich aus den Quellen klerikale, herr-
schaftliche, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Aufgaben erkennen. Diese tragen so-
wohl den Charakter instrumentellen als auch symbolisch-expressiven Handelns in sich.
Burgen stehen nicht nur fur kulturelle Differenz, sondern auch z.B. fur integrative Akte
von Schutzgemeinschaften, die beiden kulturellen Gruppen zu Gute kamen. In einer
„K6nigsherrschaft ohne Staat" waren Burgen kommunikative Mittelpunkte kleinerer
und groBerer Gemeinschaften. Sie waren Knoten in einem Netz schiitzender und mittei-
lender Orte. In ihrer konkreten und abstrakten Gestalt hatten die Befestigungen vielfalti-
ge kommunikative Funktionen, die ein lohnenswertes Untersuchungsobjekt darstellen.
AbschlieBend folgte noch einmal eine Diskussion der „Handreichungen fur die Er-
stellung von Urkundenbiichern im Rahmen der Veroffentlichungsreihe der Histori-
schen Kommission", die nach der Besprechung im Marz 2007 von einer Arbeitsgruppe
im Hauptstaatsarchiv Hannover redigiert worden waren. Formuliert wurde eine Reihe
von Anderungswiinschen, die in den Richtlinien Beriicksichtigung finden sollen. In Zu-
sammenhang damit stellte Dr. Manfred von Boetticher die Verfahrensweise der Arbeits-
gruppe vor, die am Hauptstaatsarchiv Hannover die gemeinsame Herausgabe eines Ur-
kundenbuchs zum Bestand des Klosters St. Jakobi in Osterode vorbereitet.
Am 12. April 2008 folgte im Hauptstaatsarchiv Hannover eine weitere Sitzung des Ar-
beitskreises zum Thema „Klosterbiicher: Erfahrungen und Planungen". Die Vortrage
wurden von PD Dr. Peter Aufgebauer (Gottingen) mit einer Vorstellung des im Pla-
nungsstadium befindlichen „Niedersachsischen Klosterbuches" begonnen. Dieses soil
als wissenschaftliches Handbuch-Inventar samtliche Domkapitel, Stifte, Kloster, Or-
denskommenden sowie Beginen- und Begardenhauser im Gebiet des heutigen Landes
Niedersachsen von der Christianisierung im friihen Mittelalter bis zum Ende des Alten
Reiches erfassen und in einzelnen Artikeln darstellen. Die Artikel werden nach einem
einheitlichen Schema auf der Basis des aktuellen Forschungsstandes aufgebaut sein. Fur
die Zeit des Mittelalters sind ca. 300 Kloster, Stifte und Kommenden in Niedersachsen
nachweisbar. Hinzu kommen Beginen- und Begardenkonvente in den Stadten sowie die
nach der Reformation in den katholischen Gebieten neu gegriindeten Institutionen, so-
dass von ca. 350 Einzelbeitragen auszugehen ist.
Erganzend berichtete Dr. Anna-Therese Grabkowsky (Munster) von den Erfahrun-
gen des stets als Vorbild genannten „Westfalischen Klosterbuches" und dessen kiinftige
Entwicklung. Prof. Dr. Gisela Muschiol (Bonn) stellte das im Entstehen begriffene
„Nordrheinische Klosterbuch" vor, Prof. Dr. Heinz-Dieter Heimann (Potsdam) das
„Brandenburgische Klosterbuch", das Kloster, Stifte und Kommenden des Bundeslan-
des Brandenburg und anderer historisch zur spatmittelalterlichen Markgrafschaft Bran-
denburg gehorigen Gebiete umfasst.
Im Weiteren wurden vier Dissertationsprojekte diskutiert. Katharina Mersch, Gottin-
gen (Betreuerin Prof. Dr. Hedwig Rockelein) , referierte zu „Formen und Inhalten visuel-
ler Kommunikation in den Frauenkommunitaten des Hoch- und Spatmittelalters". Ziel
der Dissertation ist die Ergriindung von Wertorientierungen in den Gemeinschaften in
ihrer Abhangigkeit von Ordenszugehorigkeit und allgemeinen historischen Trans-
formationsprozessen. Bei einer solchen vergleichenden Untersuchung in einer Lang-
zeitperspektive bietet sich an, Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten, die bislang kaum
analytisch betrachtet wurden. Daher verfolgt die Autorin neun Gemeinschaften unter-
Berichte aus den Arbeitskreisen 619
schiedlicher Orientierung aus sieben verschiedenen Diozesen des Reiches. Aus dem
niedersachsischen Bereich soil besonders auf das Benediktinerinnenkloster Ebstorf und
das Zisterzienserinnenkloster Wienhausen eingegangen werden.
Birgit Heilmann, Gottingen (Betreuerin Prof. Dr. Hedwig Rockelein), stellte ihr Dis-
sertationsthema „Weiternutzung, Umnutzung, Nicht-Nutzung: Vom Umgang mit den
mittelalterlichen Kirchenschatzobjekten des Frauenstiftes Gandersheim wahrend und
nach der Reformation" vor, bei der sich folgendes Ergebnis abzeichnet: Im 19. Jahrhun-
dert wurden im Zusammenhang mit der Stadtbeschreibung Gandersheims materielle
Uberreste des Schatzes des ehemaligen Kanonissenstifts genannt. Dabei erfuhren gera-
de die Reliquien eine erhebliche Missachtung und wurden kaum mehr als aufbewah-
rungswiirdig angesehen, da sie keine kostbaren Kunstobjekte darstellten und zudem aus
protestantischer Sicht als Symbole des katholischen Glaubens in einer evangelischen
Kirche fehl am Platz waren. Die Gandersheimer Ludwig Georg Brackebusch (1815-
1889) und sein Sohn Friedrich (1863-1910) hingegen bemuhten sich um eine Inventari-
sierung und Musealisierung der Gegenstande und organisierten eine Ausstellung der
Reste des einstigen Kirchenschatzes. Im 20. Jahrhundert gerieten die Objekte wieder in
Vergessenheit und fristeten auf dem Dachboden ein trauriges Dasein. Erst mit der 2006
durch den Verein „Portal zur Geschichte" eroffneten Dauerausstellung zur Darstellung
der Geschichte des Frauenstifts Gandersheim kamen die Gegenstande wieder zum Vor-
schein und wurden in ihrerRolle als iiberlieferte Sachzeugnisse des Kanonissenstifts ge-
wiirdigt.
Eine weitere Dissertation von Markus Vollrath, Hannover (Betreuer Prof. Dr. Carl-
Hans Hauptmeyer), beschaftigt sich mit dem Thema „Die Kloster der welfischen Terri-
torien in der zweiten Halfte des 16. Jahrhunderts". Die Arbeit will vor allem die Auswir-
kungen dynastischer Beziehungen auf die Umsetzung lutherischer Ordnungen in den
einzelnen Klostern vergleichen. Dabei werden neben den Vorgangen in den welfischen
Fiirstentumern auch Falle wie das Kloster Loccum besprochen sowie Vergleiche zwi-
schen einzelnen Herrschaftsbereichen angestellt.
AbschlieBend sprach Simone Heimann, Osnabriick (Betreuerin Prof. Dr. Gudrun
Gleba), iiber ihr Dissertationsprojekt „Bildung und Ausbildung, Erziehung und Soziali-
sation der Reichsbischofe des hohen Mittelalters". Hier geht es einerseits um die Frage
von „Bildung" allgemein, zum anderen als konkretes Beispiel um die Frage einer schicht-
spezifischen Bildung der Bischofe im hohen Mittelalter. Unter den Begriffen Bildung,
Erziehung, Sozialisation und Ausbildung versucht die Arbeit, sich dem Themenbereich
zu nahern. Auch wenn ein solcher Ansatz von benachbarten Disziplinen stammt wie der
Historischen Erziehungswissenschaft, der Historischen Bildungsforschung und der So-
zialisationsforschung, bleibt der Untersuchungsgegenstand ein klassischer: das Phano-
men der mittelalterlichen Bischofe, ihr Bildungsstand und ihre Netzwerke.
Kontakte
Sprecher Dr. Manfred von Boetticher, Niedersachsisches Landesarchiv -
Hauptstaatsarchiv Hannover, Am Archiv 1, 30169 Hannover
Tel.: 0511/120-6610; Fax: 0511/1206699
E-Mail: manfred.boetticher@nla.niedersachsen.de
Stellv. Sprecher Dr. Henning Steinfuhrer, Stadt Braunschweig,
Stadtarchiv, Schlossplatz 1,
620 Nachrichten
38100 Braunschweig. Tel: 0531/4704711
E-Mail: henning.steinfuehrer@braunschweig.de
Schriftfiihrerin Dr. Nathalie Kruppa, Akademie der Wissenschaften,
Germania Sacra, Theaterstr. 7, 37073 Gottingen
Tel: 0551/39-4283; Fax: 0551/39-13784
E-Mail: nkruppa@online.de
NACHRUFE
WALTHER MEDIGER
1915 - 2007
Walter Mediger wurde am 2. Januar 1915 in Flensburg geboren. 1939 promovierte er in
Gottingen zum Dr. phil., wo er 1941/42 eine Lehrtatigkeit am Historischen Seminar
iibernahm. 1946 wurde er Lektor der russischen Sprache an derTH Hannover. Mediger
gehorte zu den Grundungsvatern des Historischen Seminars der Leibniz Universitat
Hannover. Als er sich mit der Arbeit „Moskaus Weg nach Europa. Der Aufstieg Russ-
lands zum europaischen Machtstaat im Zeitalter Friedrichs d. Gr." fiir das Fachgebiet
„Mittlere und neuere Geschichte" habilitierte, war dies nach Friedrich Carl Wittichen,
der sich 1909 habilitiert hatte, die zweite Habilitation fiir dieses Fachgebiet an der TH
Hannover. 1955 erfolgte Medigers Ernennung zum Dozenten, drei Jahre spater zum au-
BerplanmaBigen Professor und 1967 zum Wissenschaftlichen Rat und Professor; in die-
ser Funktion lehrte er bis zu seiner Pensionierung im Friihjahr 1977. Als zweites Opus
magnum erschien 1967 „Mecklenburg, Russland und England-Hannover 1706-1721. Ein
Beitrag zur Geschichte des Nordischen Krieges", das eine Vertiefung seines vorherge-
henden Buches darstellt. Beide Veroffentlichungen wurden in derFachwelt auBerstposi-
tiv aufgenommen. So hob der Nestor der niedersachsischen Landesgeschichte, Georg
Schnath, bei seiner Rezension des ersten Buches, den „hohen Wert des Werkes" nicht
nur fiir die Landesgeschichte hervor; er sah in ihm „einen der gewichtigsten Beitrage zur
europaischen Geschichte des 18. Jahrhunderts, die in den letzten Jahren erschienen
sind. . . . Mediger ist ein Meister nicht nur der historischen Forschung, sondern auch der
kiinstlerischen Gestaltungihrer Ergebnisse. Das Buch liest sich trotz dergewissenhaften
Ausleuchtung der Einzelheiten einer vielverschlungenen Politik auBerordentlich flussig,
weil der Verfasser es verstanden hat, die Gestalten und Gestalter dieser Politik mit einer
ungewohnlichen Formkraft herauszuarbeiten" (NdSachsJbLdG 26, 1954, 213 f.) . Und
iiber das zweite Buch schreibt ein Rezensent: „Man wird es noch heranziehen, wenn die
heute aktuellen Darstellungen und Handbiicher langst vergessen sind" (NdSachsJbLdG
39, 1967, 325). Walther Medigers Veroffentlichungen, zu denen noch etliche wissen-
schaftliche Aufsatze gehoren, zeichnen sich durch ihre Nahe zu den unveroffentlichten
Quellen aus, die mit groBter Akribie und kritischem Scharfsinn ausgewertet werden und
die Grundlage fiir Darstellungen liefern, die auBerordentlich gut lesbar und iiber weite
Passagen sogar spannend geschrieben worden sind. Leider ist es ihm nicht mehr ver-
gonnt gewesen, sein groBes Alterswerk iiber Prinz Ferdinand von Braunschweig, den
Fiihrer des Koalitionsheeres im Siebenjahrigen Krieg, zu vollenden. Es bereitete ihm
622 Nachrichten
groBen Kummer, dass ihm in den letzten Jahren die Krafte fehlten, dieses Buch fertig zu
stellen, das sicher fiir den Verlauf und die Beurteilung des Siebenjahrigen Krieges viel
Unbekanntes enthalten hatte.
Als gegen Mitte der 1960er Jahre das Historische Seminar vor dem Hintergrund
wachsenden Lehrermangels den Auftrag zur Ausbildung von Fachhistorikern, vornehm-
lich von zukiinftigen Gymnasial- und Realschullehrern erhielt und die Moglichkeit des
Vollstudiums in kiirzester Zeit zu einem Ansteigen der Zahl der Studierenden fiihrte,
ubernahm Walther Mediger, der den Schwerpunkt seiner Forschung und Lehre bis da-
hin vornehmlich auf die Geschichte der Friihen Neuzeit gelegt hatte, auf Bitten des da-
maligen Seminardirektors, Professor Dr. Wilhelm Treue, die Aufgabe, das Mittelalter zu
vertreten. Fast als Sternstunden ihres Studiums galten bei Studierenden seine Vorlesun-
gen. Obwohl anfangs nur ein kleiner Kreis von Zuhorern an den Veranstaltungen teil-
nahm, bereitete sich Professor Mediger immer mit der Griindlichkeit unter Auswertung
des modernen Forschungsstandes vor, wie es die Aufgabe eines Hochschullehrers sein
sollte. In den Vorlesungen offenbarte er sein reiches Wissen, sein kritisches Urteilsver-
mogen, seinen Einfallsreichtum, seine sprachliche Prazision und seinen feinsinnigen
Humor. Wahrend der unter hochschulpolitischen Gesichtspunkten nicht einfachen
1970erjahre erwies sich Walther Mediger als prinzipientreuerKollege. Die Turbulenzen
dieser Zeit trugen sicher zu seinem vorzeitigen Ausscheiden aus dem akademischen
Lehrdienst bei.
Walter Mediger starb am 31. Oktober 2007 in Hannover. Es bleibt die Erinnerung an
einen Gelehrten, der seine Disziplin in vorbildlicher Weise vertrat, es bleibt die Hoff-
nung, dass das, was er seinen Schiilern gegeben hat, weiter wirken mtige, und die Dank-
barkeit, dass uns Walther Mediger als akademischer Lehrer und als Kollege fiir einige
Jahre begleitet hat.
Hans-Georg Aschoff
Erinnerung anjiirgen Asch
Von Otto Merker und Herbert Obenaus
Jiirgen Asch starb am 21. August 2007. In derhannoverschen Tituskirche fand fiirihn ein
Trauergottesdienst statt, bei dem Pastor Eckard Bretzke die Predigt hielt. Freunde und
Bekannte des Verstorbenen waren zahlreich erschienen. Sie erfuhren durch die Predigt,
was die meisten nicht wussten: Jiirgen Asch stammte aus einerFamilie,die in derZeitder
nationalsozialistischen Herrschaft rassischen Verfolgungen ausgesetzt war. Sein Vater,
Moritz Asch, jiidischer Herkunft, war nach der Pogromnacht des 9. November 1938 ver-
haftet und in das Konzentrationslager Sachsenhausen eingeliefert worden. Er ist dort
nach einmonatiger Haft am 8. Dezember 1938 gestorben.1
Moritz Asch wurde am 6. September 1883 in Schneidemiihl als Sohn des Kaufmanns
Isert Asch geboren, der mit Rosa Asch, geborene Seligsohn, verheiratet war.2 Isert Asch
besaB in Schneidemiihl das Haus Neuer Markt 1, beruflich war er als Versicherungsa-
gent und Bekleidungshandler tatig, auBerdem war er Eigentiimer einer Gastwirtschaft.
Er starb am 2. Juni 1905. 1892 gehorte ein „Asch" zu den Stadtverordneten von Schnei-
demiihl. Zwar wird kein Vorname genannt, doch kann es sich hier durchaus um Isert
Asch gehandelt haben.'' Das nach seinem Tode im Jahre 1914 erschienene Adressbuch
von Schneidemiihl nennt dann die Witwe Rosa Asch als Eigentiimerin des Hauses Neuer
1 Sterbezweitbuch des Standesamts Oranienburg, Nr. 0448. Der Tod war durch den La
gerkommandanten des Lagers Sachsenhausen angezeigt worden. Fiir die Auskunft ist Frau
Dr. Astrid Ley von Gedenkstatte und Museum Sachsenhausen sowie dem Direktor der Stif-
tung Brandenburgische Gedenkstatten, Herrn Prof. Dr. Giinter Morsch zu danken.
2 Es Hegt die gescannte Eintragung des Standesamts Schneidemiihl vom 8. September
1883 vor, nach der dem Kaufmann Isert Asch, wohnhaft in Schneidemiihl, Neuer Markt 9,
mosaischer Religion, am 6. September 1883 ein Kind geboren worden sei, „welches noch kei-
nen Vornamen erhalten habe." Am 6. Oktober 1883 zeigt dann Isert Asch an, dass dem Kind
der Vorname Moritz „beigelegt worden ist". Die Vorlage wurde von Herrn Peter Simonstein
Cullman zugesendet, dem auch fiir intensive Beratung auf der Basis folgender Publikation zu
danken ist: Peter Simonstein Cullman, History of the Jewish Community of Schneidemiihl:
1641 to the Holocaust, Bergenfeld/USA 2006.
3 Adressbuch Schneidemiihl von 1896 und 1905. Der Neue Markt wurde nach dem
Stadtbrand von 1626 angelegt, „wodurch der Alte Markt an Bedeutung verlor": Karl Boese,
Geschichte der Stadt Schneidemiihl, Schneidemiihl 1935, S. 224.
4 Mitteilung von Peter Simonstein Cullmann aufgrund der Adressbiicher von Schneide-
miihl aus denjahren 1896 und 1905. Zum Tod von Isert Asch vgl. Cullman, S. 313, der sich
auf die Beerdigungsakten des jiidischen Friedhofs von Schneidemiihl bezieht.
5 Cullman, S. 105 Anm. 331, wo auf Karl Boese, Geschichte der Stadt Schneidemiihl
(Ostdeutsche Beitrage aus dem Gottinger Arbeitskreis XXX), 2. Aufl. Wiirzburg 1965, S. 59
verwiesen wird. Cullman nennt ebd. fiir das Jahr 1892 einen „Kaufmann Asch" als Stadtver-
ordneten von Schneidemiihl.
624 Nachrichten
Markt 1 . Jiirgen Asch stammte also von Vaters Seite aus einer gut situierten biirgerlichen
jiidischen Familie.
Moritz Asch zog am 15. Januar 1922 von Schneidemuhl nach Liibeck, wo er den Beruf
eines Kontoristen ausiibte. Er meldete sich am 4. Marz 1929 nach Schneidemuhl ab,
doch erfolgte am 13. Dezember 1930 eine erneute Meldungin Liibeck. Nun wohnte erin
der Schwartauer Allee 141, also im Haus der Witwe Wilhelmine KlieB. Erheiratete deren
Tochter Bertha, geboren am 28.Juni 1895 in Travemiinde.'' Moritz Asch lebte in Liibeck,
bis er sich am 27. Marz 1931 nach Berlin abmeldete. Als Berliner Adresse erscheint zu-
nachst die PaulsenstraBe 55 in Steglitz, dann die LibellenstraBe 5 in Nikolassee. Als
Sohn von Moritz und Bertha Asch wurde am 2. Juli 1931 Jiirgen Asch in Berlin-Lichter-
felde geboren.7
Unter der nationalsozialistischen Herrschaft wurde die jiidische Herkunft des Ehe-
manns belastend. In den Berliner Adressbiichern erscheint Moritz Asch 1932 als Kauf-
mann, 1934 als Hausbesitzer, spater als Hausbesitzer und Rentier. Die Abfolge dieser An-
gaben legt nahe, dass hier ein Zwang bestand, aus dem Berufsleben auszuscheiden. Jiir-
gen Asch besuchte ab Ostern 1938 die „3. Volksschule" in Berlin-Schlachtensee. Auch
fur Jiirgen Asch war die jiidische Herkunft des Vaters ein Problem. So wurde er mit der
Situation konfrontiert, dass Eltern „gefragt wurden, ob sie damit einverstanden seien,
dass ihre Kinder neben einemjudenkind saBen". Darauf soil der Lehrer beruhigend ge-
antwortethaben: „Es warenicht so schlimm, derjiirgen kamejamehrnach der Mutter."8
Nach dem Pogrom vom 9. November 1938 gab die Geheime Staatspolizei die Anord-
nung heraus, 20 bis 30.000 „vor allem vermogende" und „gesunde mannliche Juden
nicht zu hohen Alters" zu verhaften und in die Konzentrationslager Dachau, Buchen-
wald und Sachsenhausen einzuliefern. Die Festnahmen erfolgten ohne Angabe von
Griinden, die Familienangehorigen blieben iiber den Aufenthaltsort der Verhafteten im
Ungewissen.'' Es waren iiber 6.000 Juden, die nach dem 9. November 1938 innerhalb
von wenigen Tagen in das Konzentrationslager Sachsenhausen transportiert wurden.
Lastwagen brachten etwa 3.000 Juden aus Berlin bis an das Tor des Lagers1" - zu ihnen
muss auch Moritz Asch gehort haben. Uber den Termin und die Umstande seiner Ver-
haftung ist zwar nichts bekannt. Da aber die Welle der Verhaftungen nach der Pogrom-
nacht zeitlich begrenzt war, ist davon auszugehen, dass er zwischen dem 10. und dem
6 Die oben in Anm. 2 dokumentierte standesamtliche Namensgebung fur Moritz Asch
tragt einen undatierten Hinweis auf das Standesamt Liibeck mit der dort dokumentierten
Heirat von Moritz Asch.
7 Mitteilung des Landesarchivs Berlin vom 5. November 2007.
8 Predigt von Pastor i.R. Eckard Bretzke iiber Psalm 119 Vers 105 anlasslich der Trauer-
feier fiir Dr. Jiirgen Asch am 31. August 2007 in der Tituskirche zu Hannover.
9 Heiko Pollmeier, Die Verhaftungen nach dem November-Pogrom 1938 und die Mas-
seninternierung in den „judischen Baracken" des KZ Sachsenhausen, in: Giinter Morsch/
Susanne zur Nieden (Hrsg.) , Jiidische Haftlinge im Konzentrationslager Sachsenhausen
1936 bis 1945 (Schriftenreihe der Stiftung Brandenburgische Gedenkstatten 12), Berlin 2004,
S. 164-179, hier S. 167 f.
10 Hans Reiohmann, Deutscher Biirger und verfolgter Jude. Novemberpogrom und KZ
Sachsenhausen 1937 bis 1939, bearbeitet von Michael WlLDT (Biographische Quellen zur
Zeitgeschichte, hrsg. im Auftrag des Instituts fiir Zeitgeschichte von Werner Roder und Udo
Wengst, Bd. 21), Munchen 1998, S. 135.
Nachrufe 625
16. November 1938 festgenommen und nach Sachsenhausen transportiert wurde, wobei
der 16. November der Termin war, an dem Heydrich an alle Gestapostellen den Befehl
richtete, die Verhaftung von Juden und ihren Transport in Konzentrationslager einzu-
stellen."
Aus den Berichten iiber die Ankunft der Lastwagen mit den Juden aus Berlin geht
hervor, dass der Empfang im Lager mit brutalen Ubergriffen der Wachmannschaften
verbunden war. Die bei Nacht eintreffenden Lastwagen wurden am Lagereingang von
starken Scheinwerfern angestrahlt. Begleitet vom lauten Gebriill und den Schlagen der
Wachmannschaften wurden die Verhafteten dann auf den Appellplatz getrieben, wobei
es bereits zu den ersten Verletzungen kam - „die Behandlung der Neuankommlinge
war unvergleichlich brutal; aul diese Weise war noch keine Haftlingsgruppe . . . emp-
fangen worden."12 Die brutale Behandlung der jiidischen Haftlinge hielt auch in der
Folgezeit an.
Der Ankunft im Lager folgte das Aufnahmeritual, dass immer wieder mit Schlagen
und anderen Demiitigungen verbunden war. Es zog sich fur die zuerst angekommene
Gruppe von Berlinerjuden acht Stunden hin, die „Ank6mmlinge des 11., 12., 13. und 14.
November haben durchschnittlich 16 bis 18 Stunden stehen miissen".13 Die Haftlings-
und Blocknummern wurden verteilt, danach mussten sich alle entkleiden, „Kleidung,
Wertsachen und Geld wurden registriert und in der Effektenkammer aufbewahrt". An-
schlieBend fanden eine arztliche Untersuchung und ein Duschbad statt, dann wurde die
Haftlingskleidung verteilt. SchlieBlich wurden die Haftlinge zu den Baracken des Klei-
nen Lagers gefuhrt. In die urspriinglich fur jeweils 150 Personen geplanten Baracken
„pferchte die SS bis zu 400 Haftlinge"." Um Platz fiir die fjbernachtung zu schaffen,
„hatte man die mehrstockigen Betten herausgeraumt und den Boden mit Stroh be-
deckt".1'' Nach dem Bericht des Haftlings Siegmund Weitlinger war es beim Schlafen so
eng, „daB wir nur seitlich liegen konnten. Viele Kranke waren unter uns, die . . . genauso
hart arbeiten muBten wie alle anderen. . . . Wie oft kam es vor, daB nachts der Nachbar
rochelte und im Todeskampf lag. Keinerkonnte ihm helfen,und am Morgen lag man ne-
ben einer Leiche.""' Der Tag der Haftlinge begann mit dem Wecken um fiinf Uhr, am
Morgen und am Abend fand ein Zahlappell statt, an dem alle Haftlinge, auch die Kran-
ken, teilnehmen mussten. Es war ein Appell, der sich lang hinziehen konnte, sobald es
Unstimmigkeiten bei der Meldung der Haftlinge gab. Die Arbeitsbelastung der Gefange-
11 Heydrich an alle Stapostellen, 16. November 1938: Kurt Patzold (Hrsg.) , Verfolgung,
Vertreibung, Vernichtung. Dokumente des faschistischen Antisemitismus 1933 bis 1942,
Frankfurt 1984, S. 183 f.
12 Pollmeier, Verhaftungen, S. 172 f. Vgl. auch Heiko Pollmeier, Inhaftierung und La
gererfahrung deutscher Juden im November 1938, in: Jahrbuch fiir Antisemitismusforschung
8, 1999, S. 107-130.
13 Reichmann, S. 133.
14 Pollmeier, Verhaftungen, S. 173f.
15 Pollmeier, Inhaftierung, S. 112f.
16 Harry Naujoks, Mein Leben im KZ Sachsenhausen 1936T942. Erinnerungen des
ehemaligen Lageraltesten, bearbeitet von Ursel Hochmuth, hrsg. von Martha Naujoks und
dem Sachsenhausen-Komitee fiir die BRD, Koln 1987, S. 91. Weitlinger hat auch berichtet,
dass das Jiidische Krankenhaus in Berlin zahlreiche „Amputationen von erfrorenen Glie-
dern an entlassenen Sachsenhausener Juden" vornehmen musste: ebd., S. 93.
626 Nachrichten
nen war sehr hoch, die Ernahrung dagegen unzureichend. Gefiirchtet war besonders die
Arbeit auf der Baustelle des „Klinkerwerks", einer Ziegelei.17 Das Klinkerwerk wurde
auch als „die Holle des Lagers" bezeichnet.ls
Die Haftbedingungen der nach der Pogromnacht des 9. November 1938 verhafteten
Juden fiihrten dazu, dass die Todesrate im Lager Sachsenhausen seit November 1938
deutlich anstieg.1!) Aus vier jiidischen Haftlingen wurde ein „Leichen-Kommando" ge-
bildet, das die Toten aus dem Krankenrevier holte, sie wusch, „in ein Papierhemd"
kleidete und „auf Holzspane"bettete. Dann kamen die Leichen in einen „schwarzen Ka-
sten . . . , den diese vier Manner drei, fiinf, ja zehn Mai am Tag durchs Lager in den Lei-
chenschuppen tragen. Es brullt iiber den Appell-Platz: ,Leichen-Kommando'! Und
dann marschieren die vier Kameraden, die jeder kennt und mit scheuem Blick begleitet,
militarisch formiert ins Revier. In sechs Wochen haben sie mehr als 90 Juden einge-
sargt."20 DerTod des Haftlings Moritz Asch ist durch das Sterbezweitbuch Nr.0448 des
Standesamts Oranienburg dokumentiert, wo als Zeitpunkt der 8. Dezember 1938, 23.30
Uhr, genannt wird. Moritz Asch hat sich also allenfalls einen Monat lang im Lager aufge-
halten, er war 55 Jahre alt geworden. Als Todesursache wird „Herzmuskelschwache" an-
gegeben, als „Anzeigender" fur die Todesmeldung der „Lagerkommandant des Lagers
Sachsenhausen in Oranienburg" genannt.-1 Es liegt auBerdem eine „Veranderungsmel-
dung" der „Gefangen-Geld und Effektenverwaltung" des Konzentrationslagers vom 9.
Dezember 1938 vor, in der Moritz Asch, „Haftlingsnummer 008156", als „verstorben" ge-
meldet wird.2-
Im iibrigen ist davon auszugehen, dass die Brutalitat der antisemitischen Aktionen,
die seitens der Wachmannschaften gegen die nach dem 9. November in die Konzentrati-
onslager eingelieferten Juden veriibt wurden, deren Abwendung von ihrer deutschen
Heimat vorantreiben sollte. Dies verdeutlicht der Bericht von Hans Reichmann iiber sei-
ne Zeit im Konzentrationslager Sachsenhausen. Er hatte seit 1927 Leitungsfunktionen
im „Centralverein deutscher Staatsbiirger jiidischen Glaubens", einer Organisation, die
sich bewusst fur die Anerkennung derjuden als deutsche Staatsbiirger jiidischer Konfes-
sion einsetzte,ja, die „die deutsche Kultur gegen den undeutschen Geist des Antisemitis-
mus verteidigte".-'1 In dem Bericht iiber seine Haft in Sachsenhausen hat er seit dem
ersten Tag im Lager dariiber reflektiert, „wo kommen nur solche Menschen her?" Ihm
17 Pollmeier, Verhaftungen, S. 174ff.
18 So Reichmann, S. 152. Ebd., S. 217 auch die im Lager verbreitete Formulierung: „Lie-
ber ein Jahr Z[uchthaus] als eine Woche KZ!"
19 Pollmeier, Verhaftungen, S. 176f. mit Anm. 30.
20 Reichmann, S. 197, der auch darauf hinweist, dass das Leichenkommando erst nach
der Progromnacht und der dann folgenden Aufnahme von Juden in Sachsenhausen gebildet
wurde.
21 Datenbankauszuge von Gedenkstatte und Museum Sachsenhausen, Oranienburg,
Objekt-Nr. 167.138. Auf den Tod von Moritz Asch am 8. Dezember 1938 im Konzentrations-
lager Sachsenhausen weist auch das Gedenkbuch Opfer der Verfolgung derjuden unter der
nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933-1945, bearbeitet und heraus-
gegeben vom Bundesarchiv, 2. Aufl. Koblenz 2006, Bd. 1 S. 97 hin.
22 „Aussteller" dieser Meldung ist SS-Obersturmfiihrer Chmielewski: Datenbankauszii-
ge von Gedenkstatte und Museum Sachsenhausen, Oranienburg, Objekt-Nr. 14.792.
23 Einleitung zum Bericht von Reichmann, S. 2ff.
Nachrufe 627
waren zwar immer wieder in seinem Leben antisemitische Agressionen begegnet - „aber
das hier ist ein unvergleichbares Furioso!"24
Letztlich war die Haft im Konzentrationslager bei den nach der Pogromnacht des 9.
November 1938 verhafteten Juden als Druckmittel gedacht. Erreichen wollte man von
den Verhafteten den Verkauf von Vermogenswerten unter Arisierungsbedingungen, vor
allem aber sollten die Verhafteten zur Auswanderung veranlasst werden. Tatsachlich
wurde die Mehrzahl der Verhafteten im Dezember 1938 und Januar 1939 wieder entlas-
sen - „meistens hatten Verwandte oder Freunde zuvor bei den Polizeistellen Bescheini-
gungen vorgelegt, die nachwiesen, dass eine Auswanderung in die Wege geleitet worden
war."2,1 Der Tod im Lager schloss diese Perspektive bei Moritz Asch aus. Doch bleibt zu
fragen, ob eine solche Perspektive fur ihn iiberhaupt denkbar war. Die Ehe mit einer
christlichen Frau und die christliche Erziehung seines Sohns Jiirgen waren auf ein Blei-
ben in Deutschland angelegt. Es ist also eher davon auszugehen, dass Moritz Asch die
„rettende Perspektive" einer Auswanderung als zusatzliche Belastung empfunden hat.
Moritz Asch wurde am 13. Dezember 1938 auf dem Jiidischen Friedhof in Berlin-Wei-
Bensee bestattet.-'' Die Mutter von Jiirgen Asch teilte den Tod des Vaters ihrem Sohn
beim bald folgenden Weihnachtsfest mit.-7 Die Pflege des Grabes ist nach Mitteilung
der Friedhofsverwaltung von Jiirgen Asch bis zu seinem Tode wahrgenommen worden.
Nach vierjahren Grundschule wurde Jiirgen Asch Ostern 1942 in die Dreilinden-O-
berschule in Berlin-Wannsee aufgenommen. Er gait nach der 1. Verordnung zum
Reichsbiirgergesetz vom 14. November 1935 als Mischling ersten Grades. Definiert wur-
de derGrad eines Mischlings nach der Anzahl seinerjiidischen GroBeltern: hatte erzwei
jiidische GroBelternteile, so war er ein Mischling ersten Grades; hatte er einen jiidischen
GroBelternteil, so war er ein Mischling zweiten Grades. 'M Jiirgen Asch hatte zwei jiidi-
sche GroBelternteile - jeweils einen fiber den Vater und einen iiber die Mutter des Va-
ters. Im Dezember 1938 wurde die Kategorie der „privilegierten" und der „nicht privile-
gierten" Mischehen entwickelt. Die Familie Asch gait als „privilegierte" Mischehe, da es
sich hier um ein Paar handelte, in dem der Mann jiidisch und die Frau nichtjiidisch war
und wo „nichtjiidisch erzogene Kinder existierten. Familien in dieser Konstellation durf-
ten in der bisherigen Wohnung verbleiben, das Vermogen konnte auf den nichtjiidi-
schen Partner bzw. auf die Kinder iibertragen werden."-''
24 Ebd., S. 127. Ebd., S. 189T93 eine Beschreibung der Priigelstrafen auf dem Bock und
am Pfahl.
25 POLLMEIER, S. 168.
26 Mitteilung derjiidischen Gemeinde Berlin, Judischer Friedhof Weissensee, vom 13.
November 2007. Ebd. eine Kopie der Eintragung fur Moritz Asch in den Friedhofsakten,
Nr. 99.590, ferner ein Lageplan des Jiidischen Friedhofs in Berlin-WeiBensee mit Einzeich-
nung der Grabstatte unter M 7. Die Leiche war nicht eingeaschert worden, wie das sonst bei
den Toten der Konzentrationslager ublich war.
27 Predigt von Pastor i.R. Eckard Bretzke iiber Psalm 119 Vers 105 anlasslich der Trauer-
feier fur Dr. Jiirgen Asch am 31. August 2007 in der Tituskirche zu Hannover.
28 Dazu die Definition des Mischlingsbegriffs in: Wolfgang Benz/ Hermann Graml/
Hermann Weiss (Hrsg.), Enzyklopadie des Nationalsozialismus, 2. Aufl. Miinchen 1998,
S. 586 f.
29 Geheimer Schnellbrief des Ministerprasidenten Generalfeldmarschall Goring an den
Reichsminister des Innern, 28. Dezember 1938: Beate Meyer, „Jiidische Mischlinge", Ras-
628 Nachrichten
Nach dem Runderlass des Reichsministers fur Wissenschaft, Erziehung und Volksbil-
dung vom 2. Juli 1942 waren „jiidische Mischlinge ersten Grades ... in die Hauptschu-
len, Mittelschulen und Hoheren Schulen kiinftig nicht mehr aufzunehmen". Allerdings
galten fur Jiirgen Asch besondere Bestimmungen des Runderlasses. „Jiidische Mischlin-
ge ersten Grades", so hiefi es namlich, „die sich in den Klassen 1-4 einer Mittel- oder Ho-
heren Schule oder der entsprechenden Klasse einer Hauptschule befinden, haben die
Schule mit dem Zeitpunkt der Beendigung ihrer Volksschulpflicht zu verlassen." Auf
diese Weise erhielt der Runderlass zumindest formal die allgemeine Schulpflicht, die
sich an einer achtjahrigen Volksschulzeit orientierte, auch fur „jiidische Mischlinge" auf-
recht. Wenn Jiirgen Asch seit Ostern 1942 die Dreilinden-Oberschule in Berlin-Wann-
see besucht hat, so befand er sich am 2. Juli 1942, als der erwahnte Runderlass erging,
noch in der Ersten Klasse, er hatte die Oberschule noch bis zum Ende der Vierten Klasse
besuchen diirfen - was rein rechnerisch zu Ostern 1946 der Fall gewesen ware. Solange
hier keine weiteren Informationen vorliegen, ist also davon auszugehen, dass Jiirgen
Asch bis zum Verlassen Berlins im Februar 1944 die Dreilinden-Oberschule besucht
hat. Wie es zu diesem Februartermin gekommen ist, lasst sich nur vermuten.
Blickt man auf die Verhaltnisse an den Berliner Volksschulen, so ist nachgewiesen,
dass die Zahl der Kinder groB war, die dem im Spatsommer 1943 ergangenen Evakuie-
rungsaufruf nicht gefolgt waren. Viele Eltern schickten ihre Kinder nicht in die Evakuie-
rungsgebiete wie z.B. OstpreuBen oder Pommern, nur eine begrenzte Zahl von Eltern
lieB ihre Kinder mit den Schulen die Stadt verlassen." Die in Berlin verbliebenen Kin-
der waren weiterhin der Schulpflicht unterworfen, sie besuchten den Unterricht in den
noch geoffneten Schulen. Am 19. Januar 1944 erging dann die Anordnung, die Berliner
„Restschulen in die Aufnahme- und Ausweichgebiete" zu verlegen oder aber „die in Ber-
lin zuriickgebliebenen Schiiler, soweit sie umquartierungsfahig sind, auf dem Wege der
Verwandtenhilfe nach auBerhalb" zu bringen. „Diejenigen Eltern, die ihre Kinder wei-
terhin in Berlin zuriickbehalten, haben auch die Verantwortung fur deren Nichtbeschu-
lung und ihre Folgen allein zu iibernehmen." AbschlieBend hieB es: „Mit einer Wieder-
aufnahme des Unterrichts in Berlin ist nicht zu rechnen."3- Dieser Hinweis wurde im
Februar 1944 noch einmal in ein Flugblatt der Schulverwaltung iibernommen, das mit
der Formulierung „Luftnotgebiete sind kein Platz fur Kinder" erneut zur Evakuierung
senpolitik und Verfolgungserfahrung 1933-1945 (Studien zur jiidischen Geschichte 6), Ham-
burg 1999, S. 30 mit Anm. 56.
30 Deutsche Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung. Amtsblatt des Reichsministeri-
ums fur Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung und der Unterrichtsverwaltungen der
Lander, 8. Jg., Berlin 1942, S. 278. Dazu Joseph Walk, Das Sonderrecht fur die Juden im
NS-Staat. Eine Sammhmg der gesetzlichen MaBnahmen und Richtlinien - Inhalt und Be-
deutung, Heidelberg Karlsruhe 1981, S. 379, IV Nr. 384, Inhaltsangabe.
31 Arbeitsgruppe Padagogisches Museum (Hrsg.), Heil Hitler, Herr Lehrer. Volksschule
1933-1945. Das Beispiel Berlin, erarbeitet von Norbert Frank (Redaktion) / Gesine Asmus
(Bildredakteurin), Hamburg 1983, S. 222. Ebd., S. 206 eine Tabelle, die den zahlenmaBi-
gen Vergleich der Schiiler erlaubt, die „mit der Schule Berlin verlassen", „von den Eltern in
Berlin zuruckgehalten" oder „von den Eltern selbstandig in anderen Orten untergebracht
werden".
32 Ebd., S. 207f.
Nachrufe 629
der Schulkinder aus Berlin aufforderte.1'1 Im Februar 1944 hat auch Jiirgen Asch Berlin
verlassen, wobei ein Zusammenhang mit dem Aufruf der Schulverwaltung nahe liegt. Er
meldete sich in diesem Monat in Liibeck an, wo er zur GroBmutter miitterlicherseits in
die HeinrichstraBe zog.lil Seine Mutter folgte ihm am 9. August 1944. Nach eigenen
Angaben istjiirgen Asch dann 1945 in die Quarta, also in die 3. Klasse desjohanneums,
Oberschule zu Liibeck, aufgenommen worden, wo er 1952 das Abitur gemacht hat.'*
Jiirgen Asch hat mit dem Sommersemester 1952 ein Studium der Geschichte, Germa-
nistik und Philosophie an der Universitat in Hamburg begonnen, dieses durch den
Wechsel an die Universitat Tubingen zum Sommersemester 1955 dann einmal unterbro-
chen, es danach aber bis zum Sommersemester 1957 wieder in Hamburg fortgesetzt und
dort auch abgeschlossen. Die Studienzeit war fur ihn finanziell schwer zu bewaltigen, da
Mutter und Sohn Asch als Hinterbliebene eines Opfers des Nationalsozialismus ledig-
lich iiber eine kleine Rente verfiigten und Zahlungen aus dem Lastenausgleichsfond fur
die Vermogensverluste in Schneidemiihl -Jiirgen Asch war als Erbe seiner hoch betagt
nach Theresienstadt deportierten und dort umgekommenen Tante anerkannt worden -
erst nach dem Abschluss des Studiums zu Anfang der 1960er Jahre eingegangen sind.
Durch Tatigkeiten bei Liibecker Behorden hat er daher seine Finanzen in den ersten Stu-
dienjahren regelmaBig aufbessern miissen, sparer wurde er mehrfach vom Hamburger
Studentenwerk mit Stipendien unterstiitzt.
Jiirgen Asch hat die Geschichtswissenschaft sehr bald zum Schwerpunkt seiner Studi-
en gemacht und zu Anfang in Hamburg vor allem mittelalterliche, hansische und osteu-
ropaische Geschichte bei den Professoren Aubin und Johansen, in Tubingen dagegen
Zeitgeschichte bei Professor Rothfels betrieben. Wie andere Hamburger Geschichtsstu-
denten hat er dann im weiteren Verlauf seines Studiums den besonderen Erkenntnisreiz
und methodischen Anspruch erlebt, den die Forschungsweise Otto Brunners bot, der
die Verfassungsgeschichte des Mittelalters und der Friihen Neuzeit zur Sozial- und
Strukturgeschichte erweiterte. In ihm und dem Liibecker Archivdirektor Ahasver von
Brandt, der in einer ganz auf die Bediirfnisse junger Forscher zugeschnittenen Weise die
Historischen Hilfswissenschaften an der Universitat Hamburg vertrat, hat er seine maB-
geblichen Lehrer gesehen. Aus einem Seminar Otto Brunners iiber Verfassungskampfe
und Zunftunruhen in deutschen Stadten ist dann auch seine Dissertation hervorgegan-
gen, die iiber Rat und Biirgerschaft in Liibeck in derZeit von 1598 bis 1669 handelte und
1961 publiziert wurde. Nachdem Jiirgen Asch bereits 1958 das Erste Staatsexamen fur
den Hohere Lehramt abgelegt hatte, hat sich der Abschluss seiner Promotion jedoch
noch bis zum Juli 1960 hingezogen, weil die einschlagigen Liibecker Archivbestande,
deren Erforschung fur ihn unverzichtbar war, im Zuge der kriegsbedingten Auslagerung
in der DDR lagerten, nun aber auch von westlichen Wissenschaftlern auf besonderen
Antrag hin im Deutschen Zentralarchiv zu Potsdam benutzt werden konnten. Langere,
mit erheblichen Kosten verbundene Forschungszeiten hat Jiirgen Asch daher in den Jah-
ren 1957 und 1959 dort verbracht. Zum ersten Mai hat er dabei umfangreiche Arbeit am
33 „An alle Eltern, deren Kinder noch in Berlin wohnen": ebd., S. 208.
34 Meldekarte Jiirgen Asch im Archiv der Hansestadt Liibeck.
35 Meldekarte Bertha Asch, ebd.
36 Die Abiturarbeiten befinden sich im Archiv der Hansestadt Liibeck, Bestand 3.
2.1/2 Oberschule Johanneum", Erwerb 22/1998 Nr. 260.
630 Nachrichten
Archivgut geleistet und ist zugleich mit einem der schwierigsten damaligen Archivpro-
bleme, dem Zugang zu im Krieg ausgelagertem Archivgut, das im Auffangarchiv als
Fremdkorper empfunden wurde, konfrontiert worden.
Sein Naturell, die Pragung durch seine akademischen Lehrer und die konkrete Erfah-
rung der Archivarbeit haben ihn dann bewogen, Archivar zu werden. Auf der Grundlage
personlicher Verbindungen zwischen Professor Brunner und dem damaligen Leiter der
niedersachsischen Archivverwaltung Dr. Grieser wurde er in die Ausbildung fur den ho-
heren niedersachsischen Archivdienst aufgenommen. Er hat wahrend dieser Anfangs-
phase archivarischen Lernens einer Gruppe von Archivreferendaren angehort, die den
inzwischen erfolgten oder fest geplanten institutionellen Ausbau des staatlichen nieder-
sachsischen Archivwesens personell ausfiillen sollte, also nach der Ausbildung sichere
Berufschancen hatte. Dieser Gruppe ist Jiirgen Asch zunachst mit der ihm eigentumli-
chen, auch spater nie ganz verlorenen Zuruckhaltung, wahrscheinlich die Konsequenz
seiner besonderen Lebenssituation, begegnet. Den Mangel an korperlicher Robustheit
und an der Fahigkeit des Zupackens hat er aber schon damals durch die scharfe intellek-
tuelle Analyse der an ihn gestellten Anforderungen und durch ein hohes MaB an Kritik-
fahigkeit ausgeglichen. Die Einsamkeit, die ihn merklich umgab, haben lange Zeit nur
wenige Menschen kommunikativ oder emotional zu durchbrechen vermocht. Weder
dienstlich noch im kollegialen Berufszusammenhang konnte er daher iiber seine Her-
kunft und das in der Kindheit erlebte Schicksal des Vaters sprechen. Und dass diese
strikte, sich erst spater etwas lockernde Haltung dann ganz allgemein auch berechtigt
war, das haben die um ihn Trauernden, so miissen wir es, ohne den hinter diesen Worten
stehenden Sachverhalt naher ausfuhren zu wollen, leider ausdriicken, schlieBlich noch
nach seinem Tode erfahren.
Jiirgen Asch hat nach der 1964 beendeten Ausbildung zunachst vier Jahre lang am
Staatsarchiv in Oldenburg gewirkt und ist nach der Versetzung an das Hauptstaatsarchiv
in Hannover ab 1968 in dieser Stadt tatig gewesen. Beruflich war er zunachst fur das
staatliche und deponierte nichtstaatliche Archivgut im ehemaligen Regierungsbezirk
Hildesheim, spater fur das entsprechende im Regierungsbezirk Hannover zustandig. Bei
der Ubernahme und ErschlieBung des zu seinen Ressorts gehorenden Archivgutes und
in der Beratung von Archivbenutzern hat er sich bald eine in seiner Kompetenz begriin-
dete geachtete Stellung erworben. Daruber hinaus aber hat er sich - so, als ob es gerade
fur ihn gelte, sich aus tiefem christlichen Grundverstandnis heraus intensiv daran zu be-
teiligen, dass friihere politische Fehlentwicklungen nicht nur kiinftig verhindert, son-
dern soweit moglich auch aktiv korrigiert wiirden - in umfangreicher Weise in der Ge-
meindearbeit seiner Tituskirche im hannoverschen Stadtteil Vahrenheide engagiert.
Seit 1976 ist er vierundzwanzig Jahre lang im Kirchenvorstand der Titusgemeinde, da-
von sechs Jahre lang als ihr Vorsitzender, tatig gewesen. Mit groBer theologischer Kennt-
nis hat er Gottesdienste mitgestaltet, in zahlreichen kirchlichen Arbeitskreisen mitge-
wirkt und sich nach der Wende, wie von kirchlicher Seite geauBert wurde, als „Motor in
der Partnerschaftsarbeit mit der Thomasgemeinde in Leipzig" betatigt. Wie von selbst
verband sich schlieBlich dieses Engagement mit einem besonderen Interesse am und
Einsatz fur den christlich-jiidischen Dialog. An der Arbeit der kirchlichen Gruppe „Be-
gegnung von Christen und Juden" hat er daher ebenso teilgenommen wie er als Mitglied
der Arbeitsgemeinschaft Bergen-Belsen e. V. deren Aufgabenstellung gefordert und mit
seinem groBen Wissen um das Judentum bereichert hat. Und der in solchem Tun und
Verhalten zum Ausdruck kommende Wille, nach seiner Einschatzung notwendige Kor-
Nachrufe 631
rekturen wo immer moglich zu befordern, ist es dann wohl auch gewesen, der Jiirgen
Asch noch auf einem anderen Gebiet zum aktiven Mittun bewogen hat: Von 1984 bis
1989 war er als ehrenamtlicher Richter der Disziplinarkammer beim Verwaltungsgericht
in Hannover bestellt und tatig. Und man kann sich vorstellen, dass und wie er bei der
Uberpriifung von Disziplinarurteilen der Verwaltung vor Gericht seine hohe rationale
Kritikfahigkeit eingesetzt hat.
Dieses Jiirgen Asch ausfiillende vielfaltige kirchlich-gesellschaftliche Engagement
hat ihn in seinen Publikationsabsichten deutlich begrenzt. Das, was er dennoch in seiner
Berufslaulbahn veroffentlicht hat, lag ganz auf seinen Interessengebieten und hat er mit
hoher analytischer Kraft und gutem sprachlichen Vermogen erarbeitet. Nach seiner
Versetzung nach Hannover hat er sich zunachst noch ganz im Sinne seines akademi-
schen Lehrers Otto Brunnermit derfruhen landlichen Verfassungs- und Sozialgeschich-
te in seinem neuen Zustandigkeitsbereich beschaftigt und seine Ergebnisse dann in ei-
nem langen, im 50. Band des Niedersachsischen Jahrbuchs fur Landesgeschichte 1978
erschienen Aufsatz iiber den hochmittelalterlichen Landesausbau in Siidniedersachsen
und die in Hagergerichten fassbare spezifische Rodungsfreiheit niedergelegt. Im An-
schluss daran hat er sich dann der niedersachsischen Kirchengeschichte zugewandt und
die Geschichte des Kreuzstifts zu Hildesheim (1978/9) sowie in den weiteren 1970er und
1980erjahren diejenige des Klosters St. Blasius zu Northeim und des Kanonissenstifts in
Bassum im Rahmen der Germania Benedictina abgehandelt. Aus dienstlichen Auftra-
gen sind schlieBlich die von ihm bearbeitete 12. verbesserte Auflage des altehrwiirdi-
gen, 1982 im Verlag Hahn erschienen Taschenbuches der Zeitrechnung von Hermann
Grotefend sowie das mit Hilfe von DFG-Mitteln zusammen mit anderen erarbeitete
Findbuch iiber ausgewahlte Einzelfallakten des Grenzdurchgangslagers Friedland aus
den Jahren 1951 bis 1973 hervorgegangen. Dieses 1992 publizierte Inventar erschlieBt
ein breites Quellenmaterial iiber das Schicksal solcher Personen, welche die Anerken-
nung als Heimkehrer nach dem entsprechenden Gesetz benotigten und deshalb das
Grenzdurchgangslager durchlaufen mussten. Es handelt sich dabei also weniger um
deutsche Kriegsgefangene, als vielmehr um Zivilinternierte und Aussiedler aus Osteuro-
pa und dem Balkan sowie um DDR-Fliichtlinge, die haufig Freiheitsstrafen verbiiBt hat-
ten und danach in den Westen geflohen waren. Auch wenn die Leitung dieses ebenso
komplizierten wie ertragreichen ErschlieBungsunternehmens schon aufgrund dienstli-
cher Zustandigkeit bei Jiirgen Asch gelegen hat, an seinem besonderen Einsatz dafiir war
doch zu erkennen, dass er es auch als seine moralische Pflicht angesehen hat, daran mit-
zuwirken, dass das Schicksal so vieler durch die NS-Herrschaft und den Zweiten Welt-
krieg aus der Bahn Geworfener geklart und vor dem Vergessen bewahrt wiirde.
Die Schlussbearbeitung dieses Inventars war dann auch eine seiner letzten groBeren
dienstlichen Arbeiten. Aus gesundheitlichen Griinden -Jiirgen Asch litt u.a. an einer
das Sehfeld zunehmend einschrankenden Augenkrankheit - wurde er auf seinen Antrag
hin zum Ende des Monats September 1991 vorzeitig in den Ruhestand versetzt. Nun-
mehr hat er sich in noch starkerem MaBe und mit groBer Treue - langst war er namlich
aus dem Norden Hannovers ganz in den Siiden verzogen - weiterhin der Gemeindear-
beit in der Vahrenheider Tituskirche und der christlich-jiidischen Versohnung gewid-
met. Dabei hat er denn auch nach und nach ein hoheres MaB an Kontaktfahigkeit und
menschlicher Zuwendung, als ihm friiher gegeben war, gewonnen. Auf einer Reise der
Arbeitsgemeinschaft Bergen-Belsen nach Danzig, im Beisein vertrauter Freunde also,
ist er schlieBlich nach einem Besuch des in der Nahe von Danzig gelegenen Konzentra-
632 Nachrichten
tionslagers Stutthof, in dessen Uberlieferung er, ganz Archivar und ein durch leidvolle
Erfahrungen mit dem NS-Regime betroffener dazu, sich nochmals das Schicksal der
dort inhaftierten Juden intensiv und ganz konkret vergegenwartigen konnte, plotzlich
verstorben. Am Ende hat ihn mithin sein Schicksal, auch wenn er sich von dessen Lasten
mehr und mehr hatte befreien konnen, dann doch bis in den Tod begleitet.
Verzeichnis der besprochenen Werke
Acta pacis Westphalicae. Serie III Abt. A Protokolle. Bd. 3. Die Beratungen des
Fiirstenrates in Osnabriick. 4: 1646-1647. 5: Mai-Juni 1648 (Christoph
Gieschen) 435
Das deutsche Archivwesen und der Nationalsozialismus. 75. Deutscher Archivtag
2005 in Stuttgart. Redaktion: Robert Kretzschmar in Verbindung mit Astrid
M. Eckert, Heiner Schmitt, Dieter Speck und Klaus Wisotzky (Christian Hoff-
mann) 511
Baltic Connections. Archival Guide to the Maritime Relations of the Countries
around the Baltic Sea (including the Netherlands) 1450-1800. Hrsg. von Len-
nart Bes, Edda Frankot und Hanno Brand (Klaus-J. Lorenzen-Schmidt) . . 440
zen-Schmidt)
Beer, Peter: Hexenprozesse im Kloster und Klostergebiet Loccum (Thomas
Krause) 456
Berlit, Anna Christina: Notstandskampagne und Rote-Punkt-Aktion. Die Stu-
dentenbewegung in Hannover 1967-1969 (Detlef Busse) 563
Biermann, Friedhelm: Der Weserraum im Mittelalter. Adelsherrschaften zwi-
schen welfischer Hausmacht und geistlichen Territorien (Jiirgen Stroth-
mann) 548
Bramer, Andreas: Leistungund Gegenleistung. ZurGeschichtejudischer Religi-
ons- und Elementarlehrer in PreuBen 1823/24 bis 1872 (Werner Meiners) . 481
Break on through to the other side. Tanzschuppen, Musikclubs und Diskothe-
ken im Weser-Ems-Gebiet in den 1960er, 70er und 80er Jahren. Hrsg. von
Peter Schmerenbeck (Christoph Jacke) 520
Brenn-Rammlmair, Renate: Stadtbaumeister Gustav Nolte (Manfred F. Fischer). 593
Bresslau, Abraham: Briefe aus Dannenberg 1835-1839. Mit einer Einleitung zur
Familiengeschichte des Historikers Harry Breslau (1848-1926) und zur Ge-
schichte derjuden in Dannenberg (Sibylle Obenaus) 580
Bubke, Karolin: Die Bremer Stadtmauer. Schriftliche Uberlieferung und archao-
logische Befunde eines mittelalterlichen Befestigungsbauwerks (Gerhard
Streich) 555
Burkhardt, Kai: Adolf Grimme (1898-1963) (Thomas Bardelle) 583
Casemir, Kirsten und Uwe Ohainski: Die Ortsnamen des Landkreises Holzmin-
den. Nebst einem Anhang der archaologisch lokalisierten Wiistungen und
Burgen sowie weiterer Siedlungsstellen von Detlef Creydt und Christian
Leiber (Ulrich Ritzerfeld) 534
Crusius, Gabriele: Aufklarung und Bibliophilie. Der Hannoveraner Sammler
Georg Friedrich Brandes und seine Bibliothek (Friedrich Hiilsmann) . . . 514
Czichelski, Martin: Die Griindung der Stadt Miinden unter dem Einfluss der
634 Verzeichnis der besprochenen Werke
Welfen. Eine interdisziplinare Betrachtung der wissenschaftlichen For-
schung (Karl Heinemeyer) 570
Czichelski, Martin: Gemunde im friihen und hohen Mittelalter (Karl Heine-
meyer) 570
Die Deutsche Bank in Hannover. Hrsg. von der Historischen Gesellschaft der
Deutschen Bank (Hans-Jiirgen Gerhard) 475
Duderstddter HauserBuch. Hrsg. von der Stadt Duderstadt. Gesamtbearbeitung
Hans-Reinhard Fricke (Wolfgang Dorfler) 556
Historisch-Landeskundliche Exkursionskarte von Niedersachsen. Blatt Hannover
(Hannover und Hannover-Nord) (Wolfgang Meibeyer) 565
Fiegert, Monika und Karl-Heinz Ziessow: „. . . die ganze Schopfung auszuspa-
hen . . .". Evangelische Gemeinden im Osnabrticker Land aus der Sicht ihrer
Seelsorger am Beginn einer neuen Zeit (1801-1808) (Nicolas Riigge) .... 492
Fischer, Norbert: Im Antlitz der Nordsee. Zur Geschichte der Deiche in Hadeln
(Rolf Uphoff ) 542
Frommigkeit oder Theologie. Johann Arndt und die „Vier Biicher vom wahren
Christentum" (Martin H. Jung) 494
Fuchs, Thomas: Bibliothek und Militar. Militarische Buchersammlung in Han-
nover vom 18. bis zum 20. Jahrhundert (Matthias Schulze) 522
Feme Fiirsten. Das Jeverland in Anhalt-Zerbster Zeit. Bd. 1: Bibliophile Kostbar-
keiten: die Bibliothek der Fiirsten von Anhalt-Zerbst im Schloss zu Jever.
Hrsg. von Antje Sander und Egbert Koolman. -Bd. 2: DerHof, die Stadt, das
Land. Hrsg. von Antje Sander (Bernd Kappelhoff ) 539
Gerhard, Hans-Jiirgen und Alexander Engel: Preisgeschichte der vorindustri-
ellen Zeit. Ein Kompendium auf Basis ausgewahlter Hamburger Materialien
(Klaus-J. Lorenzen-Schmidt) 477
Gerichtslandschaft Altes Reich. Hochste Gerichtsbarkeit und territoriale Recht-
sprechung (Rainer Polley) 459
Zur Geschichte der Erziehung und Bildung in Schaumburg. Hrsg. von Hubert
Hoing (Petra Diestelmann) 524
Geschichte der Stadt Meppen. Hrsg. von der Stadt Meppen (Thomas GieBmann) . 568
GeschichtsLandschaft Emsland/Bentheim. Tagung zum 25-jahrigen Bestehen des
Arbeitskreises Geschichte der Emslandischen Landschaft fur die Landkreise
Emsland und Grafschaft Bentheim (1981-2006) am 3. November 2006 (Chri-
stian Hoffmann) 531
Gottes Wort ins Leben verwandeln. Perspektiven der (nord-) deutschen Kirchen-
geschichte. Festschrift fur Inge Mager zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Rainer
Hering, Hans Otte und Johann Anselm Steiger (Birgit Hoffmann) 498
Hager, Hartmut: Kriegstotengedenken in Hildesheim. Geschichte, Funktionen
und Formen. Mit einem Katalog der Denkmaler fur Kriegstote des 19. und
20. Jahrhunderts (Karl H. Schneider) 567
Hamburgund sein norddeutsches Umland. Aspekte des Wandels seit der friihen
Neuzeit. Festschrift fur Franklin Kopitzsch. Hrsg. von Dirk Brietzke, Norbert
Fischer und Arno Herzig (Beate-Christine Fiedler) 431
Verzeichnis der besprochenen Werke 635
Herges, Catherine: Aufklarung durch Preisausschreiben? Die okonomischen
Preisfragen der Koniglichen Societal der Wissenschaften zu Gottingen 1752-
1852 (Otto Merker) 483
Herrenhausen. Die Koniglichen Garten in Hannover. Hrsg. von Marieanne von
Konig (Annette von Boetticher) 561
Herrin ihrer Kunst. Elisabet Ney : Bildhauerin in Europa und Amerika. Hrsg. von
Barbara Romme (Manfred von Boetticher) 592
Hollandgang im Spiegel der Reiseberichte evangelischer Geistlicher. Quellen zur
saisonalen Arbeitswanderung in der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts.
Hrsg. von Albin Gladen, Antje Kraus, Piet Lourens, Jan Lucassen, Peter
Schram, Helmut Talazko und Gerda van Asselt (Sabine Heerwart) .... 486
Inszenierungen der Kiiste. Hrsg. von Norbert Fischer, Susan Mtiller-Wusterwitz
und Brigitta Schmidt-Lauber (Hans-Jiirgen Vogtherr) 526
Jager, Helmut: „Wohl tobet um die Mauern der Sturm wilder Wut . . ." Das Bis-
tum Osnabriick zwischen Sakularisation und Modernisierung 1802-1858
(Hans-Georg Aschoff ) 504
Jagd'va der Liineburger Heide. Beitrage zurjagdgeschichte. Hrsg. vom Bomann-
Museum Celle und vom Landwirtschaftsmuseum Liineburger Heide e.V.
Suderburg-Hosseringen (Gerd van den Heuvel) 528
Kannowski, Bernd: Die Umgestaltung des Sachsenspiegelrechts durch die
Buch'sche Glosse (Heiner Luck) 460
Konig, Walter in Zusammenarbeit mit Magdalena Konig, Rudolf Meier, Bertha
Brockmann: Der Reformator Urbanus Rhegius (Manfred von Boetticher) . 595
Die Lehnregister der Herrschaften Everstein und Homburg. Erganzt um einige
weitere registerformige Quellenstiicke aus dem spaten Mittelalter. Bearb.
von Uwe Ohainski ( Jiirgen Strothmann) 533
„Leiden verwehrt Vergessen". Zwangsarbeiter in Gottingen und ihre medizini-
sche Versorgung in den Universitatskliniken. Hrsg. von Volker Zimmermann
(Kirsten Hoffmann) 559
Lorenz, Maren: Das Rad der Gewalt. Militar und Zivilbevolkerung in Nord-
deutschland nach dem DreiBigjahrigen Krieg (1650-1700) (Mark Feuerle) . 441
Meibeyer, Wolfgang: Die Stadt Braunschweig im 18. Jahrhundert. Stadtbild und
Grundbesitz in Braunschweig nach der Vermessung von Andreas Carl
Haacke 1762 bis 1765 (Hans-Martin Arnoldt) 550
Neubert-Preine, Thorsten: Die Rittergiiter der Hoya-Diepholz'schen Landschaft
(Armgard von Reden-Dohn) 535
Die NS-Gaue. Regionale Mittelinstanzen im zentralistischen „Fiihrerstaat"?
Hrsg. von Jiirgen John, Horst Moller und Thomas Schaarschmidt (Karl-
Ludwig Sommer) 474
Orden und Kloster im Zeitalter von Reformation und katholischer Reform
1500-1700, Bd. 3. Hrsg. von Friedhelm Jiirgensmeier und Regina Elisabeth
Schwerdtfeger (Rajah Scheepers) 505
Die Personalunionen von Sachsen-Polen 1697-1763 und Hannover-England 1714-
1837. Ein Vergleich. Hrsg. von Rex Rexheuser (Torsten Riotte) 443
636 Verzeichnis der besprochenen Werke
Pfannenschmid, Yvonne: Ludolf Hugo : (1632 - 1704). Friiher Bundesstaatstheo-
retiker and kurhannoverscher Staatsmann (Krause) 468
Przybilla, Peter (f ) : Die Edelherren von Meinersen. Genealogie, Herrschaft und
Besitz vom 12. bis zum 14. Jahrhundert (Nathalie Kruppa) 538
Pyta, Wolfram: Hindenburg. Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler
(Gerd Steinwascher) 586
Quellen zur Geschichte der Welfen und die Chronik Burchards von Ursberg.
Hrsg. und libers, von Matthias Becher unter Mitarbeit von Florian Hartmann
und Alheydis Plassmann (Nathalie Kruppa) 516
Rottmann, Rainer: Die Beckeroder Eisenhiitte. Geschichte eines der ersten
Industriebetriebe im Osnabriicker Land 1836-1903 (Hans-Heinrich Hille-
geist) 478
Die Rundschreiben der Deutschen Christen Hannovers 1934-1940 im Landes-
kirchlichen Archiv Hannover. Bearb. von Giinter Goldbach unter Mitarb.
von Britta Perkams (Peter Zocher) 507
Saage-Maass, Miriam: Die Gottinger Sieben - demokratische Vorkampfer oder
nationale Helden? Zum Verhaltnis von Geschichtsschreibung und Erinne-
rungskultur in der Rezeption des Hannoverschen Verfassungskonfliktes
(Christine van den Heuvel) 518
Saile, Thomas: Slawen in Niedersachsen. Zur westlichen Peripherie der slawi-
schen Okumene vom 6. bis 12. Jahrhundert (Wolfgang Meibeyer) 445
Schaumburger Profile. Ein historisch-biographisches Handbuch. Hrsg. von Hu-
ert Hoing (Wolfgang Bender) 547
Schnakenberg, Ulrich: Democracy-building. Britische Einwirkungen auf die
Entstehung der Verfassungen Nordwestdeutschlands 1945-1952 (Peter Arm-
brust) 470
Schroder, Ulrich: Rotes Band am Hammerand. Geschichte der Arbeiterbe-
wegung im Landkreis Osterholz von den Anfangen bis 1933 (Karl-Ludwig
Sommer) 488
Schutz, Ernst: Die Gesandtschaft Grossbritanniens am Immerwahrenden
Reichstag zu Regensburg und am Kur(pfalz-)bayerischen Hof zu Miinchen
1683-1806 (Gerd van den Heuvel) 449
Schulze, Hans K.: Die Heiratsurkunde der Kaiserin Theophanu. Die griechische
Kaiserin und das rbmisch-deutsche Reich 972-991 (Thomas Vogtherr) . . 451
Schuster, Jochen: Freimaurer undjustiz in Norddeutschland unter dem Natio-
nalsozialismus (Volker Friedrich Drecktrah) 463
Siedburger, Giinther: Zwangsarbeit im Landkreis Gottingen 1939-1945 (Gudrun
Pischke) 490
Stephan, Joachim: Die Vogtei Salzwedel. Land und Leute vom Landesausbau bis
zur Zeit der Wirren (Klaus Nippert) 545
Stockhausen, Joachim von: „Ich habe nur meine Pflicht erfiillt". Hanns Lieff
(1879-1955) (Gudrun Fiedler) 590
Urkundenbuch der Stadt Braunschweig. Bd. 8, I-II 1388-1400 samt Nachtragen.
Bearb. von Josef Dolle (Karin Gieschen) 552
Verzeichnis der besprochenen Werke 637
Vom Ursprung der anwaltlichen Selbstverwaltung. Justus Moser und die Advoka-
tur. Hrsg. von Karl H. L. Welker (Andrea J. Czelk) 464
Voigt, Vanessa-Maria: Kunsthandler und Sammler der Moderne im Nationalso-
zialismus. Die Sammlung Sprengel 1934 bis 1945 (Thomas Bardelle) . . . 530
Weber, Karl-Klaus: Beschliisse der Generalstaaten 1576-1625. Regesten zur Ge-
schichte Ostfrieslands und der Stadt Emden (Rainer Postel) 544
Wessels, Bernhard: Die katholische Mission Bremerhaven. Geschichte der
katholischen Kirche an der Unterweser von 1850 bis 1911 (Hans-Georg
Aschoff) 510
Westfalisches aus acht Jahrhunderten zwischen Siegen und Friesoythe - Meppen
und Reval. Festschrift fur Alwin Hanschmidt zum 70. Geburtstag. Hrsg. von
Franz Bolsker und Joachim Kuropka (Peter Respondek) 433
Wildt, Michael: Volksgemeinschaft als Selbstermachtigung. Gewalt gegenjuden
in der deutschen Provinz 1919 bis 1939 (Werner Meiners) 453
Zagolla, Robert: Folterund Hexenprozess. Die strafrechtliche Spruchpraxis der
Juristenfakultat Rostock im 17. Jahrhundert (Claudia Kauertz) 466
Anschriften der Autoren der Aufsatze
Dr. Manfred von Boetticher, Historischer Verein fur Niedersachsen , Niedersach-
sisches Landesarchiv, Hauptstaatsarchiv Hannover, Am Archiv 1, 30169 Han-
nover
Dr. Wolfgang Dorfler, Weidenweg 11, 27404 Gyhum,
Nadine Freund M.A., Neuere und Neueste Geschichte, Universitat Kassel, FB 05
- Gesellschaftswissenschaften, Nora-Platiel-Str. 1, 34109 Kassel,
Dr. Olaf Grohmann, Helene-Weber-Str. 5a, 30974 Wennigsen
Dr. Ralf Kirstan, Bahnhofstr. 31, 31737 Rinteln
Dr. Hans-Joachim Kraschewski, Friedrichsplatz 11, 35037 Marburg
Dr. Nathalie Kruppa, Akademie der Wissenschaften zu Gottingen, Germania
Sacra, Theaterstr. 7, 37073 Gottingen
Dr. Johannes Laufer, Matthiaswiese 11, 31139 Hildesheim
Dr. Daniel Mohr, Zimmermannstr. 9, 37075 Gottingen
Dr. Dirk Neuber, Luther Weg 81, 31515 Wunsdorf
Dr. Peter-M. Steinsiek, Miihlspielweg 2, 37077 Gottingen
Dr. Gerd van den Heuvel, Am Wallteich 6, 30952 Ronnenberg
Cai-Olaf Wilgenroth M.A., Georg-August-Universitat , DFG-Graduiertenkolleg,
Interdisziplinare Umweltgeschichte, Biirgerstr. 50, 37073 Gottingen